Wir trauern um Nelson Mandela

mandelaDie Partei der Arbeit der Schweiz  (PdAS) nimmt mit grosser Trauer die Nachricht des Todes von Nelson Mandela zur Kenntnis. Mandela war der Leader im Kampf gegen das rassistische, unmenschliche, südafrikanische Apartheidregime. Regime, mit dem die «neutrale»  Schweiz Jahrzehnte lang zusammengearbeitet hat.

Nach 27 Jahren Haft, in denen er von verschiedene europäischen Staaten und Staatschefs (Maggie Thatcher) als «Terrorist» bezeichnet wurde, kam er am 11.Februar 1990 wieder frei und wurde 1994 zum Präsidenten Südafrikas gewählt. Schon vor seiner Verhaftung war Nelson Mandela einer der wichtigsten politischen Führer seines Landes: Als militanter Chef der Jugendliga des ANC baute er den Widerstand gegen das rassistische Apartheidsystem auf.

Mandela wurde mit dem Nobelpreis für  den Frieden geehrt, sowie mit der «Medaille für Verdienste um die Freundschaft der Völker» der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und dem Orden «José Marti» der Republik Kuba. Diese Ehrungen sind Beweise und unterstreichen die pazifistischen, fortschrittlichen und antiimperialistischen Überzeugungen eines Mannes, der schon zu Lebzeiten Weltgeschichte geschrieben hat.

Mandela beschreibt in seiner Autobiographie «Der Lage Weg zur Freiheit» seinen Kampf mit den folgenden Worten: «Ich habe gegen die weisse Vorherrschaft gekämpft und ich habe gegen die schwarze Vorherrschaft gekämpft. Mein teuerstes Ideal ist eine freie und demokratische Gesellschaft, in der alle in Harmonie mit gleichen Chancen leben können. Ich hoffe, lange genug zu leben, um dies zu erreichen. Doch wenn dies notwendig ist, ist dies ein Ideal, für das ich zu sterben bereit bin.»

Mandela war, ist und bleibt Hoffnungsträger  und Vorbild für viele Menschen in Südafrika, auf dem ganzen afrikanischen Kontinent und auf der ganzen Welt!

 Partei der Arbeit der Schweiz
6. Dezember 2013

Wem gehört Zürich?

demo_flyer_webDemo am Samstag, 26.Oktober!

Besammlung: 14.00 Uhr, Gemüsebrücke beim Ratshaus

Am 26. Oktober 2013 geben ganz verschiedene Organisationen mit einer Demonstration ihre Antwort zur Frage „Wem gehört Zürich?“ So unterschiedlich wie die Antworten, so bunt stellen wir uns auch Zürich vor. Wir stellen an diesem Tag der reichen Einöde ein buntes und durchmischtes Zürich entgegen, mit all den Mauerblümchen und den exotischen oder traditionellen, zarten oder grellen Blüten, die eine lebendige Stadt eben treibt.

Wir sind Genossenschaften, soziale und MigrantInnen-Organisationen und Institutionen, besetzte Häuser, Quartiervereine, KünstlerInnen und Kleingewerbler. Wir sind sehr verschieden, doch eins verbindet uns: Wir alle haben offenbar keinen Platz mehr im Zürich der Reichen.

Das sind unsere Forderungen:

– Bezahlbarer Wohnraum für alle

– Für einen wirksamen MieterInnenschutz

– Bezahlbarer Raum für Gewerbe und Kultur

– Für Freiräume und Selbstverwaltung

– Gegen Verdrängung und eine Stadt der Kapitalinteressen

Wir wissen, dass noch viel mehr und andere Leute von der Verdrängung betroffen sind. Schliessen Sie sich der Demonstration an, erzählen Sie es weiter, hängen Sie Plakate, verteilen Sie Flyer – melden Sie sich bei uns! Geben Sie Ihre ganz eigene Antwort auf die Frage „Wem gehört Zürich“ und organisieren Sie Ihre eigene Veranstaltung zum Thema.

Besammlung: 14.00 Uhr, Gemüsebrücke beim Ratshaus, Schlusskundgebung: 17.00 Uhr, Brupbacherplatz (mit Konzert)

Weitere Infos: wem-gehoert-zuerich.ch

 

Folgende Organisationen unterstützen die Demonstration:

Partei der Arbeit Zürich (PdAZ), Mieterinnen- und Mieterverband Regionalgruppe Stadt Zürich, Quartierverein Riesbach, Unia Zürich, IG Sozialhilfe, Alternative Liste Zürich (AL), Offene Kirche St. Jakob, Autonome Schule Zürich, Verein Zukunft Labitzke, Bau- und Wohngenossenschaft Durchbruch, Wohngenossenschaft Hellmi 2000, International Network for Urban Research and Action INURA, Intendanz Rosengarten, Corner College, kritische Politik UZH&ETHZ, Les Complices,  Autonomer Beauty Salon, Recht auf Stadt, IG-ZeitRaum, Stadtlabor

Die Sparvorschläge der PdAS

salvadanaio-640x420Mit Interesse nimmt die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) zur Kenntnis, dass das so genannte «Konsolidierungs- und Aufgabenüberprüfungspaket 2014» (KAP) mit grösster Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt ist. Zwar hatte der Ständerat Mitte September noch versucht, das 700 Millionen schwere Sparpacket zu retten, doch hält nun die Finanzkommission des Nationalrats an ihrem Rückweisungsantrag an den Bundesrat fest. FDP, CVP, GLP und BDP votierten für das KAP. Doch eine unheilige Allianz aus SVP, Grüne und SP setzten sich gegen die Mitte durch. Den Bürgerlichen ging das Sparen zu wenig weit und für die Links-Grünen wurde am falschen Ort gespart. Nun kommt das Geschäft nochmals in den Nationalrat. Wenn dieser seiner Kommission folgt – alles andere wäre in diesem Fall eine Überraschung –, wird das KAP in der vorliegenden Form definitiv begraben werden. Dem trauert die PdAS keine Träne nach.

Im Parlament wird jedoch das Seilziehen um das  «richtige» Sparen auch ohne KAP weitergehen. Daher erlaubt sich die PdAS der Regierung, dem Parlament und der Schweizer Bevölkerung zwei einfache, aber sehr wirkungsvolle Sparvorschläge zu unterbreiten:

– 9 Milliarden durch den Verzicht des Kauf der Kampfjets  Gripen (3 Milliarden Kaufpreis rund 6 Milliarden Folgekosten über die gesamte Betriebsdauer)

– 3 Milliarden durch den Verzicht auf die Unternehmersteuerreform III

Keine nutzlosen Kriegsflieger und keine erneute Steuergeschenke für Grosskonzerne führen dazu, dass 12 Milliarden Franken in den Bundeskassen bleiben. Das ist mehr als das 17fache von dem, was mit dem KAP hätte gespart werden sollen! Milliarden, die mit Sicherheit viel sinnvoller im Bildungswesen, sozialem Wohnbau, Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit insbesondere bei Jugendlichen, Sicherung der Renten, Kultur und vieles mehr eingesetzt werden könnten.

Die PdAS ruft dazu auf, das laufende Referendum gegen den Kauf der Grippen aktiv zu unterstützen und die Kampflieger an der Urne abzuschiessen. Die PdAS wird auch entschieden und mit allen demokratischen Mitteln die Unternehmenssteuerreform III bekämpfen.

 

Partei der Arbeit der Schweiz

Homophobe Asylpolitik??

media.facebook.1edbd3a4-ba34-4f72-ad10-93ae93aa23a4.normalizedEin neues Gesetz in Nigeria soll die «öffentliche Zuneigung unter Homosexuellen» künftig mit bis zu 14 Jahren Gefängnis bestrafen. Damit wird die sexuelle Orientierung von Menschen vermehrt zu einem Fluchtgrund. Die Schweiz hält an ihrer repressiven Asylpolitik fest und macht sich somit Mitschuldig an der Verfolgung von LGBT-Personen.

Aus der vorwärts-Printausgabe vom 11.Oktober.Unterstütze uns mit einem Abo.

O.* ist aus Nigeria und hat in den letzten drei Jahren in der Schweiz gelebt, wo er auch beim Bleiberechtkollektiv aktiv war. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf im südlichen, christlich geprägten Nigeria. Als Kenner von Heilpflanzen war O. integrierter Bestandteil der dörflichen Gemeinschaft und von den Leuten respektiert. Nach dem «coming out» wurden er und sein Freund jedoch zunehmend unter Druck gesetzt, die erfahrene Feindseligkeit wurde immer gewalttätiger. Eines Nachts brachen BewohnerInnen des Dorfes in sein Haus ein. Die Messerschnitte sind heute noch auf seinem Rücken erkennbar. Die Hetze gegen ihn wird von seinem eigenen Vater angeführt, dem lokalen Pfarrer. O. und sein Freund konnten zuerst in die Hauptstadt Lagos fliehen, mussten dort untertauchen und ihre Homosexualität verstecken. Sie lebten vier Jahre in Lagos, bis O’s angehörige herausfanden, wo sie sich aufhielten, so dass sie erneut fliehen mussten. Ihr Weg führte über Spanien in die Schweiz.

Nigeria verbietet Homosexualität

In Nigeria ist Homophobie in der Bevölkerung an der Tagesordnung. Ende Mai verabschiedeten Regierung und Parlament ein Gesetz, welches künftig Homosexuelle bis zu 14 Jahren hinter Gitter bringen kann, wenn sie ihre Zuneigung öffentlich zeigen. Damit wird es für Schwule und Lesben in Nigeria beinahe unmöglich, ein «normales» Leben zu führen. Auch wird die solidarische Unterstützung von Homosexualität massiv kriminalisiert. Die Beteiligung an einer gleichgeschlechtlichen Eheschliessung wird mit einer Haft von zehn Jahren bestraft. Was auf der juristischen Ebene nun neu verankert wurde, wird praktisch schon lange umgesetzt. An- und Übergriffe auf Homosexuelle gehören zum Alltag. In gewissen Gebieten des Landes sind auch Fälle bekannt, bei denen die Todesstrafe angewendet wurde.  Gewalttätige Handlungen gegen Homosexuelle werden gesellschaftlich und juristisch toleriert.

Ein «normales» Leben können Homosexuelle in Nigeria nur dann führen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit als «geheilt» präsentieren. Der erste Asylantrag von O. und seinem Freund wurde schon nach einem Monat abgelehnt. In der Folge wurde der Freund ausgeschafft. Bei seiner Ankunft musste er sich exorzistischen Ritualen unterziehen, u.a. wurde er nackt auf einem Anhänger durch das Dorf gefahren. Er wurde zudem gezwungen zuzugeben, er sei nun von Homosexualität «geheilt». O. bleibt im Dorf der Hauptschuldige, da er seinen Freund «verführt» haben soll.

Die Rolle der Schweiz

In der Zwischenzeit hat O. Rekurs eingelegt. Doch auch sein Wiedererwägungsgesuch wurde abgelehnt, so dass er bald nach Nigeria ausgeschafft werden könnte. Das Bundesamt für Migration (BFM) argumentiert, in Lagos könne O. seine Homosexualität verstecken und ohne Gefahr der Verfolgung ein «normales» Leben führen. Damit erkennt die Schweiz die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht als Asylgrund an. Im Gegenteil: das BFM wendet sein diskriminierendes Prinzip auch auf spezifisch gefährdete Gruppen wie Homosexuelle an. Asylgesuche aus Ländern wie Nigeria, Tunesien und dem Balkan werden «schnell» behandelt, weil diese in der grossen Mehrheit negativ beantwortet und die Betroffenen somit schnell ausgeschafft werden. Hingegen stapeln sich die Gesuche aus Ländern wie Eritrea, Somalia, dem Irak, Afghanistan und Syrien weiterhin auf den Tischen des BFM, weil die Ausschaffung in diese Länder als «unzumutbar» gilt. Die Schweiz ist also schnell bei der Vergabe von negativen, jedoch sehr langsam bei der Vergabe von positiven Entscheiden.

O. ist weder der erste, noch der letzte Fall eines abgelehnten Asylgesuches aufgrund von Homosexualität. Die schweizerischen Behörden zeigen zwar mit dem Finger auf die menschenrechtswidrige Situation in Ländern wie Nigeria, doch durch die asylpolitischen Praxis – also der Ausschaffung von Homosexuellen – wird ihre Verfolgung mitgetragen.

* Name der Redaktion bekannt.

Die 2. Säule unter Dauerbeschuss

03_den_Rahmen_sprengenDie FDP hat im Nationalrat zwei Motionen durchgebracht, welche die Regelungen bei den -Pensionskassen «entpolitisieren» sollen: Umwandlungssatz und Mindestsatz sollen den extremen Schwankungen des Finanzkapitals ausgesetzt werden. Die Linke ist einmal mehr gefordert, sie braucht auch eine glaubwürdige Alternative zur 2. Säule.

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Rechnet man die verschiedenen Kürzungen und Senkungen zusammen, die in den letzten zehn Jahren bei der 2. Säule durchgeführt wurden, ergibt das total eine Rentenkürzung von 44,9 Prozent. Eine monatliche Rente von durchschnittlich 3000 Franken ist somit auf 1650 Franken geschrumpft. Dies reicht den Bürgerlichen offensichtlich noch lange nicht und die Angriffe auf die Renten gehen in voller Härte weiter.

In der abgelaufenen Herbstsession hat der Nationalrat mit den Stimmen der Bürgerlichen zwei Vorstösse der FDP-Fraktion angenommen, die zu einer bedeutenden Rentenkürzung führen. Über beide Vorlagen muss nun der Ständerat befinden. Die Liberalen wollen den Mindestzinssatz und der Umwandlungssatz «entpolitisieren», sprich, dass diese «nicht mehr von politischen Entscheiden abhängen», wie in der Motion von Casis Ignazio (FDP, TI) zu lesen ist.

Der Mindestsatz, der heute vom Bundesrat festgelegt wird, nachdem immerhin die Sozialpartner konsultiert wurden, soll in Zukunft automatisch an «die reale Situation an den Finanzmärkten angepasst werden». Statt sichere Renten zu garantieren sollen diese den extremen Schwankungen des internationalen Finanzkapitals ausgeliefert werden. Auch der Umwandlungssatz soll automatisch angepasst werden, und zwar «unter Berücksichtigung der Lebenserwartung, des angesparten Kapitals sowie der erzielbaren Renditen», wie in der Motion weiter festgehalten wird. Die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) schreibt dazu in ihrer Stellungnahme: «Damit spuckt der Nationalrat auf den Volksentscheid vom 7. März 2010, als die geplante Senkung des Umwandlungssatzes mit 72,7(!) Prozent an der Urne wuchtig abgeschmettert wurde. Erneut zeigt sich: Wenn Volksentscheide nicht im Interesse der KapitalistInnen sind, werden sie einfach umgangen. Demokratie?»

Neoliberales Geschwätz

Die Begründung von Ignazio Casis liest sich wie ein Auszug aus dem neoliberalen Schulbuch: «Man kann nicht vom Parlament und folglich vom Volk verlangen, dass sie die Zins- und Umwandlungssätze festlegen, da sich beide unabhängig vom politischen Willen entwickeln. Denn die Umwandlungssätze hängen zum einen Teil mit der weltweiten demographischen Entwicklung zusammen und auf diese hat weder das Parlament noch die Bevölkerung einen Einfluss.»

Wie dieser Zusammenhang genau aussieht, lässt Casis offen. Genauso könnte man daher behaupten, dass der Schmetterling in Südamerika den Tsunami in Asien ausgelöst hat. «Zum anderen Teil», doziert der liberale Politiker weiter, «hängen die Zinssätze mit den Renditen der Finanzmärkte zusammen (…) und die gehorchen ihren eigenen Regeln, welche die Politik nicht betreffen.» So einfach ist es aber nicht Herr Casis. Die Rente aus der 2. Säule ist ein Bestandteil der Altersvorsorge. Und das Recht auf ein würdiges Leben im dritten Lebensabschnitt ist ein Recht, das von der Schweizer Verfassung garantiert wird. Daher betreffen der Mindestsatz und der Umwandlungssatz der Pensionskassen die Politik sehr wohl!

Fakt ist aber auch, dass die Linke eine brauchbare Alternative zur 2. Säule entwickeln muss. Denn die Pensionskassen führen immer mehr zu Rentenkürzungen statt zur Rentensicherung – und das kann es wohl auch nicht sein.

Milliarden an Steuergeschenke

Der Nationalrat hat in der Herbstsession die Abschaffung der Stempelsteuer für Sach- und Vermögensversicherungen beschlossen. Damit macht er ein Geschenk von mindestens 250 Millionen Franken an die Grossunternehmen. Doch dies ist immer noch eine Kleinigkeit gemessen an dem, was durch die geplante Unternehmenssteuerreform III an Steuergeschenken von Seiten der Bevölkerung folgen soll.

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Wenn in Bern unter der Bundeskuppel die so genannten VolksvertreterInnen tagen, kommt oft und gerne der wahre Charakter, Sinn und Zweck des bürgerlichen Parlaments zum Vorschein: das Durchsetzen der Interessen der Mächtigen in diesem Lande auf Kosten der Arbeiterklasse, der breiten Bevölkerung. Die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) schreibt dazu in ihrer Stellungnahme vom 22. September: «Jenen nehmen, die wenig haben, um denen zu geben, die bereits viel zu viel haben; die laufende Herbstsession der Räte ist einmal mehr exemplarisch für die neoliberale, ausschliesslich den Partikularinteressen des Kapitals verpflichtete Politik der bürgerlichen Parteien». Linke, gar kommunistische, abgedroschene, ewig gestrige Rhetorik? Schauen wir mal genauer hin.

Von der Vorspeise mit Lachs .?.?.

Der Zürcher SVP-Mann Hans Kaufmann forderte in seiner Motion die Abschaffung der Stempelabgabe auf Sach- und Vermögensversicherungen. In der Begründung ist unter anderem zu lesen: «Die Massnahmen sind so auszugestalten, dass eine Entlastungswirkung von etwa 250 Millionen Franken eintritt.» Selbst dem Bundesrat ging dieser Vorschlag zu weit, unter anderem weil «eine Gegenfinanzierung, die zugleich ökonomisch sinnvoll und politisch realisierbar ist, als nicht realistisch erscheint», wie er in seiner Stellungnahme festhält.

Eine Position, die in der Ratsdebatte von Bundesrätin Widmer-Schlumpf wiederholt wurde. So sagte sie, dass man sich bei einer Annahme der Mo-tion auch über die Ausfälle Gedanken machen müssen, über die Frage der Gegenfinanzierung solcher Massnahmen. Gleichzeitig müsse man auch die geplante «Unternehmenssteuerreform III gegenfinanzieren». Mit Schützenhilfe der FDP und der BDP wurde die SVP-Motion trotzdem überwiesen und nun muss der Ständerat darüber befinden. Kennt man die Mehrheitsverhältnisse in der kleinen Kammer, steht dem Millionengeschenk an die Grosskonzerne nichts mehr im Weg. Die Klein- und Mittelbetriebe sind von dieser Art Stempelsteuer bereits befreit, so kommen nur noch die ganz grossen Konzerne als Empfänger des Millionengeschenks in Frage.

.?.?. zum Hauptgang mit Hummer und Kaviar

Aber noch nicht genug Weihnachtsmann gespielt: Diese 250 Millionen sind ein Trinkgeld im Vergleich zu dem, was den Grosskonzernen durch die Unternehmenssteuerreform III (USR III) – sorry – in den Allerwertesten geschoben werden soll. Mitte September stellten Bundesrätin Widmer-Schlumpf und Peter Hegglin, Zuger Finanzdirektor und Vorsteher der Finanzdirektorenkonferenz, den Zwischenbericht des «Steuerungsorgans» zur USR III der Presse vor. Widmer-Schlumpf sagte dazu: «Es handelt sich nicht um eine Steuersenkungsvorlage.» Wirklich nicht? «Es geht darum, die internationale Akzeptanz der schweizerischen Steuerpolitik zu sichern oder wieder herzustellen», erklärte die Bundesrätin. Die Reform sei nötig, weil «die EU die gesonderten Steuerregimes für Holding-, Domizil- und gemischte Gesellschaften künftig nicht mehr duldet. Wenn nicht gehandelt wird, besteht die Gefahr, dass die Unternehmen ins Ausland abwandern».

Die Erklärung wird sofort zur Drohung: Ohne USR III kommt es zum Verlust von Arbeitsplätzen! So scheinen dem Bundesrat 3,9 Milliarden Franken in Form einer Senkung der Gewinnsteuer eine angemessene Summe zu sein, um die Grosskonzerne bei Laune zu behalten. 3,9 Milliarden (!), die dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden fehlen werden und daher von irgendwoher wieder einkassiert werden müssen. Von wo genau, steht im Zwischenbericht ab Seite 41. Da es in den Kantonen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Steuererhöhungen kommen wird, empfiehlt die Steuerungsgruppe dem Bund die «Verlagerung von der (direkten) Unternehmensbesteuerung hin zur indirekten Besteuerung (?…?) namentlich auf die Mehrwertsteuer».

Da dies noch nicht reicht, soll die Bevölkerung zusätzlich mit der «Abschaffung oder Reduktion von Steuervergünstigungen (z.B. Abzug für auswärtige Verpflegung)» die Steuergeschenke an die Grosskonzerne berappen. Zynisch wird hinzugefügt: «Damit würde jedoch die Steuerlast von den Unternehmungen zu den natürlichen Personen verschoben. Ein Vorteil solcher einnahmenseitiger Massnahmen wäre, dass sie auch den Kantonen zusätzliches Einnahmenpotenzial erschliessen würden, das sie zur Entlastung ihrer Haushalte einsetzen können.»

Auf zum Kampf

Was von dieser Steuerreform zu halten ist, lässt sich am besten mit den Worten der Berner SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen wiedergeben. Sie sagte gegenüber der WOZ: «Die Schweiz soll endlich aufhören, sich steuerpolitisch für die globalen Konzerne zu prostituieren». Wir fügen uns dem an und rufen jetzt schon zum Kampf gegen die USR III auf. Um die Kampfmoral zu steigern, sei an folgendes erinnert: Die Steuerausfälle, sprich die bereits gemachten Steuergeschenke durch die Steuerreform II aus dem Jahr 2008, schätzt der Bundesrat auf jährlich 480 bis 600 Millionen Franken ein. Etwas mehr als 600 Millionen Franken betrugen auch die Einsparungen durch Streichung von Leistungen bei Erwerbslosen bei der letzten Revision der Arbeitslosenversicherung (ALV) im Jahr 2011.

Kampf den Kampfjets!

grippen800x700Die Parteileitung der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) hat einstimmig die Unterstützung des Referendums gegen den Kauf der Gripen-Kampfjets beschlossen. Drei Milliarden Franken kostet die Beschaffung der Kampfflieger. Über die gesamte Betriebsdauer würden die Kampfjets insgesamt mindestens neun Milliarden Franken kosten. Wegen dem Kauf der Gripen soll nun das Militärbudget auf jährlich 5 Milliarden Franken erhöht werden.  Und dies nachdem in den letzten  Jahren die «Kriegskasse» der Eidgenossenschaft bereits um fast eine Milliarde auf 4.7 Milliarden erhöht wurde. Gegen diese sinnlose und absurde Vernichtung  von Milliarden, die von den bürgerlichen Parteien gewollt und beschlossen wurde,  ist Widerstand Pflicht! Die PdAS ruft die Schweizer Bevölkerung auf, sich aktiv gegen den Kauf der Kampfflugzeuge zu wehren.

Jenen nehmen, die wenig haben, um denen zu geben, die bereits viel zu viel haben; Die laufende Herbstsession der Räte ist einmal mehr exemplarisch für die neoliberale,  ausschliesslich den Partikularinteressen des Kapitals verpflichtete Politik der bürgerlichen Parteien. Zum geplanten Kauf der Gripen, bei dem nur wenige Rüstungsfirmen profitieren, soll durch die Streichung der Stempelabgabe auf Sach- und Vermögensversicherungen ein Geschenk von 250 Millionen Franken an die Grossunternehmen und Konzerne erfolgen. Eine entsprechende Motion aus dem SVP-Lager wurde im Nationalrat angenommen.

Dem Steuergeschenk steht der Leistungsabbau bei der Altersvorsorge gegenüber. Bei der AHV wurde eine Schuldenbremse beschlossen. Bei der 2.Säule (Pensionskasse) sollen in Zukunft der Zinssatz und der Umwandlungssatz automatisch an die reale Situation an den Finanzmärkten angepasst werden.

Statt sichere Renten sollen diese den extremen Schwankungen des Finanzkapitals ausgeliefert werden. Massive Rentenkürzungen sind die logische Folge. Damit spuckt der Nationalrat auf den Volksentscheid vom 7. März 2010, als die geplante Senkung des Umwandlungssatzes mit 72,7(!) Prozent an der Urne wuchtig abgeschmettert wurde. Erneut zeigt sich: Wenn Volksentscheide nicht im Interesse der Kapitalisten sind, werden sie einfach umgangen. Demokratie?

Die PdAS wird entschieden jede Verschlechterung bei der Altersvorsorge bekämpfen. Renten sind kein Almosen sondern ein von der Verfassung garantiertes Recht!

Partei der Arbeit der Schweiz 
Bern, 21. September 2013 

Warum Marx recht hat

Karl-Marx1Wie lebt man im falschen Leben richtig? Nach einer Pause startet die Arbeitsgruppe « Politische Arbeit und Theorie » (AG PAT) der PdA Zürich am Dienstag, 24. September 2013 mit einer Diskussionsrunde zum Buch von Terry Eagleton« Warum Marx recht hat.» Alle sind herzlich eingeladen.

 

Wo? Sekretariat der PdA Zürich, Rotwandsrasse 65, 8004 Zürich,

Wann? 24. September 2013, 19.30 Uhr, dann alle 14 Tage immer am Dienstag am gleichen Ort!

Das erste Kapitel schicken wir dir gerne per Mail zu. Anmeldung nicht zwingend aber erwünscht: pdaz@pda.ch

 

Der Marxismus ist erledigt

Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy und katholischer Marxist. In seinem Buch « Warum Marx recht hat » greift er in zehn Kapiteln die geläufigsten Kritikpunkte an Marx auf und giesst sie provokant in ätzende Thesen. So lautet Kritikpunkt eins in seinem Buch: «Der Marxismus ist erledigt. Denkbar, dass er in gewissem Maße relevant war für eine Welt der Hochöfen und Hungerrevolten, der Kohlekumpel und Kaminkehrer, der Verelendung und einer anschwellenden Arbeiterklasse. Aber er hat ganz gewiss nichts zu tun mit den zunehmend klassenlosen, sozial mobilen, postindustriellen westlichen Gesellschaften der Gegenwart. Er ist das Glaubensbekenntnis derer, die zu verbohrt, ängstlich oder verblendet sind, um einzusehen, dass die Welt sich verändert hat und das forgood: zum Guten und in alle Ewigkeit.»

Zum ersten Kritikpunkt lädt die AG PAT Mitglieder, Sympathisanten und interessierte ZeitgenossInnen ein, die nicht bei der Analyse von Veränderungen stehen bleiben, sondern sich auch aktiv daran beteiligen wollen. Das erste Kapitel stellen wir per E-Mail als pdf gerne zur Verfügung. Wer kann, schafft sich das lesenswerte Buch am besten an (Terry Eagleton, Warum Marx recht hat, Ullstein, 2011, 286 Seiten, etwa 20 Franken, unter anderem bei der « Buchhandlung am Helvetiaplatz » in Zürich erhältlich). Für weniger Geld gibt es das « Manifest der Kommunistischen Partei »    bei Reclam (5.90 Franken). Die etwa um 1847 verfassten Grundsätze des Manifests von Marx und Engels dienen als Grundlage und für das Verständnis.

 

AG PAT

In der AG PAT wollen wir grundsätzliche politische Fragen behandeln und aktualitätsbezogene Ansätze in den Mittelpunkt stellen. Zum Beispiel: Welche Folgen haben die Zunahme von Reichtum und Armut in der Schweiz? Was kann die Partei der Arbeit konkret für eine gesellschaftskritische Sensibilisierung tun? Was muss unternommen werden, damit die verinnerlichte Logik der Konkurrenz mehr Platz für das Miteinandereinräumt? Ist die gegenwärtige soziale Form, die Gegenstände vermenschlicht und Menschen vergegenständlicht, den Menschen bewusst? Solche und andere Fragen werden uns beschäftigen. Dabei können persönliche Erfahrungen, Bücher, Zeitungsartikel, Filme und vieles mehr herangezogen werden. Je nach Bedürfnis werden einzelne Themen vertieft, andere zurückgestellt oder fallengelassen. Hauptsache ist, dass die Beteiligten finden Interesse und Lust an der gemeinsamen Auseinandersetzung.

Die AG PAT der PdAZ freut sich auf einen zahlreichen Besuch!

Protest der syrischen Flüchtlinge

Syrien_camp2„Seit Montagmittag ( 9. September) verharren wir Flüchtlige aus Syrien vor dem Bundesamt für Migration (BfM) in Wabern. Wir sind Erwachsene und auch ungefähr 40 Kinder. Viele von uns leben seit Jahren in der Schweiz und haben Asyl beantragt. Wir haben entweder einen N- oder einen F-Auweis.

Wir fordern stabile Aufenthaltsbewilligungen (Ausweis B) und eine rasche Behandlung der Gesuche syrischer Flüchtlinge. Um hier eine Zukunft aufzubauen, ermöglicht die vorläufige Aufnahme (Ausweis F) keine Perspektive. In anderen Länder wie beispielsweise Schweden ist es längst möglich Flüchtlinge aus Syrien problemlos und rasch aufzunehmen. Die Schweiz ist schnell um negative aber langsam um positive Asylentscheide zu treffen. Eigentlich müsste es doch umgekehrt sein.
Wir sind fest entschlossen unseren Teil zur Lösung beizutragen. Deshalb bleiben wir hier bis Entscheide für unsere Asylgesuche getroffen wurden. Täglich sind wir mehr und täglich sind wir stärker auf eure Hilfe angewiesen. Uns mangelt es an allem: Decken, Schlafmatten, Zelte, Medikamente für Kinder und Erwachsene, Essen und nicht zuletzt an Geld.
Wir appellieren an alle Teile der Bevölkerung: Einzelpersonen, Kirchen, Organisationen oder Parteien: Unterstützt unseren Kampf um Rechte, hier und jetzt!“
Syrer mit N-Ausweis erzählen von ihrem Leben

Mohammed, 20 Jahre, seit 3 Jahren in der Schweiz, Ausweis N
„Mit N kann ich nicht arbeiten, ich kann nicht in die Schule gehen oder eine Ausbildung machen, ich konnte nur einmal für 2 Monate einen Deutschkurs besuchen. Ich kann nichts anderes machen, als mit meinen Kollegen rumhängen. Aber ich bleibe immer viel zu Hause, weil ich in der Woche nur 70 Franken zur Verfügung habe, die brauche ich für Essen und andere wichtige Sachen.“

Farid 38, ist seit 1 Jahr und 4 Monaten hier, Frau und 4 Kinder, N-Ausweis
„Alle sind in einem 1.5 Zimmer (2 X2.5 m2, und 4X4m2), die Wohnung stinkt und ist nass, die Kinder sind hier geboren, die Kinder werden im dem feuchtem Zimmer krank. Die Kinder haben keine Zukunft so, ich als Familienvater kann meinen Kindern keine Perspektive geben, denn ich darf nicht arbeiten.“

Rassul, 31, seit 10 Monaten in der Schweiz, N-Ausweis
„Ich kann nur einmal in der Woche in 1.5 Stunden zum Deutschkurs gehen, das reicht nicht, um gut Deutsch zu lernen. Aber ich lerne zu Hause selber, denn ich möchte gut Deutsch können und hier mein Unistudium in Jurisprudenz weitermachen. Ich habe in Syrien den Bachelor gemacht und möchte hier den Master machen. Aber mit N – Ausweis darf ich nicht die Universität besuchen und ich darf auch nicht arbeiten. Ich suche jetzt private Deutschkurse, spare an Essen, damit ich diese bezahlen kann. Ich bekomme monatlich 480 Franken zum leben.
Wir brauchen weiter unser Leben, wir müssen uns eine neue Zukunft suchen, wir kommen nicht wegen Geld, wir haben in unserer Heimat keine Zukunft mehr und sind hierher gekommen, aber mit N-Ausweis haben wir keine Zukunft: keine Arbeit, kein Studium. Meine Frau ist in Kurdistan, nach Irak geflüchtet und lebt in einem Zelt, ich habe einmal ein Gesuch für die Aufnahme meiner Frau gemacht, aber das BFM hat mir nie geantwortet.“

Ahmed, 36, 2 Jahre und 3 Monate in der Schweiz, N-Ausweis
„Ich bin verheiratet und habe 2 Kinder. Meine Frau und Kinder leben in Syrien. Ich habe seit 2 Monaten keinen Kontakt mehr mit ihnen. Das letzte Mal, als ich sie gehört habe, sagte meine Frau, sie hätte viele Probleme, viele verschiedene Gruppen, die sich bekämpfen, Zudem haben sie keine Kleider, zu wenig zu Essen. Was soll ich hier machen, ich kann sie nicht hier her holen, dann kann ich gleich auch sterben, wenn meine Familie stirbt, ich lebe für sie. Ich hatte vor kurzem das 2. Interview beim BFM seit über 2 Jahren habe ich keine Antwort vom BFM bekommen. Ich kann nicht arbeiten und auch nicht meine Familie hier herholen. In dieser Situation habe ich immer Stress, kann nachts nicht schlafen, mir sind die Hände gebunden, ich möchte etwas machen. Ich brauche auch nicht unbedingt Papiere, ich brauche auch nicht Kleider, Essen, was ich brauche ist meine Familie, dass ich mit meiner Familie zusammen in Sicherheit sein kann. Die Schweiz ist gut, aber das Asylsystem ist schlimm für die Betroffenen. Das jüngste Kind konnte ich noch nie sehen, es ist inzwischen 2 Jahre alt und ich habe es nie gesehen.“

Protest gegen den „Marsch fürs Läbe“

abtreibungWir, das Bündnis für ein selbstbestimmtes Leben, haben für heute (Samstag, 14. September)  zum Widerstand gegen den „Marsch fürs Läbe“ aufgerufen, einen Aufmarsch reaktionärer ChristInnen. Unserem Aufruf folgten mehrere hundert Personen. Entlang ihrer Route störten wir den rechten Aufmarsch mit verschiedenen Aktionen. Es wurden Transparente und Plakate gehängt, Parolen gerufen, mit Lärminstrumenten musiziert; für kurze Zeit ersetzten wir das Fronttransparent mit unseren Inhalten. Es gelang auch immer wieder, den Aufmarsch zu blockieren. Am Limmatplatz gab es ein queeres Kiss-In, bei dem zahlreiche Küssende gegen die verklemmte Sexualmoral der Fundis demonstrierten. Bei unseren Aktionen wurden wir von der Quartierbevölkerung tatkräftig unterstützt. Viele schlossen sich unserem Protestumzug an, aus vielen Fenstern hingen Transparente, manche AnwohnerInnen gossen auch Wasser auf den reaktionären Zug. Einige machten sich sogar die Mühe, aus ihren Wohnungen laute frivole Musik laufen zu lassen.
Die Polizei war mit einem massiven Aufgebot präsent. Der Turbinenplatz war komplett abgeriegelt, es wurden reihenweise Wegweisungen verteilt und mehrere Personen verhaftet. Es ist ein deutliches politisches Zeichen der Stadtpolizei, wenn sie Kräfte vom rechten Rand mit Hundertschaften in Vollmontur und mit zwei Wasserwerfern eskortiert. Immerhin verdeutlicht der Polizeieinsatz von heute, dass eine rechte Mobilisierung dieser Art in Zürich nicht ohne weiteres möglich ist: Wenn reaktionäre ChristInnen zu einem solchen Aufmarsch aufrufen, müssen sie mit Widerstand rechnen.
Die organisierten AbtreibungsgegnerInnen legen derzeit in vielen Regionen der Welt an Stärke zu. Ihre Politik ist ein Angriff auf die Errungenschaften der Frauenbewegung. Es ist eine zutiefst patriarchalische Politik: Frauen sollen sich auf ihre ausschliessliche Rolle als Mutter und Hausfrau besinnen, werden zu Gebärmaschinen degradiert. Die „Lebensschützer“ wettern gegen Homosexuelle und gegen den Feminismus: Wer nicht nach dem Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie lebt, wird zur Bedrohung für die nationale Gemeinschaft erklärt.
Die AbtreibungsgegnerInnen sind kein Einzelphänomen, sondern stehen im Kontext breiter rechter Offensiven. Es die alte Leier: In der gesellschaftlichen Krise kommen die Rechten mit faulen Versprechungen von der guten alten Ordnung, von nationaler Einheit und Kleinfamilienglück. Für die herrschenden Interessen ist die rechte Ideologie, gerade wenn sie religiös aufgeladen ist, immer wieder sehr nützlich. Wir treten den rechten Offensiven entgegen. Wir wollen ein gutes Leben für alle statt miefige Ideologien. Mit unserer lauten Präsenz heute haben wir ein Zeichen gesetzt für eine Gesellschaft, in der Menschen selbstbestimmt über ihre Sexualität entscheiden.
Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine.
Keinen Fussbreit der rechten Hetze
Bündnis für ein selbstbestimmtes Leben

Armbrust und WC-Bürste

tell_chAm 22. September wird im Kanton Zürich über die Volksinitiative «Für mehr Demokratie» abgestimmt. Die Gemeinden  sollen die Möglichkeit bekommen, lang ansässigen AusländerInnen das fakultative Stimm- und Wahlrecht zu erteilen. Ein  erneuter Versuch, einen Schritt vorwärts zu kommen, um eine Demokratielücke im Kanton Zürich zu schliessen.

Aus der Printausgabe vom 23. August. Unterstütze uns mit einem Abo!

«Die Zeit ist reif, mehr Demokratie zu wagen!» Mit diesem Slogan lancierte das Initiativkomitee am 31. Juli, am Vorabend des Nationalfeiertages, den Abstimmungskampf. Natürlich ist das Datum nicht zufällig gewählt. Der offizielle Geburtstag der Eidgenossenschaft «ist nicht nur Anlass, um der Errungenschaften der Vergangenheit zu gedenken, sondern auch eine ausgezeichnete Gelegenheit, über die Weiterentwicklung unseres direktdemokratischen Staatswesens nachzudenken», schreibt das Initiativkomitee auf seiner Website www.mehr-demokratie.ch.

Eine moderate Forderung

Die Zürcher Kantonsverfassung erlaubt es den Gemeinden bisher nicht, ihre ausländische Wohnbevölkerung  am politischen Leben beteiligen zu lassen. Deshalb hat der Verein «Second@s Plus Zürich» im August 2011 die Volksinitiative «Für mehr Demokratie» eingereicht. Die Gemeinden sollen die Möglichkeit erhalten, AusländerInnen, die seit mindestens zehn Jahren in der Schweiz und seit mindestens drei Jahren in derselben Gemeinde leben, das kommunale Stimm- und Wahlrecht zu erteilen, sofern diese es beantragen.

Eine durchaus moderate Forderung, auch weil nach der eventuellen Annahme des Volksbegehrens weitere Schritte nötig sind, um die bestehende Demokratielücke in Sachen AusländerInnen-Stimmrecht im Kanton Zürich zu schliessen. «Ja, es ist eine sehr softe und moderate Initiative», räumt auch Salvatore Di Concilio, Mitinitiant und ehemaliger Stadtzürcher SP-Gemeinderat, auf Anfrage des vorwärts ein. «Aber schlussendlich geht es eben doch um das Stimmrecht für MigrantInnen. Unser Initiativkomitee hat eine gewisse Breite, so dass ein Konsens bei der Ausformulierung des Initiativtextes gesucht wurde. Für mich bleibt aber die prinzipielle Frage: Wollen die Stimmberechtigten in diesem Bereich einmal Ja sagen oder nicht?»

Bisher muss diese Frage leider mit Nein beantwortet werden. Die letzten beiden Versuche, über eine Volksinitiative das Stimmrecht für AusländerInnen einzuführen, oder zumindest einen Schritt in diese Richtung vorwärts zu kommen, endeten mit einem veritablen Schiffbruch: Im September 2010 lehnten die Kantone Bern und Basel-Stadt entsprechende Vorschläge deutlich ab. Auch in Kanton Zürich waren die bisherigen Versuche schlicht chancenlos. Die Frage liegt daher auf der Hand: Warum eine weitere Initiative? «Es gibt zwei Gründe dafür», erklärt Di Concilio, «Erstens konnte auf parlamentarischer Ebene kein Fortschritt erzielt werden, auch nicht bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung des Kantons Zürich, die seit dem 1. Juni 2006 in Kraft ist. Und zweitens wird bekanntlich die Migrationspolitik in der Schweiz vor allem von der SVP diktiert. Wir wollten mit unserer Initiative etwas Positives entgegensetzen.» Und Di Concilio erinnert weiter daran, dass auch «das Frauen-Stimmrecht mehrere Anläufe gebraucht hat».

Armbrust und WC-Bürste

Bescheidener Optimismus lässt die Tatsache zu, dass in der Schweiz das Stimm- und Wahlrecht für MigrantInnen nicht etwas völlig exotisches ist: In den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Basel-Stadt, Freiburg, Genf, Graubünden, Jura, Neuenburg und Waadt dürfen lang ansässige AusländerInnen bereits heute (zum Teil fakultativ) auf Gemeindeebene wählen und abstimmen. Im Kanton Neuenburg gilt dieses Recht bereits seit 1849. Die Kantone Jura und Neuenburg kennen zudem für AusländerInnen auch das kantonale Stimm- und Wahlrecht.

Doch zurück nach Zürich: Das Logo der Abstimmungskampagne besteht aus einer Armbrust als weltbekanntes Symbol für Schweizer Qualitätsprodukte. Aber anstelle des Pfeils ist eine WC-Bürste oder Schaufel, ein Schwingbesen oder Thermometer zu sehen. Diese stehen als Sinnbilder für Branchen, in denen AusländerInnen in grosser Anzahl tätig sind, nämlich Reinigung, Bau, Gastgewerbe und Pflege. «Symbolisch steht die Kombination dafür, dass durch die Einbindung der Ausländerinnen und Ausländer in den politischen Entscheidungsprozess nicht nur die Migrantinnen und Migranten ein Recht erhalten, sondern auch die Schweiz gewinnt – nämlich an engagierten Bürgerinnen und Bürgern», hält das Komitee fest. Die Zeit für mehr Demokratie ist wirklich reif!

Die verlorene Unschuld der Revolution

AegyptenDie ägyptische Revolution zeigt sich von ihrer hässlichen Seite. Seit der Räumung der beiden Camps vor der Kairoer Universität und der Rabaa al-Adawiya-Moschee ist ein blutiger Machtkampf um die Zukunft des Landes entbrannt. Alle vereint im Kampf gegen den islamistischen Terror heisst die Parole. 

Übergangspräsident Mahmoud Adil dankt den Sicherheitskräften für das «besonnene und zurückhaltende Vorgehen» bei der Räumung der beiden Camps. Vielleicht meint er es wirklich so, wenn man bedenkt, dass für die Räumung 3000 bis 5000 Tote «einkalkuliert» waren, wie das Innenministerium Tage zuvor stoisch verkündete. Gemäss offiziellen Angaben des ägyptischen Gesundheitsministeriums sind alleine am «Blutigen Mittwoch» bei der Erstürmung der beiden Protestcamps 630 Menschen gestorben, die Muslimbrüder sprechen gar von über 2000 Toten. Die Wahrheit wird, wie so oft dieser Tage, irgendwo in der Mitte liegen. Es ist ein düsteres Kapitel der ägyptischen Revolution. Auch Tage nach dem Massaker ruft die Tamarod-Bewegung (Rebellion) die Sicherheitskräfte dazu auf, jeden Widerstand der IslamistInnen im Keim zu ersticken und fordert das ägyptische Volk dazu auf, «das heroische Militär in ihrem Kampf gegen den Terrorismus» tatkräftig zu unterstützen.

Die Büchse der Pandora

Es regiert der Hass. Ein Land in der nationalistischen Ektase. Der politische Islam und der Terrorismus soll nun für immer «ausgemerzt» und «ausgelöscht» werden. Mahnende Stimmen gibt es dieser Tage wenige. Es ist vom «Sieg über den Faschismus» die Rede, die AnhängerInnen von Mursi werden unisono als TerroristInnen gebrandmarkt und zum Abschuss freigegeben. Hartnäckig berichten die ägyptischen Medien von eingesickerten Kräften der Al Kaida, von verhafteten Pakistanern, Afghanen und tausenden Hamas-Kämpfern, welche schon vor Monaten zur Unterstützung der Muslimbrüder nach Ägypten eingeschleust worden seien. Die Lage für palästinensische und syrische Flüchtlinge ist entsprechend unangenehm. Selbst die vielen unabhängigen Menschenrechtsgruppen berichtet lieber über brennende Kirchen und geköpfte Polizisten, selbst von dort schlägt den Muslimbrüdern nur noch Hass entgegen. Es sind nicht die dunklen Wolken eines kommenden Bürgerkrieges. Die Wolken sind schwärzer. Es sind die Wolken des Pogroms. Und es ist nicht nur der Hass gegen den politischen Islam, dahinter verbirgt sich auch eine gute Portion Verachtung der gebildeten, urbanen Schichten gegen die Armen.

Kühle Köpfe sind in Ägypten dieser Tage rar. Und doch gibt es sie. Es sind einmal mehr die revolutionären Kräfte der ersten Stunde. So gründeten anfangs August anlässlich eines Treffens in der ArbeiterInnen-Hochburg Malhalla die Jugendbewegung des 6. April, die Revolutionären SozialistInnen, die Gruppe «Ägpyten ohne Folter» sowie die islamische Partei «Starkes Ägypten» von Futuh – vor drei Jahren noch wichtige Figur bei den Muslimbrüdern – die Plattform «Revolutionäre Alternative». Mit dem Ziel, zu verhindern, dass Elemente des alten Regimes nach der Übergangsperiode wieder die Macht übernehmen. Und das ist bitter nötig, denn losgelassenen Kettenhunde kehren nicht freiwillig in ihre Zwinger zurück.

Neue Töne aus Kairo

Die Opposition und das ägyptische Volk haben sich vom unsanften Sturz Präsident Mursis Ruhe und Ordnung, Stabilität sowie wirtschaftlichen Aufschwung erhofft. Nun tritt das pure Gegenteil ein. Das erste Mal seit dem Beginn der Revolution wird für ganz Ägypten eine Reisewarnung ausgegeben, der Tourismus kommt praktisch vollständig zum Erliegen, internationale Firmen schliessen ihre Fabriken, Entwicklungsgelder werden eingefroren und Ägypten geht seinen eigenen Weg. Obama schlägt von allen Seiten blanker Hass entgegen, Premier Netanjahu erteilt dem israelischen Parlament zu Ägypten ein generelles Sprechverbot, der saudische König Abdullah hat einer seiner äusserst seltenen TV-Auftritt, um zu verkünden, dass das ägyptische Volk seine volle Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus habe.

Bei den mit dem Golfstaat verbündeten SalafistInnen wird er sich damit keine Freunde machen. Die Maske ist gefallen, die Golfstaaten spielen ein gefährliches Spiel und erhöhen ihren Einsatz. Und dem Westen bleibt nur die Rolle des ohnmächtigen Statisten. Die Tamarod-Bewegung lanciert derweil die Kampagne «Für die Wiederherstellung der Souveränität». Diese zweite Petition hat das Ziel, keine US-Entwicklungshilfe mehr anzunehmen und das Camp-David Friedensabkommen mit Israel zu annullieren. Es sind martialische Töne, welcher derzeit in die Welt hinausposaunt werden. Und vielleicht sind solche dramatische Momente, wie wir sie derzeit in Ägypten erleben, unweigerlicher Teil eines schmerzlichen Prozesses. Die ägyptische Revolution hat sich mit Blut befleckt. Ihre eigenen Kinder gefressen. Nur dieses Mal hat es die Bärtigen erwischt. Ein neues Kapitel öffnet sich. Es wird nicht das letzte sein.

 

Demokratie des Kapitals

zio-paperoneMit dem Begriff der Demokratie wird allerhand Unfug getrieben. Jeder und jede darf sich ein wenig ausmalen, was sie oder er darunter verstehen will. Die Angst vor einem Verlust der Demokratie hat aber auch einen reellen Kern in der Restrukturierung der Kapitalakkumulation in der Krise.

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Als gegen Ende des Jahres 2011 die Bewegung «Democracia Real YA!» in Spanien eine «echte Demokratie» einforderte, war sie bereits Ausdruck der offensichtlichen Probleme demokratischer Strukturen in der Krise des Kapitals. Wenn heute allerhand DenkerInnen Reden und Schriften zur Demokratie veröffentlichen, dann ist dies Äusserung einer Besorgnis, die einen reellen Kern hat. Darum findet man in der NZZ eine Folge von Essays über die «Volksherrschaft» unter der Zusammenfassung, dass die Finanzkrise und drohende Staatspleiten die demokratischen Gemeinwesen strapazieren. Und deshalb nennen die beiden Post-Intellektuellen Antonio Negri und Michael Hardt ihr neustes Machwerk «Demokratie! Wofür wir kämpfen». Es scheint, als würde die Demokratie gerade dann zu einem sakrosankten Wert, wenn sie von den Kapitalanforderungen ein ums andere Mal ad absurdum geführt wird.

Diffuse Begrifflichkeit

Unter Demokratie stellen sich die verschiedenen Kräfte sehr verschiedenes vor. Tatsächlich lädt die Unbestimmtheit des Begriffs dazu ein, sich nach eigenem Gusto ein Bild zu machen. Es ist kaum anzunehmen, dass die Demonstrantin auf den Strassen Barcelonas mit echter Demokratie dasselbe meint wie der Journalist in der NZZ-Redaktion, wenn er vom drohenden Verlust der Demokratie schreibt. Der eine betont die Freiheit des Marktes, während die andere die Institutionen, welche Grundrechte – auch für Minderheiten – garantieren sollen, zum Massstab der Demokratie erhebt. Die Vorstellungen reichen dann auch von der repräsentativen Demokratie, in der man alle paar Jahre die VerwalterInnen der Ausbeutungsverhältnisse wählen darf bis hin zu den Vorstellungen der RätekommunistInnen, die sich eine künftige Gesellschaft nach einer Rätestruktur mit demokratischem Verfahren ausmalten. Doch wenn man etwas über die aktuellen Prozesse und Sorgen sagen will, dann muss man sich der Demokratie zuwenden, wie sie heute bei allen Unterschieden in den alten kapitalistischen Zentren vorherrschend ist.

Geschäftsgrundlage des Kapitals

Als sich die bürgerliche Revolution die Parole «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» auf die Fahnen schrieb, nahm sie politisch vorweg, was die ökonomische Struktur ihrer Gesellschaft zumindest an der Oberfläche – wenn man keinen Blick in die Produktion wirft – ausmachen sollte; auch wenn die Brüderlichkeit nicht so recht ins Bild passen wollte. Marx sah dies schon 1867 hellsichtig, als er im ersten Band des Kapitals schrieb: «Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent.» Es wäre falsch allen FreundInnen der Demokratie – etwa den RätekommunistInnen – eine Rettung des kapitalistischen Inhalts vorzuwerfen. Allerdings beschreibt die Parole ziemlich genau die liberalen Geschäftsgrundlagen des Kapitalismus. Entgegen einiger Legenden der ParteikommunistInnen ist der Kapitalismus nicht seinem Wesen nach undemokratisch. Die demokratische Form entspricht zumindest in Prosperitätsphasen in den alten Zentren dem kapitalistischen Inhalt und hat überdies den Vorteil, dass die Proletarisierten ihrer eigenen Vernutzung aktiv zustimmen. Allerdings kann die demokratische Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem eigenen Inhalt – der Akkumulation von Kapital – in Widerspruch geraten.

Kapitalakkumulation und Demokratie

Das ökonomische Schlamassel, in dem sich Europa und ein Grossteil der Welt seit einigen Jahren befindet, ist ein wahres Lehrstück in Sachen Demokratie. Alle Bewegungen und demokratischen Bestrebungen, die Austeritätspolitik zu stoppen – und sei dies mittels des Sturzes einer Regierung wie etwa in Bulgarien oder Slowenien – haben nichts am knallharten wirtschaftlichen Kurs der Krisenstaaten geändert. Dieses Problem lässt sich nicht auf die Sturheit der PolitikerInnen oder das falsche Wahlverhalten zurückführen. Darin kommt vielmehr zum Ausdruck, dass die Staaten als Organisatoren der Nationalökonomie gezwungen sind, die Interessen des Kapitals gegen allen politischen Widerstand durchzusetzen. Wenn in den Krisenstaaten eine linke Regierung an die Macht kommt, sieht sie sich mit der Alternative konfrontiert, entweder die Austeritätsmassnahmen durchzusetzen oder die nationale Ökonomie an die Wand zu fahren – und damit ihre eigene Existenzgrundlage zu unterminieren. Dieser Zwang schlägt sich auch im tendenziellen Umschwenken eines integrativen Kurses hin zum offen repressiven Umgang mit potentiell Widerständigen nieder: Immense Datenbanken und biomterische Sammelwut; Verschärfung des Asyl- und Ausländerrechts, autoritäre Sozialgesetze und Ausbau des allgemeinen Repressionsapparates. Dass selbst in der Schweiz nach reiflicher Analyse des europäischen Kontextes die Armee Einsätze im Inneren probt, komplettiert das Bild eines Staates, der seine menschlichen Ressourcen in Zeiten der Krise besser kontrollieren und verwalten will.

Von der Alternative zum Zwang

Der Staat wird in diesem Prozess gegenüber der Ökonomie nicht geschwächt, wie das Allerwelts-Linke gerne behaupten. Er ist eben nicht dazu da, uns vor der unsichtbaren Faust des Weltmarktes zu retten. Seine Funktion ist vielmehr, für das nationale Kapital die besten Rahmenbedingungen zu schaffen. In Zeiten der Prosperität ergibt sich für den Staat die Möglichkeit eher sozialdemokratisch oder konservativ zu agieren; das Wahlvolk kann ganz demokratisch zwischen verschiedenen Akkumulationsperspektiven wählen. Wenn die Akkumulation aber nicht mehr brummt, rücken diese Alternativen immer enger zusammen. Auch wenn in den Krisenstaaten verschiedene Parteien um die Regierung konkurrieren, stehen sie doch vor der selben unausweichlichen Aufgabe: Die staatlichen Verwertungsperspektiven sind zu einem einzigen Zwang zusammengeschmolzen, der von dieser oder jener Partei exekutiert werden muss. Die liberal-demokratischen Formen entsprechen den autoritären Anforderungen der kapitalistischen Krisenbewältigung in vielen Ländern nicht mehr. Eine Kritik, die nicht hoffnungslos und handzahm bleiben will, muss nebst der politischen Form den kapitalistischen Inhalt in den Fokus nehmen: Die Akkumulation von Kapital, die sich die entsprechenden politischen Verlaufsformen schafft, aber von selben wiederum modifiziert wird.

Abschaffen im Sinne der NATO

ARMEEDEFILEE, ARMEE VORBEIMARSCH, BATALLION PANZERGRENADIERE,Die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) spricht sich klar für die Abschaffung der Armee aus. Daher lautet eine der zentralen Fragen bezüglich der Initiative der GSoA, welche die Wehrpflicht abschaffen will, ob sie ein Schritt hin zur Abschaffung der Armee und/oder ein zivilisatorischer Fortschritt ist. Die Antwort fällt aus mehreren Gründen negativ aus, daher die Nein Parole der PdAS.

Schon lange vor der GSoA-Initiative war es die Finanz- und Wirtschaftswelt, welche die Einführung einer «freiwilligen Milizarmee» forderte. Und dies – das sei hier schon verraten – nicht um des Friedens Willen. Im Jahr 1991 erarbeiteten Reiner Eichenberger, Professor für Theorie der Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Universität Freiburg und Thomas Steinemann, ehemaliger Chefstratege der «Bank Vontobel», ein Gutachten für die Armee mit dem Titel «Milizarmee oder stehendes Berufsheer? – Das ist nicht die Frage». Die Autoren kommen mit Hilfe der «Gesetze der freien Marktwirtschaft» unter anderem zu der Schlussfolgerung: «Gedanken über eine Eingliederung schweizerischer Kräfte in ein europäisches Sicherheitssystem erscheinen auch nicht mehr allzu exotisch». Dafür ist die «freiwillige Miliz besser geeignet».

Über das Schweizer Territorium hinaus

1996 setzt SVP-Bundesrat Adolf Ogi die «Studienkommission für strategische Fragen» ein, die unter anderem die «Problematik von Milizsystem und allgemeiner Wehrpflicht beurteilen» soll. Diese mit 41 Persönlichkeiten – von Christoph Blocher bis Andreas Gross – bestückte Kommission fordert im Abschlussbericht von 1998, dass die Armee «mit professionellen Verbänden ergänzt» werden müsse. Sie verlangt, dass die Armee «neue Aufgaben auch über die reine Verteidigung des schweizerischen Territoriums hinaus übernehmen» muss. Daher sei «der Inhalt der Neutralität» zu revidieren und anzupassen. Der Grund dafür ist einfach: «Langfristig kann Zusammenarbeit dazu führen, die Neutralität in ihrer gegenwärtigen Form aufzugeben». Mit «Zusammenarbeit» ist das «Engagement in der einen oder anderen sicherheitspolitischen Organisation» und die Mitwirkung «an der Festigung eines grossen Sicherheitsraums» gemeint. An dieser Stelle sei an folgendes erinnert: Die Schweiz nimmt seit 1996 an der sogenannten «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) teil. Die PfP ist eine politische Initiative, die gemeinsam von der NATO und 22 Partnerstaaten getragen wird. Eines der Ziele der PfP ist der «Aufbau von Streitkräften, die besser mit der Nato kooperieren können.» Bis heute dienten bereits über 4200 Schweizer SoldatInnen der NATO.

Einen bedeutenden Schritt weiter geht die «Forschungsstelle für Internationale Beziehungen der ETH Zürich» im November 1998. Sie erstellt ein Dokument als unmittelbare Kritik zum oben erwähnten Kommissionsbericht. Darin wird festgehalten, dass die Abschaffung der Wehrpflicht die Voraussetzung für internationale Einsätze und den Anschluss an die NATO ist! Da aber «die Modifikation oder allfällige Aufhebung der Wehrpflicht auf deutlichen Widerstand stossen würde, ist mit einer langen Übergangsphase zu rechnen, die gut vorbereitet werden müsste. Wir rechnen mit 15 bis 20 Jahren, und diese Zeitspanne muss von der Politik für einen offenen und intensiven Dialog genutzt werden.» Und ganz wichtig: «Im Sinne einer Vorwegnahme späterer Entscheidungen wäre die Einführung einer freiwilligen Miliz eine denkbare Option, denn daraus könnte später eine echte Reserve entwickelt werden». Abgeschafft und dann?

Verschiedene EU-Länder haben die Wehrpflicht abgeschafft. Welche Entwicklung folgte? Die deutsche «Stiftung Wissenschaft und Politik» (SWP) ist das grösste aussen- und sicherheitspolitische Think Tank innerhalb Europas. In ihrer Studie «Die Zukunft der Deutschen Wehrpflicht», dessen Ergebnisse im Januar 2010 veröffentlicht wurden, kommt sie unter anderem zu folgendem Schluss: Seit der Umstellung auf freiwillige Rekrutierung ist die Akzeptanz und das Vertrauen der Bevölkerung in die Streitkräfte gestiegen. Gleiches ist in Italien geschehen, wie aus einem Wikipedia-Artikel zu entnehmen ist: «Nach kurzer Zeit entstand im Heer eine ganz neue, positive Stimmung und ein neues Selbstbewusstsein, was nach und nach auch in der Gesellschaft registriert wurde, die den Streitkräften nun auch für ihre Auslandseinsätze Anerkennung zollte.» Italienische Truppen sind bei jedem NATO-Einsatz dabei.

Auch Schweden hat die Wehrpflicht abgeschafft. Die Freiwilligen müssen sich für Auslandseinsätze verpflichten und ab 2014 wird die Berufsarmee eingeführt. Dies, um sie besser «für internationale Militäreinsätze wie in Afghanistan zu wappnen (…) Mit Plakatkampagnen und Fernsehspots versucht die Armee derzeit, künftige Berufssoldaten zu rekrutieren», wie in der NZZ vom 1.Juli 2010 zu erfahren ist.

Särge mit toten «Freiwilligen»

Die Protestbewegung in den USA gegen den Vietnamkrieg wurde von Müttern und Ehefrauen getragen. Als immer mehr Särge mit den Leichen ihrer Lieben in den USA eintrafen, gingen sie auf die Strasse und schrien lauthals: Warum müssen unsere Kinder und Ehemänner in den Krieg, in den Tod? Ab 1973 schafft die USA die Wehrpflicht ab und führte die «freiwilligen Armee» ein. Dies auch als Reaktion auf die Antikriegsproteste im eigenen Land. Nun konnte niemand mehr behaupten, dass ihre Kinder oder Ehemänner in den Krieg müssen. Särge mit toten «freiwilligen Soldaten» können von den Kriegstreibern der Bevölkerung einfacher erklärt werden, ja sogar als «Helden des Friedens» vermarktet werden, wie die Beispiele Irak und Afghanistan leider bestens beweisen.

Die Forderungen der Finanz- und Wirtschaftswelt und die genannten Beispiele zeigen deutlich: Die «freiwillige Milizarme» ist die Vorstufe für die Einführung der Berufsarmee. Diese kann dann ganz im Sinne der NATO eingesetzt werden. Grund genug (neben weiteren), aus linker Sicht Nein zu stimmen.

 

«Erkenne deinen Feind»

Die Revolutionären SozialistInnen vor dem Obersten GerichtDie Lage in Ägypten hat sich nach der Massenmobilisierung vom 30. Juni und der darauffolgenden Verhaftung des Präsidenten Mursi dramatisch zugespitzt. Eine Analyse dieser instabilen Phase der ägyptischen Revolution gibt Sameh Naguib, führendes Mitglied der «Revolutionären Sozialisten». Das Interview wurde von Rosemary Bechler geführt.

Gerade wurde eine neue Regierungsmannschaft in Ägypten ernannt. Kannst du uns etwas über ihre Zusammensetzung sagen? Und auch, ob sie breite Unterstützung hat und sie auf eine Art den Aufstieg liberal-demokratischer Ideen repräsentiert?

Nein, tut sie nicht. Sie besteht vorwiegend aus liberalen Technokraten mit Verbindungen zu einigen der neu entstandenen liberalen Parteien, darunter «Ad-Dustur» – die von el-Baradei vor etwa 18 Monaten gegründete Verfassungspartei – und die so genannte «Ägyptische Sozialdemokratische Partei». Aber auch sie ist nicht sozialdemokratisch, sie ist eine liberale, eine neoliberale Partei. Diese beiden Parteien sind nach dem revolutionären Umsturz entstanden und haben kaum Massenbasis, weil sie so neu sind. Sie stellen aber vier Minister. Der Premierminister und sein Vertreter für die Wirtschaft sind beide aus der «Sozialdemokratischen Partei». Und ich glaube, sie stellen zwei weitere Minister, die direkt von der Armee in die Posten hochgedrückt wurden. Es gibt auch einige Technokraten aus der Mubarak-Ära. Sie agieren jetzt wieder ganz offen.

Wurden sie deswegen ausgesucht, weil sie eine nicht so schlimme politische Vergangenheit haben?

Überhaupt nicht. Ich gebe dir ein Beispiel: Der Verkehrsminister stand bereits in der Verantwortung, als Ägypten den schlimmsten Eisenbahnunfall seiner ganzen Geschichte erlebte. Und General as-Sisi, ist stellvertretender Premierminister, Verteidigungsminister und zugleich Armeechef. Er ist bei fast allen Ministerrunden dabei.

Aber haben wir es nicht mit einer Armee zu tun, die sich bald von der politischen Bühne verabschieden will?
Sie steht sehr im Vordergrund. Formell will sie sich zurückziehen. Es wurde ein Prozess beschlossen, es gibt einen Präsidenten, einen Verfassungsrichter und so weiter. Aber in Wirklichkeit ist sie sehr präsent. Wir haben es nur mit einer zivilen Fassade zu tun, dahinter verbirgt sich die Macht des Militärs. Nichts geschieht ohne Sisis Einverständnis. Er hält alle Zügel in der Hand, genau so wie damals Feldmarschall Tantawi, als er und der Oberste Militärrat (SCAF) das Land regierten nach dem Sturz Mubaraks bis zur Wahl Mursis im Sommer 2012.

Würdest du der Ansicht zustimmen, dass der 30. Juni im weitesten Sinne den Aufstieg liberaler Ideen steht?

Der 30. Juni war ein höchst komplexer Tag. Sein Verlauf verwirrt die Menschen überall, sowohl in Ägypten als auch ausserhalb, weil er zwei parallele Prozesse beinhaltete. Auf der einen Seite hatten wir eindeutig eine revolutionäre Welle von Abermillionen Ägyptern. Auf der anderen Seite haben die Armee und das alte Regime diese noch nie dagewesene Mobilisierung genutzt, um sich wieder in den Sattel zu hieven und sich der Muslimbruderschaft zu entledigen. Formell betrachtet haben wir es daher eindeutig mit einem Putsch zu tun. Das ist offensichtlich. Das Militär hat den Präsidenten entfernt, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Er war der gewählte, demokratisch gewählte Präsident, somit handelt es sich um einen Putsch. Aber gleichzeitig gab diese enorme Eruption, grösser noch als der Aufstand von 2011. Das hat es noch nie gegeben. Sie war dehnte sich geographisch viel weiter aus und fand auf dem Höhepunkt der bisher grössten Streikwelle überhaupt statt. In den Monaten vor dem 30. Juni – das weisst du vielleicht nicht – hatte Ägypten das höchste Niveau an Streikaktivitäten, nicht nur in der Geschichte Ägyptens, sondern der ganzen Welt, mit etwa 500 Streiks pro Woche, im Durchschnitt! Aber um nochmals auf deine Frage zurückzukommen: Um sich sowohl im Inneren als auch nach aussen – vor allem gegenüber dem Westen ist das wichtig – zu legitimieren, hat sich der Putsch ein gewisses liberales Image gegeben. Daher wurden all diese Leute mit einem gutem demokratischem Ruf wie el-Baradei an die Spitze gesetzt, ganz so, als ob wir es mit einem echten demokratischen Prozess zu tun hätten. Zudem kontrollieren diese Leute und ihre Finanziers die ägyptischen Medien. Sie haben die grössten Privatmedien zu ihren Diensten, die von den Milliardären kontrolliert werden, die diese beiden Parteien unterstützen.

Und es sind die gleichen Medien, die die Landschaft ziemlich einseitig dominiert haben und sich explizit gegen Mursi aufgestellt haben?

Extrem Anti-Mursi, es war nichts weniger als eine Art Hysterie, die sich gegen die Muslimbruderschaft richtet. Das heisst nicht, dass die Muslimbruderschaft diese Kritik nicht verdienen würde: Ihre Regierung war wirklich schlimm. Erst neulich haben sie bestehende Vorbehalte zwischen den Religionen angefacht und auch aggressive, frauenfeindliche Parolen ausgegeben. Und es blieb nicht nur bei der Verbreitung dieser schrecklichen Ideen. Insbesondere haben sie kein einziges der langen Liste an Problemen gelöst, obgleich sie genau dafür ihren Regierungsauftrag erhalten hatten. Doch das Bild, das die privaten Medien so eifrig propagieren, ist: « Wir wollen mit ihnen allen nichts zu tun haben», mit der Muslimbruderschaft überhaupt, weil sie «Faschisten und Reaktionäre» sind.

Wenn ich richtig liege, werden sie derzeit als «Terroristen» beschrieben?
Ja, jeder, der sie unterstützt oder verteidigt, wird als «Terrorist» bezeichnet. Und den Medien gelingt es, die Feindseligkeit gegen die Muslimbruderschaft bis zur Hysterie zu treiben. Das ist extrem gefährlich, weil wir in Ägypten eine grosse christliche Minderheit von mindestens zehn Prozent der Bevölkerung haben. Wenn diese Art Hass gegen die Muslimbruderschaft geschürt wird und daraus tatsächlich physische Übergriffe erwachsen, gegen Männer mit Bart oder Frauen, die den Niqab tragen – und das passiert tagtäglich, rund um die Uhr – und jemand dabei stirbt, dann wird man sagen, es war die Muslimbruderschaft, die ihn umgebracht hat. Es ist immer ihre Schuld.

Und welche Position beziehen die Tamarod-Rebellen oder andere führende Persönlichkeiten angesichts dieser Eskalation der Gewalt?

Tamarod begann als eine einfache demokratische Initiative, die sich sehr schnell verbreitete. Es sind aber die Armee, die Geheimdienste und das alte Regime, die das Geld und die Macht haben. Und nachdem die wichtigsten Anführer von Tamarod im Fernsehen neben dem General auftraten, der die Absetzung Mursis verkündete, waren die revolutionären Kräfte auf einmal isoliert. Heute ist man entweder Unterstützer der Armee oder man wird zu der Muslimbruderschaft gezählt. Es ist derzeit sehr schwierig, in Ägypten irgendeine unabhängige Position zu vertreten.

Vergleichen wir das mit der Situation in der Türkei, wo wir eine sehr interessante horizontale Bewegung erleben, die von Taksim und anderen öffentlichen Plätzen aus in die Gesellschaft greift, dabei allerdings jene 50 Prozent der Wählerschaft, auf die Erdogan so stolz ist, nicht erreicht. Es entsteht diese tragische Spaltung, die wir auch während der Ereignisse in Tunesien erlebten. Welche Kräfte sind deiner Ansicht an der Aufrechterhaltung dieser Spaltung in Ägypten beteiligt?

Die Armee, die Geheimdienste und die Medien, und sie setzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein. Sie bezahlen beispielsweise Schergen, um Frauen anzugreifen, und schieben das dann den Muslimbrüdern in die Schuhe, nur um diesen Hass zu schüren. Nicht, dass die Muslimbruderschaft solche Handlungen nicht beginge. Sie tun auch solche Dinge, weil sie in einer Spirale von Racheakten verfangen sind. Das ist nachvollziehbar. Sie wurden rausgeworfen und in eine Ecke gedrängt. Sie waren der Überzeugung, an einem demokratischen Prozess beteiligt zu sein. Sie verzichteten auf jegliche Gewalt, stellten sich zur Wahl und gewannen. Und jetzt sind sie wieder auf den Strassen, ganz so, als ob das alles nicht stattgefunden hätte. Daher kannst du dir gut vorstellen, dass die Abenteurer in ihren Reihen immer mehr zur Gewalt neigen. Es ist wie Algerien, wo in den 90er Jahren ein blutiger Bürgerkrieg tobte. Auch dort wurden die Islamisten der Islamischen Heilsfront FIS in eine Ecke gedrängt. Sie hatten sich im Dezember 1991 an den Wahlen beteiligt und sich so demokratisch wie nur möglich gegeben. Und dann wurden die Wahlergebnisse einfach nicht anerkannt.

Gibt es seitens irgendwelcher unabhängiger Medien Versuche, Gewaltakte zu untersuchen?

Nicht wirklich. Wir haben keine unabhängigen Medien. So was gibt es nicht. Alle sind gegen die Muslimbruderschaft gerichtet. Eins muss ich hier noch einmal hervorheben, denn wenn ich das nicht tue, kann das zu einem späteren Zeitpunkt gegen mich verwendet werden: Ich verteidige nicht die Muslimbruderschaft.

Das verstehe ich. Aber wenn es keine unabhängigen Medien gibt, was sagen dann die Menschen auf den Strassen über diese Gewalt? Gibt es da Versuche, die Ereignisse objektiv zu erfassen? Oder sind sie in diesen Feindbildern restlos verfangen?

Es gab ernsthafte Diskussionen über das Massaker, das vor ein paar Wochen stattgefunden hat, als siebzig Mitglieder der Muslimbruderschaft vor der Präsidentengarde, dem Offiziersklub, in dem Mursi vermutlich festgehalten wird, niedergemetzelt wurden. Die Medien behaupteten einfach, die Muslimbruderschaft habe einen gewalttätigen Angriff gestartet. Aber die Präsidentengarde ist hochgesichert. Es ist eine mit Panzern gesicherte Festung. Es ergibt doch keinen Sinn für Anhänger der Muslimbruderschaft, sie erstürmen zu wollen. Und selbst wenn, ist das noch keine Rechtfertigung, Menschen auf offener Strasse zu erschiessen. Die jüngsten unabhängigen Berichte von Ärzten, die die Leichenhäuser aufgesucht haben, bezeugen, dass diese Menschen inmitten des Gebets erschossen wurden. Es ist ein schreckliches, absolut schreckliches Massaker. Es wird aber von den ägyptischen Medien durch die Bank weg geleugnet, von der sogenannten liberalen Presse Ägyptens. Das sind Liberale einer ganz besonderen Art. Und die Ärzte, die als Zeuge aussagten, müssen nun einen hohen Preis dafür zahlen.

War das der Zeitpunkt, an dem die lokalen Medien begannen, die Muslimbruderschaft als «Terroristen» zu bezeichnen?

Ja, genau. Nachdem man ihnen in den Kopf geschossen hatte. Wir meinen, dass wir konsequent alle Formen von Diskriminierung und Unterdrückung bekämpfen müssen, denen die Islamisten ausgesetzt sind, ganz gleich ob sie umgebracht oder verhaftet oder ihre Satellitenkanäle und Zeitungen geschlossen werden. Denn was den Islamisten heute widerfährt, kann morgen ohne Weiteres den Arbeitern und den Linken widerfahren. Es kann daher nicht überraschen, wenn die Muslimbruderschaft die Beteiligung an einer Interimsregierung nach dem 30. Juni ablehnte – falls man sie überhaupt gefragt hat.

Meinst du nach dem Putsch? Wie hätten sie sich beteiligen können? Sie hätten doch unmöglich vor ihre Anhänger treten können und sagen, «wir finden uns damit ab, dass euer gewählter Präsident nicht mehr Präsident ist. Und wir sind bereit, weiter mitzumachen».

Es gab einen Punkt während der Verhandlungen nach dem 30. Juni, als es danach aussah, dass die salafistische Partei an-Nur möglicherweise als Brücke zwischen beiden Seiten dienen würde.

Kannst du uns mehr zu ihrer derzeitigen Positionierung sagen?

Die salafistischen Parteien unterhalten historisch enge Beziehungen mit Saudi-Arabien, dem saudischen König und dem saudischen Regime. Das ist bis heute der Fall. Das saudische Regime hasst die Muslimbruderschaft regelrecht. Aus einem einfachen Grund: es sieht in Mubarak einen gestürzten Monarchen, der ins Gefängnis geworfen wurde … und genau davor haben sie Angst. Sie unterstützen daher vorrangig die Salafisten, an erster Stelle die Nur-Partei. Die Salafisten konnten mit der finanziellen Unterstützung der Saudis ab 2006 mehrere Fernsehkanäle betreiben. Und Mubarak gab ihnen auch die erforderlichen Lizenzen, weil er mit ihrer Hilfe den Einfluss der Muslimbruderschaft zurückdrängen wollte. Diese Regierungskoalition war also von vornherein keine Liebesbeziehung, und das erklärt, warum die Salafisten zunächst auf die Liberalen und die Armee zugingen. Während der Zeit ihrer Regierungsbeteiligung waren sie Mursis Verbündete, aber schon damals gab es viele Spannungen. Die MB gab ihnen keine wichtigen Ministerposten. Die Salafisten wollten die Scharia in der Verfassung festschreiben, aber Mursi unternahm keinerlei Schritte in diese Richtung. Daher verbrachten sie ihre Zeit mit solchen Fragen wie: Warum wird Alkohol nicht verboten? Warum gibt es keine Kleidervorschriften für Frauen? All diese einfachen Dinge, für die sich auch die Muslimbruderschaft vor ihrem Machtantritt aussprach. Als der 30. Juni kam, da brauchten die Armee und Sisi eine Art islamisches Feigenblatt, also einen oder zwei Minister in untergeordneten Ressorts. Gerade genug, um zu zeigen, dass es sich nicht um einen Putsch gegen den Islam handele. Das Massaker an den Muslimbrudern machte eine solche Beteiligung für die Nur-Führung natürlich vollkommen unmöglich, da sie ihre jungen Anhänger nicht vor den Kopf stossen konnten. Die hätten niemals akzeptiert, dass man betende Menschen auf der Straße einfach hinmetzeln liess. Die Partei wird aber auch weiter hin und her schwanken. Sie ist sehr opportunistisch. Sie behauptet mittlerweile, Mursi hätte den Putsch abwenden können, wenn er mit der Armee und dem Geheimdienst besser zusammengearbeitet hätte. In Wirklichkeit hat Mursi alles getan, um die Armee versöhnlich zu stimmen. Die unter seiner Koalitionsregierung verabschiedete Verfassung war schlimmer noch als die Mubaraks hinsichtlich der weitgehenden Machtbefugnisse der Armee, daher auch die Ankündigung der Armee gleich nach dem 30. Juni, sie wolle gar keine neue Verfassung, lediglich einige Korrekturen der Mursi-Verfassung. Warum? Weil sie die Artikel über die Armee nicht antasten wollen. Darin steht klipp und klar, dass das Armeebudget allein von der Armee bestimmt wird ist und niemand anderes sich darin einzumischen hat. Sie sieht die Aufrechterhaltung der Militärgerichtsbarkeit gegen Zivilisten vor. Darin wird ein nationaler Sicherheitsrat aus insgesamt 14 Mitgliedern festgeschrieben, in dem das Militär die Mehrheit haben muss: 8 Militärs gegen 6 Zivilisten. All diese Grundsätze wurden zu Artikeln der Verfassung, die nicht geändert werden können. Das wollen sie so beibehalten.

Kannst du mir dann sagen, warum Mursis Präsidentschaft so katastrophal erfolglos verlief? Ich habe gehört, dass die Probleme mit den Benzinverknappungen und Unterbrechungen in der Wasser- und Stromversorgung zu Zeit Amtszeit Mursis nach seiner Absetzung geringer geworden sind. Glauben die Leute, dass womöglich Sabotage im Spiel gewesen ist?

Ja, es sah danach aus. Natürlich haben die Menschen Mursi, dem Präsidenten, die Schuld für diese Probleme gegeben. Er hatte doch die Macht, solch einfache Dinge zu regeln. Und jetzt bessert sich die Lage wieder. Das legt nahe, dass die Geschäftsleute und die Bürokratie des alten Regimes immer noch über genug Einfluss verfügten, um Sand ins Getriebe zu streuen und Mursi zu sabotieren. Die Energieversorgungskrise ist ganz real – das steht ausser Frage – aber sie hatte noch nie solche Ausmaße wie zuletzt während der extremen Hitzeperiode. So etwas haben wir noch nie erlebt. Es gab fast überhaupt kein Benzin mehr. Die Stromausfälle waren im ganzen Land allgegenwärtig, was dazu führte, dass Lebensmittel verdarben – mit schrecklichen Folgen vor allem für arme Menschen. Das Problem mit dem Benzin und dem Diesel betraf nicht nur den Verkehr. Beispielsweise hatten auch Bauern keinen Zugang zu Diesel, um ihre Wasserpumpen zu betreiben. Es war einfach zum verrückt werden -Tag für Tag diese ständigen Plagen für die Menschen im ganzen Land.

Von möglicher Sabotage abgesehen, wieso sank Mursis Stern so rapide?

Erstens versuchte die Muslimbruderschaft die Überreste des alten Regimes und die Armee zu besänftigen, so dass sie nicht einmal für jene selbstverständliche Gerechtigkeit einer Übergangszeit sorgen konnte, um all jene Offiziere und Beamten zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschen umgebracht und sich mit Blut besudelt hatten. Sie unternahm nichts gegen sie. Und das war doch eine der zentralen Forderungen des Aufstands: Wir müssen diese Leute, die so viele junge Menschen umgebracht haben, zur Verantwortung ziehen. Sie unternahm nichts in der Richtung. Sie hofften, einen Deal mit den Sicherheitskräften zu schliessen, um sie der Muslimbruderschaft gegenüber weniger feindlich einzustimmen. Genau darum ging es, und sie liessen sie ungeschoren davonkommen. Zweitens setzten sie Mubaraks Wirtschaftskurs einfach fort. In mancherlei Hinsicht befand sie sich sogar rechts von Mubarak, mit Blick auf den Wirtschaftsliberalismus. Die Privatisierungen gingen zügig voran. Sie sagten, es ginge nur darum, Auslandsinvestitionen zu sichern, und dafür müsse man die Bedingungen des IWF akzeptieren. Den versprochenen Kredit haben sie nie erhalten. Aber das war, was sie vorhatten. Nach einem solch gewaltigen revolutionären Aufschwung kann man Kürzungsmassnahmen nicht einfach verabschieden und hoffen, damit durchzukommen. Nach all dem, was die Menschen durchgemacht haben, um Änderungen zu erreichen, nach all den Opfern werden sie solche eine Austeritätspolitik nicht einfach hinnehmen. So konnte die Muslimbruderschaft während ihrer Regierungszeit keines ihrer Ziele umsetzen. Hätte die Mehrheit den Eindruck bekommen, sie würde sich in Richtung der revolutionären Forderungen bewegen, hätte sie sicher an der Macht halten können. Doch wegen des angestrebten Kompromisses konnte sie nicht einmal die prominentesten Leute des alten Regimes, jene mit Blut an den Händen, vor Gericht stellen. Die Armeegeneräle etwa, Tantawi und all die anderen – Mursi und seine Regierung empfingen sie stattdessen mit offenen Armen. Eine der zentralen Forderungen während der Herrschaft des Obersten Militärrats( SCAF) war, dass diesen Leuten wegen der vielen Hundert Toten auf den Strassen der Prozess gemacht wird.

Doch nur ein Jahr später scheinen Millionen Ägypter auf den Strassen die wiederaufgekommene alte Parole «Die Armee und das Volk sind eine Hand» zu teilen. Wie erklärst du dir das?

Viele der Menschen, die am 30. Juni auf die Strassen gingen, waren zum ersten Mal in ihrem Leben politisch aktiv. Sie haben die Erfahrung der direkten Konfrontation mit der Armee noch nicht gemacht, und die Armeeführung handelte sehr klug und griff auf alle möglichen Tricks zurück. Erstens behauptete sie von sich, sie habe mit Tantawi nichts zu tun. Bei ihr handele es sich um eine neue Armeeführung. Es sei eine jüngere Führung, die keine Korruption in den eigenen Reihen dulde und in keiner Verbindung mit dem alten Regime stünde, obwohl Sisi selbst noch von Mubarak ernannt wurde und einer seiner Generäle war. Dann führte die ägyptische Armee diese Flugschauposse über Kairo auf, die die Nationalflagge in den Himmel Kairos malte und Herzen in die Luft zeichnete! Für ihre Charmeoffensive gaben sie wirklich alles. Es wäre allerdings meiner Meinung nach falsch anzunehmen, dass die Flitterwochen von Volk und Armee von Dauer sein werden. Erstens sind nicht alle beteiligt. Es gibt etliche Schichten junger Menschen, die vom ersten Tag an der Revolution beteiligt waren und sehr wohl von der Rolle der Armee wissen. Zweitens lernen die Menschen in Ägypten aus ihren Erfahrungen. Sie sagten das erste Mal, die Armee sei grossartig, als diese Mubarak des Amtes enthob und sich weigerte, in die Menge zu schiessen. Es brauchte damals mehrere Monate, damit Leute ihre Meinung zu ändern begannen und die neue Parole «Nieder mit der Armee, nieder mit den Generäle» aufgriffen. Ich glaube, das wird wieder passieren. Der Grund dafür liegt in dem Wesen der neu eingesetzten Regierung. Auch hier keine Kursänderung, überhaupt keine Aussicht auf Verbesserung.

Du schreibst, dass die Muslimbruderschaft nicht eine einzige der Forderungen der Revolution umgesetzt hat. Aber was auch immer seine Versprechungen, kannst du ernsthaft schon nach 100 Tagen an der Regierung entscheidende Schritte in Richtung soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde erwarten? Die findest du nirgendwo auf der Welt …

Ein einfaches Beispiel. Mursi hatte es in der Hand, ein Gesetz zur progressiven Besteuerung einzuführen, aber er tat es nicht. Er hätte die Vermögen von Mubaraks Geschäftsfreunden und Handlangern verstaatlichen können. Er lieaa sie unberührt. Nimm Ahmed Ezz, ein Mubarak nahe stehender Milliardär, einer aus dem Klan, der seine Fabriken, die grössten Stahlbetriebe nicht nur Ägyptens, sondern in ganz Nahost, immer noch besitzt, obwohl er eine siebenjährige Gefängnisstrafe wegen Geldwäsche absitzt. Natürlich umfasst die Muslimbruderschaft viele Strömungen. Mit der Zeit entstand in der Jugendorganisation eine klare Spaltung zwischen zwei Flügeln – einer konservativen Strömung, die nach immer strengerer islamischer Gesetzgebung ruft, und einer anderen, die eine Interpretation der Scharia mit Betonung auf Gerechtigkeit legt, die eine Umverteilung des Reichtums verlangt. Jetzt, nach dem 30. Juni sind all diese Debatten spurlos von der Bildfläche verschwunden und die Muslimbruderschaft steht zusammen wie ein Mann. Wenn deine Führer ins Gefängnis geworfen und deine Leute auf der Strasse niedergeschossen werden, dann überwiegt das Gefühl der Loyalität und verdrängt alle anderen Gesichtspunkte.

Damit deutest du an, dass ein breiter Teil der Anhängerschaft der Muslimbruderschaft, der potenziell für viele der revolutionären Forderungen hätte gewonnen werden können, nunmehr von den Mursi-Kritikern abgeschnitten ist?

Ja. Es ist der Versuch, zu teilen um zu herrschen. Aber das wird, so denke ich, nicht lange währen. Die Menschen werden sehr schnell lernen, genauso wie sie in der Vergangenheit gelernt haben, dass diese Regierung nichts ändern wird. Und sie werden lernen, dass die Repression, die sich zunächst gegen die Muslimbruderschaft richtet, bald gegen Arbeiter, gegen die Linke, gegen jeden, der seinen Mund aufmacht, richten wird. Wenn du diese Sicherheitskräfte einmal losgelassen hast, werden sie nicht bei der Bruderschaft Halt machen – ganz bestimmt nicht. Und es tun sich innerhalb der Opposition erste Differenzen auf zwischen jenen, die sich voll auf die Seite der Armee und des alten Regimes stellen mit dem Argument, die Muslimbruderschaft sei eine faschistische, reaktionäre Kraft, gegen die wir uns mit jedem verbünden müssen, der diesen Feind niederwerfen will – und einem kleineren Gegenpol von Organisationen, Gruppierungen und Jugendbewegungen, die vom ersten Tag an eine zentrale Rolle in der Revolution gespielt haben und argumentieren, dass unser Hauptfeind der Staat ist und das Mubarak-Regime der Hauptfeind bleibt. Wir werden uns nicht auf die Seite der Überreste des Mubarak-Regimes oder der Armee schlagen, ungeachtet der Tatsache, dass wir auch zur Muslimbruderschaft in Opposition standen. Wir waren an zentraler Stelle an der Bewegung für die Absetzung Mursis beteiligt, aber wir wollten, dass die Menschen Mursi absetzen, nicht die Armee. Wir haben all das nicht durchgestanden, damit die Armee wieder an die Macht kommt und Mubaraks Schergen erneut Ministerposten bekleiden.

Aber auf der anderen Seite haben sie die Herzen und die Fahnen des ägyptischen Nationalismus, nicht wahr?

Ja, sie beziehen sich auf Nassers Erbe, das stimmt – denn auch Nasser war an einem Putsch beteiligt. Einem, aus dem allerdings schnell in eine ganze Kette von wichtigen Reformen erwuchsen, reale Reformen, die auch den Bauern enorme Erleichterungen brachten.

Das war eine nationale Befreiung … und die Armee war heldenhaft.

Im Jahr 1956 war es eine nationale Befreiung, und wenn du heute den Fernseher einschaltest, wirst du von nasseristischen Liedern über die Armee nur so überschwemmt! «Die Armee des Volkes, dies ist die Volksarmee!» Das ist zentral. Das ist die Art, wie sie reden. Der andere Teil ist das drohende terroristische Chaos. Wenn wir nicht die Lage fest in den Griff bekommen, wenn wir die Muslimbruderschaft nicht entscheidend schlagen, werden wir am Ende den gleichen Terror wie in Algerien haben, wir werden syrische Verhältnisse bekommen.

Es gab doch eine Zeit, da schien die Mehrheit der Menschen in Ägypten die ständige Unruhe einfach satt zu haben. Hat die Periode der vermehrten Streiks im Vorfeld des 30. Juni nicht dieses Gefühl von Chaos verstärkt?

Nein, nein. Der 30. Juni hat das Niveau der Mobilisierung erhöht, vor allem in Hinsicht auf soziale und wirtschaftliche Forderungen. Jetzt haben wir eine neue Regierung, und die Menschen sagen, «das ist die Regierung der Revolution, erfüllt unsere Forderungen!» Die städtischen Mittelschichten haben natürlich das Chaos satt, die Strassenblockaden und so weiter. Nun geht die Armee dazu über, dieses Chaos als Ausgangspunkt für eine verallgemeinerte Strategie zu nutzen. Es geht nicht mehr nur darum, die Besetzungen öffentlicher Plätze durch die Muslimbruderschaft aufzulösen, sondern streikende Arbeiter oder Bauern, die eine Hauptstrasse oder Eisenbahnlinie blockieren, mit Gewalt zu entfernen. Daher ist es so wichtig, konsequent all das zurückzuweisen, was der Muslimbruderschaft angetan wird. Wenn wir in dieser Frage nicht konsequent sind, dann wird es später umso schwerer sein, hinterher andere Gruppen zu verteidigen. Es ist in der gegenwärtigen Lage allerdings sehr schwierig, konsequent zu sein.

Und was ist mit dem scharfen Vorgehen auf der Sinai-Halbinsel?

Das Mubarak-Regime hatte den Sinai praktisch aufgegeben. Selbst der Erwerb der ägyptischen Staatsbürgerschaft war für junge Menschen im Sinai extrem schwierig. Es handelt sich dabei um eines der grössten Touristengebiete Ägyptens, vor allem der südliche Sinai. Die Bewohner Sinais dürfen aber dort nicht arbeiten, und sie dürfen auch kein Land besitzen. Sie wurden ernsthaft unterdrückt. Nachdem du so Jahre erlebt hast, trittst du plötzlich in eine revolutionäre Ära ein. Da denken sich die Menschen im Sinai, auch sie haben ein Anrecht, davon zu profitieren. Vielleicht erhalten sie die Staatsbürgerschaft, oder sie können Land erwerben. Aber nichts dergleichen geschah. In der Anfangszeit der Revolution begannen Waffen in den Sinai einzusickern. Die Grenzen waren nicht gut bewacht, so dass viele der Beduinenstämme schwer bewaffnet sind. Dass manche im Verlauf ihres Aufstands zu radikalisierten Islamisten wurden, überrascht nicht. Was wir jetzt erleben ist, dass die Armee mit dem Einverständnis Israels ihre Kräfte in ganz Sinai aufmarschieren liess, um diese angeblich «terroristische» Bewegung niederzuschlagen. Diese Menschen werden mittlerweile in den Medien als Teil einer terroristischen Verschwörung porträtiert, die das Ziel verfolgt, Mursi wieder an die Macht zu verhelfen.

Es scheint, als ob diese terroristische Bedrohung in ganz Nahost zugange ist, immer da, wo die Gefahr einer echten Veränderung droht?

Absolut. Und dann explodieren Bomben an irgendwelchen Orten. Erst neulich wurden Polizisten durch eine Bombe in Mansura getötet. Es wurde behauptet, die Muslimbruderschaft habe die Bombe gelegt. Wir wissen es nicht. Das algerische Szenario ist eine reale Gefahr … in Algerien wusste man nie, wer die Haupttäter waren. War es die islamistische Bewegung? Waren es die radikalisierten Elemente der Salafisten? War es die Armee? Waren es die Geheimdienste? Alle hatten ihre Finger im Spiel, aber genau wusste es niemand. Daher konnte jede Militäroperation in Algerien als Antwort auf die Islamisten dargestellt werden. Diese Gefahr droht uns auch in Ägypten. Genau so wie in Syrien kann die Lage vollkommen ausarten.

Kann sich die Revolution davor schützen?

Ja, das glaube ich schon. Erstens hat sich das Bewusstseinsniveau in Ägypten dank der enormen Beteiligung an den Massendemonstrationen und Streiks unglaublich rasch entwickelt. Wir haben ein hohes Niveau an politischem Bewusstsein. Lassen sie sich durch die von der Armee initiierte Medienpropaganda beeinflussen? Sicher. Aber nicht für lang. Das haben wir gelernt aus diesen ersten zweieinhalb Revolutionsjahren: Die Menschen lernen sehr wohl aus ihren Erfahrungen.

Genau, lass uns etwas näher eingehen auf die Art des politischen Bewusstseins, von dem du sprachst. Welche Lehren zog die Arbeiterbewegung aus den Kämpfen im Vorfeld der Revolution von 2011, und dann in der Zeit danach, in diesem ungeheuren Auf und Ab der Erhebung?

Das Erste, was man bei solchen Massenbewegung dieses Ausmasses beobachten kann, ist die Entwicklung von Ideen direkter Demokratie bei den Menschen. Sie geben sich nicht mehr damit zufrieden, alle vier Jahre zwischen verschiedenen Teilen der Elite wählen zu dürfen.

Meinst du mit direkter Demokratie einfach die schieren Zahlen, die draussen auf den Plätzen waren?

Die grossen Ansammlungen auf den öffentlichen Plätzen sind ein Teil davon. Aber viele glauben, es würde sich dabei um einen führungslosen Prozess handeln. In allen Revolutionen gibt es Führung. Entscheidungen werden nach einem abgesprochenen Prinzip gefällt. Es ist ausserordentlich demokratisch, und die beteiligten Menschen lernen, was direkte Demokratie ist, was es bedeutet, persönlich an den Entscheidungen mitzuwirken. Wohin soll die Demonstration gehen? Wollen wir Gewalt einsetzen oder nicht? Wie werden wir unsere Demonstration schützen? All diese Fragen sind Gegenstand einer demokratischen Debatte und Entscheidungsfindung. Das Gleiche gilt für die Streikbewegung. Was sollen wir tun, wenn der Besitzer den Betrieb schliesst? Sollen wir die Fabrik besetzen? Sollen wir die Fabrik selbst leiten? Es gibt allerlei Entscheidungen, die die Menschen lernen zu fällen. Dabei entwickeln sie eine Art demokratisches Engagement, das weit über den begrenzten demokratischen Rahmen hinausgeht, den wir sonst überall kennen. Noch eins: Die Menschen haben nicht vier Jahre gewartet, bis Mursi seine Amtszeit beendet hatte, um dann den nächsten zu wählen. Sie entschieden sich kollektiv dafür, ihn nach einem Jahr abzusetzen. Dieser Bruch mit demokratischen Gepflogenheiten ist ein Nährboden für Ideen von direkter Demokratie. «Wir können uns etwas anderes vorstellen – das beinhaltet Entscheidungen, die auf den Strassen, in den Betrieben, auf Massenversammlungen gefällt werden, und nicht innerhalb dieses engmaschigen Überwachungssystems.»

Von weitem hat es den Anschein, als ob diese direkte Demokratie nur ein Wort kennt: «Nein» – Nein zu zwei aufeinanderfolgenden Präsidenten beispielsweise. Aber was du beschreibst, ist doch etwas ganz anderes.

Ja, denn die Menschen sagen nicht bloss: «Okay, den sind wir nun los …» Nein, sie debattieren: «Okay, was folgt nun? Was wollen wir jetzt tun? Wie wollen wir das gestalten? Welche Haltung nehmen wir der Armee gegenüber ein? Die Armee geniesst im Augenblick hohe Popularität. Aber was hat sie wirklich vor? Welche Art Regierung wird aus dem Ganzen entstehen? Wer bestimmt überhaupt, wer Minister wird und wer nicht? Wie kommt es, dass die Leute aus der Mubarak-Zeit jetzt wieder in der Regierung sitzen? All diese Debatten finden in Kaffeehäusern, in den Betrieben, auf den Strassen statt … das ganze Volk ist daran beteiligt.

Als ich mich mit der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung näher auseinandersetzte, die diesen Entwicklungen in Ägypten vorausging, wurde mir diese nicht als eine sich allmählich entwickelnde kohärente Dachorganisation beschrieben. Sondern eher als von einer «interaktiven Dynamik» gekennzeichnete Bewegung – was mich an die Occupy-Bewegung erinnerte.

Diese Occupy-Bewegungen müssen als Lernprozess aufgefasst werden. Menschen, die an einer grossen Besetzungsbewegung teilgenommen haben, sind nicht mehr die gleichen wie vorher. Sie nehmen die ganzen Erfahrungen und die Inspiration wieder mit nach Hause. Das wird dann auf andere Formen von Aktivismus und direkter Demokratie übertragen. Es geht nicht nur um das Besetzen von Plätzen. Die Menschen werden weiterhin politisch aktiv bleiben. Und wenn sie wütend sind, werden sie wieder demonstrieren, weil sie das Gefühl für die eigene Macht gewonnen haben, das durch die Beteiligung an einer grossen Bewegung entsteht. Und wenn das für «Occupy Wall Street» gilt, überlege dir, was es für die Situation in ganz Ägypten bedeutet, hundert- und tausendfach potenziert. Jeder kennt irgendjemand, der an den Protesten teilgenommen hat. Alle, auch die Wehrpflichtigen, was in meinen Augen ein entscheidender Faktor in der zukünftigen revolutionären Entwicklung sein wird.

Ich habe viele Presseberichte über die Rolle der Arbeiterbewegung im gesamten revolutionären Prozess gelesen. Es sind akademische Studien – andererseits, wann bekommt man die Ansichten eines Gewerkschaftssekretärs in den britischen Medien serviert? Es hat mich daher überrascht zu lesen, dass die Tamarod-Organisatoren die Gewerkschaftsführer aufgefordert haben, auf den Demonstrationen am 30. Juni keine sichtbare Präsenz in Form von Gewerkschaftsfahnen zu zeigen.


Ich glaube, das hängt mit dem auf die Armee orientierten Teil der Bewegung zusammen. Die Armee wollte der Arbeiterklasse keine sichtbare Rolle einräumen. Sie wollte, dass dies ein Moment nationaler Einheit wird. Die ägyptische Fahne, das war es dann. Alle stehen zusammen – die Überbleibsel des alten Regimes, Revolutionäre, Linke, Großunternehmer – alle zusammen und sonst nichts. Es gab Einschränkungen, nicht nur für die Gewerkschaften, sondern für alle Gruppierungen. Wir hatten das gleiche Problem, so dass die «Revolutionären Sozialisten» sich für eine riesige rote Fahne wie auf türkischen Demonstrationen entschieden, mit Bildern der Märtyrer darauf gemalt, so dass niemand dagegen was sagen konnte. Und wir hatten auch unsere roten Fahnen. Aber die unabhängige Gewerkschaftsbewegung, an der wir seit Jahren engstens beteiligt sind, nahm im Jahr 2006 und 2007 ihren Anlauf. Auf unserer Website wirst du ausführliche Berichte über alles, was sie erlebt hat, finden. Wir haben mehrere Broschüren herausgebracht, mit Streikstatistiken, Auflistungen von Forderungen, welche davon politischer Natur und welche wirtschaftlicher, und in welchem Zusammenhang sie mit den revolutionären Wellen stehen. Denn wir erleben, dass jede politische Protestwelle anschliessend in einen Aufschwung von wirtschaftlichen Forderungen und Arbeiterstreiks übergeht. In der Frühphase, als nur sehr wenige daran glauben konnten, dass da etwas Konkretes herauskommen kann, müssen solche wirtschaftlichen und sozialen Forderungen als mutige Akte des Widerstands erschienen sein.

 Ich habe hier das Zitat eines der Anführer des Mahalla-Streiks, Kamal al-Fayoumi, der sagt: «Der Mahalla-Streik im Jahr 2006 war wie eine Kerze, die den Arbeiter im ganzen Land den Weg zeigte, und dass ein friedlicher Streik möglich war, dass wir der Ungerechtigkeit und der Korruption trotzen können». Für wie bedeutsam hältst du diese Funken in der Geschichte des Aufstands?

Sie waren ganz zentral. Vorranging ging es um den Aufbau von Selbstvertrauen, dass friedliche Demonstrationen möglich sind. Und kollektive Aktion: ein neues Gefühl, dass wir die Dinge durch kollektives Handeln verändern können. Die Revolution von 2011 hätte ohne den ersten Schritt der Mahalla-Arbeiterinnen im Jahr 2006 und 2007 mit ihren massiven, hundert Prozent friedlichen Betriebsbesetzungen nicht stattgefunden. Männer und Frauen gemeinsam. Christen und Muslime gemeinsam. Sie haben mit allerlei Tabus gebrochen. In der Folge liessen sich viele Frauen scheiden, weil sie sich weigerten, wieder nach Hause zu gehen! Der erste grosse Streik in Mahalla im Dezember 2006 wurde von Frauen angeführt. Die Mahalla-Textilfabrik ist die grösste in Nahost und ganz Afrika und war sogar einmal die grösste der Welt. Das war natürlich bevor die Chinesen auf die Bühne traten. Die Konzentration von Arbeitskräften erinnert an jene Englands im 19. Jahrhundert. Es waren mal 40 000 Beschäftigte, heute sind es immerhin noch 27 000. Es ist ein Riesenbetrieb, der seit den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts stets im Mittelpunkt der Arbeiterbewegung stand. Als sie dann streikten und tatsächlich gewannen und nicht nur ihre rein gewerkschaftlichen Forderungen durchsetzten, sondern auch die Entfernung des korrupten Managements, da ging eine Welle durch die gesamte ägyptische Arbeiterklasse. Mit dem Effekt, dass eine Industrie nach der anderen sich dieser Bewegung anschloss. Daraus entstand die grösste Streikwelle der ägyptischen Geschichte während der Jahre 2007 und 2008. Das Ergebnis war die Herausbildung neuer, unabhängiger Gewerkschaften. Übrigens: Kamal al-Fayoumi ist Mitglied unserer Partei, ein sehr guter Kerl. Es gibt zwei unabhängige Gewerkschaftsverbände. Der erste entstand nach dem riesigen Streik der Steuerbeamten – einem grossen, unterbezahlen Teil der Arbeiterklasse, die etwa 300 ägyptische Pfund (rund 45 Euro) im Monat verdienten. Dieser Streik wurde angeführt von, dem Mann, der jüngst zum Minister für Arbeit im neuen Kabinett ernannt wurde (Kamal Abu Eita). Die Bewegung breitete sich vor der Revolution noch langsam aus, hob aber nach der Revolution richtig ab, so dass die unabhängigen Gewerkschaften mittlerweile über zwei Millionen Mitglieder zählen.

Was hältst du von seiner Ernennung – ist doch Grund für Genugtuung?

Klar, ein Teil der Arbeiter sagt: «Okay, jetzt haben wir unseren Mann im Ministerium, also, gib uns, was wir fordern: Wir wollen einen Mindestlohn, wir wollen einen Maximallohn. Und so weiter». Aber in Wirklichkeit sind seine Hände gebunden, denn es ist eine neoliberale Regierung, der es um die Durchsetzung einer Austeritätspolitik geht und diesen Forderungen nicht nachgeben wird. Andere Minister haben ihn bereits gewarnt: «Wenn wir die Löhne zu stark anheben, bekommen wir Inflation. Und wenn die Inflation zunimmt…». Und sie sind es, die über die Wirtschaft entscheiden, nicht er. Daher glaube ich, dass er einen grossen Fehler gemacht hat, als er diesen Job annahm. Die Arbeiter sollten ihn unter Druck setzen, wo nur möglich. Und ich hoffe, er tritt bald zurück. Ich kenne ihn sehr gut, ich habe mit ihm sehr eng zusammengearbeitet.

Warum glaubst du hat er den Posten angenommen?

Er ist Nasserist, und Nasseristen haben allerlei konfuse Vorstellungen über die Armee. Sie glauben tatsächlich, dass die Armee eine Kraft für das Gute werden kann.

Welcher Unterschied besteht zwischen den beiden unabhängigen Gewerkschaftsverbänden? Ist die Arbeiterbewegung in der Frage von Mursis Präsidentschaft gespalten?

Überhaupt nicht. Es sind zwei Organisationen entstanden infolge trivialer Auseinandersetzungen um die Führung. Beide sind selbstverständlich Anti-Mursi. Mursi hat die unabhängigen Gewerkschaften stark bekämpft. Auch hier gab seine Regierung ihr Bestes, um die Gewerkschaftsbürokratie des alten Regimes zufrieden zu stellen, und wiegelte sie gegen die neuen Gewerkschaften auf. In der Verfassung von 2012 ist das Recht zur Gründung von Gewerkschaften allerdings verankert. Entscheidender waren aber die Gerichtsurteile über Fragen der Privatisierung. Es ging um Firmen, die korrupt geführt wurden und die Gerichte die Wiederverstaatlichung verfügten. Aber Mursi hat diese Urteile nie umgesetzt. Zugleich entstand eine neue Gewerkschaftsbürokratie, die sich gegen Streiks aussprach und ein einvernehmliches Verhältnis zwischen Kapitalisten auf der einen und Arbeitern auf der anderen Seiten kultivieren wollten. Diese Bürokratie entwickelte sich schnell im gleichen Dachverband der unabhängigen Gewerkschaften. Diese Bürokratie findet ihre adäquate Vertretung im neuen Minister für Arbeit. Das ist die Logik, die hinter seiner Bereitschaft stand, den Job anzunehmen.

Im März 2011 gab es die Erklärung der Gewerkschaftsrechte, in der Organisations- und Versammlungsfreiheit, sowie ein Tarifrecht gefordert wurde. Welche Forderungen wurden aufgestellt?

Es gab die Forderung, dass die von den Eigentümern geschlossenen Betriebe von den Arbeitern übernommen werden sollten. Es hat auch mehrere entsprechende Versuche in verschiedenen Industriezweigen gegeben. Es ist aber nicht leicht. Die Streiks im Gesundheitswesen sind ein gutes Beispiel dafür, worum es geht, nämlich um die Entfernung von Hierarchien, vor allem zwischen den Berufsständen. Wir reden hier nicht von Klassenspaltung, denn Ärzte verdienen nicht viel in Ägypten. Aber es gibt diese Hierarchie. Die alte Hierarchie im Gesundheitswesen wurde geschleift, so dass Ärzte, Krankenschwestern, Techniker und die Reinigungskräfte alle Teil einer Gewerkschaft sind und die klassischen Methoden der Arbeiterbewegung einsetzen: Streiks, Demonstrationen, Besetzungen. Die gleichen Ansätze sehen wir auch im Bildungswesen und bei Rechtsanwälten. Sie alle werden gewissermassen zu einem Teil der Arbeiterbewegung. Besonders interessant in dieser Hinsicht war übrigens die Forderung der Ärzte, das Gesundheitsbudget von derzeit 4 Prozent des Inlandsprodukts auf 15 Prozent zu erhöhen. Sie fordern also nicht einfach höhere Gehälter. Es ist eine Forderung, die eine Verbesserung der Lebensumstände für alle Menschen bedeutet, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen und ordentliche Leistungen wollen. Somit weitet sich der Kampf aus. Auf der einen Seite hast du eine Regierung, die den Ärzte vorwirft, mit ihren Streiks Menschen umzubringen: «So viele Menschen werden sterben …» Ich glaube, ihr kennt diese Litanei ganz gut. Und dann hast du die Antwort der Ärzte und Krankenschwestern, die sagen: «Nein, wir tun das für diese Menschen. Diese Menschen sterben jeden Tag, weil nicht genügend Geld vorhanden ist, um die nötige Medizin und das Material zu kaufen. Wir haben nicht genügend Betten , es fehlt an Personal im Gesundheitswesen». Es gab auch mehrere Versuche, Krankenhäuser ganz gebührenfrei zu managen, ausserhalb der Kontrolle durch das alte System. Das hat auch mancherorts für eine Weile funktioniert. Und jedes Mal sammeln die Menschen neue praktische Erfahrungen.

Aber Anfang 2012 wurde doch auch ein Gesetz verabschiedet, das Streiks verbietet?

Das war das Militär. Das Gesetz blieb aber vollkommen wirkungslos, weil sie es inmitten einer grossen Streikwelle verkündeten und die Streiks einfach fortgesetzt wurden. Sie konnten nicht Arbeiter verhaften oder erschiessen zu einem Zeitpunkt, als das Vertrauen in die Revolution so gross war. Das wäre zu gefährlich für sie gewesen.

Das ist eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft des revolutionären Prozesses.

Allerdings. Es ist sehr schwierig für das Militär, jetzt auf den Stand von früher zurückzukehren. Arbeiter beteiligten sich aktiv an der Tamarod-Kampagne, wobei sie nicht nur Hunderte und Tausende Unterschriften sammelten, sondern auch Kampagnenbüros eröffneten und in direkter Zusammenarbeit mit der Tamarod-Zentrale ihre Aktivitäten koordinierten. Sie bereiteten Akte des zivilen Ungehorsams vor, um notfalls Regierungseinrichtungen schliessen zu können. Wenn die Armee nicht interveniert und durch einen Putsch Mursi selbst entfernt hätte, hätte sich daraus sehr schnell ein Generalstreik entwickeln können. Das ist der Grund, warum sie jetzt diese Angst vor Terrorismus und ein falsches Nationalismusgefühl schüren müssen, um allerlei Ängste zu schaffen, die sich gegen die Arbeiter wenden lassen.

Das «ägyptische Zentrum für Wirtschaftliche und Soziale Rechte» berichtete in diesem Jahr in einem für die Vereinten Nationen verfassten Bericht, dass Arbeiterforderungen auf zunehmende Gewalt stossen würden. Inwieweit stimmt das?

Es ist in der Tat so, dass die Polizei nach dem 30. Juni wieder verstärkt in Aktion tritt. Aber auch in der langen Phase, da sie sich zurückhielten, griffen die Eigentümer von Privatbetrieben und die Regierung ebenfalls zur Gewalt gegenüber Arbeitern. Fabrikbesitzer heuerten oft Schläger an. Hass gegen andere Religionen und Konfessionen ist ebenfalls eine nützliche Waffe, um Gewalt zu erzeugen. Die Muslimbruderschaft setzte dieses Mittel ein. Auch die Armee. Historisch betrachtet benutzte das Mubarak-Regime die konfessionelle Spaltung besonders effektiv. Einer der positivsten Aspekte der jüngsten revolutionären Mobilisierung war der bewusste Bruch mit solchen Traditionen. Einer der Beweggründe für die Menschen, am 30. Juni auf die Strassen zu gehen, war Mursis idiotischer Versuch, gerade diesen Weg in seiner Rede über Syrien zu gehen. Er liess einige besonders reaktionäre Prediger zu Wort kommen, die den schlimmsten Blödsinn erzählten, wonach die Schiiten keine Muslime seien und getötet werden sollten, weil sie nicht Teil unserer Gemeinschaft sein können und so weiter. Und dann folgte daraus das Massaker einer Gruppe von Schiiten in Gizeh. Der Schuss ging allerdings nach hinten los. Die Menschen wollten damit nichts zu tun haben, sie hassten es. Ich sah Frauen am 30. Juni, die die Vollverschleierung des Niqab trugen. Als sie einen koptischen Priester erblickten, der nicht einmal an der Demonstration beteiligt war, hoben sie ihn hoch und trugen ihn auf ihren Schultern!

Zu diesem Text: Zuerst veröffentlicht auf www.opendemocracy.net erschienen am 24. Juli 2013. Übersetzung aus dem Englischen: David Paenson

Zur Person: Sameh Naguib ist führendes Mitglied der ägyptischen Organisation «Revolutionäre SozialistInnen».

Kifft der Bundesrat?

kiffen

Angeführt vom Sozialdemokraten Alain Berset startet der Bundesrat den erneuten Angriff auf die AHV. Dabei missachtet er gar den Volkswillen. Der Gewerkschaftsbund und die Partei der Arbeit der Schweiz haben ihren Widerstand bereits angekündigt.

Der grösste Rentenklau aller Zeiten! «Der Bundesrat schlägt mit der Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent die grösste Rentensenkung aller Zeiten vor», erzürnt sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) in seiner Medienmitteilung vom 21. Juni. Über 12 Prozent würden die Renten sinken. Die Senkung würde doppelt so hoch ausfallen wie der damals geplante Rentenklau im 2010, den das Stimmvolk wuchtig und entschieden mit einer Drei-Viertel-Mehrheit dem Absender zurückschickte. Hat der Bundesrat diese Schlappe vor knapp drei Jahren vergessen? Vielleicht wegen dem zu hohen Konsum an Cannabis? Das soll bekanntlich das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen. Drei Jahre sind aber keine lange Zeit, die Kiffmenge müsste daher wirklich erheblich sein. Daher ist es wohl eher auszuschliessn. Fakt ist aber, dass dem Bundesrat der Volkswille völlig egal zu sein scheint, beeindruckendes und vorbildliches Demokratieverständnis. Kompliment! Aber nicht genug: Alain Berset, der sich sehr viele und gute Freunde bei den Bürgerlichen gemacht hat, will auch das Rentenalter der Frauen auf 65 Jahren erhöhen. Hier scheint er zu vergessen, dass selbst seine eigene Partei dieses Vorhaben vor nicht allzu langer Zeit im Parlament scheitern liess.

Gemeinsam gegen den Abbau

Der SGB hat sich zur «Rentenreform» des Bundesrats als erstes geäussert: «Diese krasse Senkung des Mindestumwandlungssatzes kann der SGB nicht akzeptieren. Er wird sie bekämpfen. Sie ist nicht zwingend. Sie stützt sich auf das derzeitige Tiefzinsniveau. So tiefe Zinse und Renditen sind jedoch nicht in Stein gemeisselt. Eine Rentenreform einzig auf ein Tiefzinsszenario zu stützen, ist nicht seriös.» Und der SGB fügt hinzu: «Der SGB lehnt auch die Anhebung des Frauenrentenalters auf 65 ab». Auch das Zentralkomitee der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) hat sich an seiner Sitzung vom 22. Juni klar und entschlossen gegen jegliche Rentenkürzung ausgesprochen. «Die PdAS wird mit allen demokratischen Mitteln gegen den Rentenklau und die Erhöhung des Frauenalters kämpfen», ist in der Stellungnahme zu lesen. Weiter ruft die PdAS alle «fortschrittlichen Kräfte auf, sich gemeinsam dem Sozial-abbau» entgegenzustellen.

Ein Vorschlag für Alain

Klassisch ist das Argument, das Berset für seinen geplanten Rentenklau aus dem Schrank holt: «Die AHV ist längerfristig finanziell nicht zu retten, wenn nicht massive Sparmassnahmen getätigt werden.» Diesen Mist hört das Volk seit Jahren und genauso lange schreibt die AHV praktisch ausnahmslos schwarze Zahlen. Daher lieber Kollege Berset: Nimm dir eine Woche Timeout, erhol dich in den Bergen, kiff einen guten Joint, geh dann nochmals über die Bücher und schlag uns dann eine Rentenreform vor, die zumindest noch den Hauch von etwas Sozialdemokratischem hat.

CH: Ein tiefbürgerliches Land!

AktionZuerich_gross.jpg.client.x675Gut ein Monat ist es her, seit das Schweizer Stimmvolk die neusten Verschärfungen im Asylbereich mit einem wuchtigen Ja absegnete. Über politische Niederlagen, fehlendem Mut und mittelfristige Perspektiven der Asylbewegung sprach der vorwärts mit Moreno Casasola, politischer Sekretär von «?solidarité sans frontières?».

Aus dem vorwärts vom 5. Juli. Unterstütze uns mit einem Abo.

Anders als bei anderen Urnengängen rund ums Thema Asyl wurde ein bissiger und politisch sehr pointierter Abstimmungskampf geführt und seitens des NEIN-Komitees viel Herzblut investiert. Trotzdem war dann das Resultat am 9. Juni sehr ernüchternd. Besteht noch Hoffnung für dieses Land?

Moreno: Es besteht immer Hoffnung, das ist klar. Und das miese Abstimmungsresultat darf nicht falsch interpretiert werden. Die Schweiz ist ein tiefbürgerliches Land, zwei Drittel der Bevölkerung stimmen deshalb bei einer Asylvorlage reflexartig gegen die Anliegen der Betroffenen. Dann kam diesmal der besondere Umstand dazu, dass sich das NEIN-Komitee gegen eine SP-Bundesrätin behaupten musste. In einer Grobrechnung führte dies dann dazu, dass sich von den üblichen 33 Prozent Nein-SagerInnen rund 10 Prozent von Simonetta Sommaruga überzeugen liessen, Ja zu stimmen. Die Ausgangslage war diffus.

Von verschiedener Seite wurde kritisiert, dass das Referendum gegen die Asylgesetzrevision eine chancenlose Angelegenheit sowie vor allem ein Steilpass für rechte Kreise gewesen sei. Was waren eure Beweggründe trotzdem gegen den Strom zu schwimmen und das Referendum zu ergreifen? 

Die Steilpassargumentation war von Anfang an falsch, da wurde im Vorfeld teilweise äusserst schlecht analysiert. Die SVP hatte von Beginn an kein vitales Interesse daran, sich in diesem Abstimmungskampf zu engagieren. Deshalb war immer klar, dass es ein Kampf gegen die Mitte und die Behörden sein würde. Es war mitunter diese Konstellation, die uns dazu brachte, das Referendum zu ergreifen. Wenn wir bereits soweit sind, dass sich offensichtliche Fremdenfeindler wie ein Gerhard Pfister unter dem Deckmantel beschleunigter Asylverfahren als Verfechter der «Humanität» aufspielen, dann muss man sich dem stellen und es entlarven.

Welche konkreten Auswirkungen hat die Revision auf Asylsuchende? Machen sich in der Praxis schon erste negative Aspekte bemerkbar?

Auf jeden Fall. Insbesondere die Abschaffung des Botschaftsverfahrens zieht weite Konsequenzen nach sich. Dass die Gesuche aus Eritrea seit letztem Dezember zurück gegangen sind, ist kein Zufall. Eritrea ist nach wie vor ein Militärstaat und die Leute flüchten, aber sie schaffen es nun nicht mehr weiter als bis in den Sudan. Das gleiche zeigt sich auch am Beispiel Syrien, wo die Leute in den Libanon flüchten und dann dort als sicher aufgehoben betrachtet werden.

Es wird immer wieder von beschleunigten Verfahren und raschen Entscheiden gesprochen und betont, dass die lange Verfahrensdauer sowohl für die Asylsuchenden wie auch für die Ämter und Gemeinden ein schwieriger Zustand sei. Trotzdem bleiben oft genau diejenigen Asylgesuche liegen, die eigentlich Chancen auf politisches Asyl hätten. Wie ist das zu erklären?

Das BFM hat schon immer Behandlungspriorisierungen vorgenommen, die als Abbild der politischen Stimmung gedeutet werden können. Dabei geht es um vermeintliche Sogwirkungen, Pull-Effekte und dergleichen mehr. Warum wurde die Behandlung der syrischen Asylgesuche in den letzten zwei Jahren ausgesetzt? Weil die Leute ein Bleiberecht erhalten hätten und man das nicht möchte. So einfach funktioniert das leider. Es ist der Spiegel unseres bürgerlichen Staates.

Was müsste passieren, dass in Zukunft an der Urne migrationsspezifische Vorlagen mehr Chancen ­hätten? Wo seht ihr die Ursachen dafür, dass seit Jahrzehnten die linken, progressiven und humanistischen Kräfte auf diesem spezifischen Themenfeld am Wahlsonntag jeweils kräftig Prügel beziehen?

Die Prügel sind vorwiegend den Mehrheiten in der Bevölkerung geschuldet, diese ändern sich nur langsam und über Jahrzehnte. Trotzdem muss man auch konstatieren, dass die progressiven und humanistischen Kräfte in Ausländerfragen vermehrt uneins sind. Es fehlt am Mut, das Richtige zu tun und dies auch mit Stolz zu vertreten. Die politischen Parteien haben Angst vor Wählerschwund oder, wie im Falle der SP, auf parlamentarischer Ebene schlicht kein Interesse an «erfolglosen» Dossiers wie dem Asylthema. Ein ähnliches Desinteresse ist auch bei Teilen der Gewerkschaften zu beobachten. Die Kirchen sind häufig unentschlossen und die Hilfswerke schauen stets mit einem Auge auf die SpenderInnen und möchten möglichst nichts falsch machen. Dazu sind sie teilweise mit den Behörden administrativ und finanziell verzettelt, wie das bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe der Fall ist. Wenn der Dachverband der schweizerischen Flüchtlingsorganisationen einen beträchtlichen Teil seines Budgets vom BFM bezieht, so macht ihn dies abhängig und politisch zahnlos. Es fehlen ein veritabler Schulterschluss, ein gestärktes Bewusstsein, für das Richtige einzustehen und der Mut, auch konsequent so aufzutreten.

Einzelnen Stimmen aus dem Umfeld des NEIN-­Komitees begründen das schlechte Ergebnis damit, dass die Grünen und die SP zu wenig eingebunden worden seien, weswegen sie sich nicht so tatkräftig am Referendum beteiligt hätten. Ist die Realität nicht eher die, dass zumindest bei der SP ein strategisches Doppelspiel getrieben wurde? Auch im Wissen, dass die eigene Basis keine Freude hat, wenn man zu nett zu Fremden ist?

Die Grünen waren im üblichen, möglicherweise auch gesteigerten Rahmen aktiv. Insbesondere natürlich die jungen Grünen. Aber Engagement ist immer eine Frage der eigenen Überzeugung und Prioritäten und nicht davon, ob man eingebunden wird. In diesem Sinne hat der Abstimmungskampf aufgezeigt, dass die parlamentarische SP mit wenigen Ausnahmen kein Interesse am Thema hat. Und ja, dazu kommt sicherlich, dass sich die SP als staatstragende Partei nicht gegen die eigene Bundesrätin wenden wollte. Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in den 21,6 Prozent wieder. Und sie ist so wahr wie ernüchternd. Ich möchte das nicht falsch formulieren: Jede Partei hat in jeder Frage das absolute Recht, sich zu engagieren oder eben nicht. Ich habe der SP beispielsweise nie vorgeworfen, das Referendum bei der Sammelphase nicht unterstützt zu haben. Die SP ist kein Kult und spielt als Partei auch politstrategische Spiele, das ist klar. Aber wenn man sich so positioniert, dann muss man gleichzeitig auch die Chuzpe haben, anständig zu begründen. Die wichtigste Frage in diesem Kontext ist also, weshalb die Asylfrage die SP nicht wesentlich beschäftigt.

Wie wird es nun nach dem 9. Juni weitergehen? Welche Schwerpunkte habt ihr bei «solidarité sans frontières» in nächster Zeit und was noch alles auf die Asylbewegung zu? 

Wie werden den Schwerpunkt auf eine verstärkte Vernetzung der verschiedenen Basisorganisationen setzen, da wir das Gefühl haben, dass Austausch und Zusammenarbeit auf nationaler Ebene zu kurz kommen. Dafür planen wir auf Ende September ein erstes nationales «Forum» zu Migrationsfragen, an welchem auch strategische Fragen besprochen werden sollen. Darüber hinaus sind wir ja bereits inmitten der Diskussionen um die neuste Asylgesetzrevision, die ganze Umstrukturierung des Asylbereiches. Mittelfristig bildet dies unseren Fokus. Langfristig kommen mindestens drei Volksinitiativen auf uns zu, die uns beschäftigen werden. Hier laufen auch Planungen zur Lancierung einer eigenen Initiative, mit welcher wir die Debatte im Migrationsbereich selber mitgestalten wollen – und zwar in unserem Sinn.

Die Post geht ab!

postMitte August werden die Verhandlungen für den neuen Post-Gesamtarbeitsvertrag (GAV) beginnen, der komplett überarbeitet werden muss. Die Gewerkschaft syndicom hat ihre Forderungen der Schweizer Post übergeben. Es ist dies der Startschuss für ein wohl langes und zähes Ringen um die Arbeitsbedingungen von rund 65?000 Beschäftigten. Über Erfolg oder Misserfolg wird eine «?simple?» Frage entscheiden.

Aus dem vorwärts vom 3. Juni. Unterstütze uns mit einem Abo.

Die Ausgangslage ist für die Gewerkschaft syndicom alles andere als einfach: Seit dem 1. Oktober 2012 ist die neue Postgesetzgebung samt Verordnungen in Kraft. Damit wurden der Post-Markt und die Grundversorgung neu geregelt. Auch die Rechtsgrundlage der Schweizer Post wurde grundlegend verändert. So ist die Post heute eine öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft (AG) und die PostFinance eine eigenständige AG im Besitz der Post. Beide Aktiengesellschaften müssen nun ihre Mitarbeitenden nach Privatrecht und nicht mehr nach öffentlichem Recht beschäftigen. Anstelle des Bundespersonalgesetzes (BPG) ist das Obligationenrecht (OR) massgebend. «Der Wechsel ins Privatrecht und ins Arbeitsgesetz verändert die arbeitsrechtliche Grundlage, auf denen der aktuelle GAV Post basiert», hält die Gewerkschaft syndicom fest und fügt hinzu: «Dies bedeutet: der GAV muss total überarbeitet werden, wenn man nicht Regelungslücken, Widersprüche zum geltenden Recht und enorme Rechtsunsicherheit bei der Interpretation des bisherigen GAV in Kauf nehmen will.»

Der Übergang vom öffentlichen ins private Recht wird erst vollzogen, wenn der neue GAV ausgehandelt ist, spätestens aber nach zwei Jahren. Für syndicom heisst dies, dass maximal zwei Jahre Zeit bleiben, bis 2015, um mit der Post einen neuen GAV auszuhandeln. Laut Yves-André Jeandupeux, Leiter Personal der Post und Mitglied der Konzernleitung, unterstehen 85 Prozent der Angestellten dem Post-GAV. Das sind knapp 53 000 der insgesamt 62 000 Beschäftigten. Die Post ist somit nach der Migros und Coop der drittgrösste Arbeitgeberin in der Schweiz. Zahlen und Fakten, die von der Wichtigkeit dieses GAV zeugen.

Umbau ja – Abbau nein

Der offizielle Startschuss in die Verhandlungen fand am Samstag, 5.Mai in Bern statt: Die rund 300 Delegierten der Konferenz des Sektors Logistik der Gewerkschaft syndicom übergaben Yves-André Jeandupeux den Katalog mit den Forderungen für den neuen GAV 2015. Syndicom verlangt unter dem Slogan «Alles Gelbe unter einem Dach», der zugleich die Hauptforderung ist, faire und gleiche Arbeitsbedingungen für die Angestellten in allen Bereichen und Subunternehmen der Schweizer Post. Die Stossrichtung der weiteren Forderungen können in den folgenden Themenbereiche zusammengefasst werden: «faire Löhne dank fairem Lohnsystem», «weniger Stress und transparente Arbeitszeiten», «mehr Mitwirkung am Arbeitsplatz», «Arbeitsplatzsicherheit und Kündigungsschutz» und «für eine attraktive Post mit starken Sozialleistungen».

Die Gewerkschaft hat ihre Positionen im engen Kontakt mit den Angestellten erarbeitet. Eine breit angelegte Umfrage Ende 2011 hat aufgezeigt, wo Handlungsbedarf besteht. Diese Themen wurden mit der gewerkschaftlichen Basis eingehend diskutiert. In Arbeitsgruppen wurden konkrete Lösungsvorschläge entwickelt. «Die Branchen-DV Post konnte vor zwei Monaten den Forderungs-Katalog definitiv verabschieden – nach einem umfassenden Vernehmlassungsverfahren bei Post-Mitarbeitenden aus allen Konzernbereichen und aus verschiedenen Regionen», informiert die Gewerkschaft in ihrer Medienmitteilung.

«Getreu dem Motto ‹Umbau ja –Abbau nein› stellen wir in unserem Katalog einzig realistische Forderungen auf. Und wir erwarten von der Post, dass sie dasselbe tut. Das Gerede von Marktlöhnen muss endlich aufhören», schreibt syndicom-Zentralsekretär Kaspar Bütikofer im Vorwort der Broschüre mit den Hauptforderungen zum neuen GAV. Er hält fest, dass eine Frontoffice-Mitarbeitende nicht mit einer Schuhverkäuferin und ein Paketbote nicht mit einem Pizzakurier verglichen werden können. Und mit Blick auf die im August beginnenden Verhandlungen fordert Bütikofer: «Es ist Zeit, dass die Postverantwortlichen wieder auf den Boden der Realität des eigenen Unternehmens zurückkommen.»

Klare Zeichen trotz Schweigen

Die Forderungen der Gewerkschaft sind auf dem Tisch. Die Chefetage des gelben Riesen hat mit Schweigen reagiert – kein Wort, kein Kommentar bisher. Sie scheinen dort viel mehr mit Entlassungen beschäftigt zu sein. Ende April gab die Post bekannt, dass sie das Logistikzentrum Bern (LZ Bern) Ende April 2014 schliessen will. Betroffen sind 55 Mitarbeitende und sechs Lernende. Die Schliessung begründet die Post mit wirtschaftlichen Gründen. Die Gewerkschaft syndicom präzisiert den Grund der Entlassungen: «Die Post beabsichtigt, einen Grossteil der Leistungen des ‹Konzerneinkaufs› nach WTO (Welthandelsorganisation) auszuschreiben und an den günstigsten Anbieter zu vergeben». Damit liquidiert die Post auf einen Schlag intern 55 Arbeitsplätze zu fairen GAV-Anstellungsbedingungen und verschiebt sie somit in eine «Tieflohnbranche ohne GAV-Schutz.»

Die Entlassungen sind ein klares Zeichen der Post für die bevorstehenden GAV- Verhandlungen: Möglichst wenige Beschäftigte sollen vom GAV profitieren, damit einfacher und schneller die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden können. Oder gibt es eine andere Interpretation der Entlassungen beim LZ Bern?

Die Gewerkschaft syndicom steht vor einer Mammutaufgabe. Ihre Erfolgschance ist an einer simplen Frage gekoppelt: Wird sie die PostarbeiterInnen im entscheidenden Moment für Protest- und Kampfaktionen mobilisieren können?

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