Stopp der Massenüberwachung

Alle Personen in der Schweiz werden durch den Geheimdienst mit der Kabelaufklärung ohne Anlass und Verdacht überwacht. Nun hat das Schweizerische Bundesgericht eine Beschwerde der Digitalen Gesellschaft gegen diese Form der Massenüberwachung vollumfänglich gutgeheissen.

Die Kabelaufklärung ist ein Teil der anlasslosen und verdachtsunabhängigen Massenüberwachung durch den schweizerischen Geheimdienst. Mit der Kabelaufklärung wird der Datenverkehr zwischen der Schweiz und dem Rest der Welt umfassend erfasst und überwacht. Die Kabelaufklärung wurde mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz (NDG) in der Schweiz legalisiert.

Die Digitale Gesellschaft hatte Beschwerde am Bundesverwaltungsgericht gegen die anlasslose und verdachtsunabhängige Massenüberwachung durch den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) erhoben. Allerdings hatte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern der Digitalen Gesellschaft damals das Recht auf Beschwerde verweigert. Es hatte seinen Entscheid mit Verweis auf das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht begründet. Damit, so das Bundesverwaltungsgericht, bestünde die Möglichkeit, die Verletzung von Grundrechten durch den Geheimdienst zu rügen und damit eine «rechtmässige» Überwachung gerichtlich durchzusetzen.

Das Bundesgericht hat nun dieser Darstellung widersprochen. Mit Urteil 1C_337/2019 vom 1. Dezember 2020 wurde die Beschwerde der Digitalen Gesellschaft vollumfänglich gutgeheissen und das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufhoben.

Das Bundesgericht anerkennt in seinem wegweisenden Urteil, dass die Kabelaufklärung eine Form der anlasslosen Massenüberwachung darstellt, von der jede Person potenziell betroffen ist. Es anerkennt, dass solche Massenüberwachung in die Grundrechte sehr vieler Personen eingreift und dass den Betroffenen ein wirksamer Rechtsschutz zur Verfügung stehen muss. Das Bundesgericht hält in diesem Zusammenhang ausdrücklich fest, dass bereits das elektronische Rastern von Daten einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt, die durch die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt sind. Das Gleiche gilt für die Funkaufklärung, womit Kommunikation per Funk überwacht wird.

Die Massnahmen, die mit der Kabelaufklärung verbunden sind, gelten als geheim und werden den Betroffenen auch nachträglich nicht bekannt gegeben. Der datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch ermöglicht keinen wirksamen Rechtsschutz gegen solche Massnahmen im Einzelfall. «Unter diesen Umständen ist es den Beschwerdeführenden nicht möglich, konkrete, sie betreffende Massnahmen der Funk- und Kabelaufklärung anzufechten. Sie sind deshalb darauf angewiesen, das ‹System› der Funk- und Kabelaufklärung in der Schweiz überprüfen zu lassen», hält das Bundesgericht fest.

Erik Schönenberger, Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft, freut sich über das Urteil: «Das höchste schweizerische Gericht stimmt uns in allen Punkten zu. Nun muss das Bundesverwaltungsgericht prüfen, ob die Funk- und Kabelaufklärung unsere Grundrechte verletzt. Wie das Bundesgericht einräumt, kann allenfalls das einzige Mittel, um einen wirksamen Grundrechtsschutz für die Beschwerdeführenden sicherzustellen, die Einstellung der Funk- und Kabelaufklärung sein.»

Das Bundesverwaltungsgericht muss nun prüfen, ob das «System» der Funk- und Kabelaufklärung die Grundrechte der Betroffenen verletzt und – um einen wirksamen Grundrechtsschutz sicherzustellen – in letzter Konsequenz einzustellen ist.

Weitere Infos: www.digitale-gesellschaft.ch

Das Sterben auf dem Mittelmeer beenden!

Mehr als 1000 Tote und die Schweiz übernimmt keine Verantwortung auf dem Mittelmeer. «Das Sterben im Mittelmeer geht weiter. Wenn wir in 30 Jahren gefragt werden, was wir damals getan hätten, will ich sagen können: Wir haben nicht aus unserer privilegierten Position heraus zugeschaut. Wir haben gehandelt. Wir haben alles getan, um das Sterben im Mittelmeer, an der Grenze zu Europa oder in Konfliktgebieten zu beenden. Wir haben dafür gekämpft, dass die Menschenwürde für alle gilt, bedingungslos.» So äussert sich Mattea Meyer, SP-Nationalrätin und Initiantin der Motion «Das Sterben auf dem Mittelmeer beenden» zur Ablehnung im Nationalrat.

Auch 2020 war der Weg über das Mittelmeer eine der häufigsten und tödlichsten Fluchtrouten nach Europa. Die meisten Schlauch- oder Holzboote starten von Libyen aus. Dort warten die Menschen in menschenunwürdigen Lagern und viele werden auf der Flucht von der lybischen Küstenwache abgefangen oder geraten in Seenot. Obwohl die Seenotrettung eine staatliche Aufgabe ist, müssen zivile Seenotrettungsorganisationen Menschen vor dem Ertrinken bewahren und werden zusätzlich dabei von staatlicher Seite behindert und kriminalisiert.

Im Jahr 2020 konnten insgesamt 3‘500 Menschen durch acht NGO-Schiffe gerettet werden. Aber bei weitem können nicht alle Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer entdeckt werden. Für das gesamte Jahr 2020 hat die IOM (International Organization for Migration) 1’111 Todesfälle im gesamten Mittelmeer und 739 Todesfälle im zentralen Mittelmeer registriert. 82‘704 Menschen haben das europäische Festland erreicht. Mehr als 11‘000 Menschen wurden 2020 von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurück an Land gebracht.

Die Motion formulierte vier konkrete Möglichkeiten, wie die Schweiz auf diese Situation angemessen reagieren kann: «Der Bundesrat wird beauftragt, dringend nötige Massnahmen zu ergreifen, damit in Seenot geratene Menschen auf dem Mittelmeer gerettet und die Menschenrechte eingehalten werden. Namentlich soll die Schweiz:

  1. sich am Aufbau eines europäisch organisierten und finanzierten zivilen Seenotrettungssystems beteiligen;
  2. sich für einen an humanitären und rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierten Verteilmechanismus von Menschen einsetzen, die aus Seenot gerettet werden;
  3. Gemeinden, die sich bereiterklären, Bootsflüchtlinge aufzunehmen, in geeigneter Form unterstützen;
  4. sich für die unverzügliche Freilassung aller internierten Schutzsuchenden in Libyen einsetzen und die Aufnahme durch das Resettlement-Programm der Uno unterstützen.»

Der Motion stimmten 90 Nationalrät*innen zu (gegenüber 100 Neinstimmen und bei 4 Enthaltungen). Neben der Motion von Mattea Meyer wurde auch die gleichnamige Petition, die ein breites Bündnis an Unterstützer*innen im Januar eingereicht hat, abgelehnt. Sie hatte 25 000 Stimmen gesammelt und aufgezeigt, wie wichtig das Anliegen auch von der Bevölkerung bewertet wird.

Es bleibt inakzeptabel, dass die Schweiz aus privilegierter Position zuschaut, wie Menschenrechte an den Grenzen Europas mit Füssen getreten werden. Mit der SEEBRÜCKE werden wir uns auch im kommenden Jahr weiter dafür einsetzen, dass sichere Fluchtwege nach Europa entstehen und Menschen in der Schweiz ankommen können. Aktuell sammelt die SEEBRÜCKE Bern dafür beispielsweise Spenden für einen Einsatztag des neuen Rettungsschiffes Sea Eye 4. Auch wir wollen, wie Mattea Meyer es formuliert, sagen können: «Wir haben dafür gekämpft, dass die Menschenwürde für alle gilt, bedingungslos.»

Weitere Infos: www.seebruecke.ch

Eingefressene Zustände

flo. Die Verbindlichkeit von Menschenrechten für Schweizer Konzerne hätte die Welt nicht grundlegend verändert. Dass die Volksabstimmung von Ende November verloren ging, darf Sozialist*innen dennoch nicht kalt lassen.

Die Linke in der Schweiz musste sich ein dickes Fell wachsen. Wer hierzulande für fortschrittliche Politik kämpft, hat sich ans Verlieren an der Urne gewöhnen müssen. Doch mit dem grossen Abstimmungssonntag von September schien es so, als könnte man auch bei linken Vorlagen gewinnen, wenn genug Leute an die Urnen mobilisiert werden. So liessen die Umfragen für die Abstimmung vom 29.November gut hoffen. Doch es kam bekanntlich anders: Auch die Konzernverantwortungsinitiative (KVI), deren Umfragewerte Anlass zu ungewohntem Optimismus gaben, scheiterte auf unbefriedigende Weise: Trotz Volksmehr fiel das Volksanliegen durch. Es konnte nicht die nötige Zahl an Standesstimmen erreicht werden.
Die Initiative scheiterte an der geforderten doppelten Mehrheit. An einem Anachronismus des Schweizer Politsystems, den wir nur mit einer einzigen – ebenfalls mässig demokratischen – Institution, der EU, teilen. Einem Anachronismus, der einzig dem Erhalt des Status quo dient. Er benötigt einzig ein einfaches Mehr von Bevölkerung oder Ständen, um weiter zu grassieren. Fatal wäre für uns aber jetzt vor allem eines: In Klagen zu verfallen, dass es halt so kommen müsse, in der ach so rechten Schweiz. Defätismus ist fehl am Platz. Denn: Die letzten Monate zeigen, dass sich das Land nach links bewegt.

Immer weiter vorwärts!
Mit dem Frauen*streik und dem Klimastreik haben sich letztes Jahr politische Kräfte zu formieren begonnen, die zwei der schärfsten Widersprüche des modernen Kapitalismus unmissverständlich offenlegen. Vielleicht merkt man es noch nicht so offen, doch diese Bewegungen haben die gesellschaftliche Entwicklung in der Schweiz nachhaltig mitgeprägt. Generationen politisch erwachter und erwachender Menschen nahmen sich mit einem uralten Mittel aus dem Schoss der Arbeiter*innenklassen, dem Streik, die Strasse und kämpften für ihre Rechte. Diese Bewegungen verstanden es, sich punktuell mit anderen Bewegungen, wie der gegen rassistische Polizeigewalt oder auf internationalem Niveau den Protesten gegen das Abtreibungsverbot in Polen, zu verbinden.
Dass solche Erhebungen von der Strasse aus in immer kürzeren Intervallen und immer heftiger ihre jeweiligen politischen Establishments in Furcht versetzen, ist kein Zufall. Die herrschende Ordnung steckt in ihrer organischen Krise. In einem Malstrom, in dem jeder Versuch, die Krise mit den Mitteln des Kapitals zu lösen, die Katastrophe nur verschlimmert. Damit wird für immer mehr Menschen Folgendes klar: Es ist nicht in Stein gemeisselt, dass wir im Kapitalismus sterben müssen, einfach weil wir in ihm geboren wurden.

Kerngeschäft Heuchelei
Am Abstimmungssonntag von Ende November haben wir praktisch alles verloren, was man verlieren konnte. Dennoch leben wir in seltenen Zeiten, in denen für Kommunist*innen revolutionäre Zuversicht zur Abwechslung angebracht wäre. Die Debatten um das Ständemehr, das die Initiative den Sieg kostete, sind insofern vor allem Spiegelfechtereien und keine gesellschaftlich relevanten Diskussionen über drängende Fragen. Auch wenn die Existenz eben jenes Ständemehrs nicht mehr als eine rückständige Hinterlassenschaft aus der Tagsatzung ist. Zur Erinnerung: Die Tagsatzung war in der Schweiz bis 1848 die Versammlung der Abgesandten der Orte (Kantone) der Alten Eidgenossenschaft. Wir sollten uns eher die Frage stellen, wie wir dieses System stürzen können. Dies statt technisch-legalistische Fragen zu besprechen, wie wir die eine oder andere Abstimmung gewinnen könnten. Dies nicht zuletzt deswegen, weil der letzte Abstimmungssonntag ein gutes Lehrstück in Sachen Vorgehen des bürgerlichen Staats darstellt. Denn: Auch wenn der Selbstanspruch der Schweiz jener wäre, dass die Menschenrechte unveräusserlich sind, laut Verfassung gar «für alle Menschen» gelten – ergo nicht auf die Schweiz begrenzt sind – war die Praxis des Bundes klar. Er kämpfte gegen die Ausweitung eben jener Rechte auf alle Menschen.
Und auch der Charakter des Ständemehrs wurde mit der Abstimmung, beziehungsweise der Strategie der Gegner*innen klar. Es scheint nämlich so, als habe man bewusst versucht, die Initiative an den Ständestimmen scheitern zu lassen. Das vermutet zumindest Andreas Missbach, Vorstandsmitglied bei der KVI, wie er im Gespräch mit dem vorwärts erklärt: «Ganz ehrlich: Ich hatte den Eindruck, dass die Gegner*innenschaft die Städte aufgegeben hatten. Ich sah in den Städten praktisch kein Plakat von ihnen.» Stattdessen konzentrierte sich das Nein-Lager auf die ländlichen deutschschweizer Kantone, um das Scheitern der Initiative sicherzustellen. «Da wurden über lokale Gewerbekammern Interviews mit KMU-Inhaber*innen organisiert, die man dann in die Lokalmedien brachte.» In der Deutschschweiz habe sich daher eine toxische Stimmung entwickelt.

Der Kampf geht weiter
Tatsächlich ist bemerkenswert, welchen Bemühungen die Gegner*innen der Vorlage in den Schlussmonaten noch entwickelten. Vor allem seitens der Regierung. Das sieht auch Missbach so, der vor allem bei der Vorsteherin des Justizdepartements, Bundesrätin Karin Keller-Sutter, eine etwas gar grosse Beteiligung im Abstimmungskampf sah: «Sie ging so stark und so viel gegen die Initiative vor, dass ich mich fragte, wann sie überhaupt noch die Zeit fand, ihrer Arbeit als Justizministerin nachzugehen.» Für die Aktivist*innen der KVI ist der Kampf dennoch nicht vorbei. Man wolle nun diskutieren, sich politische Ziele zu setzen und Strategien zu besprechen. Ausserhalb der Schweiz bewegt sich auch etwas. In der EU wurde eine Direktive vorgeschlagen, die Rechenschaft von EU-Konzernen verlangt, eine Vorlage ganz ähnlich wie die KVI also.

Kein Sonntag für die Geschichte

sit. Natürlich war bei der PdA Zürich die Enttäuschung gross, als das Nein der Stadtzürcher*innen feststand. Doch trotz der Niederlage an der Urne ist die «Sportstadt Züri» für die Zürcher Genoss*innen eine Erfolgsgeschichte.

«Kein Sonntag für die Geschichte.» So kommentiert Harald Lukes, Sekretär der Partei der Arbeit (PdA) Zürich, die Abstimmungsresultate vom Sonntag, 29.November, gegenüber dem vorwärts im altehrwürdigen Sekretariat der Partei an der Rotwandstrasse im Zürcher Kreis 4. » Weiterlesen

Bern bleibt links dominiert

dab. Nach den Gemeindewahlen in Bern überschlugen sich die Leitmedien euphorisch, als ob die Welt jetzt gerettet und die korrupte Politik geläutert sei: «Bern hat das weiblichste und linksgrünste Parlament der Schweiz!». Die PdA-Stadträtin Zora Schneider ist wiedergewählt und die rein weibliche «Freie Fraktion» wurde durch den dritten Sitz der AL gestärkt.

Die Alternative Linke (AL) legte von zwei auf drei Sitze zu und ist neu mit drei Frauen im Stadtrat vertreten, die Grün-Alternative Partei (GAP) ist ebenfalls mit einer Frau vertreten. Die AL ist natürlich erfreut über ihr gutes Abschneiden und schreibt weiter auf ihrer Webseite: «Das ebenfalls gute Abschneiden anderer progressiver Kräfte in Bern setzt an die neue Regierung ein klares Zeichen: Es darf keinen Abbau im sozialen, gesundheitlichen, kulturellen und demokratischen Bereich geben. Ganz im Gegenteil müssen die fortschrittlichen Entwicklungen weitergeführt und in ihrer Radikalität ausgeweitet werden. Neu braucht es die Grüne Freie Liste (GFL) nicht mehr, um eine linke Mehrheit im Parlament zu haben.»
Die GFL, Partei des wiedergewählten Stadtpräsidenten und Immobilienlobbyisten Alec von Graffenried, ist mehr grünliberal als links und verlor im Stadtrat einen Sitz.

Unterschiedliche Sichtbarkeit
PdA, AL und GAP sind seit vielen Jahren zur Fraktion zusammengeschlossen. «Wir alle profitieren von der Fraktion: Kommissionen, Presseecho und so weiter», sagt die wieder gewählte Genossin Zora Schneider. Für die Wahlen gingen die drei Parteien untereinander und mit Die liebe, sehr sehr liebe Partei (DLSSLP) Listenverbindungen ein. «Die AL verdankt ihren dritten Sitz neben ihrer Stärke auch der Listenverbindung mit den drei anderen linken Parteien», hält Zora fest.
Die bestehende Fraktion bringe mehr Medienanfragen, «weil wir als grössere linksradikale Kraft wahrgenommen werden und man deshalb unter dem Namen ‹Freie Fraktion› auch mehr über uns berichtet; zweitens bringt sie wie gesagt Einsitz in die Kommissionen, was mehr Übersicht über die politischen Abläufe und zusätzliches Wissen über die Vorlagen bringt.» Die Fraktion habe Vor- und Nachteile: «Manchmal schränkt sie die Sichtbarkeit der PdA ein, aber manchmal erhöht sie sie auch, weil wir mehr verschiedene Stimmen, keine Einzelruferinnen im Wald sind.»

Eloquentes Kokettieren
In der Wahlberichterstattung wurde die «Freie Fraktion» von den Mainstreammedien allerdings ignoriert, bei den Resultaten allenfalls die AL erwähnt. Lediglich Telebärn führte in der Resultaten-Grafik alle Sitze inklusive jene von PdA und GAP auf. Meist wurden frisch gewählte SP- und GFL-Frauen mit Interviews belohnt. Neugewählte Frauen stellten ihr Licht mit falscher Bescheidenheit unter den Scheffel und kokettierten eloquent damit, dass sie ja eigentlich nur Listenfüllerinnen gewesen seien und überhaupt nicht mit einer Wahl gerechnet hatten – ein Verhalten oder Ritual, das bisher eher bei männlichen Gewählten in Innerschweizer Kantonen zu beobachten war. Das «weiblichste und linksgrünste Parlament der Schweiz» wurde abgefeiert, manche wollten sogar wissen, es sei ein Weltrekord. Die Frauen legten von 45 auf 55 Sitze zu, was knapp 70 Prozent entspricht.
Grösste Fraktion im Stadtrat bleibt trotz dem Verlust von einem Sitz die SP. Zugelegt haben neben der AL auch die zweitstärkste Kraft, die Grünliberalen GLP (plus 3) und die drittstärkste, das Grüne Bündnis GB (plus 1). Auch die Junge Alternative JA! (eigentlich Junge Grüne) machte einen zusätzlichen Sitz. Die Bürgerlichen verloren: SVP (minus 2), FDP und BDP (jeweils minus 1). CVP und EVP halten ihre jeweils zwei Sitze.

RGM-Mehrheit bleibt
Mit der Wahlallianz SVP-FDP-Jungfreisinnige wollten die Rechtsbürgerlichen die Rot-Grün-Mitte (RGM)-Mehrheit von SP, GB und GFL (vier Sitze) im Berner Gemeinderat, der Stadtregierung, brechen, was nicht gelang. Im Gegensatz zum Kanton Baselstadt, wo der Regierungsrat nach 16 Jahren Mehrheit von SP und Grünen neu aus drei SP, drei Bürgerlichen und einer GLP-Frau besteht.
In Bern wurde der Superrechte und der gegenüber Links und Reitschule extrem polemisierende Spitzenkandidat, alt-Nationalrat Thomas Fuchs auf der SVP-Liste mit dem besten Resultat in den Stadtrat gewählt. Als Gemeinderat aber hatte er keine Chance. Der einzige Bürgerliche in der Regierung, der gegenüber Demonstrierenden und der Reitschule nicht unzimperliche CVP-Polizeidirektor Reto Nause, wurde mit dem schlechtesten Resultat wiedergewählt. Trotzdem freute er sich sehr, da er verglichen mit seinen schlechtesten Resultaten der drei vorhergehenden Legislaturen Stimmen zulegen konnte. Er ist der bürgerliche Gegenspieler in der Regierung, vor allem von Stadtpräsident Alec von Graffenried, der gerne den besonnenen Doyen spielt, seinen mässigenden Einfluss geltend macht und den kläffenden Polizeihund zurückhält. So zum Beispiel während der Besetzung des Bundesplatzes durch die Klimajugend während der Behandlung des CO2-Gesetzes im Bundeshaus, als er die Besetzer*innen länger gewähren liess als es dem Scharfmacher Nause lieb war.

Der Covid-Pass wird kommen. Was dann?

sit. Für die CVP-Nationalrätin Ruth Humbel ist es so klar wie das Ave-Maria in der katholischen Messe, dass Personen mit Impfungen mehr Rechte als jene ohne bekommen sollen. Um dies zu verhindern, wurde aus rechtsnationalistischen
Kreisen eine Initiative lanciert. Die Linke ist gefordert.

«Nur einen hohen Wohlstand in unserem Land, den wir durch Fleiss, Kreativität, Exaktheit, Sauberkeit, Friedseligkeit, Innovation und Kontinuität für jede einzelne Bürgerin und jeden einzelnen Bürger erlangen, wird es uns erlauben, aus Ressourcen zu schöpfen, damit wir uns gegenüber dem Elend in der Welt solidarisch zeigen können.» So lautet ein Credo der Freiheitlichen Bewegung der Schweiz (FBS). » Weiterlesen

Klimastreik am 21. Mai 2021

sit. Das offene Bündnis Strike for Future ruft zu einem breiten Aktionstag im Frühling des kommenden Jahrs auf. Bereits ab Mitte Januar soll mit den Vorbereitungen begonnen werden. Bemerkenswert ist, dass radikale Forderungen immer mehr beim Namen genannt werden. Gut so.

Die Ausgangslage ist klar: «Wir befinden uns momentan in einer prekären Situation: Unser Alltag wird von Krisen bestimmt. Wir erleben immer stärker werdende soziale Ungerechtigkeiten, verheerende Umweltkatastrophen, die wirtschaftliche Rezession…», ist in der Mitteilung von Strike for Future vom 4. Dezember zu lesen. Das offene Bündnis besteht aus Klima-streik Schweiz, den Gewerkschaften Unia und VPOD, den Grosseltern fürs Klima, der Organisation Landwirtschaft mit Zukunft «und vielen weiteren», wie informiert wird. » Weiterlesen

«Wir lassen uns nicht einschüchtern!»

sit. Die Staatsanwaltschaft Kanton Basel Stadt hat eine weitere Repressionswelle gestartet. Dieses Mal trifft es die Teilnehmer*innen der Demonstration «Solidarität mit den Angeklagten von Basel nazifrei» vom 4.Juli 2020. Der vorwärts sprach mit einer betroffenen Antifaschistin.

«Die Kriminalpolizei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt gegen Sie ein polizeiliches Ermittlungsverfahren wegen der Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration und damit verbundenen Straftaten am Samstag, dem 4.Juli 2020, nachmittags in Basel.» So zu lesen im Schreiben der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt an die beschuldigte C.F. (Initialen geändert). Beweise gegen die beschuldigte Person liegen nicht vor, doch der Reihe nach.

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Der Zuger Rohstoffkonzern weiss von nichts und entzieht sich der Diskussion

Redaktion. Wenige Tage vor der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative versuchte der in Zug ansässige Rohstoffkonzern Glencore, gerichtlich gegen Kritik in einer Reportage von Public Eye an einer Mine in Bolivien vorzugehen. Das Obergericht Zug lehnte den Antrag auf superprovisorische Massnahmen jedoch ab.

In der von einer Glencore-Tochterfirma betriebenen Zink-, Blei- und Silbermine Porco in Bolivien kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen, die Umwelt ist vergiftet und es schuften auch Minderjährige in den Stollen. Die Jüngsten sind gerade mal elf Jahre alt.

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Skandalurteil aus Lausanne

Marco Medici. Das Bundesgericht urteilte, dass Mietzinsaufschläge bis über 50 Prozent zulässig seien. Die NZZ frohlockte: «Das Bundesgericht stärkt die Stellung der Vermieter.» Insbesondere Renditebauten der letzten 20 bis 30 Jahre im Besitz von Pensionskassen sind davon betroffen.

Im Juni 2020 berichtete der vorwärts über die parlamentarische Initiative von FDP-Nationalrat Olivier Feller aus dem Kanton Waadt. Sie forderte, dass die Eigenkapitalrendite bei Liegenschaften von bisher 0,5 auf 2 Prozent erhöht werden müsse.

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Lebenswert oder autofreundlich?

Gabriela Neuhaus. Die Empfehlungen des Westast-Dialogs lagen vor, blieben aber vorerst geheim. Hans Werder, Leiter des Dialogprozesses, und seine Mitstreiter*innen wollen Kritik und Diskussionen vermeiden. Andere Städte wie Barcelona hingegen zeigen, wie eine Stadtentwicklung ohne Autobahn aussehen kann.

Der sogenannte Dialogprozess ist Geschichte. Am Schlusspapier mit den Empfehlungen an Regierungsrat Neuhaus und die Behördendelegation werden höchstens noch orthografische Korrekturen vorgenommen – inhaltlich, gibt es nichts mehr zu rütteln. So hat es der Lenker des Dialogprozesses ohne Widerrede bestimmt. Während man sich in der Region Biel mit dem anstehenden Westast-Kompromiss voraussichtlich noch über Jahrzehnte mit Autobahn- und Tunnelprojekten für den Autoverkehr herumschlagen wird, zeigen andere Städte, wie eine menschenfreundliche und zukunftsfähige Entwicklung aussehen könnte.

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Arm trotz Arbeit

Redaktion. Mit der Studie «Working Poor in der Schweiz: Wege aus der Sozialhilfe» wollen Ueli Mäder, Stefan Kutzner und Carlo Knöpfel zeigen, dass bei armutsbetroffenen Arbeiter*innen oft der ganze Haushalt leidet. Auch ist die Sozialhilfe nicht auf die Working Poor ausgerichtet. Wir veröffentlichen hier eine gekürzte Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie.

Nach weit verbreiteter Vorstellung ist Armut mit Arbeitslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit verbunden. Nach vorherrschendem gesellschaftlichem Bild ist eine arme Person invalid oder gebrechlich, langzeiterwerbslos, deviant, psychisch behindert, drogen- oder alkoholsüchtig. So betrachtet müsste Armut nur noch das Problem von Gruppen sein, die am Erwerbsleben nicht teilnehmen und für die kein Anrecht auf ein Sozialversicherungseinkommen besteht. Umso mehr überrascht die Tatsache, dass vom wechselseitigen Ausschluss von Erwerbstätigkeit und Armut keineswegs die Rede sein kann.

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Unhaltbare Bedingungen

Alain R. Müller. Seit zwanzig Jahren bin ich dipl. Pflegefachmann HF und arbeite im Beruf. Schon lange vor Corona haben wir Pflegende Sie auf unsere Situation und die Probleme in unserem Arbeitsfeld hingewiesen und aufgezeigt, was dringend zu verbessern ist. Das Gesundheitspersonal, insbesondere die Pflegenden, sind mit ihren Ressourcen schon lange am Abgrund und bald einen Schritt weiter. Ein offener Brief an die Politiker*innen und die Gesellschaft.

Die Corona-Krise demaskiert und akzentuiert in den Gesundheitsberufen und im ganzen Gesundheitswesen alles, was Ihre Politik bis heute versäumt und verursacht hat. Es ist kein Zufall, dass so viele Pflegende (46 Prozent) ihren Job frühzeitig verlassen. 25 Prozent von ihnen erkranken an ihrer Arbeit und brennen aus – und das schon lange vor Corona. Ursachen sind die unhaltbaren Bedingungen, unter welchen die meisten Pflegenden arbeiten müssen.

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Am Ende arbeiten nur noch Sklav*innen auf dem Bau

sit. Seit gut zehn Jahren nimmt der Termindruck und somit der Stress für die Bauarbeiter*innen ständig zu. Dadurch auch die Gefahr am Arbeitsplatz. Dies erzählt Franco B.* im Gespräch mit dem vorwärts. Als langjähriger Bauarbeiter kennt er die Realität auf dem Bau bestens.

Franco, seit wann arbeitest du auf dem Bau?
Seit ich von meinem Heimatland Italien in die Schweiz gekommen bin, das war 1994. Es sind also 26 Jahre, fast die Hälfte meines Lebens. In Italien hatte ich einen Beruf in der Metallindustrie gelernt, fand aber keine Arbeit. Mein Vater hatte lange als Saisonnier hier gearbeitet. Ich fand einen Job auf dem Bau und habe so einen beruflichen Neustart begonnen. Ich habe viele Ausbildungskurse besucht und wurde mit der Zeit und den gemachten Berufserfahrungen zum Maurer.

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Verheizt in kalten Klassenzimmern

flo. Immer wieder machen die schlechten Zustände an den Schulen in Sachen Schutz vor Covid Schlagzeilen. Auch ist es viel schwieriger, unter den aktuellen Umständen zu unterrichten. Der vorwärts sprach mit dem Berufsschullehrer Günther* und dem Primarschullehrer Anton* über ihre Arbeitsbedingungen.

Wie ist so die Lage an den Schulen, in denen ihr arbeitet?
Anton: Wir haben als Erwachsene in der Primarschule, an der ich arbeite, die Weisung, dass wir immer Masken tragen müssen. Die Kinder hingegen nicht. Dann müssen wir, so gut es geht, die Abstände von 1,5 Metern einhalten. Ausserdem weisen wir die Kinder immer wieder darauf hin, die Hygiene einzuhalten, die Hände zu waschen und so weiter. Wir dürfen aber offiziell mit den Kindern singen, wir dürfen weiter Sportunterricht machen. Da haben wir keine grossen Einschränkungen.

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Basler Kantonalbank und Bank Cler handeln gesetzeswidrig

sit. Die beiden Basler Finanzinstituten weigern sich, Zahlungen mit Bezug zu Kuba durchzuführen. Betroffen sind auch schweizinterne Überweisungen. Die beiden Banken unterstützen freiwillig den völkerrechtswidrigen US-Boykott gegen Kuba. Was dies für die Menschen bedeutet, erklärte der kubanische Aussenminister an einer Medienkonferenz in Havanna.

Dienstag, 27.Oktober, gegen 11.15 Uhr an der Uraniastrasse im Zentrum von Zürich City. Aktivist*innen der Vereinigung Schweiz-Cuba (VSC) verteilen Flugblätter vor der Filiale der Bank Cler. «Nein, das habe ich wirklich nicht gewusst. Ich lese es gerne mal durch», sagt die Frau, versorgt den Flyer in ihre Tasche und verabschiedet sich freundlich. Wussten Sie, dass ihr Bankkonto auf Stichworte durchleuchtet wird und danach selbst Zahlungsaufträge innerhalb der Schweiz und in Schweizer Franken gestoppt werden können? » Weiterlesen

Ernüchternde Bilanz nach einem Jahr Neustrukturierung im Asylbereich

Noémi Weber. Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» veröffentlichte Anfang Oktober seine Bilanz zur einjährigen Umsetzung der Neustrukturierung des Asylbereichs. Die Auswertung des Bündnisses zeigt, dass das Tempo im neuen Asylverfahren zu hoch ist und der mandatierte, staatlich finanzierte Rechtsschutz nur ungenügend funktioniert.

Seit dem 1.März 2019 ist das neue Asylverfahren in Kraft. Das Hauptziel der Neuerungen war die Beschleunigung der Verfahren. Dies sollte vor allem durch die zentralisierte Unterbringung der asylsuchenden Personen in Bundesasylzentren und die Verkürzung sämtlicher Fristen erreicht werden. Um die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zu gewähren, wurde zudem ein staatlich finanzierter Rechtsschutz eingeführt, welcher die rechtliche Vertretung aller Asylsuchenden sicherstellen soll.

Ziele des Bündnisses
Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» ist ein Zusammenschluss aus verschiedenen unabhängigen Beratungsstellen, Organisationen, Anwält*innen und engagierten Einzelpersonen aus dem Asylbereich. Mitglieder sind unter anderem die Freiplatzaktionen in Zürich und Basel, die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) oder die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz. In seiner Bilanz hat das Bündnis eigene Daten sowie öffentlich zugängliche Statistiken analysiert. Es kam zum Schluss, dass die Neustrukturierung keinesfalls überwiegend positive Auswirkungen mit sich gebracht hat, wie es das Staatssekretariat für Migration (SEM) in seiner Bilanz vom Februar 2020 noch vermitteln wollte.

Zeitmangel als Hauptkritik
Eine Hauptkritik des Bündnisses ist das zu hohe Tempo im neuen Asylverfahren. Dies lässt sich am folgenden Fall illustrieren: «Jaron» reiste im Juli 2019 aus Algerien in die Schweiz ein und stellte ein Asylgesuch. Dieses wurde im Oktober 2019 abgelehnt. Das SEM hatte Zweifel an seiner vorgebrachten Bedrohungslage. In seiner Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht rügte «Jaron», dass das SEM den Sachverhalt ungenügend abgeklärt und somit den Untersuchungsgrundsatz verletzt hat. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die Beschwerde gut und wies den Fall ans SEM zurück. (Dokumentierter Fall Nr. 365 der SBAA)
Zudem kritisierte das Gericht, dass das SEM den Fall im beschleunigten Verfahren behandelte und nicht ins erweiterte Verfahren überwies. Denn im neuen Asylverfahren legt das SEM nach der Befragung zu den Asylgründen fest, ob das Asylgesuch im beschleunigten oder erweiterten Verfahren entschieden wird. Wenn alle Fakten und Beweismittel gesammelt werden konnten, wird das Gesuch im beschleunigten Verfahren behandelt. Dieses wird nach maximal 140 Tagen abgeschlossen. Ansonsten sollte es im erweiterten Verfahren behandelt werden, welches rund ein Jahr dauert.
Bei der Einführung des neuen Asylverfahrens ging das SEM davon aus, dass 40 Prozent aller Asylgesuche im erweiterten Verfahren behandelt werden. Nach einem Jahr zeigt sich nun, dass es lediglich 18 Prozent waren. Der Nachteil des beschleunigten Verfahrens ist jedoch, dass es zeitlich eng getaktet ist und durch das hohe Tempo die Asylgründe – vor allem die medizinische Situation der Gesuchsteller*innen – oft nur ungenügend abgeklärt werden. Dadurch ist die Qualität der Asylentscheide mangelhaft. Dies zeigt sich sowohl an den dokumentierten Einzelfällen des Bündnisses als auch an der hohen Rückweisungsquote vor Bundesverwaltungsgericht. Insgesamt wurden 21.2 Prozent der Beschwerden erfolgreich vor dem Bundesverwaltungsgericht geführt. Früher, vor der Neustrukturierung, waren es lediglich 11.4 Prozent.

Zu häufige Mandatsniederlegung
Obwohl «Jaron» mit dem negativen Entscheid des SEM nicht einverstanden war, legte die staatlich finanzierte Rechtsvertretung ihr Mandat aus Gründen der Aussichtslosigkeit nieder. Von Gesetzes wegen kann sie ihr Mandat nach dem Asylentscheid niederlegen, wenn eine Beschwerde als aussichtslos erscheint. «Jaron» war somit gezwungen, innerhalb der sehr kurzen Beschwerdefrist von sieben Arbeitstagen eine neue Rechtsvertretung zu suchen. «Jaron» fand eine Beratungsstelle, die eine Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht einreichte. Dieses wies den Fall schlussendlich ans SEM zurück. Dies zeigt, dass die Beschwerde nicht aussichtslos war und die mandatierte Rechtsvertretung das Mandat nicht hätte niederlegen dürfen.
Bei «Jaron» handelt es sich um keinen Einzelfall: Die Bilanz des Bündnisses zeigt, dass die Rechtsvertretung ihr Mandat zu häufig und oft auch zu Unrecht niederlegt. Durch die Auswertung von Statistiken fand das Bündnis heraus, dass die mandatierte Rechtsvertretung in 12.5 Prozent der Fälle eine Beschwerde erhebt. Bei extern vertretenen oder unvertretenen Beschwerdeführenden lag die Quote jedoch bei 14.4 Prozent. Noch deutlicher sind die Zahlen der zu Unrecht niedergelegten Mandate: In 25 von 42 Fällen, die das Bündnis vertreten hat, stufte das Bundesverwaltungsgericht den Fall als «nicht aussichtslos» ein. Daher vermutet das Bündnis, dass die Mandatsniederlegung oftmals hauptsächlich aus Zeitgründen geschieht.

Regionale Unterschiede
Die Niederlegung des Mandats stellt die asylsuchenden Personen vor eine grosse Herausforderung, da sie – wie bereits erwähnt – im beschleunigten Verfahren mit einer äusserst kurzen Beschwerdefrist von sieben Arbeitstagen konfrontiert sind. Dies führt dazu, dass sie innert weniger Tage eine externe Rechtsvertretung finden müssen. Diese muss dann auch noch Zeit haben, um eine Beschwerde zu schreiben. Für Personen in Bundesasylzentren an abgelegenen Standorten ist der Zugang zu einer externen Rechtsvertretung noch schwieriger. Dass eine Beschwerde aber essentiell wichtig sein kann, zeigt der Fall von «Liyah» (Dokumentierter Fall Nr. 368 der SBAA). Nachdem das SEM ihre Wegweisung verfügte, legte ihre Rechtsvertretung das Mandat nieder. «Liyah» reichte danach mit Hilfe einer externen Rechtsberatungsstelle erfolgreich Beschwerde ein. Das Bundesverwaltungsgericht rügte in seinem Urteil das SEM wegen der unvollständigen Sachverhaltsabklärung. Daraufhin wurde «Liyah» als Flüchtling anerkannt.
Die Chancen auf eine Beschwerde durch die offizielle Rechtsvertretung hängen aber auch von der Region ab: Wie das Bündnis feststellte, werden in der Romandie viermal mehr Beschwerden eingereicht als in der Ostschweiz.

Asylsuchende als Leidtragende des neuen Systems
Wie erläutert, stehen bei der Neustrukturierung einerseits die Beschleunigung und andererseits die Reduktion der Beschwerdetätigkeit im Mittelpunkt. Dies ist befremdlich, wenn man bedenkt, dass Asylsuchende meistens rechts- und sprachunkundig und oft traumatisiert sind. Asylsuchende Personen sind also per se verletzbar. Es ist deshalb stossend, dass gerade in einem derart komplexen Sachgebiet eine Neustrukturierung mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung angestrebt wurde. Dennoch ist die Beschleunigung für diejenigen asylsuchenden Personen, welche am Ende ihres Verfahrens einen Entscheid mit Bleiberecht erhalten, begrüssenswert. Nichtsdestotrotz kann in einem Rechtsstaat mit einer verfassungsmässig garantierten Rechtsweggarantie eine Reduktion der Beschwerdetätigkeit nicht das Ziel einer Gesetzesrevision sein. Beschwerden werden in einem System, in dem Verfahrensrechte allzu oft verletzt werden, zum wichtigsten Instrument der Behördenkontrolle und der Rechtsausübung. Ohne ein effektives Recht auf Beschwerde wird die Rechtsstaatlichkeit des Asylverfahrens in Frage gestellt.
Die zuvor geäusserten Beobachtungen und Kritikpunkte zeigen, dass sich die Initianten der Neustrukturierung schlicht überschätzt haben. Im Ergebnis geht diese Selbstüberschätzung nun aber zu Lasten der asylsuchenden Personen. Deswegen fordert das Bündnis, dass das SEM zukünftig die Asylgründe genauer und vor allem vollständig abklären und seinen Untersuchungsgrundsatz einhalten soll. Die Asylgesuche müssen sorgfältig(er) triagiert und komplexe Fälle konsequent im erweiterten Verfahren behandelt werden. Um den grossen Zeitdruck der verschiedenen Akteur*innen innerhalb des Asylverfahrens zusätzlich zu vermindern, sollen sämtliche Behandlungs- und Beschwerdefristen verlängert werden. Zu guter Letzt soll die Rechtsvertretung ihre Mandatsniederlegung begründen, damit nachvollzogen werden kann, weswegen eine Beschwerde als aussichtslos angesehen wird. Nur mit diesen Anpassungen kann sichergestellt werden, dass das Asylverfahren rechtsstaatlich korrekt abläuft.

Noémit Weber ist aktiv im Bündnis. Infos: www.bündnis-rechtsarbeit-asyl.ch

Klatschen war nie genug!

flo. Während der Pandemie kämpft das Pflegepersonal mutig an vorderster Front gegen das Virus. Und dies mit unzureichenden Ressourcen. Den Pflegenotstand nimmt die Politik derweil nicht ernst. Zeit, sich zu wehren.

«Fast zynisch» sei es, dass Pfleger*innen in der Woche vom 26. bis zum 31.Oktober für ihre Rechte und für bessere Arbeitsbedingungen kämpften. So liess sich die Präsidentin der nationalrätlichen Gesundheitskommission, die CVP-Politikerin Ruth Humbel, zitieren. Dass es in der Pflege im Gegensatz zu anderen Branchen nicht rund laufe, wisse man ja. Das Problem sei erkannt und werde angegangen. Selbst ganz zynisch verweist Humbel auf den Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative. Diesem wurden aber im Verlauf seiner parlamentarischen Bearbeitung immer mehr Zähne gezogen. » Weiterlesen

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