Am Rande der Zeit oder Bebels Tod

Hans Peter Gansner. Am 13. August 2013 wird sich das Todesdatum des sozialistischen «?Arbeiterkaisers?» August Bebel zum 100. Male jähren. August Bebel starb in Bad Passugg ob Chur. Die Gedenkvorbereitungen sind jetzt schon in vollem Gange. Ich habe aus diesem Anlass ein Theaterstück geschrieben, das eben als Buch herausgekommen ist, und ich im Folgenden den vorwärts-LeserInnen vorstelle.

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Wie lebten am Vorabend des Ersten Weltkriegs Jugendliche in unseren Gegenden? Wie waren die Familien-, Lehr- und Arbeitsbedingungen damals in Graubünden? Was taten die damaligen Arbeiterorganisationen? Diese spannenden historischen Themen stelle ich in meinem neuen Stück «Bebels Tod» lebendig dar und möchte damit die Bündner Vergangenheit anhand eines beinah vergessenen Kapitels Sozialgeschichte wieder zu dramatischem Leben erwecken. Denn in Passugg verstarb am 13. August (!) 1913 der grosse deutsche Arbeiterführer August Bebel, dem man zu seiner Zeit die halb spöttischen, halb respektvollen Übernamen «Arbeiter-Kaiser» und «Roter Kaiser» verlieh, und den man seiner markanten Gesichtszüge wegen mit einem «ehrwürdiger alten Adler» verglich. Nach der längst fälligen Götterdämmerung des Personenkults mit den «grossen Männern» der Geschichte seit dem Ende des 20. Jahrhunderts scheint es endlich angezeigt, diese auch einmal in Gesellschaft der «kleinen Leute» zu zeigen; vielleicht werden sie so ihre Bedeutung von neuem, aber diesmal ganz unpathetisch, als gewöhnliche Menschen wie du und ich nämlich, als Menschen von hier und heute unter Beweis stellen können. Diese «Grossen» bekommen dann sozusagen eine zweite Chance, nachdem man sie mit monströsen Pharaonen-Begräbnissen beerdigt zu haben glaubte. Immerhin wurde August Bebels Beisetzung 1913 in Zürich zum «grössten Begräbnis aller Zeiten in der Stadt Zürich» mit einer halben Million Menschen im Trauerzug. (Siehe den im Buch abgedruckten Essay von Urs Kälin «Das Begräbnis des ‹roten Kaiser›»). Und alle, welche die Gewalt kennen, mit der die Rabiusa, die «Wütende» also, durch ihre enge Schlucht aus dem Schanfigg herunter und hinaus Richtung Churer Rheintal ins Freie drängt, werden das Rollen, Rauschen, Zischen, Gischten, Donnern und Toben dieses einmaligen und bis heute undomestiziert gebliebenen Bergbachs in diesem historischen Drama über den «Shadow Emperor of the German Workers», wie der Historiker W. H. Maehl schrieb, wiedererkennen.

 

Der «Arbeiter-Kaiser» in der Rabiusa-Schlucht

August Bebel gehörte einst zu den bekanntesten deutschen Politikern. Als Gegenspieler Bismarcks und des Kaisers Friedrich Wilhelm II., der in seinem Wahn den Ersten Weltkrieg lostrat, machte er zwar Weltgeschichte, konnte aber ihren fatalen Lauf nicht ändern, obwohl er bis in seinen letzten Lebenstagen in Bad Passugg oben mit ganzer Kraft für die Erhaltung des Weltfriedens kämpfte. Seine Briefe aus Passugg legen ein beredtes Zeugnis ab von einem Menschen, der im eigentlichen Sinne bis zum ultimativen Herzschlag versuchte, das Schlimmste zu verhindern. Dass dem Soldatensohn, der 1840 in extrem ärmlichen Verhältnissen geboren wurde, einst diese weltgeschichtliche Rolle zukommen würde, hätte ihm wohl niemand an seiner Wiege prophezeit. Diese bestand nämlich aus nichts anderem als einem Haufen aus feuchtem Stroh und befand sich in einer Kasematte der Kaserne von Deutz-Köln, wo sein Vater und wenig später sein Stiefvater förmlich verhungerten. Bebel, später gelernter Drechsler geworden, schloss sich 1860 der Arbeiterbewegung an und wurde einer ihrer begabtesten Redner. Schon 1867 wurde er als Mitbegründer der Sozialdemokratischen Deutschen Arbeiterpartei (SPD) in den Deutschen Bundestag gewählt. Wegen der Verfolgung durch die Bismarck‘schen Sozialistengesetze psychisch und physisch geschwächt, weilte er im Alter wegen seines Herzleidens immer häufiger in der Schweiz. Mit seinem Weltbestseller «Die Frau und der Sozialismus» wurde er Multimillionär. Sein Zürcher Freund, der Arzt Ferdinand Simon, begleitete ihn immer öfter zu Kuraufenthalten in verschiedene Kurorte Graubündens, gegen Schluss zunehmend nach Passugg, was dem greisen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte grosse Linderung brachte. Passugg war damals berühmt für die Heilung von Herzleiden, und man hatte bei Bebel Herzrhythmusstörungen festgestellt. Die Schweiz und Passugg war ihm so «eine Art zweiter Heimat geworden», wie er 1912 dem sozial engagierten Dichter des Naturalismus, Gerhart Hauptmann, schrieb. Am 13. August, nach einem knappen Monat Kur, entschlief er 1913 friedlich während seines letzten Kuraufenthaltes. Und ganz bestimmt wird niemand dem Autor des vorliegenden Theaterstücks nun deshalb einen Vorwurf machen, wenn er den Tod dieses bedeutenden Menschen, eines der bedeutendsten des 19. Jahrhunderts, etwas dramatisiert hat, um die Zerrissenheit der Epoche und die Bedrohung, die über ihr lag, dramaturgisch schärfer hervortreten zu lassen.

Bebel warnte früh vor der Kriegsgefahr.?.?.

Einige könnten vielleicht mäkeln, es sei keine besonders gute Reklame für Passugg, dass Bebel dort gestorben sei. Aber man kann doch mit Fug und Recht sagen, dass er weniger lang gelebt hätte, wenn ihn, den Nimmermüden, Immergestressten, sein Freund und Arzt Ferdinand Simon, sein Schwiegersohn, nicht hin und wieder von Zürich, dem internationalen Unruheherd, ins ruhige Passugg hinauf verfrachtet hätte. Leider ist sein Arzt und Schwiegersohn dann noch vor ihm gestorben. Vor den Vätern sterben zu gewissen Zeiten nicht nur die Söhne, sondern vor den Patienten auch die Ärzte. Bis an sein Lebensende hatte August Bebel vor der drohenden Kriegsgefahr gewarnt; er schrieb: «Alsdann wird in Europa der grosse Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander ins Feld rücken. Was wird die Folge sein? Hinter diesem Krieg steht der Massenbankrott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosigkeit, die grosse Hungersnot…» Dies schrieb Bebel, visionär, schon im November 1911. Leider vergebens: ein Rufer in der Wüste .?.?.

Das Leben der Bündner Jugend am Vorabend des Ersten Weltkriegs.?.?.

Sicher haben die (damals noch weitgehend) unberührte Landschaft Graubündens und die pralle, lebensvolle Bergwelt um die Rabiusa-Schlucht, nicht zuletzt aber auch die lebenslustig zu Tale hüpfenden, gischtenden, übermütig schäumenden, rauschenden und singenden Fluten der Rabiusa zu August Bebels lebensbejahender Philosophie bis zum Schluss und trotz aller Schatten, die sich über seiner Gesundheit und über der Weltpolitik zusammenbrauten, wesentlich beigetragen. So gesehen wäre er vielleicht ohne die Kur in Passugg und ohne das «Passuggerwasser», (wie man es früher in Anlehnung zum weltweit bekannten «Vichywasser» nannte) noch früher gestorben… (Auch wenn die Rabiusa natürlich zu gewissen Zeiten auch recht «rabiat» sein kann und dann einem Leidenden eventuelle eher wenig Trost bringt…) Die Dialektik dieser dauernd wechselnden Wassermelodie, zwischen Angst und Hoffnung, Wut und Beruhigung, Zorn und Gewissheit changierend, spielt durch die dramaturgische Konzeption des Stücks: Komödie, Farce und Tragödie durchdringen sich, wie im echten Leben eben…! Der allerletzte Brief, der letzte Text von deiner Hand in der mehrbändigen, viel hundertseitigen Gesamtausgabe seiner Schriften (das Gesamtwerk Bebels erscheint im saur-Verlag, München), ein Brief, den er in Bad Passugg geschrieben hat, zeugt noch von ungebrochenem Unternehmungsgeist, beflügelt vom Geist des «Theophil»- und «Helene»-Mineralwassers: der 73-Jährige bereitete in der Tat bis zur letzten Minute Reisen und Kongresse vor.

Bebel war der Vereiniger

Jean Ziegler schreibt zum Stück: «Am Saum der Zeit oder Bebels Tod von H.P. Gansner ist ein Meisterwerk! – Willy Brandt hatte mir vor Jahren Bebels Biografie und fast alle Reden geschenkt. Er trug auch Bebels Uhr. Bebel war der Vereiniger, das lebende Beispiel der kämpfenden Sozialdemokratie. Hätte er 1914 noch gelebt, hätte es keinen ‹Burgfrieden›, keinen Zerfall der Zweiten Internationale und wahrscheinlich (fast sicher) keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. Dass H.P.Gansner ihn mit einem so klugen, brillanten Theaterstück ehrt, finde ich hervorragend und für unsere Zeit sehr nützlich.»

«Am Rand der Zeit oder Bebels Tod» von Hans Peter Gansner, Edition SIGNAThUR, Dozwil. Herausgegeben von Bruno Oetterli Hohlenbaum, Buchgestaltung: Belinda Oetterli, mit einem Essay von Dr. Kälin vom Schweizerischen Sozialarchiv, Zürich, 128 Seiten mit diversen zeitgenössischen Abbildungen.
21.00 Franken/16,80 Euro. ISBN 978-3-908141-33-4. 

Bezugsquellen?:
Im Buchhandel auf Bestellung oder direkt bei ­EDITION SIGNAThUR,
CH 8582 Dozwil TG,
E-Mail: signathur@gmx. 

 

1072-mal weniger!

lohnschere1072-mal weniger!

Die zehn Prozent im tiefsten Lohnsegment verdienen 1072-mal weniger als die Topverdiener in der Schweiz. Während über 400?000 Lohnabhängige mit ihrem Gehalt von unter 4000 Franken an der Armutsgrenze leben, bekommen wenige Spitzenverdiener durchschnittlich 42?400 Franken, selbstverständlich pro Monat, eine knappe halbe Million pro Jahr?! So viel zur kapitalistischen «?Gerechtigkeit?».

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Horcht den Worten des Klassenfeinds: «Die Schweiz ist das Musterbeispiel dafür, dass ein liberales Arbeitsrecht und die freie, dezentrale Lohnbildung nicht automatisch zu hoher Ungleichheit führen», steht auf der Homepage von Avenir Suisse. Das ist die Denkfabrik der KapitalistInnen, ein «unabhängiger Think-Tank» nach angelsächsischem Vorbild für die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Entwicklung des Standorts Schweiz. Avenir Suisse vertritt «eine marktwirtschaftliche Position» und orientiert sich an einem «liberalen Welt- und Gesellschaftsbild».

Und mit Blick auf kommende Volksbefragungen behaupten die VertreterInnen der neoliberalen Barbarei: «Die (noch) hohe Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes hat entscheidenden Anteil daran, dass das Gros der Bevölkerung sein Auskommen selber bestreiten kann. Die Politik verkennt dies zusehends. Eingriffe in den Arbeitsmarkt – sei dies über Mindestlöhne, Vorschriften zur Lohnstruktur innerhalb der Unternehmen oder die Einführung einer Sozialplanpflicht – würden diesen Vorteil der Schweiz über kurz oder lang beschädigen und dadurch den Druck zu mehr fiskalischer Umverteilung nochmals verstärken. Es gilt, diesen Teufelskreis zu verhindern.»

Die Lohnschere öffnet sich weiter

Gemeint sind die Mindestlohn-Initiative der Gewerkschaften, die wohl im Februar 2014 zur Abstimmung kommt, und natürlich die «1:12-Initiative» der JUSO, über die im November 2013 ein Ja oder Nein in die Urne zu legen ist. Die JUSO-Initiative fordert, dass niemand in einem Jahr weniger verdienen soll als der bestbezahlte Manager im gleichen Betrieb in einem Monat. Sicher, ihre Annahme bedeutet nicht die Überwindung des Kapitalismus. Doch die Aussagen von Avnir Suisse machen deutlich, dass die Initiative die KapitalistInnen zumindest nervös macht. So nervös, dass sie Milliarden in die Gegenkampagne reinbuttern werden.

Wie die Realität der Löhne in der Schweiz aussieht, ist im soeben erschienen Abstimmungsbuch «Lohnverteilung und 1:12-Initiative», erschienen im Verlag «edition 8» und herausgegeben vom «Denknetz» und der «JUSO», bestens nachzulesen. Die Löhne in der Schweiz sind seit Ende der 1990er Jahre sehr ungleich gewachsen. Wenig überraschend ist die Tatsache, dass die hohen Gehälter bis im 2010 «preisbereinigt um mehr als einen Drittel gewachsen» sind. Im Gegensatz dazu, sind die tiefen und mittleren Löhne nur geringfügig gestiegen. So ist weiter im Kapitel «Immer mehr fürs reichste Prozent» folgendes zu lesen: «Im Jahr 2010 hatten diese ArbeitnehmerInnen preisbereinigt nur zwischen sieben und neun Prozent mehr in der Tasche als 16 Jahre zuvor. Das ungleiche Wachstum führt dazu, dass sich die Lohnschere in der Schweiz weiter öffnet.» Wie frappant diese Unterschiede sind, machen folgende Zahlen deutlich: Das bestverdienende Prozent bezog 2010 mindestens (!) 23?400 Franken und durchschnittlich sogar 42?400 Franken im Monat. Ihnen gegenüber bezogen die am schlechtesten verdienenden zehn Prozent maximal 3953 Franken für eine Vollzeitstelle; 1072-mal weniger! Auch der Medianlohn bewegte sich mit 5979 Franken in einer anderen Welt. 437?000 Lohnabhängige erhalten einen Lohn von unter 4000 Franken, was vielen verunmöglicht, anständig leben zu können. Acht Prozent aller Beschäftigten in der «reichen» Schweiz sind von Armut gefährdet. Dies steht in scharfem Kontrast zu den Spitzenlöhnen, die in den letzten Jahren explodiert sind.

An der Spitze der ungleichen Lohnentwicklung stehen die Topmanager, deren Löhne in den letzten zwei Jahrzehnten regelrecht explodiert sind. Die Höchstverdienenden bezogen zuletzt durchschnittlich 6.78 Millionen oder das 93-fache des Medianlohnes. Es sei noch darauf hingewiesen, dass diese Damen und Herren kurz vor dem Ausbruch der Finanzkrise im 2007 rund 10.4 Millionen Franken abgesahnt haben.

Fakten, die zu denken geben. Und vielleicht sollte man für einmal die Abstimmungsunterlagen nicht gleich ins Altpapier schmeissen, auch wenn – wie bereits erwähnt – mit einem Ja zur «1:12 Initiative» der Kapitalismus noch lange nicht überwunden ist.

 

JUSO und Denknetz (Hrsg.): «Lohnverteilung und 1:12-Initiative. Gerechtigkeit und Demokratie auf dem Prüfstand». Verlag edition8, 152 Seiten, Mai 2013.

Durchbruch oder Kontinuität?

220px-RWB_Industriegebiet.svgAnfang Juni haben die Gewerkschaften und Unternehmen der MEM-Branche (Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie) einen neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterzeichnet, in dem erstmals nach 76 Jahren Mindestlöhne festgelegt sind. Die Gewerkschaft Unia spricht von einem «?historischen Durchbruch?». Doch der neue Vertrag weist vielmehr auf die Ausweglosigkeit der Gewerkschaftsstrategie und auf die fehlenden Arbeitskämpfe in der Industrie hin.

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Für den 28. Juni 2013 war eine grosse Industrie-Demo in Bern angekündigt. Mit dem Druck der Strasse sollten die Unternehmen der MEM-Industrie gezwungen werden, einen neuen GAV für die Branche zu unterzeichnen, der Mindestlöhne beinhaltet. Soweit wird es aber nicht kommen. Es reicht das «Verhandlungsgeschick» des Industrieverantwortlichen der Gewerkschaft Unia, Corrado Pardini, um die Unternehmen zum Einlenken zu zwingen. Nach langen Diskussionen, einem kurzfristigen Abbruch der Verhandlungen Ende April durch die Unia und der Vermittlung des früheren Seco-Direktors Jean-Luc Nordmann seies endlich gelungen, einen GAV mit Mindestlöhnen zu unterzeichnen, so die Unia. Es wird von einem «Riesenschritt» und «historischem Durchbruch» gesprochen. Unia-Mitgründer Vasco Pedrina geht sogar noch weiter und stellt einen Vergleich an mit der Durchsetzung des Rentenalters 60 auf dem Bau.

Mindestlöhne und Mindestlohn-initiative

Die Regulierung der Ausbeutungsrate der Arbeitskraft, sprich die Lohnfrage, ist wieder auf der Tagesordnung gewerkschaftlicher Politik. Gründe dafür gibt es einige: Die Personenfreizügigkeit und die äusserst bescheidenen flankierenden Massnahmen, die EU-Krise, die ständig wachsende globale «industrielle Reservearmee», die auch in der Schweiz für Lohn- und Sozialdumping instrumentalisiert wird, und schliesslich die Zunahme prekärer Beschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit in Branchen, die bis vor zwei Jahrzehnten «krisenresistent» erschienen.

Die Gewerkschaften sind bei der Lohnfrage strategisch zweispurig gefahren: Einerseits haben sie vermehrt darauf gepocht, GAV zu unterzeichnen, in denen Mindestlöhne festgeschrieben sind. So wurde neulich in der grafischen Industrie ein neuer GAV unterzeichnet zwischen Viscom (Unternehmensverband) und den Gewerkschaften syndicom und syna. Die Festlegung und leichte Erhöhung der Mindestlöhne wurden jedoch auf Kosten der Flexibilisierung akzeptiert. Firmen können in Zukunft zum Beispiel die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich erhöhen.

Andererseits haben die Gewerkschaften eine Mindestlohninitiative lanciert, die bald zur Abstimmung kommt. Kein Stundenlohn sollte 22 Franken unterschreiten. Was jedoch nicht erwähnt wurde: Der Mindestlohn von 4000 Franken wird für 12 Monate kalkuliert. Wird der 13. Monatslohn mitberechnet, so liegt der gesetzlich vorgesehene Mindestlohn bei weniger als 3700 Franken.

GAV über alles

Im neuen «Kompromiss-GAV», wie der MEM-GAV von der Unia bezeichnet wird, stehen Mindestlöhne für Ungelernte und Qualifizierte, nach drei Regionen abgestuft. Im Tessin und Jura sind die Löhne am tiefsten, in Zürich, Genf und Waadt am höchsten. Der tiefste Lohn beträgt 3300 Franken für Ungelernte im Tessin.

Der reale Widerspruch, in dem sich die Gewerkschaften befinden, wird hier deutlich: Auf der einen Seite wird eine schweizweite 4000 Franken Mindestlohninitiative lanciert, auf der anderen Seite ein GAV unterzeichnet, in dem die Mindestlöhne deutlich unterhalb des Initiative-Mindestlohns sind. Corrado Pardini weist in einem Interview mit der Gewerkschaftszeitung work (7. Juni 2013) auf diesen Widerspruch hin: «Manche der Löhne [im neuen MEM-GAV] sind zu tief. Es war ein schwieriger Entscheid. Ent-weder kein GAV, also auch keine Mindestlöhne. Oder ein GAV, der zum ersten Mal in der MEM-Geschichte Mindestlöhne festmacht.» Diese Aussage kann wie folgt gelesen werden: Die Tendenz der Unternehmen, GAV zu deregulieren und sie auf die betriebliche Ebene zu beschränken, führt dazu, dass sie keine GAV mehr unterzeichnen, wenn wichtige Errungenschaften der ArbeiterInnen nicht aus dem Regelwerk gestrichen werden. Das Resultat davon ist, dass sich Gewerkschaften auch mit «leeren» GAV zufrieden geben. Dies hat in erster Linie mit der Legitimation der Gewerkschaften selbst zu tun (wozu Gewerkschaften, wenn nicht für die Regulierung der Arbeitsbeziehungen?), aber auch mit der Finanzierung der Gewerkschaften selbst über die paritätischen Fonds, die in den GAV festgelegt sind. Aus gewerkschaftlicher Perspektive existiert also gar keine andere Möglichkeit, als weiterhin GAV zu unterzeichnen, unabhängig von ihrem Inhalt. Gleichzeitig wird jedoch mit diesen «leeren» GAV die Ausbeutung der ArbeiterInnen institutionalisiert und legitimiert.

Von Friedensabkommen zu Friedensabkommen

Pardini spricht nun davon, dass mit dem neuen GAV das Friedensabkommen 1937 zu Grabe getragen wurde und eine neue Ära der Gewerkschaftsarbeit in der MEM-Industrie beginne, nämlich eine «Sozialpartnerschaft auf Augenhöhe». Pardini kann das nur zynisch gemeint haben. Denn wenn das Friedensabkommen tatsächlich «zu Grabe getragen wurde», warum wurde kurz nach dem Abschluss des neuen GAV die Industrie-Demo in Bern abgesagt? Braucht es keinen Druck der Strasse, um die Unternehmen zu zwingen, die Mindestlöhne tatsächlich einzuhalten (wir alle kennen ja den Unterschied zwischen der gesetzlichen Verankerung von Rechten und der alltäglichen, rechtswidrigen Praxis der Unternehmen) oder gar zu erhöhen? Wird mit einer solchen Haltung nicht genau die sozialpartnerschaftliche Haltung reproduziert, auf der das Friedensabkommen 1937 basierte? Vieles deutet darauf hin.

Die andere Seite der Geschichte ist, dass Arbeitskämpfe in der MEM-Industrie äusserst rar sind oder erst dann geführt werden, wenn Entlassungen und Betriebsschliessungen ausgesprochen werden. Die ArbeiterInnen vertrauen weiterhin stark auf eine Gewerkschaftsführung, die keine Antwort kennt auf die aktuelle Situation. Bleibt dies so, dann ist der neu unterzeichnete MEM-GAV nicht ein historischer Durchbruch, sondern bloss eine historische Kontinuität.

Der Streik bei Spar!

sparFast zwei Wochen lang streikten elf Arbeiterinnen im Spar-Shop in Baden-Dättwil für mehr Lohn und mehr Personal. Mit der angedrohten Räumung wurde ihr Kampf gewaltsam beendet. Die Bedeutung des Streiks reicht aber weit über die konkrete Auseinandersetzung hinaus.

Ihren Humor hatten sie immerhin nicht verloren, als die Streikenden diesen Freitag vor dem Spar in Dättwil Flugblätter verteilten. Einen Tag nach der gewaltsamen Beendigung ihres Kampfes und zwei Tage nach Eintreffen der fristlosen Kündigungen, amüsierten sie sich über den ungelenken Versuch von Spar-Bereichsleiter Hofmann, den Boden aufzunehmen. Sie liessen sich auch von den fünf Sicherheitsleuten und der Aufforderung von Spar, das Grundstück zu verlassen, nicht beeindrucken. Als eine Frau mit Kind dem Security an der Tür die Meinung sagte, wurde sie bejubelt. Auch am letzten Tag dieses Kampfes zeigte sich noch einmal die bemerkenswerte Entschlossenheit der Streikenden.

Eine rebellische Belegschaft

Dem Streik ging ein langer Prozess voraus. Hohe Fluktuation und ständiger Personalmangel führten zusammen mit den tiefen Löhnen zu einer prekären Situation. Sie führte beim Filialleiter zu einem Burnout, und als dann die stellvertretende Filialleiterin wegen der Geburt ihres zweiten Kindes ebenfalls ausfiel, wussten die ArbeiterInnen, dass es so nicht weitergehen konnte. Der erfolgreiche Streik von 2009 bei Spar im bernischen Heimberg war einigen ArbeiterInnen bekannt und sie begannen, Kontakt mit der UNIA aufzunehmen. Es gab mehrere Monate Verhandlungen mit Spar. Die Hauptforderung der Streikenden war dabei, wie später auch im Streik, mehr Personal. Spar zeigte sich unerbittlich und lehnte jedes Entgegenkommen ab. Der Entschluss zum Aufstand, war damit leicht gefasst.

Während 11 Tagen hielten die Streikenden zusammen mit der UNIA und UnterstützerInnen die Blockade des Spar-Shops aufrecht. Frühere Arbeitskämpfe fanden oftmals ihre Grenze im Überschreiten der legalen, aber zahnlosen Protestformen. In Dättwil machten sich die ArbeiterInnen keine Gedanken darüber, ob die Besetzung des Betriebs den Rahmen der Legalität sprengen könnte. Sie wussten, dass die Blockade ihr stärkstes Druckmittel war. Schliesslich war ihnen der tägliche Umsatz ihrer Filiale ziemlich genau bekannt. An ihre – verständliche – Grenze kamen die Streikenden erst, als die unmittelbare Konfrontation mit der Polizei bevorstand. Zwar entschieden die ArbeiterInnen nicht selber über die Aufhebung der Blockade, doch sie hätten nicht anders gehandelt. Für eine direkte Konfrontation mit der Polizei hätte sich keine Mehrheit finden lassen. Damit fügten sie sich zwar in die Niederlage, behielten aber ihre Würde und gingen keinen Kompromiss bezüglich ihrer Hauptforderung nach mehr Personal ein.

Über den Konflikt hinaus

Der Arbeitskampf beim Spar in Dättwil weist weit über die Auseinandersetzung in der konkreten Filiale hinaus. Stellvertretend für die restlichen 400?000 ArbeiterInnen in der Schweiz mit einem Lohn unter 4000 Franken, kämpfte eine Belegschaft gegen die prekären Arbeitsbedingungen im Detailhandel. Ein Sieg hätte stark an der Legitimität von Tieflöhnen gekratzt und andere ArbeiterInnen ermutigt, sich für höhere Löhne und besser Arbeitsbedingungen einzusetzen. So waren am Streikfest auch ArbeiterInnen anderer Detailhandelsfirmen anwesend, die den Streik mit Interesse beobachteten. Daher waren die Kapitalisten entschlossen, einen Sieg der ArbeiterInnen um jeden Preis zu verhindern. Neben den üblichen medialen Kanälen unterstützen vor allem FDP und SVP das juristische Vorgehen gegen die Blockade, wohlwissend, dass dadurch dem Streik die Zähne gezogen würden. Der Gerichtsentscheid, der die Blockade für illegal erklärte, wurde allerdings von der Polizei lange Zeit nicht durchgesetzt. Erst als der Druck von Seiten des Spar und dwn bürgerlichen Parteien zu gross wurde, bereitete man sich auf eine gewaltsame Räumung vor. In diesem Moment zeigte sich auch noch für den letzten Demokratieidealisten in aller Deutlichkeit, dass der Staat seine Geschäftsgrundlage notfalls mit Gewalt durchsetzt.

Nach «La Providence» ist es bereits das zweite Mal, dass streikende ArbeiterInnen fristlos entlassen werden. Die angedrohte gewaltsame Räumung der Besetzung ist aber ein absolutes Novum und soll ein klares Zeichen setzen. Arbeitskämpfe, die über Demonstrationen, symbolische Aktionen und Warnstreiks hinausgehen, werden nicht geduldet. Das bringt die Gewerkschaften in ein Dilemma, denn Verbesserungen können über den Weg der Sozialpartnerschaft kaum mehr erreicht werden. Die Mindestlöhne in der Industrie, die grösstenteils noch unter den geforderten 4000 Franken der Mindestlohnintiative bleiben, sind das beste Beispiel dafür. Um bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen, müsste der Weg der Klassenkonfrontation beschritten werden. Doch das sind die Gewerkschaften nicht bereit zu tun, da die Anerkennung als Sozialpartner ihre Geschäftsgrundlage ist. In Dättwil hat die UNIA auf Drängen der ArbeiterInnen für eineinhalb Wochen die sozialpartnerschaftlichen Bahnen verlassen, indem sie die gerichtliche Verfügung unter Berufung auf das Streikrecht für illegitim erklärte. Den Streik von Heimberg im Hinterkopf, der nach zwei Tagen gewonnen werden konnte, liess sich die UNIA von der Dynamik treiben. Trotzdem zielte die ganze Argumentation der UNIA in Dättwil darauf ab, dass sich doch alle Differenzen am Verhandlungstisch lösen liessen. Doch mit dem Streik in Dättwil wurde der Mythos von der einvernehmlichen Sozialpartnerschaft in der Realität endgültig zerschlagen.

Türkei: Die Revolution ist endlich da!

türkeiMaria lebt in Istanbul und hat dem vorwärts folgenden Augenzeugenbericht zugestellt.

Wir sind seit gestern Abend (2.Juni) wieder hier auf der europäischen Seite. Gestern gab es wieder eine «Schlacht» in Besiktas, neben Erdogans Amtssitz. Es war wieder eine sehr brutale Angelegenheit und die Polizei hat sogar mit Gaspistolen in Wohnungen und in die Bahcesehir Universität geschossen. Ständig gab es Nachrichten auf facebook und Twitter, dass Erste Hilfe benötigt wird.

Wir waren im Gezi Park und dort hätte die Stimmung nicht friedlicher sein können. Alle sitzen dort, lassen Ballons steigen, singen, tanzen, reden. Es gibt eigentlich nur ein Thema. Der Protest. Wer war wo an welchem Tag. Wer nimmt was wie wahr, wie fühlt man sich mit all dem?

Ein Freund meines Mannes, mit dem ich mich vor einer Woche darüber unterhalten hatte, dass Leute auf die Strasse gehen müssten, statt ihr ein Leben im Ausland zu planen, rief: «Maria, you told me last week that this is possible! I didn’t believe it and now it happened!» Er ist übrigens einer derer, die seit zwei Tagen an vorderster Front standen und von dem Wasserstrahl umgeworfen wurde, auch diverse Stiefeltritte hat er abbekommen. Aber sein ganzes Gesicht strahlte, als er mir gestern sagte, dass er glücklich ist, dass «die Revolution nun endlich da ist.»

Gegen 1.30 Uhr ging langsam das Gerücht rum, dass die Polizei auf dem Weg zum Park ist. Ein Mann ging rum, um jedem seine Blutgruppe mit Edding auf den Arm zu schreiben, damit die Ärzte schneller Bescheid wissen, falls was passiert. Es gab Aufrufe, die Barrikaden noch ein bisschen höher oder breiter zu bauen und viele Leute sammelten alles was nicht niet und nagelfest ist von der Baustelle und brachten es zu den Barrikaden. Ich stellte mich dann an den Ausgang zum Park, der in Richtung der Wohnung meiner Freundin führt, nur für den Fall, dass man schnell raus muss.

Einer sagte: «Leute, es ist zu gefährlich, hier neben der Baustelle zu stehen. Lasst uns in den Park gehen, damit wir andere Fluchtwege haben und nicht in die Baustelle fallen.» Also zogen sich alle in den Park zurück. Doch nichts passierte. Eine Stunde war Warten angesagt. Dann entspannte sich die Situation wieder und viele kamen zurück auf die Strasse. Die Barrikaden haben gehalten! Es gibt keine Möglichkeit mehr für die Polizei, mit ihren Wasserwerfern in den Park zu gelangen! Was für ein Erfolg!

Allerdings gibt es heut auch schlechte Nachrichten. Die Verhafteten werden scheinbar dazu gezwungen ein Formular zu unterschreiben, das besagt, sie werden von ihrem Recht jemanden anzurufen nicht Gebrauch machen. Erdogan spricht davon, dass jene 50 Prozent der BürgerInnen, die ihn gewählt haben, gegen die DemonstrantInnen kämpfen wollen und er sie nicht mehr lange zurückhalten kann… Und vorsichtshalber, bevor es hier richtig brenzlig werden könnte, ist er für vier Tage nach Afrika abgereist…

3.Juni

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wundervoll es ist, diese grenzenlose Solidarität hier zu erleben. Dies ist eine Protestbewegung, die sich durch wirklich ALLE sozialen Schichten zieht. Ich habe ja schon erzählt, dass alle jeden mit Milch und Zitronen versorgen. Aber das ist wirklich nicht alles. Zum Beispiel gab es eine Situation, als mein Mann, zusammen mit vielen anderen vorgestern vom Taksim Platz in eine Seitenstrasse stürmte, um einer Gasattacke zu entgehen und wirklich jede Tür summte, die gesamte ssentlang, weil Menschen in den Häusern die Türöffner drückten, um die Flüchtenden hereinzulassen. Und nicht nur die Haustüren waren offen, auch alle Wohnungstüren waren offen. Die Menschen gaben Wasser, ihre Sofas, ihre Badezimmer. Was immer gerade gebraucht wurde. Yalin sagt, in diesem Moment war ihm klar, dass die Bewegung gewinnen wird. Denn wie soll ein bisschen Gas oder die vermeintlichen 50  Prozent gegen all diese Menschen gewinnen, die auf diese Weise ihre Solidarität ausdrücken?

Gestern Abend ging ein Mann von etwa 65-70 Jahren durch die Gaswolke und verteilte Wasser an alle.  Die Verkäufer im Bakkal (Späti), Taxifahrer, StudentInnen, AnwältInnen… Alle sind auf einmal füreinander da. Es scheint keine Unterschiede mehr zu geben. Und das hier, in Istanbul, wo die sozialen Unterschiede eigentlich sehr deutlich waren. Wo die reicheren, den «kleinen» VerkäuferInnen nicht mal richtig in die Augen geschaut haben.

Heute sahen wir sogar zwei Jungs nebeneinander hergehen. Einer im Besiktas-Trikot, der andere im Fenerbahce-Trikot. Das mag euch jetzt nicht so wichtig vorkommen… Aber zwei Fans der beiden sonst bis aufs Blut verfeindeten Rivalen, in ihren Clubfarben, nebeneinander, friedlich im Gespräch … ein zuvor undenkbares Bild! Heute sprachen wir mit einer Mutter und ihrer Tochter. Die Tochter kam gerade aus Ankara zurück. Sie erzählte, sie habe gestern Abend gesehen, dass eine junger Mann am Arm verletzt worden war und blutete. Eine Frau mit Kopftuch sagte: «Was machen sie nur mit uns?», nahm ihr Kopftuch ab (!) und gab es ihm, um seinen Arm zu verbinden. Was auch unglaublich überwältigend ist, sind die «Topf-mit-Löffel-Konzerte» jeden Abend um 9.00 Uhr. Es begann vor ein paar Tagen, dass Leute von zuhause aus ihre Solidarität zeigen wollten. Sie standen an ihren Fenstern und schlugen mit Löffeln auf Töpfe, Siebe, Kannen, was immer Lärm macht. Nun wurde dazu aufgerufen, jeden Abend um 21 Uhr das gleiche zu tun. Vorgestern klopften Freundinnen von mir wie wild, gemeinsam mit einigen Nachbarn, mit denen man sonst nie viele Worte wechselt. Sie riefen sich danach zu:“Yarin ayni zaman görüsürüz!“ Morgen um die gleiche Zeit sehen wir uns wieder! Und heute, ich bin gerade wieder zuhause, weil ich morgen eine Klausur schreiben muss, stand ich mit meiner Schwiegermutter auf dem Balkon und wir klopften wie wild. Aber nicht nur wir. Die gesamte Nachbarschaft. An fast jedem Fenster stehen Menschen mit ihrer Kücheneinrichtung! Dazu schalten die Menschen ihre Lichter immer an und aus. Es sieht wundervoll aus und klingt phantastisch! Autofahrer, die nun mal eben gerade keine Töpfe zur Hand haben, hupen, Fußgänger pfeifen. Gänsehaut, 15 Minuten lang! Und es wurde bisher jeden Abend lauter.

Was auch sehr schön ist, sind die Sprüche, die auf Schildern stehen, an Wände gesprayt werden oder gepostet. Ein Schild sagte: «Thanks Tayyip, for making me feel at home! A Syrien refugee.»

An einer Wand stand: „Liebe Polizei, warum habt ihr uns zum Weinen gebracht? Wir waren auch vorher schon emotional genug.“ Oder (Das Tränengas heisst auf Türkisch Biber Gazi) «Just in Biber»

Was auch wunderbar war, wurde auf Twitter gepostet. Erdogan behauptet ja ständig, dass es lediglich eine Randgruppe ist, die auf der Strasse demonstriert. Und jemand hat gepostet: «Ich laufe mit einer Gasmaske durch die Strasse und trage eine Schwimmbrille. Oh mein Gott, ich bin eine Randgruppe!»

Nun ja, all diese schönen Momente und diese grenzübergreifende Solidarität sind es, die alle immer wieder auf die Strasse bringen. Es sind wieder Tausende im Park und auf dem Platz. Leider wurde in der Nähe wieder Gas geworfen und die Auswirkungen sind bis dorthin zu spüren. Zum ersten Mal seit zwei Nächten muss man nun auch im Park wieder Masken und Schwimmbrillen tragen, nicht nur in Besiktas, wo es übrigens auch gerade jetzt wieder kracht. Ich weiss auch nicht warum ich wieder mal gerade nicht dort bin, sondern zuhause, anstatt im Park wie gestern die halbe Nacht… Vielleicht ist es doch das Nazar Boncugu, das Yalin mir schenkte bevor ich nach Palästina gereist bin, das mich immer wieder vor den gefährlichsten Situationen bewahrt…

Tanz dich frei 3

Tanz-dich-frei-Bern-2013-1Am 25. Mai nahmen sich in Bern 10?000 Personen ungefragt den Freiraum der Strasse. «?Wem gehört die Stadt?» lautete das Motto von «?Tanz dich frei 3?». Jene, welche die Eskalation seit -Wochen herbei-geschwatzt haben, müssen nun einige Fragen beant-worten. Die Partei der Arbeit Bern verurteilt den Einsatz der Polizei. 

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Was im Vorfeld des 25. Mai veröffentlicht wurde, las sich wie die Chronik einer angekündigten Katas-tro-phe: Gemeinderat, Polizei, Medien und die meisten politischen Parteien wurden nicht müde, sich gegenseitig mit Horrorszenarien und Vorverurteilungen der Veranstaltung «Tanz dich frei 3» zu übertrumpfen. Da wurden die Fanmärsche vor dem Fussball-Cupfinal vom Pfingstmontag zum unheilschwangeren Vorspiel stilisiert. Sensible Politschnüffler rochen Gewalt in der Luft, während die «Jugendversteher» sich übers apolitische und wohlstandsverwahrloste Partyvolk in Markenklamotten ausliessen, das noch nie etwas geleistet hätte. Solche Diffamierungen sind es, die wütend machen – immer wieder und immer noch!

Hämisch wurde der Wetterbericht wie eine Trumpfkarte ausgespielt. Und er kam: der Regen. Und das tanzende Volk kam trotzdem. Und es kamen Tausende. Sie tanzten und sie lieferten den lebendigen Beweis, dass der öffentliche Raum nach Ladenschluss nicht eine Wüste sein muss. Und sie tanzten, bis das Tränengas kam, der Wasserwerfer, der Gummischrot. Und viele tanzten auch dann noch weiter. Und viele schüttelten einfach nur den Kopf, weil nicht zu erkennen war, was denn plötzlich in die Polizei gefahren war. Und man muss sich diese Frage immer noch stellen.

Rechtsstaat als Ärgernis

War es eine Vergeltungsaktion für ein Scharmützel an einem Zaun, ein Akt von Kollektivbestrafung – etwa nach dem Leserbriefmotto: mitgegangen, mitgehangen? Oder war das die endgültige Ver-abschiedung der Strategie der Deeskalation? Oder war es etwa schlicht der Druck der ideologischen, materiellen und personellen Aufrüstung für den -Anlass? Musste es einfach so weit kommen, damit ein Kalkül aufgeht? Diese Fragen müssen sich all jene stellen, welche die Eskalation seit Wochen herbeigeschwatzt haben.

Aber viele von ihnen – in den Parteien, in den Medien, in der Polizei und im Gemeinderat – scheinen immer noch nicht genug zu haben. Und sie drehen weiter an der Schraube und steigern sich in ihren repressiven Fantasien in einen wahren Rausch hinein. Dass dabei rechtsstaatliche Gepflogenheiten bloss noch als Ärgernis gelten, versteht sich fast schon von selbst. Und dass auf diesem Boden Aufforderungen zur Denunziation gedeihen – wen mag das noch zu erstaunen? Hier haben wir die wahren Folgeschäden, die nicht so einfach zu kitten sind.

Es kamen Tausende und trotzten dem Wetter, der Angstmache und der Vorverurteilung. Weil sie sich nicht spalten und gegeneinander ausspielen liessen. Darin lag die Stärke von «Tanz dich frei 3». Darin liegt aber auch die Voraussetzung für ein «4» und darüber hinaus für jede Belebung des städtischen Raums, die sich nicht an Profitinteressen misst. Dieser Tanz muss weitergehen – gemeinsam!

Kritik am Kapitalismus

«Die Partei der Arbeit verurteilt den übertriebenen Einsatz der Polizei, die trotz Kenntnis der Route die Demonstration nicht ziehen liess und auf ihrem mobilen Polizeistützpunkt direkt neben der Demonstrationsroute beharrte», schreibt die PdA Bern in ihrer Medienmitteilung. «Die Polizei setzte Tränengas und Pfefferspray ein, bevor der erste Stein flog. Mit der bewährten Deeskalationsstrategie hätte der Abend nicht eskalieren müssen und es wäre wie vergangenes Jahr bei Sprayereien geblieben.» Für die Berner GenossInnen ist auch klar, um was es bei «Tanz dich frei 3» geht: «Um die Kritik am Kapitalismus – an einem System, das weit mehr zerstört als Scheiben und Blumentöpfe.»

Personenfreizügigkeit und Ausschaffung

abgelehntVielen ist noch unbekannt, dass die Schweiz nicht nur Asylsuchende, sondern auch europäische ArbeitsmigrantInnen des Landes verweist. Diese Praxis steht in Spannung zum neuen EU-Recht und wird in Zukunft wohl vermehrt zu Konflikten führen. Der Fall einer portugiesischen Arbeitsmigrantin, die sich gegen ihre Ausschaffung wehrt, wird zur Zeit im Bundesgericht behandelt.

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Im 2006 hat die stimmberechtigte Bevölkerung das neue Ausländergesetzt angenommen. Es regelt unter anderem die Einreisebestimmungen für ArbeitsmigrantInnen aus den EU-Ländern. Seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes sind die Sozialämter verpflichtet, sozialhilfeabhängige ArbeiterInnen den Migrationsämtern zu melden. Damit hat sich die Wegweisungspraxis der Kantone verschärft. Bezieht jemand mit einer B-Bewilligung Soziahilfegelder in der Höhe von mindestens 25 000 Franken, prüfen die Migrationsämter die Rücknahme der Aufenthaltsbewilligung und somit die Ausschaffung der betroffenen Person.

Das Migrationsamt des Kanton Zürichs hat laut einer kürzlich erschienen Statistik seit Anfang 2012 30 arbeitslose MigrantInnen mit einer B-Bewilligung ausgeschafft, davon stammten 14 aus dem EU- und Efta-Raum.

Streitfall vor Bundesgericht

Die Debatte wird in den bürgerlichen Medien oft als «administrative» Umsetzung der Rechtsprechung geführt. Die aktuellen bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU stehen in Spannung zum neuen EU-Recht. Denn dieses sieht vor, dass den migrantischen ArbeiterInnen nach fünf Jahren ein Daueraufenthaltsrecht zu erteilen ist, das nicht mehr an die ursprünglichen Bedingungen geknüpft ist. In der Schweiz sollten also laut EU-Recht nach fünf Jahren alle Personen mit B-Bewilligung eine Niederlassungsbewilligung (C-Bewilligung) erhalten. Das aktuelle Freizügigkeitsabkommen erlaubt jedoch, die Verlängerung der ersten fünfjährigen Aufenthaltsbewilligung (B-Bewilligung) eineR migrantischen ArbeiterIn auf ein Jahr zu befristen, wenn sie bzw. er arbeitslos ist. Im Bundesrat laufen die Auseinandersetzungen um die Anpassung der bestehenden bilateralen Verträge ans EU-Recht. Ob und wann dies konkret wird, ist offen.

Das Bundesamt für Migration (BFM) strebt jedoch in der aktuellen Situation einen Präzedenzfall an und zieht den Fall einer alleinstehenden arbeitslosen Portugiesen ans Bundesgericht weiter. Der Frau wurde wegen Sozialhilfebezugs die Aufenthaltsbewilligung entzogen. Dagegen hat sie Beschwerde eingereicht und diese wurde vom kantonalen Verwaltungsgericht gutgeheissen. Bestätigt auch das Bundesgericht dieses Urteil, müssen die Kantone ihre Ausschaffungspraxis von ArbeiterInnen mit B-Bewilligung anpassen.

Eine politisch brisante Frage

Im Kontext steigender Langzeitarbeitslosigkeit in Europa, der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU und der Konflikte um gewerkschaftsfeindliche Entlassungen in der Schweiz (vgl. Seite 3) gehen Fragen der Ausschaffung von Arbeitsmigrant-Innen über den «administrativen» Charakter hinaus. Die Prognosen für die EU-Länder, aus denen viele ArbeitsmigrantInnen in die Schweiz einreisen, sind alles andere als rosig. In Spanien ist kaum eine Verbesserung der Lage zu verzeichnen. Rezession und hohe Arbeitslosigkeit dominieren auch die sozioökonomische Entwicklung in Portugal. Und in Italien dauert der sozioökonomische Restrukturierungsprozess an, Sinnbild dieses Prozesses ist der Wandel der Arbeitsbeziehungen, der in Anlehnung an den FIAT Chef als «Marchionne System» bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um die Ausschliessung gewerkschaftlicher VertreterInnen, die sich gegen ökonomische Restrukturierungen wehren.

Heute fungieren die südeuropäischen ArbeitsmigrantInnen also als «industrielle Reservearmee» für die «strukturell starken» Ökonomien Nordeuropas (u.a. Deutschland, Schweiz). Sie dienen als Manövriermasse und als Instrument der Durchsetzung von Lohn- und Sozialdumping. Eine Antwort auf diese Entwicklungen kann weder in der Aufkündigung der bilateralen Abkommen (zum Beispiel in der Form der Einwanderungsinitiative der SVP) liegen, noch ausschliesslich auf intensivere Arbeitsmarktkontrollen (wie von einigen Gewerkschaften und linken Parteien gefordert) basieren. Einzig die Verbindung der Lohnabhängigen, der Erfahrungsaustausch ihrer individuellen und kollektiven Mobilisierungen über Staat und Nation hinaus und auf der Basis ihrer Klassenzugehörigkeit können die Rechte aller Lohnabhängigen stärken.

Ausbeutung und Widerstand in China

foxcomNach «Dagongmei» und «Aufbruch der zweiten Generation», Bücher über die WanderarbeiterInnen Chinas, ist nun ein weiteres Buch in deutscher Sprache über die Klassenzusammensetzung und den Widerstand in China erschienen. In «iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken?» geben -ArbeiterInnen und WissenschaftlerInnen Einblick in das Fabriksystem des tai-wanesischen Konzerns Foxconn.

Ende Mai erhielten wir wieder einmal traurige Nachrichten aus China: Zwei Arbeiter und eine Arbeiterin des wichtigsten Apple-Zulieferers Foxconn haben sich in den Tod gestürzt. Die Gründe seien noch unklar, doch auch die bürgerlichen Medien konnten einen Zusammenhang mit der Suizidserie im Jahre 2010 nicht bestreiten. AktivistInnen von Solidaritätsgruppen in China, Hongkong und anderen Ländern wiesen auf die miesen Arbeitsbedingungen und die militärische Unternehmensführung als Ursachen der Selbstmorde hin. Sie prangerten die gezielte Spaltung und Vereinzelung der ArbeiterInnen in den Werkhallen und Wohnheimen an, mit der Foxconn Arbeiterwiderstand verhindern will.

Um mehr über die konkreten Bedingungen zu erfahren, startete eine Forschungsgruppe im Frühjahr 2010 ein Untersuchungsprojekt. Die Ergebnisse sind nun auch in deutscher Sprache erschienen und sie setzen an zwei Erzählweisen an: «Zum einen analysieren Mitglieder des Untersuchungsteams wichtige Aspekte des Foxconn Modells, zum anderen erzählen einzelne ArbeiterInnen ihre Geschichte des Alltags und der Ausbeutung in den Fabriken Foxconns.» (S. 9)

Die verborgene Stätte der Produktion

«Diese aller Augen zugängliche Sphäre (Markt und Zirkulation) verlassen wir, zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgene Stätte der Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business (Eintritt nur in Geschäftsangelegenheiten). Hier wird sich zeigen […] wie das Kapital produziert wird […] Das Geheimnis der Plusmacherei muss sich endlich enthüllen.» (S. 189) So beschreibt Marx im ersten Band des Kapitals die Notwendigkeit, innerhalb der Produktionssphäre – also in den Betrieben selbst – Ausbeutung und Widerstand genau zu analysieren, um Klassen- und Kapitalverhältnisse zu verstehen. Der Zugang zur Produktionssphäre ist jedoch alles andere als leicht. Das haben auch die ForscherInnen erlebt, die die Foxconn-Fabriken analysiert haben. «Das Untersuchungsteam wandte sich bereits im Mai 2010 schriftlich an die Foxconn-Zentrale, um mit ihrem Einverständnis die Lage in den Fabriken untersuchen zu können, aber von Seiten Foxconns kam keine Reaktion.» (S. 30) Auch die sozialwissenschaftliche Arbeit ist also keine neutrale Tätigkeit, sondern stets ein umkämpftes Feld, in dem sich unterschiedliche gesellschaftliche Interessen gegenüberstehen.

Foxconns Produktionsregime

Bei Foxconn, dem weltgrössten Elektronikhersteller und Chinas Weltfabrik Nummer eins, stellt sich das ökonomische Entwicklungsmodell Chinas fast idealtypisch dar. Die Betriebsführung basiert auf einem repressiven Überwachungs- und Bestrafungssystem. Eine Fliessbandarbeiterin sagt: «Wir sind wie Staubkörner. Die Linienführerin sagt oft, dass es egal ist, ob diese oder jene am Band steht. Wenn du gehst, kommt halt eine andere und macht deine Arbeit. In dieser Fabrik zählen wir ProduktionsarbeiterInnen nicht. Wir sind nur ein Arbeitsgerät.» (S. 58/59)

Die despotische Fabrikorganisation zeigt sich in der materiellen Situation der ArbeiterInnen. Aufgrund der Suizidserie Anfang 2010 hatte Foxconn angekündigt, die Löhne um 30 Prozent zu erhöhen. Doch real tendieren die Grundlöhne immer weiter nach unten und die ArbeiterInnen erreichen nur dann einen Lohn, der zum Überleben reicht, wenn sie Überstunden leisten. Über 40 Prozent der Einkommen besteht aus Überstundenlohn. Arbeitsschutz, Pausen, Respekt gewerkschaftlicher Rechte sind Fremdwörter bei Foxconn.

Andererseits wendet Foxconn zur Disziplinierung der ArbeiterInnen Formen der «ideologischen Um-erziehung an» (S. 61), um einen Unternehmensgeist zu schaffen und den ArbeiterInnen klarzumachen, dass das Unternehmen an erster Stelle zu stehen hat. «Mühsal ist die Grundlage von Reichtum, praktische Umsetzung ist der Weg zum Erfolg» – mit solchen Diskursen garantiert Foxconn eine «Kultur des Gehorsams».

Arbeitskämpfe bei Foxconn

ArbeiterInnen machen die Produktionshallen jedoch auch zum Schlachtfeld. Die Länge des Arbeitstages, die Arbeitsintensität, die Arbeitsgeschwindigkeit und die Organisation des Arbeitsprozesses stehen im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzung. Streiks, Ausschreitungen, Strassenblockaden, Dachbesetzungen und Selbstmorddrohungen haben das Management herausgefordert, doch an der Produktionsorganisation hat sich bisher wenig verändert. Die Kommunikation zwischen den ArbeiterInnen hat sich aber dadurch auch weiterentwickelt, und die Erfahrung kollektiver Mobilisierungen in Fabrikhallen und Wohnheimen war wichtig (vgl. Kap. 7).

Klassenkampf als Subjekt der Geschichte

«Die AutorInnen des Buches fokussieren auf die Darstellung des Ausbeutungsregimes – Drill, Wohnheime, Verlagerung – als Antwort auf Arbeiterverhalten – Fluchtträume, Fluktuation, Kämpfe.» (S. 12) Damit nehmen die AutorInnen eine theoretische Position ein, die die Zentralität des alltäglichen Konflikts im Produktionsprozess als den treibenden Motor der wirtschaftlichen Entwicklung versteht. Sie knüpfen an die operaistische Tradition an: Technologie und Organisation der kapitalistischen Produktionsweise als Methode der Beherrschung und Kommandierung lebendiger Arbeit werden radikal kritisiert. Damit vollziehen sie einen Bruch mit dem Verständnis der bürgerlichen Ökonomie und mit dem «orthodoxen» Marxismus, die beide die ArbeiterInnen im unmittelbaren Produktionsprozess zu «ZuschauerInnen» der historischen Entwicklung degradieren. Vielmehr wird der alltäglich von den ArbeiterInnen geführte Klassenkampf zum Subjekt der Geschichte. Die Notwendigkeit unserer solidarischen Unterstützung des Widerstandes der ArbeiterInnen in China kann damit auch als Ausgangspunkt dienen, über unsere eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen nachzudenken.

Repression gegen Alle

ZürcherSKDie Abstimmung über das verschärfte Konkordat «über Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen» steht an. Mit einem Nein können sich die Zürcher StimmbürgerInnen für die Grundrechte und gegen unsachliche Law-and-Order-Politik stark machen. Ein Beitrag der Zürcher Südkurve.

vorwärts Nr. 17/18 vom 10. Mai 2013

Am 9. Juni stimmt die Zürcher Stimmbevölkerung über die Verschärfung des Konkordats «über Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen» ab. Dieses Konkordat ist in der Schweiz seit 2010 in allen Kantonen in Kraft. Das Konkordat enthält Bestimmungen, welche im Jahr 2008 im Rahmen des «Bundesgesetzes zur Wahrung der inneren Sicherheit»  (BWIS) zeitlich begrenzt und extra für die Fussball-Europa- und die Eishockey-Weltmeisterschaft in der Schweiz erlassen wurden. Obwohl an diesen beiden Grossereignissen, die im Vorfeld von Politik und Polizei angekündigten und befürchteten Gewaltereignisse nicht eintraten, überführte die «Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren» (KKJPD) die Bestimmungen mittels Konkordat ins kantonale Recht. 2010 traten dem Konkordat alle Schweizer Kantone bei. Seither wird mit Rayonverboten und Meldeauflagen gegen sogenannte «GewalttäterInnen» an Fussball- und Eishockeyspielen vorgegangen. Bereits im Vernehmlassungsverfahren zu diesem Konkordat kritisieren die «Demokratischen Juristinnen und Juristen Schweiz», dass der Begriff «gewalttätiges Verhalten» in diesem Konkordat mit dem Bundesrecht «nicht vereinbar» sei, weil diese durch das schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) geregelt und definiert werden. Kritisiert wurde damals auch, dass laut Konkordat bereits das Vorliegen eines bestimmten Verdachts oder Aus-sagen gewisser Personen reichen, um die Freiheit einer betroffenen Person «unverhältnismässig einzuschränken».

Eine seltene Ausnahme

Die damalige Präsidentin der KKJPD und St.Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter spielte sich mit dem Themen «Fans» und «Hooligans» ins mediale Rampenlicht. Sie berichtete von unhaltbaren Zuständen in den Stadien, von einer immensen Gefahr, welche von einzelnen «gewaltbereiten Fans» ausgehe und sie versprach mit diesem Konkordat die Probleme zu lösen. Bereits bei der Einführung des Konkordats konnte aber nicht mit Zahlen und Fakten, sondern lediglich mit einzelnen Bildern aus der Medienberichterstattung argumentiert werden. Gebetsmühlenartig wurden die Bilder vom Meisterschaftsfinale 2006 oder den Fackelwürfen von Basel 2009 gezeigt und der Stimmbevölkerung so vermittelt, dass solche Vorkommnisse in Sportstadien zur Tagesordnung gehören. Wer gegen das Konkordat aufmuckte wurde als Gewaltverherrlicher oder Verharmloser beschimpft. Karin Keller-Sutter gewann 2011 den Swiss-Award in der Kategorie «Politik» und wurde beinahe in den Bundesrat gewählt. Ihr Feingespür, mediale Schlagzeilen in die Politik einzubeziehen, zu dramatisieren und die Medien immer wieder mit neuen Geschichten zu füttern, erwies sich als voller Erfolg.

Ganz anders die Erfolgsbilanz des Konkordats. Trotz dessen Einführung kam es auch nach 2010 zu einzelnen unschönen Ereignissen in Sportstadien. Trotz minutiösen Besucherkontrollen, reinen Sitzplatzkurven, Alkoholverbot und massenhaft privater Sicherheitskräfte in den Stadien konnten weder die Ausschreitungen im Letzigrund-Gästesektor beim Spiel FC Zürich – FC Basel im Frühling 2011 noch der erneute Fackelwurf am Zürcher Derby im Oktober 2011 verhindert werden. Aufgrund dieser Vorkommnisse wurden die Boulevardpolitiker aber wieder aktiv. Angestachelt von der öffentlichen Empörung beschlossen sie, das Konkordat weiter zu verschärfen. Dass die Anzahl Personen, welche in der Hooligan-Datenbank gespeichert sind aber über Jahre relativ konstant ist, dass die Gewalt in Stadien rückläufig ist und dass solche Extrembeispiele weiterhin eine seltene Ausnahme bilden, wird ignoriert. Am 9. Juni stimmen wir im Kanton Zürich über die Verschärfung ab.

«Den Hurensöhnen haben wir es gezeigt»

Auffällig ist bei dieser Verschärfung, dass die Massnahmen nicht mehr gegen einzelne Personen, sondern gegen sämtliche BesucherInnen von Fussball- und Eishockeyspielen in den beiden höchsten Schweizer Ligen gerichtet sind. Neu sollen bei gewissen Spielen flächendeckende ID-Kontrollen durchgeführt werden. Dies obwohl eine generelle Ausweispflicht im Kanton Zürich fehlt. Weiter soll den Gästefans vorgeschrieben werden, mit welchen Transportmitteln und auf welchem Weg sie ins Stadion gelangen sollen. Ein FC Basel- Fan aus Zürich müsste also, um das Spiel FCZ-FCB im Gästesektor des Letzigrunds verfolgen zu können, zuerst von Zürich nach Basel reisen, um dort mit dem von den Behörden vorgeschrieben Transportmittel zurück nach Zürich zu kommen. Auch das im verschärften Konkordat vorgesehene Alkoholverbot im Stadion und im Stadionumfeld bestraft alle SpielbesucherInnen und das umliegende Kleingewerbe gleich mit. Störend ist, dass die V.I.P.-Logen von dieser Bestimmung ausgenommen sind. Besserbetuchte können sich also von den Schikanen freikaufen. Auch wollen die PolitikerInnen in den Logen scheinbar nicht auf ihr Bier verzichten. Die Zweiklassengesellschaft in Sportstadien wäre damit perfekt. All diese Massnahmen können die Behörden mit der sogenannten «Meldeauflage», welche neu im Konkordat wäre, erzwingen. Im Bericht der KKJPD ist sogar von Fahnen-, Megaphon- und Choreographieverboten die Rede.

Der Fakt, dass Rayonverbote und Meldeauflagen im verschärften Konkordat für maximal drei Jahre und schweizweit, statt wie bisher lokal und nur für ein Jahr ausgesprochen werden können, lässt ebenfalls jede Verhältnismässigkeit vermissen. Gerade wenn man bedenkt, dass dabei bereits Aussagen von privaten Sicherheitskräften reichen. Dass diese Sicherheitskräfte, auch zum Sicherheitsproblem werden können, zeigten verschiedene Ereignisse der letzten Jahre. So schrieb ein Mitglied der Delta-Security auf seinem Facebook-Profil nach einem Spiel: «Den Hurensöhnen haben wir es gegeben. (…) Am Samstag ficken wir die Inzuchtbuben vom Rhein gleich nochmals (…) Am Samstag werden die Basler in Sion wieder bluten».  Zudem gab es Mitglieder, die sich mit Naziemblemen oder dem Spruch «All Cops are Bastards» schmückten. Vor kurzem sorgte die Firma Protectas für Aufsehen: In einem internen Film zünden zwei Mitglieder zu martialischer Musik zwei Seenotfackeln. Auch hier soll natürlich nicht dramatisiert werden. Auch hier kann von Einzelfällen gesprochen werden, doch es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob der Staat das Gewaltmonopol in dieser bedenklicher Art und Weise aus der Hand geben soll. Zudem dürfen private Sicherheitskräfte die ZuschauerInnen nach dem verschärften Konkordat auch ohne Verdacht über den Kleidern am ganzen Körper abtasten.

«Mit Grundrechten spielt man nicht»

Wie der Zürcher AL-Kantonsrat Markus Bischoff an der Pressekonferenz des Referendumskomitees «Kollektivbestrafung Nein», sagte, gelte in der Schweiz das Störerprinzip. Die Polizei hat also gegen StörerInnen vorzugehen. Im Konkordat werden Sportfans aber grundsätzlich als StörerInnen angesehen. Das verschärfte Konkordat arbeitet mit Kollektivstrafen und schafft ein Sondergesetz für Menschen, die ihre Freizeit gerne in Sportstadien verbringen. Es tritt Grundrechte mit Füssen und schränkt die Freiheit der BürgerInnen massiv ein. Die Erfahrung zeigt, dass repressive Massnahmen gerne zuerst an in der Öffentlichkeit weniger positiv wahrgenommen Personengruppen ausprobiert werden, um sie später auf weitere Gesellschaftsbereiche auszudehnen. Der Grüne Gemeinderat Markus Kunz sagt: «Mit Grundrechten spielt man nicht!» Das Konkordat gilt es am 9. Juni wuchtig abzulehnen.

Kleines Krisen-Update

Finanzminister beraten über Euro-Krise

Die Krise wütet in der Euro-Zone, vom Zweckoptimismus des politischen Personals gänzlich unberührt, weiter.  Ein (zu) kurzer ökonomischer Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand des Schlamassels.

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Die litauische Präsidentin, Dalia Grybauskaite, verkündete kürzlich in einem Interview mit der «Deutschen Welle», dass es überhaupt keine Euro-Krise gebe. Ihr Kollege, der EU-Kommissionspräsident José Manuel Borroso, war in Bezug auf die Vergangenheit etwas realitätsnäher, aber auch er erklärte auf dem «WDR Europaforum» kürzlich: «Die existenzielle Krise des Euro ist vorbei». Diese Aussagen deuten entweder auf einen grassierenden Realitätsverlust bei Teilen des politischen Personals hin oder aber sie sollen vor allem eines sein: selbsterfüllende Prophezeiungen. Man möchte die Zuversicht bei den MarktteilnehmerInnen fördern und ignoriert dazu schlicht die reellen Problemen, die sich unvermindert in die Nationalökonomien der Euro-Zone fressen.

Die Proletarisierten können eine Lied vom Ende der Krise singen: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in der Euro-Zone bei rund 24 Prozent; angeführt von Griechenland und Spanien, die mittlerweile mit knapp 60 Prozent Arbeitslosen unter 25 Jahren zu Buche schlagen. Die «Zukunft der Gesellschaft» wächst ohne Zukunft heran. Derzeit werden in Spanien täglich über 500 Familien aus ihren Häusern geworfen; seit Beginn der Krise wurden über 400 000 Räumungen vollstreckt. Die Austeritätsprogramme in den Krisenstaaten sorgen dafür, dass allerorts Betroffene nur schlecht aufgefangen werden und die wohltätigen Suppenküchen kaum dem Ansturm gewachsen sind. Doch auch wenn man den Blick vom zunehmenden Elend der Proletarisierten weg, hin zu den nackten Wirtschaftsdaten lenkt, sieht es nicht wesentlich besser aus.

Krisenphänomene

Die neusten Quartalszahlen der Euro-Zone sprechen von einem Sinken des Bruttoinlandproduktes (BIP) von 0,2 Prozent. Von einer Rezession spricht man im Allgemeinen, wenn das BIP in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen sinkt. Es ist nun aber bereits das sechsts Quartal in Folge, dass die Wirtschaftsleistung der Euro-Zone schrumpft. Das schwache Wachstum der deutschen Nationalökonomie kann diesem Trend nicht entgegenwirken – und ist übrigens nur auf Kosten von Staaten möglich, die deutsche Waren importieren. Für den Krisenstaat Zypern rechnen ExpertInnen 2013 mit einem Einbruch des BIP von 8,7 Prozent. Die Ideologie des beständigen Wachstums, wie sie von ExpertInnen und PolitikerInnen wie ein Mantra beschworen wird, hat ihren wahren Kern, auch wenn sie selber davon keinen Begriff haben?: Das Kapital kann sich nur auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren. Geld muss profitabel investiert werden und der entstehende Mehrwert als Kapital neu in den Produktionsprozess fliessen – alles natürlich bei entsprechenden Profitraten. Eine stagnierende oder gar sich verkleinernde Volkswirtschaft zeigt also nicht weniger an, als dass sich gewisse Kapitale nicht mehr reproduzieren können.

Die wachsenden Staatsschulden hängen natürlich damit zusammen: Nebst der stockenden (momentan aber zumindest kurzfristig wieder etwas besser laufenden) Refinanzierung auf den Finanzmärkten sind vor allem die damit verbundenen sinkenden Steuereinnahmen durch die Unternehmen ein Problem. Die Rezession führt aber auch zu einem Einbrechen der Einnahmen der Massen durch Arbeitslosigkeit. Dies wiederum untergräbt das Steuersubstrat. Zudem wird dadurch die Massennachfrage reduziert, was einige Linke fälschlich zur Ursache der Krise verklären.

Krise des Kapitals

Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht seit einiger Zeit diesen Prozessen mit verschiedenen Massnahmen Herr zu werden: Sie erklärte, dass sie im Krisenfall die betreffenden Staatsanleihen aufkaufen würde. Dies führte dazu, dass die Finanzmärkte wieder etwas Vertrauen fassten und etwa riskante italienische Staatspapiere aufkauften. Bloss: Sollte der italienische Staat, immerhin die drittgrösste Nationalökonomie der EU, tatsächlich Bankrott gehen, ist es mehr als fraglich, ob die monetären Mittel der EZB ausreichen, um die entsprechenden Schrottpapiere aufzukaufen. Ausserdem senkte die EZB den Leitzins auf 0,5 Prozent und versucht so Geld in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen. Die Vorstellung dabei ist, dass dieses Geld in die produktive Wirtschaft fliesst und einen Wirtschaftsaufschwung generiert, der auch die Arbeitslosenzahlen nach unten korrigiert. Blöd nur, dass dieses Geld momentan gerade das nicht macht, sondern in hochspekulative Bereiche abfliesst und die Börsenkurse unabhängig von der sogenannten Realwirtschaft befeuert – was zu allerhand veritablen Blasenbildungen führt. Das Problem ist nicht, dass die Bank-ManagerInnen alle durchgedreht sind. Das Geld wird in der Regel nicht mehr in der sogenannten Realwirtschaft investiert, weil die Profitraten nicht mehr ausreichen, um Unternehmensgewinn und (Bank-)Zinsen in der notwendigen Höhe zu garantieren. Das ist das eigentliche Dilemma: Die EZB pumpt Geld in eine Wirtschaft, die wegen mangelnder Profitraten an Kapitalüberproduktion leidet.

Krisenlösung?

Was Europa als Lösung anstrebt, ist eine aggressive Exportpolitik nach deutschem Vorbild. Diese quasi merkantilistische Politik soll dazu führen, dass durch die Exportüberschüsse die Defizite und schliesslich auch die Staatschulden exportiert werden können. Dies ist aber nur möglich, wenn bei hoher Produktivität die Lohnstückkosten gesenkt werden können – wie das Deutschland mit den Hartz-Reformen gelungen ist – und man das Defizit einfach an zu Schuldnerstaaten degradierte Nationalökonomien auslagern kann. Wie lange diese Staaten überhaupt die Überschüsse aufkaufen können, steht in den Sternen; ihre Wirtschaft wird schlicht und einfach ruiniert (siehe etwa Griechenland). Eine wirkliche Lösung ist dieses Modell auf jeden Fall nicht. Aus dem wirtschaftlichen Dilemma wird es keinen Ausweg geben ausser der massiven Vernichtung von Kapital mit den damit verbundenen Verheerungen für die Proletarisierten. Als kommunistischer Beobachter dieser Prozesse muss man sich nicht so dumm machen lassen wie das politische Personal des Kapitals, sondern kann offen aussprechen, dass der Kapitalismus derzeit in einer Sackgasse steckt.

Ventilklausel gegen MigrantInnen

Am 24. April 2013 hat der Bundesrat angekündigt, die im Freizügigkeitsabkommen vorgesehene Ventilklausel anzurufen. Dadurch wird für die ArbeiterInnen der EU-25-Staaten die Einreise in die Schweiz neu reguliert. Folgen davon sind einerseits eine Prekarisierung der Arbeitsbedingungen, andererseits die Legitimation einer repressiven Asylpolitik.

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Per 1. Mai 2013 wurde die Kontingentierung (Begrenzung) der B-Bewilligungen (Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen für fünf Jahre) für die ArbeiterInnen der osteuropäischen Staaten (EU-8) fortgesetzt. Falls der vordefinierte Schwellenwert erreicht wird, wird die Kontingentierung per 1. Juni 2013 auf die B-Bewilligungen für ArbeiterInnen aus den «alten» EU-Ländern (EU-17) ausgedehnt. Hingegen betrifft die beschränkte Einreise nicht die Kurzaufenthaltsbewilligungen L, weder für ArbeiterInnen aus den EU-8-, noch für diejenigen aus den EU-17-Ländern (Kurzaufenthaltsbewilligungen bis zu einem Jahr).

Der Bundesrat reagiert mit dieser Entscheidung auf die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Interessen des schweizerischen Kapitals. Auf der einen Seite darf eine Kontingentierung die Nachfrage des Arbeitsmarktes nach billigen Arbeitskräften nicht zu fest einschränken, auf der anderen Seite soll hingegen auf die Initiativen im Bereich der Migration («Stopp Masseneinwanderung» und die Ecopop-Initiative) reagiert werden, die vorsehen, die Einwanderung sowohl der europäischen (Ausländergesetz) wie auch der aussereuropäischen (Asylgesetz) ArbeiterInnen nur noch politisch zu regulieren.

Prekarisierung der Arbeitsbedingungen

Es stellt sich die Frage, ob sich an der Einreise von migrantischen ArbeiterInnen real tatsächlich etwas verändern wird. Zahlenmässig wohl kaum, denn es ist vorhersehbar, dass derjenige Anteil von ArbeiterInnen, der bis jetzt mit einer B-Bewilligung einreisen konnte, «umgeleitet» wird und nun mit einer L-Kurzaufenthaltsbewilligung in die Schweiz kommt. Pro Jahr werden geschätzte 3000 ArbeiterInnen also eine Verschlechterung der Einreisebedingungen erleben. Für diese ArbeiterInnen wird der Zugang zu den Sozialversicherungen massiv eingeschränkt. Bei Entlassungen bleibt ihnen meist nichts anderes übrig, als wieder in die Heimat zurückzukehren (erinnern Sie sich an die Saisoniers?), die Kontrolle ihrer Arbeitsbedingungen und die Möglichkeit der kollektiven Organisierung werden erschwert – kurz: Der Ausbeutungsgrad der migrantischen ArbeiterInnen wird erhöht. Was der Bundesrat in seiner Mitteilung als «gesellschaftsverträgliche Gestaltung der Zuwanderung» beschreibt, ist nichts anderes als ein Euphemismus. Die Zuwanderung wird in erster Linie «kapitalverträglich» gestaltet.

Asylpolitik wird repressiver

Gleichzeitig muss die Anrufung der Ventilklausel auch im Kontext der Verschärfungen im Asylbereich analysiert werden. Denn die Ventilklausel impliziert, dass die Einwanderung eine «verträgliche Obergrenze» erreicht hat. Und wenn schon die Einreise der ArbeiterInnen der EU-Staaten beschränkt werden muss, dann gilt dies in der Logik des Bundesrates umso mehr für ArbeiterInnen der aussereuropäischen Länder. Somit legitimiert der Bundesrat seine eigene repressive Lagerpolitik und erschwert die politische Arbeit derjenigen Bewegungen und Organisationen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten für ein Bleiberecht für alle einsetzen. Die Politik des «teile und herrsche» wird somit fortgesetzt.

Den migrantischen ArbeiterInnen – mit und ohne Papiere, mit stabiler oder prekärer Aufenthaltsbewilligung – bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich gemeinsam zu organisieren und gemeinsam für die Rechte aller MigrantInnen zu mobilisieren.

Gestreikt und Entlassen

providence_streikWir veröffentlichen hier den übersetzten Aufruf der ehemaligen Streikenden des Krankenhauses «?La Providence?» aus Neuenburg zur Solidaritätsdemonstration gegen missbräuchliche und gewerkschaftsfeindliche Entlassungen am 1. Juni in Genf ab.

Die Geschichte des Streiks im Neuenburger Krankenhaus «La Providence» ist schlicht unglaublich. Weil sie sich für den Erhalt des Gesamtarbeitsvertrages (GAV) «santé 21» eingesetzt haben, wurden 22 Streikende am 4. Februar 2013 mit sofortiger Wirkung entlassen. Wie kann ein Krankenhaus, finanziert durch unsere Steuern, von einem Tag auf den Anderen entscheiden, den GAV nicht mehr einhalten zu wollen und diejenigen zu entlassen, die sich dagegen wehren – und all dies mit der Unterstützung des Neuenburger Regierungsrates?? Genau dies findet heute in der Schweiz statt!

Arroganter Käufer, vom Regierungsrat unterstützt

Bei der Ankündigung des Kaufs des Krankenhauses «La Providence» im Frühjahr 2012 hat die private Gruppe «Genolier» gefordert, dass der GAV «santé 21» aufgekündigt wird. Es handelt sich jedoch um den Gesamtarbeitsvertrag, der für alle sub-ven-tio-nier-ten Institutionen des Kantons gilt. Eine Verordnung des Regierungsrates selbst legt fest, dass der GAV «santé 21» respektiert werden muss, um einen öffentlichen Auftrag im Gesundheitswesen zu erhalten. Komischerweise denkt der Regierungsrat jedoch, für «Genolier» könne eine Ausnahme gemacht werden. Warum??

Im Herbst 2012 hat der Regierungsrat mit den Beschäftigten des Krankenhauses während dreier Monate eine «falsche» Schlichtung geführt, um sie daran zu hindern, in den Streik zu treten (ein Streik während einer Phase der Schlichtung wird als «illegal» bezeichnet). Trotz Versprechungen hat der Regierungsrat nach drei Monaten keine Lösung vorgeschlagen. Warum??

Im Dezember 2012 hat der Regierungsrat eine Motion verabschieden, die «Genolier» zwingen sollte, den GAV einzuhalten. Wie bei der Verordnung hat der Regierungsrat jedoch auch diese Mo-tion nicht umgesetzt. Warum??

Wir müssen feststellen, dass in dieser Geschichte die politischen Behörden des Kantons sich mit einer privaten Gruppe geeinigt haben, einen GAV zu zerschlagen und somit all diejenigen zu entlassen, die sich dagegen wehren.

22 WiderstandskämpferInnen

Trotz ständigen Drohungen von Seiten des Unternehmens, trotz Kompromissen des Neuenburger Regierungsrates, trotz Räumung des Streikpostens durch die Polizei während der Weihnachtsfeier, trotz fristloser Entlassung, haben sich 22 Angestellte gewehrt und fordern heute noch die Einhaltung des GAV «santé 21» von allen Institutionen, die einen öffentlichen Auftrag im Gesundheitswesen erhalten, und den Respekt der gewerkschaftlichen Rechte durch die Widerrufung der illegalen Entlassungen, die gegen die Streikenden ausgesprochen wurden.

Ja, es passiert in der Schweiz?!

Diese unglaubliche Geschichte ereignet sich heute in Neuenburg, weil die Schweiz die internationalen Bestimmungen in Sachen Gewerkschaftsrechte nicht respektiert. Die Schweiz hat zwar die Konventionen der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) zu den gewerkschaftlichen Freiheiten ratifiziert, der Bund hat jedoch nie ein dem internationalen Recht konformes Gesetz verabschiedet. In einfachen Worten: Wir können streiken, aber wenn uns das Unternehmen entlässt, wird das Gericht es bloss zur Rückzahlung einiger Monatslöhne verurteilen. Die privaten Gruppen schrecken vor nichts zurück, sie machen alles für ihre Profite, sie zerstören die Arbeitsbedingungen und die Dienstleistungen für die Bevölkerung. Wenn wir das Streikrecht verteidigen wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als den Bund zu verklagen, bis er das Gesetz ändert. Genau das haben die Gewerkschaften am 10. April vor der ILO gemacht.

Wir laden euch somit ein, an der grossen ­Demonstration für den Respekt der ­gewerkschaftlichen Rechte teilzunehmen.

Samstag, 1. Juni 2013, 14 Uhr, Place du Molard, Genf, Tram 14 Richtung P+R Bernex, Haltestelle Bel-Air, 3 Minuten Fussweg bis zur Place du Molard.

Gegen Repression und Ausschaffung

lagerpolitik_stinkt_2Letztes Wochenende wurde das Duttweiler-Areal in Zürich West für drei Tage besetzt. Betroffene und AktivistInnen verschiedener Gruppierungen wollen das an dieser Stelle geplante Lager für Asylsuchende bekämpfen, mit dem der Staat die Durchführbarkeit seiner neuen Strategie in der Asylpolitik testen will. Diese will vor allem eines?: Beschleunigung der Verfahren.

Aus dem vorwärts vom 24.Mai. Unterstütze uns mit einem Abo.

Während die StimmbürgerInnen zu Hause sitzen und von dem grauen Zettel mit dem leerem Rechteck nach einem Ja oder Nein zur Asylgesetzrevision gefragt werden, sind in Zürich etwa 150 AktivistInnen zur Tat geschritten. Sie haben letztes Wochenende drei Tage lang das Duttweiler-Areal zwischen der ehemaligen Toni-Molkerei und den Geleisen besetzt, um gegen das dort geplante Testlager für Asylsuchende zu protestieren. Laut ihrer Mitteilung setzen sich die BesetzerInnen der Aktion «Smash the Camps» aus «direkt Betroffenen und Solidarischen, Einzelnen und Gruppierungen» zusammen, die «das Migrationsregime als Ganzes ablehnen und deshalb das Bundes-lager (als Teil staatlicher Lagerpolitik) auf dem Duttweiler-Areal verhindern wollen».

«Wir delegieren unsere Macht nicht an Parteien und Asylorganisationen, die sich im Bestreben, die Migration zu lenken und zu kontrollieren grundsätzlich einig sind», heisst es in dem Communiqué der AktivistInnen weiter, «sondern setzen auf Selbst-organisation und Selbstermächtigung. Dazu nehmen wir uns Raum, ohne darum zu bitten, und suchen gemeinsam nach Möglichkeiten, wie wir die Abläufe des Migrationsregimes sabotieren können.»

Die «?verdienen?» doch ein schnelles Verfahren

Im Zuge des Kampfes gegen «jegliche Art von Herrschaft, Ausbeutung, Unterdrückung und Einsperrung» soll das erste «Bundeszentrum» für Asylsuchende verhindert werden, mit dem der Staat ab Januar 2014 die Durchführbarkeit seiner neuen Strategie in der Asylpolitik testen will. Diese Strategie sieht vor allem vor, die Verfahren zu beschleunigen, was gern mit den Interessen der Asylsuchenden begründet wird, die ein schnelles Verfahren «verdienen» würden. In den militärisch durchorganisierten Lagern sollen möglichst schnell die «falschen» von den «richtigen» Flüchtlingen getrennt werden. Erstere werden dann dem Ausschaffungsregime zugeführt, das gleich in der Nähe ebenfalls neue Infrastruktur erhalten soll. Neben der gesteigerten Effizienz des Verfahrens kann mit den Lagern jedoch auch leicht die Anzahl an angenommenen Asylanträgen gesenkt werden.

Das geplante Lager soll 500 Asylsuchende aufnehmen können und unter anderem eine Rechtsberatung, die zuständigen Behörden und die Polizei beherbergen. In der Umgebung sind zudem 700 Ausschaffungshaftplätze, sowie Spezialknäste für «renitente» Asylsuchende geplant. Die geplante Infrastruktur dient den Herrschenden als ein Element im Erhalt ihres Machtsystems. Die BesetzerInnen schreiben: «Diese Strukturen der Unterdrückung und Ausbeutung können nur in einer autoritären Gesellschaft bestehen, welche die herrschenden hierarchischen Machtstrukturen als unantastbaren Status Quo akzeptiert und als Grundlage eines progressiven, demokratischen Systems versteht. Die Herrschenden setzen indes alles daran, diesen scheinheiligen Frieden inmitten eines sozialen Krieges zu bewahren und jede potenzielle Gefährdung wegzusperren.»

Friedliche Besetzung statt grossem Spektakel

Die Besetzung wurde von der Polizei toleriert, was sie den AktivistInnen vor Ort auch explizit mitgeteilt hat. Zwar seien einige ob dieser Milde überrascht gewesen, wie ein Aktivist berichtet. Sogar das Tor zum Areal habe man offen stehen lassen. Anderer-seits sei auch klar, dass man den Protesten gegen das geplante Testlager von Anfang an möglichst wenig Aufmerksamkeit schenken wolle. Auch war der Protest eher symbolischer Natur. In der -öffentlichen Mobilisierung hatten die AktivistInnen bereits erklärt, dass die Besetzung nur bis Montag dauern werde.

Auf ein öffentlichkeitswirksames Spektakel waren die BesetzerInnen sowieso nicht aus – JournalistInnen waren auf dem Gelände unerwünscht. Dafür wurden die ruhigen Tage für ausgiebige Diskussionen über mögliche zukünftige Widerstands-stra-te-gien genutzt. Das sei darum wichtig, meint der Aktivist, weil genügend Gelegenheiten zum Austausch und zur Besprechung des Weiteren Vorgehens zur Verfügung gestanden hätten. Darüber, dass weitere Aktionen nötig sind und auch durchgeführt werden können, waren sich die Teilnehmenden erfreulicherweise einig.

Ebenfalls wurde darüber diskutiert, welcher Grad an Radikalität im Umgang mit den betroffenen Asylsuchenden angemessen ist. Viele forderten etwa, dass man sich vor konkreten Forderungen generell hüten solle, andere waren der Meinung, man solle die Asylsuchenden auch darin unterstützen, kleine Forderungen gegenüber dem Staat zu verwirklichen.

Abgesehen von diesen Details scheinen der breiten Bevölkerungen noch nicht einmal die groben Züge der Lager-Problematik bewusst zu sein. In kleinen Interviews jedenfalls, die der Tagi mit Passanten im Quartier Zürich West aufgenommen hat, werden mehrheitlich Bedenken geäussert, die Kriminalität könnte im ach so hippen Ausgehviertel ansteigen und sowieso seien 500 an einem Ort doch gerade etwas viel. Doch wir können beruhigen: Die Asylunterkünfte können so schnell sie aufgebaut werden auch wieder zu Gewerbeflächen umgenutzt werden. Sie sind eben so flexibel, wie es die Menschenmassen sein sollen, die auf dem Arbeitsmarkt ausgebeutet werden.

Smash the Camps!

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Um die Durchführbarkeit der Lagerpolitik im Asylbereich zu testen, ist in Zürich ein Testlager geplant. Nun regt sich Widerstand. Das Gelände  des geplanten Testlagers wird besetzt. Die Aktion «?Smash the Camps?» startet am 18. Mai um 14 Uhr beim Turbinenplatz in Zürich. 

Aus der Printausgabe des vorwärts vom 10. Mai. Unterstütze uns mit einem Abo.

Die neue Ära der Lagerpolitik zielt auf eine Beschleunigung des Asylverfahrens durch Zentralisierung ab. Im Umfeld der fünf bestehenden Empfangszentren des Bundes entstehen hierfür weitere Lager à 400 bis 500 Plätzen. Nach durchschnittlich 140 Tagen soll entweder ein positiver Asylentscheid vorliegen oder eine Ausschaffung erfolgen.

Auf dem Duttweilerareal in Zürich soll 2014 ein erstes Testlager errichtet werden. Projektleiter Urs von Daeniken, bezeichnenderweise handelt es sich um den Ex-Inlandgeheimdienstchef, bringt die Funktion des Lagers auf den Punkt: «7 bis 7.30 Uhr Frühstück, 11.20 bis 13 Uhr Mittagessen, 17.00 bis 18.30 Uhr Abendessen, 22.00 bis 6.00 Uhr Nachtruhe» (Tagesanzeiger-Online, 6. Februar 2013). Putzarbeiten im Zentrum würden ein Sackgeld von 3 Franken geben, wer sich weigere, gehe leer aus. Wer zweimal zu spät einrücke, dem werde das Sackgeld gestrichen. Zudem wird über eine Ausgangssperre nachgedacht. Dieser militärische Tonfall und die Disziplin sind grundlegende Bestandteile der Lager.

Postkoloniales Grenzregime

Die geplanten Lager dienen offiziell zur Abschreckung von MigrantInnen. Sie zementieren damit postkoloniale Machtverhältnisse. Seit den 1970er Jahren findet eine Globalisierung der Produktion und des Handels statt. Märkte werden liberalisiert und grosse Teile der westlichen Industrie in ehemals kolonialisierte Niedriglohnländer verlagert. Damit sind Landenteignungen von Millionen subsistenzwirtschaftender LandwirtInnen sowie die Zerstörung lokaler Märkte und Sozialstrukturen verbunden. Als Folge dieser Ausbeutung und in der Hoffnung auf eine bessere Lebensperspektive migrieren viele Personen nach Europa. Die europäischen Unternehmen sind jedoch aufgrund des wachsenden Tertiärsektors immer weniger auf niedrigqualifizierte Lohnabhängige aus dem Süden angewiesen. Innerhalb des Schengenraumes herrscht Personenfreizügigkeit. Sie wird als kultureller Erfolg der europäischen Einheit gefeiert, führt jedoch mangels Schutzbestimmungen der Arbeitsbedingungen zu Konkurrenz und Lohndruck. Die Einwanderung nach Europa wird durch kontingentierte Aufnahmen von Hochqualifizierten, verstärkte Kontrollen der Aussengrenze und systematische Ausschaffungen reguliert.

Kapitalistisches Ausbeutungsregime

Falls MigrantInnen trotz des lebensbedrohlichen Grenzregimes in die Schweiz gelangen, werden sie in Zukunft in Bundeslager gesteckt. Es sind Orte der Entrechtung, der Isolation und der Stigmatisierung. In Bundeslagern werden die Flüchtlinge in «Richtige» und «Falsche» unterteilt. Illegalisierte MigrantInnen werden der Ausschaffungsmaschinerie zugeführt oder müssen untertauchen und sich mit Schwarzarbeit durchschlagen. Niedriglohnbranchen wie Bau, Gastronomie, Landwirtschaft oder der Care-Bereich setzen auf einen ethnisch hierarchisierten Arbeitsmarkt und die Ausbeutung illegalisierter MigrantInnen. In bestimmten Sektoren benötigt das Kapital solche entrechtete Arbeitskräfte, um archaische Ausbeutungsformen aufrechtzuerhalten. Die blosse Anwesenheit stigmatisierter Arbeitskräfte dient dazu, Teile der Arbeitswelt gegeneinander auszuspielen und führt zur Anpassungen der Lohn- und Anstellungsbedingungen nach unten.

Neoliberales Asylregime

Die Asylgesetzrevision, über die am 9. Juni abgestimmt wird, die Neustrukturierung des Asylwesens durch Sommaruga und das Mitmischen vieler Asyl-organisationen und Parteien gehören zu den Grundlagen der Lagerpolitik. Im Mittelpunkt standen immer die effizientere Gestaltung des Asylverfahrens und der effektivere Vollzug von Wegweisungen. Effizienz und Effektivität stellen Kriterien in einem betriebswirtschaftlichen Unternehmen dar, um die Abläufe zu optimieren. Die Bundeslager sollen die Abläufe ebenfalls «beschleunigen». Asylsuchende, BFM, Rechtsvertretung, Rückkehrhilfe, Dokumentenprüfende, Polizei und so weiter werden zu diesem Zweck künftig am gleichen Ort konzentriert. Diese Beschleunigung wird im Sinne der Asylsuchenden dargelegt, da diese ein Recht auf einen raschen Entscheid hätten. Das Ziel ist die Zahl der Asylgesuche und Kosten zu senken. Das sind die «Qualitätsmerkmale» eines neoliberalen Asylregimes, welches Flüchtlinge degradiert und wie Waren in einer Fliessbandproduktion verarbeitet.

Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.

«Smash the Camps» ist eine Absage an die herrschende Asyl- und Migrationspolitik. Es ist eine Reaktion auf den Entscheid demokratischer Parlamente, Lager errichten zu wollen. Um gegen alle Orte vorzugehen, wo sich die Lagerpolitik manifestiert oder reproduziert, wird versucht, die entschiedenen Kräfte zu mobilisieren. Ziel ist es, durch direkten Widerstand und konkrete Solidarität statt über Delegation von Macht die Kräfteverhältnisse zu verschieben. So lässt sich heute einen Teil dazu beizutragen, um morgen das Ganzen zu verändern.

Die Tote packt die Lebenden

FILE: Baroness Thatcher Dies Aged 87Wenn die Linke den Tod Thatchers feiert, tappt sie in die Falle der Individualisierung, die Thatcher mit aufgebaut hat. Denn auch wenn eine alte Dame gestorben ist, lebt ihre Politik weiter. Etwa in der Form, dass ihre früheren Feinde – die britische Labout Party an vorderster Front – ihre Politik längst übernommen haben.

Aus der Printausgabe des vorwärts vom 10. Mai 2013. Unterstütze uns mit einem Abo!

Der Tod Margaret Thatchers am 8. April 2013 war ein bemerkenswertes Ereignis in mindestens zweifacher Hinsicht. Einerseits wurde die anhaltende Wirkmacht einzelner ideologischer Elemente des Neoliberalismus sichtbar und andererseits bot die Beerdigung ein Beispiel für den bitteren Witz der -Dialektik. Die ehemalige Premierministerin Grossbritanniens (1979–1990) war früh Teil der neokonservativen und neoliberalen Bewegungen. Sie entwickelte ihre Ideologie auf der Grundlage von Werken neoliberaler Intellektueller wie zum Beispiel Friedrich August von Hayek und Milton Friedman. Bekannt wurde sie nicht nur durch ihre antisoziale Politik und den Kampf gegen die Gewerkschaften, sondern auch als jemand, die den Neoliberalismus popularisierte.

Bekannt wurde unter anderem ihr Ausspruch von 1987: «There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families.» («Es gibt nicht so etwas wie Gesellschaft. Es gibt individuelle Männer und Frauen, und es gibt Familien.») Den radikalen Individualismus brachte sie gegen den Sozialstaat in Anschlag. In anderen Bereichen gab es dann sehr wohl Gesellschaft und Staat, insbesondere beim Rückgriff auf Polizei und Armee. Thatcher stieg bald zu einer Art Superindividuum auf. Sie machte den Neoliberalismus, sie zerstörte die Gewerkschaften, sie führte den Falklandkrieg. Bertolt Brecht warnte in seinem Gedicht «Fragen eines lesenden Arbeiters» vor diesen Formen von Individualisierung («Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?»). Wenn also Linke meinen, den Tod Thatchers feiern zu müssen, so tappen sie selber in die Falle der Individualisierung, die Thatcher mit aufgebaut hat.

Langer Kampf gegen den Staat

Thatcher hat schon lange Zeit vor dem Regierungsantritt gegen den Staat gewettert. Im anderweitig bekannten Jahr 1968 verfasst sie ein Pamphlet («What’s Wrong with Politics?»). Darin kombinierte sie die antistaatliche Rhetorik mit der ideologischen Anrufung der Subjekte als «selbstverantwortlich». Staat und Bürokratie sollten mehr oder weniger zum Verschwinden gebracht werden (das ist eines der neoliberalen Hauptthemen). Das Resultat, unter anderem gerade als Resultat von Thatcherismus und Reaganomics ist das Gegenteil: Staat und Bürokratie wurden ausgebaut und vermehrten sich in einem historisch noch nie dagewesenen Mass. Der Staatsausbau ging aber mit einem radikalen Umbau einher: Alle Bereiche des Sozialen wurden drastisch abgebaut, dafür wurde der repressive Staatsapparat und der marktradikale Staat ausgebaut. Soviel zur Dia-lektik kollektiven neoliberalen Handelns. Die Pointe bildet dann das pompöse und millionenschwere Begräbnis Thatchers.

Sich mit Thatcher zu beschäftigen, bedeutete aber auch, sich mit schweren Fehlern der Linken auseinanderzusetzen. Im Sog von 1968 gingen warnende Stimmen unter. Der Ökonom David A. Collard veröffentlichte im Oktober 1968 ein Traktat («The New Right: A Critique»). Er warnte, wie sich später herausstellte, vergeblich vor dem Aufstieg des Neoliberalismus, den Think Tanks sowie einer Schar von Intellektuellen und PolitikerInnen. In die Euphorie dieses Jahres mochte Collard nicht einstimmen, denn seine Sorge bestand darin, dass die Linke erfolgreich von der Neuen Rechten ausgehebelt würde. Was sich leider bewahrheiten sollte.

Von der Dritten Welt lernen

Längst war das neoliberale Feld bestellt. Es begann die Zeit des sukzessiven Umbaus der Gesellschaft (die gibt‘s), der Ideologie, der Moralvorstellungen usw. Und es war nicht zuletzt die Regierung von Thatcher, die das tat, wovon die Linke immer geredet hat: Von der «Dritten Welt» lernen, in diesem Falle konkret von den blutigen Diktaturen in Chile und anderen Ländern Lateinamerikas. Diverse Instrumente und Politiken wurden übernommen, so zum Beispiel die «Schocktherapie», um soziale und solidarische Strukturen zu zerstören.

Wer eine deutliche Kritik des Thatcherismus sucht, sollte sich (wieder einmal) den Film Peter Greenaways von 1989, «The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover», ansehen. Greenaway erklärte, der Film sei eine Allegorie auf die Regierung Thatchers. Der Film verbindet die Kritik am Thatcherismus mit der französischen Revolution, die sich 1989 zum zweihundertsten Mal jährte. Die Errungenschaften der Revolution werden brutal unterdrückt oder beseitigt. Eindringlich werden die neoliberalen Gewalt-formen in einer anderen, sehr eindringlichen und bildstarken Sprache gezeigt. Der Dieb, Albert Spica, tritt einem Mann in die Hoden und meint knapp: «Das ist es, was diese Leute brauchen. Kurze, scharfe Schockbehandlungen.» Lachen kann man über alles, aber nicht über die Ware, und sei diese noch so ausgefallen wie «menschliche Milch». Spica scharf zu Cory, einem Bandenmitglied: «Mach keine Witze. Sie [die menschliche Milch] ist eine kostbare Ware, nicht eine witzige Sache.» Wie aktuell der Film ist, wird deutlich, wenn Spica auf die Qualität zu sprechen kommt. Wir leben ja in einer Zeit, in der es nur so von Qualitätsmanagment usw. wimmelt. Qualität wird garantiert, kontrolliert, ausgewiesen, überwacht. Spica: «Ich repräsentiere Qualität hier herum.» Er bietet «Qualität und Protektion», wie heutzutage Qualitätszertifizierungsinstitutionen.

Individuell betrachtet ist Thatcher tot, gesellschaftlich ist vieles, wofür sie (mit tausenden Anderen) kämpfte und was sie in der Politik umsetzte, allzu lebendig. Erfolg ist, wenn der Gegner von ehedem, sich zu dem gewandelt hat, was man selbst vertrat. In ihre Fussstapfen trat Anthony Blair, und aus Labour wurde New Labour, unter anderem eine Adresse für Privatisierungen. Eine kritische Linke hat vor wie nach Thatchers Tod genug zu tun. Sie sollte sich auf ihre Aufgaben konzentrieren. Wenn sie sich mit Thatcher beschäftigt, so sollte sie sich auch selbstkritisch mit der eigenen Geschichte beschäftigen.

Wie angekündigt, ruhen wir nicht!

kein_abrissLiebe Nachbarn, Liebe Interessierte, Liebe Medienschaffende und UBS

Wir, die extended Version der Familie Wucher, ca. 150 Menschen haben heute, dem  7. Mai 2013 am Nachmittag das gesamte Koch-­?Areal an der Ecke Flüela-­?/Rautistrasse besetzt. Wir sind die bisherige Familie Wucher (seit März 2013 BewohnerInnen des Blauen Hauses), die Familie Zauber (seit Januar 2013 mit dabei) und AktivistInnen der ASZ.

Das Areal und sämtliche sich darauf befindenden Gebäude gehören der UBS AG und stehen seit März 2013 leer. Die UBS sieht vor, die Bauten schnellst möglich abzureissen, was eine jahrelange Brache zur Folge hätte.

Ein konkretes Bauprojekt der UBS AG liegt bis heute nicht vor. Ihre Idee ist es, einen privaten Gestaltungs-­?Plan zu realisieren. Vor Baubeginn bedarf es etlichen Schritten wie einer Ausarbeitung eines Neubauprojektes, Verhandlungen mit der Stadt, einer Umzonung und einer öffentlichen Ausschreibung. Erfahrungsgemäss und in Anbetracht der Grösse des Areals dauert dies mehrere Jahre. Nach eigener Aussage der UBS AG ist ein Baubeginn frühestens 2016 möglich. Ersichtliche Gründe für einen Abriss liegen also nicht vor.

Um den Abriss auf Vorrat zu verhindern und auf die Missstände in der Stadtentwicklung aufmerksam zu machen, haben wir im April 2013 eine Petition an den Zürcher Stadtrat eingereicht.

In der Stadt Zürich herrscht akute Wohnungsnot und es fehlt an alternativem Kulturangebot und unkommerziellen Räumen. Deshalb wollen wir hier, auf diesem Areal, unsere Ideen und unsere Vorstellungen von Freiraum verwirklichen. Die Besetzung soll eine Plattform und Treffpunkt sein für Diskussionen, Aktionen, kulturellen Austausch, Handwerk, Kreativität, Musik, Bewegung, Lernen und Zusammenleben.

Wir freuen uns über Besuche, Unterstützung, Kritik und eine gute Nachbarschaft!

Am 11. Mai veranstalten wir hier ein Sommerfest und ihr seid Alle herzlich eingeladen!

13’000 in Zürich

OLYMPUS DIGITAL CAMERA13’000 TeilnehmerInnen an starkem und kämpferischen 1. Mai 2013

An der 1.-Mai-Demonstration in Zürich haben rund 13’000 Personen teilgenommen. Der grosse und vielfältige Demonstrationszug führte über den Bahnhofplatz und das Limmatquai zum Bellevue und von dort zum Bürkliplatz. Dort fand auch die Abschlusskundgebung mit spannenden und kämpferischen Reden statt. Nun steigt auf dem Kasernenareal der 1. Tag des grossen 1.-Mai-Fests. Gefeiert wird in diesem Jahr auch am kommenden Wochenende. 

Für das 1.-Mai-Komitee sprach der Griechische Streikführer Panagiotis Katsaros. Er sprang kurzfristig für die erkrankte Sofia Roditi ein. Die Sprecherin des Frauenkomitees im Stahlwerk von Aspropyrgos musste ihren Aufritt deshalb absagen. Katsaros rief alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu auf für ihre Anliegen zu kämpfen. In seiner Rede übte er auch starke Kritik an der Sparpolitik der Europäischen Union. „Sie meinten, dass Griechenland eine einmalige vorübergehende Sache ist, weil die Griechen faul sind und sie denken, dass  wir unsere Lehre bekommen müssen, damit wir Europäer werden!“ Laut Katsaros wurde ursprünglich ein Europa der Völker versprochen. Heute sei es ein Europa der Banken und Gier.

Der ebenfalls eingeladenen Abdullah Öcalan konnte seine Rede aufgrund seiner Inhaftierung nicht halten. In einer Grussbotschaft rief er dazu auf, dass die Völker heute in der Lage sein sollten in Friede und Würde miteinander zu leben und das veraltete Nationalstaatendenken zu überwinden. Seine Grussbotschaft finden sie unter www.1mai.ch

Marina Carobbio, SP-Nationalrätin und Präsidentin des Mieterverbandes Schweiz, prangerte in ihrer Rede die Abzocker-Mentalität an, die auch in der Schweiz überhandgenommen habe: „Der gierigste Abzocker, CS-Chef Brady Dougan, zahlt sich selber 1820mal mehr aus, als der Angestellte mit dem tiefsten Lohn verdient. Das hat nichts mit Leistung und Verantwortung zu tun, sondern mit unanständiger Gier.“ Carobbio erinnerte daran, dass am 1. Mai weltweit Millionen von Menschen auf die Strasse gehen, um sich gegen Diskriminierung, Ungleichheit und Unterdrückung zu wehren und für Solidarität, Freiheit und soziale Gerechtigkeit einzustehen. Alle verbinde die Hoffnung und die Überzeugung, dass eine gerechtere Gesellschaft möglich sei: „Es ist höchste Zeit für mehr Gerechtigkeit!“

Susi Stühlinger, Autorin, Journalistin und AL-Kantonsrätin in Schaffhausen, konfrontierte die Arbeitgeber mit den alten, aber leider immer noch aktuellen und zentralen gewerkschaftlichen Forderungen: „Was wollen wir neue Forderungen stellen, wenn ihr euch weigert, die alten zu erfüllen?“ Sie hielt fest: „Wir sind mehr als eure Produktionsfaktoren, die ihr zusammen mit der Produktion verlagert und vernichtet habt – wir sind Menschen aus Fleisch und Blut, nicht Kostenfaktoren, Gewinnmaximie­rung und Shareholdervalues.“ Und im Namen von allen forderte sie alles, für alle.

Für das 1.-Mai-Komitee waren die Demonstration und die Schlusskundgebung ein Erfolg. Als Dachorganisation von über 60 Gruppen mobilisierte das 1.-Mai-Komitee Tausende von Menschen. Der Demonstrationszug durch die Zürcher Innenstadt verlief wie jedes Jahr friedlich. Im Anschluss an die Schlusskundgebung geht das 1.-Mai-Fest auf dem Kasernenareal weiter. Das Fest findet in diesem Jahr auch am kommenden Wochenende statt.

Das 1.-Mai-Komitee vereinigt als Dachorganisation über 60 Gruppen. Dazu gehören Linksparteien, SP-Sektionen und Gewerkschaften, Komitees, Migrantenorganisationen, ausländische Linksparteien, Befreiungsorganisationen und Kulturgruppen.

SP stimmt für Millionäre!

millionäreDie Partei der Arbeit Zürich (PdAZ) nimmt ohne Überraschung den heutigen (28. April)  Entscheid des Zürcher Kantonsrats zur Kenntnis, die Initiative «Steuerbonus für dich» für ungültig zu erklären. Die PdAZ wird gegen Entscheid des Kantonsrats Einsprache erheben und vor Bundesgericht gehen.

Die PdAZ erinnert daran, dass erstens die Initiative von mehr als 7200 Stimmberechtigten unterschrieben worden ist. Zweitens wurde sie in der Form einer «allgemeine Anregung» eingereicht und somit besteht ein politischer und juristischer Spielraum, um sie zur Abstimmung zu bringen.

Erneut wird klar, dass die hochgelobte bürgerliche Demokratie kurzerhand übergangen wird, wenn sie nicht den Interessen der Herrschenden und Mächtigen dient.

Bedenklich aus linker Sicht ist dabei, dass die gesamte Fraktion der Sozialdemokratischen Partei (SP) gemeinsam mit den Bürgerlichen gegen die Initiative gestimmt hat und somit im Interessen der wenigen Superreichen und der Grosskonzerne. Dabei lautet der Slogan der SP: «Für alle statt für wenige». Offensichtlich ein leeres Wahlversprechen. Zur Erinnerung: Rund 12’900 (1,5 Prozent) Steuerpflichtige haben ein Vermögen von mehr als 3 Millionen Franken. Ihr gemeinsamer Reichtum beläuft sich auf mehr als 123 Milliarden (!) Franken. Sie besitzen somit 45 Prozent des gesamten Privatvermögens. Rund 2400 (5,2 Prozent) Firmen im Kanton Zürich haben ein Eigenkapital von 5 Millionen Franken und mehr. Sie kommen gemeinsam auf ein Vermögen von über 405 Milliarden (!) Franken. Sie besitzen somit 96 Prozent des gesamten Eigenkapitals. Diese wenigen Superreichen sollen laut der Initiative einmalig besteuert werden, damit rund 80 Prozent der Bevölkerung in den Genuss eines Steuerbonus kommen.

Bei der Initiative geht mitnichten um «Umverteilung», wie gerne unterstellt wird, sondern um eine Rückverteilung  des gesellschaftlich (daher von allen)  produzierten Reichtums und zwar im Sinne der Gerechtigkeit. Der Kantonsrat will mit seinem politischen Entscheid verhindern, dass eine breite Diskussion über das krasse Missverhältnis beim Besitz des vorhandenen Reichtums stattfinden kann. Diese Ungerechtigkeit wird im Namen des Gesetzes geschützt. Wo Unrecht zu Recht wird, ist Widerstand Pflicht!

 

Partei der Arbeit Zürich

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