Dieudonnés Irrungen und Wirrungen

Dieudonne Mbala MbalaAnfangs Februar gastiert der französische «Komiker» Dieudonné M‘bala M‘bala mit seiner Show in Nyon. Mit dem Versprechen, sich an die hiesigen Gesetze zu halten und antisemitische Äusserungen zu unterlassen, wurden ihm die Auftritte durch die Stadtverwaltung gewährt. Doch genau hinschauen lohnt sich, denn hinter Dieudonné steckt weit mehr als dessen antisemitische Tiraden vermuten lassen.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich der französisch-kamerunische «Komiker» Dieudonné M›bala M›bala aufgrund seiner Show Vorwürfe bezüglich Rassismus und Antisemitismus anhören muss. Gegen ihn erhobene Anschuldigungen wusste Dieudonné stets mit einer «man wird ja wohl noch sagen dürfen»-Mentalität entgegenzutreten und fand dabei freudigen Anklang in der vereinigten Wutbürgerschaft. Nachdem Dieudonné jedoch einem jüdischen Journalisten nachrief, es sei schade, dass dieser nicht in den Gaskammern umgekommen sei, setzte die französische Regierung dem Spuck vorübergehend ein Ende und verbot kurzfristig weitere Aufritte des «Komikers».

Dieudonné näherte sich seit der Jahrtausendwende immer mehr der politischen Rechten an. Dadurch wandelten sich auch dessen Auftritte. Einst für die Rechte der MigrantInnen eintretend, richten sich die Stücke heute, wenn es für einmal nicht um Juden oder Geschichtsrevisionismus geht, hauptsächlich gegen die als ungerecht empfundenen Taten der Pariser Zentralregierung. Dieudonné vermag mit solchen klaren politischen Ansagen gemixt mit debilem Sandkastenhumor sowohl die politisch unzufriedene BürgerIn, wie auch den gestandenen Fussballprofi hinter sich zu scharen.

Vom «Komiker» zum Politiker

Nachdem seine eigene Präsidentschaftskandidatur 2007 aufgrund interner Probleme scheiterte, rief Dieudonné für die Europaratswahlen 2009 eine «antizionistische Liste» ins Leben. Darauf kandidierten sowohl VertreterInnen der extremen Rechten und bekannte HolocaustleugnerInnen als auch Personen aus der schiitischen Fundamentalistengruppe «Centre Zahra». Natürlich ist Antizionismus nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen und kann in Kombination mit progressiven Ideen durchaus ein legitimer Ausdruck eines regionalen Kampfes gegen die nationalstaatliche Ideologie Israels darstellen. Wer aber im Herzen Europas den Zionismus als einen nebulösen Hauptfeind ausmacht, der leidet im besten Fall unter paranoiden Wahnvorstellungen, eher aber unter einem klassischen Antisemitismus.

Dieudonnés neuster politischer Streich ist der «Quenelle-Gruss». Die eine Hand auf die Schulter, den anderen Arm stramm zum Boden gestreckt, gilt die Begrüssung sowohl als Ausdruck einer diffusen Protestbewegung als auch als verdeckter Hitlergruss. Wie schon die Querfront der «antizionistischen Liste» vermag auch der «Quenelle-Gruss» neue Brücken zu schlagen. Dieudonnés Hasstiraden richten sich gegen «die da oben», der Chor der politisch Unzufriedenen steigt gerne mit ein und mit dem erfundenen Gruss haben beide ein gemeinsames Protestsymbol. Wird Dieudonné nun vom französischen Rechtsstaat angegangen, dann erscheint dies auch als politischer Angriff des Pariser Establishments auf die neue Protestkultur. Die diffuse Abneigung gegen das politische System und die anhaltende wirtschaftliche Krise verbrüdern unterschiedliche soziale Kräfte. Dieudonné wird so, ob gewollt oder nicht, kultureller und politischer Ausdruck einer solchen Protestbewegung.

Kontakte zur extremen Rechten

Dieudonné selbst vermochte nach seinem politischen Wandel innerhalb kurzer Zeit mit unzähligen VertreterInnen des französischen Neorassismus in Kontakt zu treten. So liest sich dessen Bekanntenliste wie ein Who is Who des französischen Rechtsextremismus. Eine enge Freundschaft besteht mit Alain Soral, der wohl auch der wichtigste politische Kopf hinter Dieudonné ist. Dieser verlies 2009 das Zentralkomitee des Front National, weil ihm die Partei zu «angepasst» erschien, und kandidierte daraufhin auf der Liste von Dieudonné. 2008 liess Dieudonné den bekannten Holocaustleugner Robert Faurisson auf der Bühne auftreten. Jean-Marie Le Pen, Gründer des Front National, ist Taufpate seines dritten Kindes. Die Zeremonie wurde vom selben Kleriker durchgeführt, der auch schon die Totenmesse für den Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher Paul Touvier hielt. Auch mit weiteren Rechtsextremen Splittergrüppchen steht Dieudonné auf Tuchfühlung. So veröffentlichte er am 30. Juli dieses Jahres ein Interview mit Serge Ayoub auf YouTube. Ayoub gilt als Anführer der neofaschistischen Gruppierungen «Jeunesses nationalistes révolutionnaires» und «Troisième Voie», die beide mit dem Mord am jungen Antifaschisten Clément Méric am 5. Juni in Paris in Verbindung gebracht und mittlerweile gerichtlich verboten wurden. Ayoub und Dieudonné gehen in dem 30-minütigen Interview einig darin, dass eigentlich ein jedes Volk seinen Platz auf der Erde habe. Die völkische Tradition verbindet, so dass die Liaison der beiden Provokateure schliesslich mit einem fröhlichen Handschlag gefestigt werden kann.

Schweizerische Problembewältigung

Vom 3. bis zum 5. Februar und vom 3. bis zum 4. März lädt Dieudonné nun zu insgesamt zehn Shows in Nyon. Die Stadtverwaltung kam nach längerem Hin und Her zum Entschluss das zu tun, was die Schweiz in solchen Fällen stets zu tun pflegt: das ganze zu einer rechtlichen Frage zu degradieren. Solange die Show nicht explizit gegen die hiesigen Gesetze verstösst, darf sie stattfinden. Dieudonné eifrig darum bemüht, wenigstens einige Aufführungen seiner aktuellen Tour durchführen zu können, akzeptiert diese Entscheidung. Er lässt aus Wohlwollen darüber geschichtsrevisionistische Showelemente aus und verspricht dafür, den Akzent auf die Verballhornung des afrikanischen Kontinentes zu legen. Dass das Problem Dieudonné nicht nur an den geäusserten Worten, sondern an dessen Person und Handeln selbst festzumachen ist, negiert eine solche Scheinlösung. Dieudonné ist auch dann noch ein Rassist, wenn er für einige Auftritte seine Tiraden unterlässt.

Natürlich kann es hierbei nicht darum gehen, den Staat zum Handeln aufzufordern. Die gesellschaftliche Diskussion über Rassismus muss von unten kommen. Es kann dabei aber auch nicht, wie der Rapper Stress kürzlich auf Facebook als Werbung für Dieudonnés Veranstaltung schrieb, um die Verteidigung der freien Meinungsäusserung gehen. So platt die Parole «Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen» nach unzähliger Verwendung schon erscheinen mag, so wahr ist sie dennoch. Dieudonné hat in Nyon nichts zu suchen und zwar nicht weil er gegen allfällige Gesetze verstösst, sondern weil Rassisten jeglicher politischer Farbe das Leben schwer gemacht werden sollte.

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Antifeministische Scharade

abtreibungAuch wenn die Initiative «Abtreibung ist Privatsache» vom Stimmvolk verworfen wird, stellt sie eine Gefahr dar. Denn sie macht offenkundig kultur- und sozialrassistische Argumente salonfähig. Die Antwort darauf muss daher ein feministischer, migrantischer und proletarischer Kampf sein.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Abtreibungsinitiative am kommenden Abstimmungssonntag nicht durchkommen. Dass sie überhaupt zur Abstimmung kommt, nervt dennoch ungemein. Die Initiative «Abtreibung ist Privatsache» bleibt dermassen durchschaubar, auch wenn sie mit fadenscheinigen Argumenten nicht die Abtreibung selbst in Frage stellen, sondern lediglich einen Beitrag zur Senkung der Krankenkassenprämien leisten will. Ob AbtreibungsgegnerInnen oder VerfechterInnen der neoliberalen Eigenverantwortungsideologie – die konservativen Rechten führen ihre antifeministische Hetze mit der Abtreibungsinitiative in eine weitere Runde.

«Eigenverantwortung» auf dem Buckel der Frauen

Nicht weil sie das Solidaritätsprinzip der Krankenkassen – du bezahlst meinen Beinbruch, ich bezahle deine Abtreibung – auszuhebeln versucht, sondern weil sie neben der antifeministischen Propaganda offenkundig kultur- und sozialrassistische Argumente salonfähig macht, ist diese Initiative nicht einfach nur zu belächeln. Der Kampf gegen solch reaktionäre Angriffe muss ein feministischer, ein migrantischer und ein proletarischer sein.

Es ist kein Zufall, dass in Krisenzeiten die konservativen Kräfte Aufwind bekommen und feministische Errungenschaften unter Beschuss geraten. Wenn in einer neoliberalen Wirtschaftsordnung die Staatshaushalte unter Druck geraten, werden auch individualistische Modelle der hoch gepriesenen Eigenverantwortung wieder vermehrt propagiert. Die Restauration der «Familie», ihre moralische Genesung und gesittete Vermehrung ist der konservativen Rechten besonders in Krisenzeiten ein Anliegen, um dadurch die Staatshaushalte zu entlasten. Die Familie ist nicht nur ein moralisches Steckenpferd, das der bürgerlichen Erziehung dienen soll, sondern auch ein finanzieller und sozialarbeiterischer Hilfsposten, damit der Sozialstaat abgebaut werden kann.

Eine «funktionierende» Familie entlastet den Staat durch die in den meisten Fällen von Frauen übernommenen sozialen Leistungen unbezahlter Care-Arbeit ungemein. Die Anbindung der Frauen an das ideologische Gedankengebäude der bürgerlichen Familie bedeutet für sie nicht nur eine vermehrte Doppelbelastung, sondern steht auch einem freien, emanzipierten Lebensentwurf von Frauen diametral entgegen. In den sauberen Wohnzimmern der guten Schwizerlis ist es leider nicht weit her mit der Selbstbestimmung der Frauen über ihre Körper, denn jede Frau hat darin Hausfrau, Ehefrau und Mutter zu sein – alles, was darüber hinaus geht, muss sie sich erkämpfen. Ähnlich wie die Ecopop-Initiative wird auch die Initiative «Abtreibung ist Privatsache» mit kulturrassistischen Argumente beworben. Abtreibung sei keine Krankheit und werde sowieso hauptsächlich von den kulturfremden Migrantinnen als Verhütungsmittel missbraucht. Es seien demnach soziale, nicht gesundheitliche Faktoren, die zu einer Abtreibung führten. Denn die «fremden» Kulturen würden nicht adäquat mit der Verhütung umgehen können. Diese Unterscheidung zwischen guten und schlechten Kulturen ist unverhohlen (kultur-)rassistisch und hetzt gegen Migrantinnen. Den SchweizerInnen die Schweizer Krankenkassen, so könnte man das Anliegen der InitiantInnen ausdeutschen. Die ausländerfeindliche Haltung der AbtreibungsgegnerInnen, die auch in anderen antifeministischen Bündnissen wie dem «Marsch fürs Läbe» zum Ausdruck kommt, geht mit einer braunen, nationalistischen Ideologie einher.

Zweiklassenmedizin 

Wird die Abtreibung aus der Grundversicherung gestrichen, werden sozial abgesicherte und wohlgeordnete Verhältnisse bevorteilt. Bestraft werden all jene, die sich keine Abtreibung auf private Rechnung leisten können. Nur wird es im trauten Heim der Schweizer Familie, wo alles nach Plan verläuft und das nötigen Geldpolster zur Verfügung steht, immer weniger wichtig sein, die Option einer Abtreibung zu haben, als in sozial fragilen Verhältnissen.

Wohin es führt, wenn zwischen richtigen und falschen Leiden unterschieden wird,  können wir uns denken. Dann werden irgendwann jene nicht mehr behandelt, die sich ein Bein aufgrund von «Eigenverschulden» gebrochen haben, Drogen genommen haben,  an Fettleibigkeit leiden oder am Rand der Gesellschaft leben und sich keine ausreichende Versorgung leisten können. Die Initiative richtet sich in antifeministischer Manier gegen die Frauen der unteren Klassen. Die soziale Diskriminierung, die sich mit dem neoliberalen Deckmäntelchen «Eigenverantwortung» tarnt, trifft gerade im Gesundheitswesen vorwiegend Frauen. Die InitiantInnen versuchen mit dem Credo der «Eigenverantwortung» die angestrebte Zweiklassenmedizin zu legitimieren. Dass es ihnen aber um soziale Ausgrenzung geht, ist offensichtlich.

Das Private ist politisch!

Im Rahmen des neoliberalen Umbaus durch Privatisierung und Abbau gerät das Gesundheitswesen weiter unter Spardruck, was eine entsolidarisierende Politik zur Folge hat. Eine feministische Antwort darauf wird es aber unweigerlich geben. Gerade im Bereich der Care-Arbeit wird die Frage nach Selbstbestimmung, nach solidarischen und kollektiven Arbeitsformen, nach Arbeitskämpfen im Privaten immer wichtiger. Die Selbstbestimmung der Frauen ist der konservativen Rechten immer noch ein Dorn im Auge und das soll auch so bleiben.

Kapitalismus konkret!

IMG_1360Die Konzentration des Reichtums in immer weniger Händen hat sich mit Hilfe der Regierungen rapid beschleunigt. 85 Personen besitzen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung.

«Eine kleine Elite von 85 Personen besitzt genau so viel Vermögen wie die Hälfte der Weltbevölkerung». Mit diesem Satz beginnt eine am 20. Januar 2014 veröffentlichte Mitteilung von «Oxfam», einer internationalen Vereinigung von humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, die sich der Bekämpfung der Armut in der Welt widmen.

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Mobimo erpresst Labitzke-MieterInnen

letziparkDie auf dem Labitzke-Areal verbleibenden MieterInnen haben heute von der Einigung zwischen Stadtrat und Mobimo AG erfahren. Wir möchten festhalten, dass die MieterInnen zu keiner Zeit mit diesem angeblichen «Kompromiss» einverstanden waren, noch an den vorgängigen Verhandlungen beteiligt waren. Letzteres, obwohl von Seite der MieterInnenschaft immer Verhandlungsbereitschaft bekundet wurde. Die vorläufige Duldung der verbleibenden NutzerInnen bis Ende März kann nicht darüber hinweg täuschen, dass weder Baueingabe noch Baubewilligung für das Mobimo-Projekt vorliegen.

Der Stadtrat widerspricht mit seiner heutigen Mitteilung früheren Aussagen, wonach eine Räumung vor Baubeginn nicht verhältnismässig sei. Die nicht-vorliegende Abbruchbewilligung der Stadt soll ebenfalls plötzlich kein Hindernis mehr sein. Offenbar hat der Stadtrat damit dem Muskelspiel der Mobimo nachgegeben, ohne auf die Bedürfnisse der MieterInnen Rücksicht zu nehmen. Diese haben nämlich weiterhin keine Anschlusslösung in Aussicht. Falls die Mobimo an ihrem Abriss auf Vorrat festhält, würden damit Ende März rund 30 MieterInnen auf der Strasse stehen. Dazu kommen zahlreiche weitere NutzerInnen der beiden benachbarten Besetzungen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Mobimo heute offenbar im Einvernehmen mit den Behörden das im Tank verbleibende Heizöl abgepumpt hat. Damit dreht Mobimo den MieterInnen mitten im Winter die Heizung ab, in einem Machtgebaren, das jeder einvernehmlichen Lösung spottet. Es scheint, dass die MieterInnen damit zum sofortigen Auszug genötigt werden sollen, obwohl die juristische Klärung der Sachlage aussteht.

Als MieterInnen des Labitzke-Areals sehen wir uns nach den heutigen Ereignissen weiter ins Abseits gestellt. Die Macht des Geldes scheint sich einmal mehr gegenüber den elementaren Bedürfnissen der Menschen auf ein (geheiztes) Dach über dem Kopf durchzusetzen. Dass die sogenannt «links-grüne» Stadtregierung dazu Hand bietet, irritiert uns. Es stellt sich die Frage, ob ein profit-maximierender Immobilienkonzern mehr zu sagen hat als eine Bevölkerung, die sich wiederholt für zahlbare Räume für Wohnen, Kultur und Gewerbe ausgesprochen hat. Wir beharren dagegen darauf, die Gebäude bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Baubewilligung nutzen zu können.

Weitere Informationen zum Labitzke-Areal:
www.labitzke-areal.ch

Webseite der benachbarten Besetzung: www.bleib-farbig.net

WEF in Davos

DavosTrotz Krise und anhaltenden sozialen Protesten, reist die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff erstmals ans World Economic Forum (WEF) in Davos. Die gegenseitige Abneigung der vergangenen Jahre scheint verflogen. Rousseff verfolgt damit einen klaren Plan.

Genau zwei Jahre ist es her, seit Dilma Rousseff in einer Rede am Sozialforum in Porto Alegre die europäische Krisenpolitik als «neoliberal» und «konservativ» geisselte. Im Gegensatz dazu habe die eigene Regierung «progressiv» und «demokratisch» auf die anhaltende Finanzkrise reagiert. Die wiederholte Absage an Davos verärgerte nicht nur Investoren, sondern ermöglichte es auch, dass Rousseff durchaus Sympathie in der eigenen Basis gewinnen konnte. Zwei Jahre später herrscht jedoch diejenige Ernüchterung, auf welche kritische AktivistInnen und UmweltschützerInnen schon in Porto Alegre aufmerksam machen wollten. Rousseff und die brasilianische Regierung sind trotz ihrer linken Rhetorik Teil der herrschenden Logik. Statt auf Lösungen von Unten zu bauen, setzt man auf verstärkte Investitionen. Statt Alternativen zu entwickeln, setzt man auf bekannte Verwertungslogik.

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Sportstadien statt Panzer

geldwaschenAm 7. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi. In den neu errichteten Sportpalästen am Schwarzen Meer wird zwar auch Sport betrieben, sie weisen aber schnell auf die augenfälligen politischen Hintergründe des Grossereignisses hin: auf eine schonungslose Ausbeutung und Russlands Herrschaftsansprüche in der Region.

 

Wenn Wladimir Putin Englisch spricht, dann meint er es ernst. So auch im Jahr 2007 bei einer Rede in Guatemala, als er für die Olympischen Winterspiele in seiner Heimat geworben hat. Seine schwülstigen Sätze scheinen Wirkung gezeigt zu haben, bald findet in Sotschi die grösste Veranstaltung im postsowjetischen Russland statt. «Millionen russischer Bürger sind vereint durch den olympischen Traum», sagte Putin damals. Das Gegenteil ist der Fall, weiss man heute.

Was auf der derzeit grössten Baustelle der Welt passiert, ist ein Paradebeispiel für den Raubtierkapitalismus russischer Art. In Sotschi basiert dieser auf der massiven Bereicherung einer kleinen, privat verbandelten Elite, die sich die Staatsmacht zunutze macht, und einer grenzenlosen Ausbeutung, vor allem ausländischer GastarbeiterInnen. Das wachsende Olympiagelände am Schwarzen Meer bietet ein riesiges Profitvolumen. Fast die gesamte Infrastruktur musste neu aufgebaut werden. Nach den Spielen soll daraus eine Tourismus-Maschinerie werden, die das ganze Jahr über rattert. Am Strand unter den Palmen liegen und einen warmen Frühlingstag geniessen, dann in den nahen Bergen Skifahren: So kündete Putin das süsse Leben von Sotschi an.

Der Rest für die Freunde von früher

Doch die Pläne haben ihren Preis: Aus den von Putin anfangs veranschlagten Kosten von 12 Milliarden Franken sind mittlerweile über 50 geworden. Sotschi ist damit teurer als alle früheren Winterspiele zusammen. Der russische Oppositionelle Boris Nemzow stellt in einem Bericht die Vermutung an, dass davon 25 bis 30 Milliarden Franken in der Korruption versandet sind. Seine Berechnungen, die auf Vergleichen zu früheren Austragungen basieren, ergeben, dass die Bauarbeiten in Sotschi im Schnitt zweieinhalb Mal teurer sind als in anderen Ländern.

Die im russischen Staat gebündelte Macht erlaubt die Ausschüttung dieser Überschüsse innerhalb der Elite. Die zwei grössten Profiteure sind enge Vertraute Putins: Arkady Rotenberg ist ein Jugendfreund und Judopartner des Präsidenten. Seine Firmen haben in Sotschi Aufträge über fast 7 Milliarden Franken erhalten. Laut Forbes wuchs sein Vermögen in den letzten Jahren um zwei Milliarden Franken an. Wladimir Jakunin ist ehemaliger KGB-Offizier, Sowjetfunktionär und Putins Datscha-Nachbar. Er ist auch Präsident der russischen Eisenbahn, die für gut 8 Milliarden Franken eine Schnellstrasse und eine Eisenbahn von der Stadt Sotschi ins 50 Kilometer entfernte Skigebiet bauen lässt.

Die andere Seite der Medaille ist die Lage der ArbeiterInnen, die die Geldflüsse aus Moskau in strahlende Sportpaläste verwandeln. Die russische Ausländerbehörde gibt an, dass von den 74000 ArbeiterInnen, welche die zur Durchführung der Winterspiele ins Leben gerufene Staatsholding Olympstroi derzeit beschäftigt, 16000 aus dem Ausland stammen. Unabhängige ExpertInnen schätzen jedoch, dass es bis zu 50000 sein könnten. Egal wie viele es sind, sie arbeiten unter Bedingungen, die mit denjenigen vergleichbar sind, die Marx persönlich für die englische Arbeiterklasse beschrieben hat. Nachlesen lässt sich das in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), der auf Befragungen der ArbeiterInnen vor Ort basiert. Die Befragten stammen meist aus den nahe gelegenen ehemaligen Sowjetrepubliken in Osteuropa und Zentralasien.

Arbeitsbedingungen in Sotschi

Die meisten ArbeiterInnen arbeiten für einen Lohn von 1,8 bis 2,6 Dollar pro Stunde. Das ist viel weniger als ihnen ursprünglich versprochen wurde. Meist wird die Auszahlung der Löhne jedoch monatelang verzögert. Die meisten verfügen über keine Papiere, die ihre Anstellung belegen. Persönliche Papiere werden oft entwendet. Es wird in Schichten von zwölf Stunden gearbeitet, einen Freitag gibt es alle zwei Wochen. Geschlafen wird in Unterkünften, in die bis zu 200 ArbeiterInnen gepfercht werden –Unterkunft und Essen werden vom Lohn abgezogen.

Gesetze, die all das theoretisch verbieten würden, gibt es in Russland. Eine Normalschicht dürfte etwa nicht länger als acht Stunden dauern, eine Woche nicht mehr als 40 Arbeitsstunden enthalten. Ein freier Tag pro Woche wäre Pflicht. Doch hier muss es eben etwas schneller gehen.

Die staatsnahen russischen Gewerkschaften sind wohl nicht dazu in der Lage, dieser grenzenlosen Ausbeutung etwas entgegensetzen. Vielmehr droht den Spielen eine andere Gefahr, die sich kürzlich in Wolgograd zu Wort gemeldet hat. Auch aus Angst vor TerroristInnen wird Russland 40 000 Sicherheitskräfte bereitstellen. Dass die Winterspiele ausgerechnet im kriegsversehrten und noch immer politisch spannungsreichen Nordkaukasus abgehalten werden, wird von manchen Beobachtern als Machtdemonstration interpretiert. Es wirkt, als strebe Russland den Triumph an, das Grossereignis gerade in dieser Region durchzuführen.

Auch für Putin selbst ist das eine Prüfung, denn vor seiner Präsidentschaft hat ihn Boris Jelzin beauftragt, in der Region die TschetschenInnen zu befrieden. 1999, kurz bevor Putin die Macht von Jelzin übernehmen sollte, begann der zweite Tschetschenienkrieg. Weil Putin fürchtete, Russland könnte das gleiche Schicksal ereilen wie Jugoslawien – dass es nach dem Niedergang des Realsozialismus in seine Teile zerlegt wird – griff er in Tschetschenien mit aller Härte ein und schlug die separatistischen Bestrebungen nieder. Blutige Geiselnahmen und Terroranschläge haben seither immer wieder bewiesen, dass die Repression die Probleme nicht beseitigt hat.

Die spektakulären Olympiaparks können also auch als Mahnmal des territorialen Anspruchs Russlands in einer Region gesehen werden, in der ethnische Russen, für die Putin in seinem Land die Führungsrolle beansprucht, oft in der Minderheit sind. Da passt es ganz gut, dass sie von denjenigen Ex-SowjetbürgerInnen – vor allem aus Zentralasien – erbaut werden, die in Russland immer wieder heftigstem Rassismus ausgesetzt sind.

Aus der Printausgabe vom 17. Januar 2014. Unterstütze uns mit einem Abo.

«Die Kräfte bündeln»

margadant_2Bruno Margadant ist am 14. Dezember 2013 gestorben. Im Gedenken ein Interview mit ihm aus dem vorwärts vom 6. Februar 2009.

Bruno sammelte 50 Jahre lang Plakate aus der Arbeiter- und Friedensbewegung. Zugleich machte er sich einen Namen als Sammler der Gebrauchsgrafiken von Picasso. Genosse Margadant war Mitglied der PdA, arbeitet für den «vorwärts» und wechselte später zur SP. Ein Interview.

VORWÄRTS: Wie wird man Kommunist?

MARGADANT: Ich wurde als Kommunist geboren, später als solcher auch aktiv. Selber habe ich mich aber eher als Sozialist gesehen, denn „Kommunist“ war für mich ein Ehrentitel, den antifaschistischen Widerstandskämpfern angemessen. Dieses Heldentum nahm ich für mich nicht in Anspruch.

VORWÄRTS: Auf einer Reise nach Algerien im 1952 hattest du einen Schriftzug an einer Mauer gelesen: „Frieden in Vietnam“. Damals sagte dir das nichts…

MARGADANT: Diese Parole zeigte die Verbundenheit eines kolonialisierten, unterdrückten Volkes mit einem andern. Mit Begeisterung verfolgten die Algerier den Widerstand der Befreiungsarmee unter Ho Chi Minh. „Vietnam“ kannte ich zunächst gar nicht. Das war für uns ein weisser Fleck, ich wusste gar nicht, wo das lag. Die Menschen in Algerien haben diesen Befreiungskrieg viel früher verfolgt als wir in der Schweiz. Erst in den 60er Jahren wurde Vietnam bei uns präsent. Das zeigt: Hier die Satten, dort die Hungrigen.

VORWÄRTS: Als Linker in der Schweiz hattest du ein schweres Leben. Geprägt war es später auch von permanenten Kündigungen. Wie steht man das durch?

MARGADANT: Das musste so sein, das nahm man in Kauf. 1947 war ich am ersten Jugendfestival in Prag, 194B in der Arbeitsbrigade in Bulgarien, 1949 in Budapest, 1951 in Berlin. Das war automatisch mit Schikanen verbunden. Das war nun mal so.

VORWÄRTS: Du warst ein Staatsfeind?

MARGADANT: Unbedingt. Die Leute, die etwas von Fichen verstehen, erkennen auf meinen die Kennzeichnung „höchste Gefährlichkeit“. Ich war einer von den Leuten, die im Ernstfall sofort in ein Lager eingewiesen worden wäre. Erst in den 70er Jahren verzeichnete eine Fiche, dass überlegt wird, ob die Gefährlichkeit meiner Person heruntergestuft werden könne. Bis heute überlege ich mir, ob das eine Auszeichnung ist.

VORWÄRTS: Warum haben dich die Behörden als so gefährlich eingestuft?

MARGADANT: Es ist der ganze Hintergrund. Mein Herkommen, meine Eltern, meine Aktivitäten. Ich hielt überall Vorträge, zum Beispiel über Bulgarien. Während der Zeit, als ich sozialistische Plakate sammelte, hatte ich mit Botschaften kommunistischer Länder zu tun. Die Besuche meines Hauses wurden beobachtet. Ein Ungar brachte mir ein Buch über die Plakate der ungarischen Räterepublik 1919. Ein wunderschönes Buch, das ich später dem Kunstgewerbemuseum Zürich zur Verfügung stellen konnte. Der Geheimdienst hat dies als mögliche Aktenübergabe registriert.

VORWÄRTS: Die vielen Kündigungen, politisch bedingt – hattest du nie Existenzängste?

MARGADANT: Der Beruf war meine Existenz. Ich hatte keinen vermögenden Vater. Ich lebte von meiner Hände Arbeit. Ich war ein ausgezeichneter Berufsarbeiter. Deshalb konnte ich auch oft verhältnismässig hohe Löhne durchsetzen. Natürlich hatte ich auch Existenzängste. An die Partei habe ich mich aber nie gewandt. Ich hab mich immer selber durchgeboxt. Hab immer selber eine neue Arbeit gesucht. Bis ich am Ende in die Ostschweiz ging.

VORWÄRTS: Was macht ein Linker bei der NZZ?

MARGADANT: Das war nach der Lehre. Ich suchte einen möglichst renommierten Betrieb. Nicht irgendeine Bude, sondern möglichst etwas mit Namen, das mir später weiterhilft. Damit du die NZZ als Referenz angeben kannst…

VORWÄRTS: Wurde in der NZZ nicht auch politisch diskutiert – in bürgerlichem Geist?

MARGADANT: Es wurde sehr viel diskutiert. Und ich habe mich mit meiner Meinung nie zurückgehalten. Aber entscheidend war mein Besuch des Jugendfestivals. Später hat man mir bei der Kündigung vorgeworfen, man hätte mich gefragt, ob ich in einer Partei sei. Das war nicht wahr. Niemand hat mich nach der Parteizugehörigkeit gefragt. Und der Mann, der das behauptet hatte, war der Direktor, und er wusste, dass er log. Und ich wusste, dass er wusste, dass er log. Er brauchte gegenüber seinen Vorgesetzten eine Erklärung, weshalb ihm dieser Lapsus mit mir geschehen ist, einen Linken in der NZZ zu engagieren.

VORWÄRTS: Du hast über 50 Jahre Plakate aus der Arbeiter- und Friedensbewegung und Picassos Gebrauchsgrafiken gesammelt. Wie kam es dazu?

MARGADANT: Die frühen Plakate waren rein politisch, nur auf die Schweiz ausgerichtet. Die sozialen Plakate von Hans Erni, Hans Falk und Alois Carigiet waren die ersten, bis das Ganze eine Sammlung ergab. Das Buch dazu „Das Schweizer Plakat“, erschienen im renommierten Birkhäuser Verlag, wurde ein Erfolg. Das war der Anfang. Der Verkauf dieser Sammlung gab mir Geld für meine zweite Sammlung, das sozialistische Plakat. Ich hatte durch den Ankauf der Sammlung durch die Berliner Museen Geld und konnte mir nun die zweite Sammlung leisten. Ich ging an Auktionen, ich konnte mir Reisen leisten. Der Verkauf der zweiten Sammlung gab mir dann das Geld, um mich an das grösste Unternehmen, an Picasso zu wagen.

VORWÄRTS: Wie umfangreich war deine Sammlung der Gebrauchsgrafiken von Picasso?

MARGADANT: Es waren hunderte Exemplare, andere Sammlungen umfassen mehrere Tausend Exponate. Meine Picasso-Sammlung ist jetzt im Besitz der Staatlichen Museen zu Berlin.

VORWÄRTS: Wie hast du Bertolt Brecht kennen gelernt?

MARGADANT: Das war in Chur, hier bin ich aufgewachsen. 1948 besuchte ich die Jahresversammlung der „Naturfreunde“. Hier trug ein Freund, der auch in der PdA war, das Gedicht von Bertolt Brecht „Lob des Kommunismus“ vor. Doch er las es unter dem Titel: „Lob des Sozialismus“. Ich machte ihm Vorwürfe wegen der Verwässerung des Titels. Wir kamen überein, mit dem Dichter Kontakt aufzunehmen, weil wir wussten, dass Brecht wegen der Uraufführung seiner „Antigone“ in Chur war. Wir wollten eine Versammlung machen. Brecht lehnte ein öffentliches Auftreten entschieden ab. Doch zeigte er sich bereit, in kleinem Rahmen zu uns zu kommen. So kam die Begegnung zustande. Ich, der Lehrling, hatte sich herausgeputzt wie ein Pfau, und Brecht kam herein wie ein armer Hilfsarbeiter. Mit seinem faltigen Kinn, und er war so schlicht angezogen. Am Anfang war Brecht sehr formell, bis er sich eingewöhnt hatte in die für ihn fremde Umgebung. Höflich war er. Diese Höflichkeit interpretiere ich im Nachhinein als reine Schutzmassnahme. Er schützte sich durch Höflichkeit, bis er sich unter Genossen zu Hause und wohlfühlte. Und dann legte er viel, viel radikaler los als wir. Von Dimitroff war damals der Spruch bekannt: „Die Volksdemokratie hat den Vorteil, dass sie ohne die Diktatur des Proletariats auskommt“. Das war 1948. Diese breite Öffnung, die Kommunisten hatten in Prag 1946 fast die Mehrheit bekommen. Das war die politische Situation, als ich Brecht kennen lernte. Er wies uns zurecht. Er meinte, Kommunisten seien immer in der Minderheit. In der PdA waren damals viele linke Sozialdemokraten, die bei der Gründung zur PdA übergetreten sind. Aufgrund seiner Radikalität kam es mir vor, als seien wir die „Revisionisten“ und Brecht der „Stalinist“.

VORWÄRTS: Du hast auch für den „vorwärts“ gearbeitet?

MARGADANT: Ja, drei Jahre. Als Schriftsetzer hab ich den „vorwärts“ umbrochen, das heisst zusammengestellt.

VORWÄRTS: Auch Emil Arnold war im „vorwärts“ dein Kollege. Der hat Lenin während seines Schweizer Aufenthaltes persönlich kennen gelernt. Was hat Arnold dir von Lenin erzählt?

MARGADANT: Lenin habe während eines Gesprächs immer an seinem Jackenknopf herumgedreht – bis er abgefallen sei. Das war so eine Anekdote von Emil Arnold.

VORWÄRTS: Hast du an die Sowjetunion geglaubt?

MARGADANT: Natürlich. Du darfst nicht vergessen, ich war ein alter Stalinist. Jeder, der aktiv damals in der Partei war, war Stalinist. Es war die bedingungslose Zustimmung zur Politik der KPdSU.

VORWÄRTS: Wann kam deine Überzeugung ins Wanken?

MARGADANT: Die Breschnew-Zeit war einfach fürchterlich. Die Überlegung war ziemlich logisch: der normale Vater, der seinen Sohn in der Schweiz vorwärts bringen will, setzt ihn entweder in die CVP oder in die FDP. In der Sowjetunion war es die KPdSU. Das hatte weniger mit dem Glauben, mit dem wir aufgewachsen waren zu tun, sondern mit einer Art Mitläufertum. Zudem entwickelte sich die Staatsführung immer verhärteter und verknorzter. Du siehst das an den ordenbehangenen Bildnissen von Breschnew. Für mich waren das keine Kommunisten mehr.

VORWÄRTS: Kam bei dir erst mit Breschnew der Bruch?

MARGADANT: Wichtig war für mich das Exil in der Ostschweiz. Damit war ich ein bisschen weg vom Zentrum, von den Aktivitäten der Partei. Ich wurde nicht mehr verfolgt. In dieser Zeit habe ich angefangen, sehr viel zu lesen. Und die Zweifel verstärkten sich in den 60er Jahren. In Flawil wurde die Distanz zwischen der Partei und mir immer grösser. Ich hatte den Kontakt zu den Genossen verloren. Ich erinnere mich, dass ich damals einen fingierten Brief an Genossen schrieb, in dem ich mich dahin äusserte, dass ich daran denke, die Partei zu verlassen. Du musst dir vorstellen, so wie ich erzogen worden war, verlässt man eine kommunistische Partei nicht, sondern wird bestenfalls ausgeschlossen. Mein Brief endete mit der Hoffnung, dass wir uns als Genossen doch weiterhin grüssen könnten. Die Angst vor dem Ausgeschlossensein war sehr gross. Die Partei ist ja auch eine Heimat. Es war ein Schritt, den ich sehr, sehr schwer getan habe. Ich bin nicht ausgetreten wegen eines bestimmten Ereignisses. Es war die Summe von Unstimmigkeiten und Zweifeln.

VORWÄRTS: Was bedeutet für dich „die Wende“?

MARGADANT: Den Zusammenbruch habe ich ehrlich gesagt als Befreiung erlebt. Ich sah mich vorher immer veranlasst, die Sowjetunion zu verteidigen. Auch den grössten Unsinn – ich konnte nicht anders. Gegenüber den Gegnern musste man sich permanent verteidigen – und dass das nicht mehr nötig war, habe ich als Befreiung empfunden.

VORWÄRTS: Und heute?

MARGADANT: Du weisst so gut wie ich, das Kapital lebt weiter vom Blut der Völker. Wie man diesen Gegner am besten bekämpft? Ich war nie ein Politikstratege, nicht handelnder Funktionär, politisch aber immer aktiv. Das beste, was heute passieren kann, ereignet sich in der BRD. Wenn sich alle linken Kräfte in der Organisation „DIE LINKE“ vereinigen. Das scheint mir im Moment das Beste, was es gibt. Das Gleiche passiert heute in Frankreich. Die Kräfte zu bündeln, scheint mir notwendig zu sein.

Aufruf zum Widerstand gegen das AHD

sciopero_generale_04In der Schweiz formiert sich der Widerstand gegen das «Abkommen über Handel und Dienstleistungen» (AHD). Hier die Einladung zur Gründungssitzung.

Die Organisatorinnen und Organisatoren der Demo vom 29. November 2013 in Genf, die über 1‘000 Personen umfasste und sich gegen  die aktuelle Aushandlung neuer Freihandelsverträge richtete, die jetzt unter grösster Geheimhaltung stattfinden, möchten mit einem nationalen Komitee den Widerstand gegen diese Abkommen im nationalen Rahmen aufbauen; dabei handelt es sich um das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (AHD) (englisch: Trade in Services Agreement (TISA)) und das Abkommen über die transatlantische Partnerschaft. Dazu laden wir euch ein zur Teilnahme an einer

Nationalen Sitzung

Am Freitag den 17. Januar 2014 um 18’45 im Casa d’Italia, Bühlstrasse 57, Bern

Primäres Ziel dieser Sitzung ist die Gründung eines nationalen Komitees gegen das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen.

Dieses Abkommen wird gegenwärtig zwischen 46 Ländern unter Führung der USA, der Schweiz und der EU (welche heute ihrerseits 27 Länder umfasst) ausgehandelt.

Zum Abkommen ist auf www.seco.admin.ch (http://www.seco.admin.ch/themen/00513/00586/04996/index.html?lang=de) zu lesen: «Die Idee eines Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen wurde von den USA lanciert und einer Gruppe von WTO-Mitgliedern, der sogenannten RGF-Gruppe, vorgeschlagen. Seit Februar 2012 trifft sich die Gruppe regelmässig in Genf unter dem gemeinsamen Vorsitz der USA und Australiens. Die Schweiz nimmt von Beginn an aktiv an den Diskussionen teil.

Ziel dieser Initiative ist es, ein umfassendes Abkommen zum Dienstleistungshandel abzuschliessen. Die Arbeiten stützen sich auf das GATS und sehen eine hybride Verpflichtungsliste vor.

Zur Zeit nehmen folgende Parteien an den Diskussionen teil: Australien, Chile, Costa Rica, EU, Hong Kong, Island, Israel, Japan, Kanada, Kolumbien, Korea, Liechtenstein, Mexiko, Neuseeland, Norwegen, Pakistan, Panama, Paraguay, Peru, Schweiz, Taiwan, Türkei und USA.»

Diese Verhandlungen wurden unter dem Druck der USA und Australiens und mit sehr aktiver Beteiligung der Schweiz eingeleitet. Das Abkommen zielt auf die Deregulierung des Handels mit Dienstleitungen und stellt für den gesamten öffentlichen Bereich aller betroffenen Länder eine Gefahr dar.

Gemäss diesem Vertrag müssten alle Bereiche, in denen neben den öffentlichen Dienstleistungen private Anbieter vorhanden sind,  den Regeln des « freien und unverfälschten Wettbewerbs» unterstellt werden. Die Regierungen müssten die öffentlichen und privaten Anbieter im selben Ausmass subventionieren. Die Steuerpflichtigen wären so beispielsweise gezwungen, die Profite von privaten Kliniken und Schulen mitzufinanzieren.

Überdies müssten die Regierungen ausländische und inländische Anbieter gleich behandeln und dabei die Regeln des Wettbewerbs strikt beachten. Sie müssten somit auf jeden Schutz der lokalen oder nationalen Anbieter verzichten. Schliesslich wären die entsandten Lohnabhängigen bezüglich ihrer Arbeitsbedingungen nicht mehr den Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) unterstellt, sondern den noch viel  flexibleren der Welthandelsorganisation  (WTO).

Dieser Vertrag öffnet der Privatisierung der öffentlichen Dienste Tür und Tor und greift eine wichtige Errungenschaft an; in der Folge wird der Zugang zu den oft lebenswichtigen Dienstleistungen noch stärker vom Einkommen abhängen. Nur diejenigen mit genügend Geld werden beispielsweise eine genügende Pflege kaufen können, die anderen werden sich nur auf eine eingeschränkte Gesundheitsversorgung stützen können. Dieses Abkommen hat zum einzigen Ziel, die Unternehmensgewinne zu steigern.

Das AHD geht noch weiter als das Allgemeine Abkommen über den Dienstleistungshandel (GATS), dass 1994 im Rahmen der WTO abgeschlossen wurde. Nun entscheiden nicht mehr die einzelnen Länder über die Öffnung einzelner Bereich gegenüber der Konkurrenz, denn alle Bereiche der Unterzeichnerstaaten werden nun den Bestimmungen des Vertrages unterworfen.

Der Vertrag soll bereits 2014 unterzeichnet werden. Angesichts der Weigerung des Bundesrates und anschliessend der Mehrheit des Nationalrates, das Freihandelsabkommen zwischen China und der Schweiz dem fakultativen Referendum zu unterstellen, gibt es allen Grund für die Annahme, dass mit dem AHD gleich verfahren wird. Das Parlament wird dabei aufgefordert werden, dieses ohne die kleinste Änderung zu ratifizieren und das Volk würde der demokratischen Rechte beraubt werden.

Zweitens schlagen wir vor, sich an der europäischen Kampagne gegen den grossen transatlantischen Markt zu beteiligen. Gegenwärtig verhandeln verschiedene amerikanische Staaten unter der Führung der USA und die EU über ein Abkommen der transatlantischen Partnerschaft. Dieser hat bereits einen Zwillingsbruder mit dem Abkommen der transpazifischen Partnerschaft, das unter zwölf amerikanischen Ländern unter der Führung der USA und einigen asiatischen Ländern im US-amerikanischen Einflussbereich ausgehandelt wurde. Mit diesen beiden Abkommen wären alle Länder, die mit den USA oder mit der EU Handelsvereinbarungen abschliessen würden, gezwungen, sich unter das Joch der Bestimmungen in diesen Verträgen zu beugen. Überdies verstärken sie auf schwindelerregende Weise die Macht der multinationalen Konzerne: sie hätten die Möglichkeit, alle Regierungen, die für sie nachteilige Gesetze und Beschlüsse erlassen, vor entsprechende Gerichte zu ziehen, die nach ihren Bedürfnissen  ausgestaltet wären. Diese Regierungen hätten keine Möglichkeit, sich auf ein öffentliches oder allgemeines Interesse zu berufen; das Gesetz des Marktes und des Profits wäre absolut gesetzt, mit allen Folgen für die Bevölkerung. Die Schweiz wäre durch dieses Abkommen ebenfalls betroffen.

Es ist daher höchste Zeit, uns zusammenzutun und ein nationales Komitee zu bilden, das sich vorerst auf die Bekämpfung des Abkommens konzentriert, das die Schweiz unmittelbarer betrifft, das heisst das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (AHD). Dabei fordern wir:

– Dass der Bundesrat über die laufenden Verhandlungen und den detaillierten Inhalt dieses Abkommens informiert.

– Dass die  Schweiz aus diesen Verhandlungen aussteigt.

Diese Kampagne soll Teil eines Kampfes sein, der im Sinne der internationalen Solidarität in allen Ländern geführt werden sollte. Wir werden selbstverständlich darüber diskutieren müssen, wie wir uns mit Bewegungen in anderen Ländern koordinieren können, um diese gegen die Völker gerichteten Abkommen zum Scheitern zu bringen.

Wir würden uns freuen, euch an dieser Sitzung anzutreffen und entrichten euch unsere solidarischen Grüsse

 

Für das Einheits-Komitee gegen das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen

Konflikt bei Tamedia

Tamedia_VerlagshausDer grösste Schweizer Verlag für Print- und Onlinemedien erfasst keine Arbeitszeiten der Medienschaffenden.

Der vorwärts-online veröffentlicht die Medienmitteilung der Gewerkschaft syndicom, die u.a. mehr Stellen fordert:

syndicom unterstützt die Aktion der Schwester-Organisation impressum, die heute darauf aufmerksam macht, dass Tamedia, der grösste Schweizer Verlag für Print- und Onlinemedien, gegen das Arbeitsgesetz verstösst, weil die Arbeitszeiten der Medienschaffenden nicht erfasst werden. Auch viele andere Redaktionen sind davon betroffen. Das Arbeitsinspektorat soll die Situation überprüfen. Überzeit sind die Stunden, welche über die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 45 Wochenstunden hinaus geleistet werden. Diese sind zwingend zu kompensieren. Um sie zu messen, braucht es eine Arbeitszeiterfassung. Das Problem überlanger und gesetzeswidriger Arbeitszeiten existiert jedoch nicht nur bei Tamedia, sondern auch in vielen andern Redaktionen.

Stete Verschlechterung der Arbeitsbedingungen

Lange Zeit waren die Medienschaffenden bereit, im Interesse der Qualität, der Information und des Dienstes an der Öffentlichkeit ungewöhnlich lange und zu unregelmässigen Zeiten zu arbeiten. Dazu gehörte aber auch, dass die Verlage den aussergewöhnlichen Einsatz ihrer Mitarbeitenden schätzten und mittels guter, durch einen Gesamtarbeitsvertrag gesicherter Arbeitsbedingungen schützten. Tempi passati: 2014 jährt sich der vertragslose Zustand zum 10. Mal!

Mangelnder Gesamtarbeitsvertrag

Der aktuelle Fall zeigt aus der Sicht von syndicom vor allem auf, wie dringend notwendig es wäre, einen neuen Gesamtarbeitsvertrag für JournalistInnen in der Deutschschweiz und im Tessin auszuhandeln. Die Gewerkschaft fordert die Verleger zum wiederholten Mal zur Rückkehr zu vertragspartnerschaftlichen Regelungen auf.

Forcierte Konvergenz und Sparmassnahmen

Nicht nur der fehlende GAV, auch die vielerorts forciert eingeführte konvergente Arbeitsweise, welche unter dem Strich einer Fusion verschiedener Redaktionen gleichkommt, hat die Arbeitsweise der Medienschaffenden drastisch verändert: die Arbeitsbelastung durch wiederholte Sparmassnahmen und Stellenabbau, übermässige Arbeitszeiten und Tempodruck hat ein Mass angenommen, das für viele JournalistInnen nicht mehr erträglich und gesundheitsgefährdend ist. Und das nicht zuletzt die Qualität der Medien drückt.

Es braucht mehr Stellen

Natürlich dürfen die Anzeige beim Arbeitsinspektorat und die verlangte Arbeitszeiterfassung nicht Selbstzweck sein. Es geht darum, die übermässige Arbeitsbelastung in den Griff zu bekommen: Die Redaktionen müssen wieder mit genügend Stellen dotiert werden, nicht vermeidbare Überstunden sind mit fairen Kompensationsmöglichkeiten und mehr Ferien abzugelten.

Nestlé vor Bundesgericht

nestleIm Mordfall Luciano Romerlo legt das ECCHR Beschwerde beim Bundesgericht ein. Hier das Communique.

Das «European Center for Constitutional and Human Rights» hat mit den Züricher Anwälten Marcel Bosonnet und Florian Wick den Fall des ermordeten Gewerkschafters Luciano Romero vor das Schweizer Bundesgericht gebracht. Sie vertreten die Witwe des kolumbianischen Aktivisten, der für ein Nestlé-Tochterunternehmen gearbeitet hat. Im Dezember 2013 hatte das schweizerische Kantonsgericht Waadt eine Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen abgelehnt.

Das Kantonsgericht bestätigte damit die Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass die Tat verjährt sei. Die Staatsanwaltschaft Waadt hatte nach 15 Monaten Untätigkeit entschieden, keine Ermittlungen gegen Manager der Nestlé AG oder das Unternehmen selbst aufzunehmen.
Hierbei verkennt jedoch das Gericht, dass sich die Verjährung im Fall der Strafbarkeit des Unternehmens nicht nach der Tatzeit des Verbrechens richtet. Der Konzern selbst hat noch nichts unternommen, um die fehlerhafte Organisation in dem Unternehmen zu beheben. Dieser sogenannte Organisationsmangel, welcher die Strafbarkeit Nestlés begründet, kann deshalb noch nicht verjährt sein. Das Gericht berücksichtigt hierbei auch nicht die kürzlich verlautbarte Rechtsposition des Schweizer Nationalrates (BBl. 2012 9253, 9271), welche die Auffassung des ECCHR und der Anwälte Bosonnet und Wick unterstützt.

Der Mord an einem weiteren Nestlé-Arbeiter und Gewerkschafter in Kolumbien im November 2013 zeigt deutlich, dass sich an der Haltung des Nestlé-Konzerns zu seinen Gewerkschaftern nichts geändert hat. Entgegen eigener Bekundungen auf der Firmenwebseite und auf Konferenzen hat sich Nestlé offensichtlich immer noch keinen Umgang mit Betriebsangehörigen und Gewerkschaftern angeeignet, der diese nicht in Lebensgefahr bringt. Denn der Ermordung des Gewerkschafters waren erneut Diffamierungen durch das kolumbianische Management von Nestlé vorausgegangen.

ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck kommentiert die Gerichtsentscheidung wie folgt: «Es ist erschütternd, dass die Schweizer Justiz nicht gewillt ist, fundierten Vorwürfen gegen Unternehmen nachzugehen. Es ist jedoch klar, Schweizer Unternehmen tragen – auch strafrechtliche – Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen im außereuropäischen Ausland. Wenn das geltende Schweizer Recht es den Opfern derartiger Straftaten nicht ermöglicht, ihre Rechte durchzusetzen, gehört es – ebenso wie die Gesetzbücher anderer europäischer Staaten – reformiert.»

Berlin / Zürich, 9. Januar 2014

Zum Interview mit Marcel Bosonnet aus dem vorwärts vom 21. Dezember 2013 klicke hier

Wir besetzen mit Liebe!

kein_abrissIn der Nacht auf den 3. Januar wurden zwei Fabrikgebäude auf dem Labitzkeareal vor ihrer vorzeitigen Zerstörung gerettet. Wir haben sie besetzt.

Durch unsere Besetzung unterstützen wir den Auszugsboykott einer Mietpartei und solidarisieren uns mit den zahlreichen bereits vom Areal verdrängten ehemaligen Mieter_innen. Ihr Verschwinden ist ein Verlust für Altstetten. Wir wurden Zeug_innen, wie alle Räume, die wir nicht rechtzeitig besetzen konnten, während der Schlüsselübergabe unbenutzbar gemacht wurden: Mit Vorschlaghammer und Pickel wurden sämtliche Fenster und Sanitäranlagen aller ehemaligen Ateliers, Wohnräume und Clubs kaputtgeschlagen.

Die Geld- und Immobilienverwaltungsgesellsch
aft Mobimo AG gedenkt die Baubewilligung für ihr Neubauprojekt auf dem Labitzke-Areal frühestens diesen Frühling einzugeben. Für Abbruch und Altlastensanierung plant sie zehn Monate ein (gemäss Schweiz Aktuell vom 19.12.2013). Sie spekuliert auf die Erteilung der Baubewilligung im Herbst 2014. Das vor kurzem erst präsentierte Projekt soll bis dahin realisierbar sein. Ihr öffentlich kommunizierter Zeitplan entspricht dem unwahrscheinlichen Optimalfall. Die Vorstellung, dass keine Einsprachen und städtische Auflagen anfallen, widerspricht jeglicher demokratischen Logik.

Ein weiteres Mal wird in der Stadt Zürich ein Abriss auf Vorrat im grossen Stil angegangen: Durch Spekulation im Namen der Profitmaximierung wird ein weiterer für eine lebendige Stadt notwendiger Kultur- und Lebensraum mit einem Handstreich vernichtet. Die Mobimo zeigt masslose Gier, wenn sie eine Verschiebung des Baubeginns um wenige Monate als schlimmer empfindet, als dass ein wertvoller und lebensfroher Mikrokosmos so lang wie möglich blühen kann.

Christoph Egli, Immobilienbewirtschafter der Mobimo, „gestattete“ uns, diese „Show“ bis Montag Morgen durchzuziehen und dann zu gehen. Die Mobimo weiss nicht, wovon sie spricht. Die Räume sind unsere Lebensgrundlage, Showbusiness interessiert uns nicht. Nun droht sie über die NZZ, die viel besungene Trachtengruppe Urania zu bemühen, uns mit brachialer Gewalt aus den Gemäuern zu vertreiben. Diese Gewalt kotzt uns an, wir besetzen mit Liebe.

Eure Besetzer_innen

Viva el EZLN

EZLN_XLAm 1. Januar 2014 jährt sich der zapatistische Aufstand in Chiapas, Mexiko zum 20. Mal. Die Soli-Party in Zürich steigt am 1. Januar 2014. Infos dazu hier

Auch in Chiapas war der bewaffnete Aufstand das letzte Mittel, um die Lösung zugespitzter sozialer Probleme zu erzwingen. Der Aufstand der Zapatistas brachte die Misere der indigenen Bevölkerung auf die politische Tagesordnung Mexikos und verlieh „denen, die keine Stimme haben“ eine Stimme. Die Rebellion gegen die quasi-feudalen Zustände in Chiapas, einer Region, and der die mexikanische Revolution (1914-17) spurlos vorüberging, war zugleich ein Aufstand gegen den neoliberalen Kurs der Regierung zu einem Zeitpunkt, als die Anti-Globalisierungsbewegung noch nicht existierte – der Beginn am 1.1.1994 war durchaus symbolisch gewählt: es war der Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA).

Nach 12tägigen Gefechten (die Zapatistas hatten 6 Städte besetzt), zog die EZLN zurück in die Berge und die mexikanische Zivilbevölkerung auf die Strasse. Unter dem Druck von Massenprotesten erklärte die Regierung den Waffenstillstand, der – von der Aufstandsbekämpfung der Regierung („Krieg niedriger Intensität“) abgesehen – bis heute gehalten hat. Dass die Aufstandsbekämpfung nicht so brutale Formen annahm wie in anderen Regionen der Welt, lag einerseits an erfolgreichen Deeskalationstechniken der EZLN (berühmt sind die zapatistischen Frauen, die oft die mexikanische Armee am Vorrücken hinderte) und andererseits an einer permanenten internationalen Präsenz in Form von Menschenrechtsbeobachtern in Chiapas.

Die ELZN erwies sich als „Medienguerillas“ und mobilisierte mit Hilfe des Internets und zahlreicher Kommuniqués die Solidaritätsbewegung. Nach rund zweijährigen Verhandlungen gab es – scheinbar – einen ersten Erfolg: Das Abkommen über „Indigene Rechte und Kultur“ wurde am 16.02.1996 von Regierung und EZLN unterschrieben. Dieses Abkommen würde der indigenen Bevölkerung (in ganz Mexiko !) ein gerüttelt Mass an politischer, kultureller und wirtschaftlicher Autonomie zubilligen. Bei den weiteren Verhandlungen zeigte sich, dass die mexikanische Regierung weder die Absicht hatte, dem unterschriebenen Abkommen Geltung zu verschaffen, noch bei anderen Verhandlungsthemen greifbare Ergebnisse zu erzielen. Von diesen Scheinverhandlungen verabschiedete sich die EZLN im August 1996 und widmete sich der Mobilisierung der Öffentlichkeit, um die Umsetzung des o.g. Abkommens zu erzwingen. Dazu zählt u.a. die Durchführung von zwei landesweiten Volksabstimmungen und schliesslich – im Frühjahr 2001 die Reise der kompletten EZLN-Kommandantur in die Hauptstadt – begeleitet und beschützt von Tausenden Vertretern der Zivilgesellschaft.

Parallel zu diesen Bemühungen arbeiteten die Zapatistas seit Jahren der praktischen Umsetzung ihres Autonomiekonzepts. Sie schufen (bereits Ende 1994) mit der Ausrufung der Autonomen Municipios (Kreise) eine eigene Verwaltungsstruktur, wobei – mit vielen Unzulänglichkeiten behaftet – Schritt für Schritt ein eigenes Schulsystem, eine eigene Gesundheitsversorgung und eine eigene ökonomische Basis aufgebaut wird. Neben der subsistenzwirtschaftlichen Versorgung mit Lebensmitteln ist das vielleicht bekannteste Beispiel der in Deutschland vertriebene „Cafe Libertad“, der von der zapatistischen Kooperative „Mut Vitz“ produziert wird. Im Sommer 2003 zogen die Zapatistas Bilanz, analysierten die Vergangenheit, bekannten öffentlich Fehler und reorganisierten ihre Struktur, indem sie „Räte der guten Regierung“ schufen – fünf basisdemokratisch organisierte Lokalregierungen, die für Regionen von jeweils Tausenden zapatistischen Bewohnern verantwortlich sind.

Auch wenn sie nur noch gelegentlich die von der Presse in Europa beachtet werden – die Zapatistas „gehen fragend“ ihren Weg – so wie sie es in der Zeit, wo linke Projekte Anfang der 90er Jahre totgesagt wurden, immer getan haben, und sie sind auch weiterhin eine Inspiration für die „unorthodoxe“ Linke.

Quelle: chiapas.at

 

Rede der EZLN am 18. August 2013

An die Bevölkerung von Mexiko

An die Bevölkerung der Welt

An die alternativen Medien, die anwesend sind

An den Nationalen Indigenen Kongress

An die Compañeros und Compañeras der Anderen [Kampagne] und der Sechsten [Erklärung aus dem Lakandonischen Regenwald] National und International

Als Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung betrachten wir all das, was in sämtlichen Gegenden unseres mexikanischen Heimatlandes passiert, als unser Anliegen, denn es sind dieselben Probleme, unter denen wir alle leiden, weil uns unsere Mutter Erde, die Luft, das Wasser und die Naturreichtümer geraubt werden.

Aber die schlechten neoliberalen Regierungen und die transnationalen Konzerne herrschen mit ihrem Geld und zwingen uns ihre Projekte des Todes in unseren Territorien auf. Wir als originäre Bevölkerungsgruppen und Eigentümer_innen der natürlichen Ressourcen müssen diese jedoch so gut wie möglich verteidigen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, da es um unsere Mutter Erde geht; durch sie leben wir, durch sie atmen wir.

Die schlechte Regierung und die neoliberalen Unternehmen wollen sich aneignen, was unser ist, und wenn wir es verteidigen, verfolgt sie uns, sperrt uns ein, ermordet uns und klagt uns als Gesetzesbrecher an und verurteilt uns zu vielen Jahren Gefängnis, als wären wir Kriminelle. Im Gegenteil sind sie die tatsächlichen Mörder, Verbrecher und Vaterlandsverräter.

Sie sind frei, als wäre das, was sie uns angetan haben, kein Verbrechen. Sie schützen sich mit ihren Gesetzen. Aus diesem Grunde wollen wir den schlechten Regierenden sagen, dass sie sehr klar verstehen sollen, dass wir als originäre Bevölkerungsgruppen nicht mehr zulassen werden, dass sie uns unsere Mutter Erde und unsere Naturreichtümer wegnehmen.

Wir als Zapatistas kämpfen für unsere 13 Forderungen [1] für die Bevölkerung in Mexiko und wir kämpfen ebenso für eine Autonomie, in der die Bevölkerung bestimmt und die Regierung.

Um all das zu erreichen, ist es notwendig, Bewusstsein, Willenskraft und Opferbereitschaft zu haben und gegen jedwede Aggression Widerstand zu leisten.

Compañeros und Compañeras, Brüder und Schwestern, um die Pläne des Todes abzuwehren, die uns die Neoliberalen aufzwingen, ist es notwendig, sich zu organisieren, unsere Kräfte, unseren Schmerz und unsere Rebellion zu vereinen und für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Aus dem CIDECI [2], San Cristóbal de las Casas, Chiapas, Mexiko.

Das sind unsere Worte. Danke.

Übersetzung: Gruppe B.A.S.T.A. – http://www.gruppe-basta.de

1.] Die ursprünglichen elf Forderungen lauten Arbeit, Land, Unterkunft, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden und wurden später noch um die Forderungen nach freier Information und Kultur erweitert.

2.] CENTRO INDÍGENA DE CAPACITACI«N INTEGRAL »FRAY BARTOLOMÉ DE LAS CASAS« A.C. – http://seminarioscideci.org/

VIDEO-AUFZEICHNUNG: (copyleft, realisiert von Gruppe B.A.S.T.A. & Zwischenzeit e.V.)

 

Quelle: www.chiapas.eu

Ich bin kein Marxist

papa-francescoEr sei kein Marxist, liess der aus Argentinien stammende Papst Franziskus am 15. Dezember in einem Interview in der Sonntagsausgabe der italienischen Tageszeitung «La Stampa» wissen. Er reagierte damit auf Vorwürfe aus rechtskonservativen Kreisen in den USA. Ein US?amerikanischer Radiomoderator hatte nach der Veröffentlichung des jüngsten Apostolischen Sendschreibens «Evangelii gaudium» («Freude des Evangeliums») verbreitet, dass das, was da vom Papst zu hören war, «purer Marxismus» gewesen sei.

In dem Stampa-Interview erklärte Franziskus nun dazu, dass seine Botschaft mit den scharfen kapitalismuskritischen Äusserungen, die nicht nur von konservativen Kirchenkreisen, sondern auch von Vertretern der «Wirtschaft» heftig kritisiert worden waren, in der Soziallehre der katholischen Kirche ihre Grundlage habe. Dass er sich so geäussert habe, mache ihn noch nicht zum Marxisten. Die «Ideologie des Marxismus» sei seiner Ansicht nach «irrig». Doch er fügte auch hinzu: «Ich habe in meinem Leben viele Marxisten getroffen, die gute Menschen waren». Darum fühle er sich durch die gegen ihn geäusserte Kritik «nicht angegriffen». Das Versprechen des Kapitalismus, dass der Reichtum irgendwann auch bei den Armen ankomme, habe sich nicht erfüllt.

Wie aus Kreisen seiner Umgebung aus diesem Anlass mitgeteilt wurde, sei Franziskus zwar nie ein Ultrakonservativer gewesen, aber den Jesuitenpatern in Lateinamerika, die sich von der «Theologie der Befreiung» her marxistischen Ansichten näherten, sei er entschieden entgegengetreten. Anstelle der in den 70er Jahren in Lateinamerika verkündeten «Theologie der Befreiung» habe er eine nichtmarxistische «Theologie des Volkes» verfochten.

In dem Sendschreiben «Evangelii gaudium» hatte der Papst umfangreiche Überlegungen zu einer religiösen und moralischen «Erneuerung» der Kirche in den Mittelpunkt gestellt. Die kritischen Aussagen zu den Missständen des heutigen Wirtschaftssystems waren Teil dieser Modernisierungsbestrebungen. Unter anderem heisst es da wörtlich: «Ebenso wie das Gebot ‹Du sollst nicht töten› eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein ‹Nein zu einer Wirtschaft der Ausschliessung und der Disparität der Einkommen› sagen. Diese Wirtschaft tötet… Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann… Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen».

Vom marxistischen Standpunkt aus ist es eine Frage von nachgeordneter Bedeutung, ob die Kapitalismuskritik ihre Quelle in der katholischen Soziallehre oder in der marxistischen Gesellschaftsanalyse hat. Entscheidend ist, welche Schlussfolgerungen daraus für das heutige Handeln der Menschen zur Überwindung dieser menschenunwürdigen Zustände gezogen werden und ob sich daraus Möglichkeiten eines stärkeren gemeinsamen Vorgehens von Katholiken mit Kommunisten, Sozialisten und anderen Linken ergeben können

«Die Schweiz ist bis heute den Beweis schuldig geblieben»

11 nestleAm 11. September 2005 wird der kolumbianische Gewerkschaftsaktivist Luciano Romero ermordet. Sieben Jahre -später, am 5. März 2012, hat das «European Center for Constitutional and Human Rights» (ECCHR) zusammen mit der kolumbianischen Gewerkschaft «Sinaltrainal» bei der Staatsanwaltschaft Zug Strafanzeige gegen Nestlé und fünf ihrer Führungsmitglieder eingereicht. Der vorwärts sprach mit Rechtsanwalt Marcel Bosonnet, der in diesem Fall die Witwe des ermordeten Romero vertritt. 

Aus der Printausgabe vom 20.Dezember. Unterstütze uns mit einem Abo. 

Marcel, wie ist der aktuelle Stand der Dinge?

Vor dem Mord an Luciano Romero gab es gefährdende Diffamierungen gegen ihn, die von den lokalen Nestlé-VertreterInnen in Kolumbien ausgingen. Den führenden Mitgliedern von Nestlé wird daher vorgeworfen, nichts zur Unterbindung oder zur -Entschärfung der Drohungen unternommen zu haben. Die Beschuldigten waren unter anderem aufgrund von Schutzübernahmeerklärungen verpflichtet, für die Sicherheit von Luciano Romero zu garantieren. Sollte die strafrechtliche Verantwortung einzelner Unternehmensangehöriger aufgrund mangelnder interner Organisation, Überwachung und Dokumentation innerhalb des Unternehmens nicht nachweisbar sein, so kommt der nach dem Gesetz nachrangige Strafanspruch gegen das Unternehmen selbst gemäss Art. 102 Abs. 1 StGB zum Tragen. Denn die mangelnde individuelle Zurechenbarkeit der strafrechtlichen Verantwortung deutet auf schwere Organisationsmängel innerhalb des Unternehmens hin. Aus diesen Gründen haben wir entschieden, gegen die fünf Führungsmitglieder und gegen Nestlé AG als juristische Person Strafanzeige einzureichen. Nach mehr als einem Jahr, in dem die Staatsanwaltschaft in Zug und dann in Renens keine einzige Untersuchungshandlung vornahmen, verfügte die Staatsanwaltschaft Renens am 1. Mai 2013 – das Datum wurde wohl kaum zufällig gewählt –, eine Nichtanhandnahme der Strafuntersuchung, da beide eingeklagten Delikte inzwischen verjährt seien. Gegen diese Verfügung reichten wir beim Kantonsgericht Waadt eine Beschwerde ein. Wir versuchten darin darzulegen, dass es Pflicht einer Staatsanwaltschaft ist, angezeigte Delikte zu verfolgen und nicht einfach zu warten, bis allenfalls das Delikt verjährt ist. Zudem wiesen wir darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft bei der Klage gegen die Nestlé AG von einem falschen Verständnis der Verjährungsfrist ausging, da ein Organisationsmangel in einem Unternehmen gar nicht verjähren kann solange der Mangel, wie im vorliegenden Fall nachgewiesen, weiterhin anhält. Das Kantonsgericht Waadt hat diese Klage vor kurzer Zeit abgewiesen und mehr oder weniger die Argumentation der Staatsanwaltschaft übernommen. Doch ein negatives Urteil allein ergibt noch keinen verlorenen Prozess. Gegen diesen Entscheid werden wir in den kommenden Tagen beim Bundesgericht Beschwerde einreichen.

Was waren die Beweggründe gegen Nestlé AG zu klagen?

Es gibt verschiedene Gründe gegen die Verantwortlichen bei Nestlé und gegen Nestlé AG als juristische Person eine Strafanzeige einzureichen. Der Fall von Luciano Romero bot sich speziell an, da die Unterlassungen der Nestlé-Verantwortlichen sehr gut und detailliert dokumentiert wurden. Zudem ist auf Folgendes hinzuweisen: Der kolumbianische Richter José Nirio Sanchez hat am 26. November 2007 die unmittelbaren Täter Contreras Puello und Ustariz Acuña – beide aus dem Kreise der Paramilitärs – wegen des Mordes an Romero mit Urteil des 2. Strafgerichts des Bezirks Bogotáu zu  Haftstrafen von bis zu vierzig Jahren verurteilt. Im selben Urteil fordert der Richter die kolum-bianische Staatsanwaltschaft auf, weitere Ermittlungen gegen die Auftraggeber der Mörder zu führen und dabei insbesondere auch die Rolle des Unternehmens Nestlé zu untersuchen. Im Urteil lesen wir dazu: «Es wird angeordnet, beglaubigte Kopien zur Verifizierung der Direktoren der Nestlé-Cicolac zu beschaffen zu dem Zweck, ihre mutmassliche Beteiligung oder Bestimmung der Tötung des Gewerkschaftsführers Luciano Enrique Romero Molina zu untersuchen.»Entgegen dieser klaren Anweisung an die kolumbianische Staatsanwaltschaft sind jedoch seitdem keine entsprechenden Untersuchungen eingeleitet worden. Stattdessen wurde der Richter entlassen. In Kolumbien ist zurzeit offensichtlich eine Strafuntersuchung gegen die Verantwortlichen der Nestlé AG aus politischen Gründen nicht möglich. Dies spiegelt den Zustand andauernder Straflosigkeit von schweren Menschenrechtsver-letzungen in Kolumbien wieder, der von in- und ausländischen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen seit vielen Jahren und bis heute scharf kritisiert wird.

Was sind die Hintergründe der Tat?

Am Nestlé-Standort Valledupar, wo Luciano Romero arbeitete, standen hartnäckige Auseinandersetzungen um eine Kollektivvereinbarung und um Entlassungen von ArbeiterInnen im Vordergrund der Gewerkschaftsarbeit. Diese Auseinandersetzungen gehen einher mit einem Klima der Existenzbedrohung für die Gewerkschaft. Bereits wenige Jahre nach der Gründung der Gewerkschaft «Sinaltrainal» begann eine Serie von Gewalttaten gegen Gewerkschaftsmitglieder in den Nestlé-Fabriken in Valledupar, Bugalagrande und Dosquebradas. Seit 1986 wurden 15 bei Nestlé beschäftigte ArbeiterInnen und Gewerkschaftsmitglieder getötet, zwei überlebten Attentate, fünf weitere mussten ins Exil oder sind innerhalb Kolumbiens vertrieben worden. In keinem dieser Fälle – mit Ausnahme von der Ermordung Luciano Romeros – sind die strafrechtlich Verantwortlichen ermittelt und verurteilt worden. In keinem Fall wurde die Rolle Nestlés ermittelt. Die Tätigkeit der Nestlé in Kolumbien und am Standort Valledupar kann zudem nicht isoliert vom Kontext des bewaffneten Konfliktes in der Region betrachtet werden. Denn die Region Cesar, die sich Nestlé für ihre Ansiedlungen ausgesucht hat, gehört zu den konfliktreichsten Regionen Kolumbiens. Landeigentum ist auf einige wenige GrossgrundbesitzerInnen und ViehzüchterInnen – darunter auch Milchlieferanten für Nestlé – konzentriert. Dies hat zu grossen sozialen Ungleichheiten und Konflikten geführt. Die paramilitärischen Gruppen finanzieren sich in dieser Region durch illegale Geschäfte, illegale Steuern und Schutzgelder, die sie bei den Unternehmern der Region eintreiben. Darüber hinaus sind zahlreiche paramilitärische Führungsfiguren gleichzeitig auch Mitglieder der wirtschaftlichen und politischen Elite des Landes. Daher gibt es traditionell enge Verbindungen zwischen GrossgrundbesitzerInnen und Paramilitärs. Auch im Department Cesar gehörten mehrere Führungsmitglieder der Paramilitärs zu den Geschäftspartnern von Nestlé-Cicolac. Der Paramilitarismus in Kolumbien ist aber nicht nur mit der Privatwirtschaft verflochten, sondern arbeitet auch mit staatlichen Institutionen, insbesondere den Sicherheitskräften und dem Geheimdienst «Departamento Administrativo de Seguridad» (DAS), systematisch zusammen. Ehemalige leitende Angestellte der Nestlé-Cicolac sind zudem heute in der kolumbianischen Regierung tätig.

Welche Schwierigkeiten trefft ihr an? 

Wir waren uns immer bewusst, dass es nicht einfach sein wird, die Verantwortlichen der Nestlé AG strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Dass die Staatsanwaltschaften jedoch nicht einmal eine Strafuntersuchung anordneten, keine einzige Untersuchungshandlung tätigten, obwohl die Straftaten damals selbst nach Ansicht der Staatsanwaltschaften nicht verjährt waren, überrascht gleichwohl. Offensichtlich soll eine strafrechtliche Aufarbeitung mit einer scheinheiligen Argumentation unter allen Umständen verhindert werden. Obwohl wir die juristische Situation in der Schweiz nicht mit derjenigen in Kolumbien vergleichen können, ist in diesem Fall die Schweiz den Beweis bis heute schuldig geblieben, dass es nicht auch hier eine «impunidat» (Straffreiheit) für Nestlé gibt.

Wie muss man sich den juristischen Widerstand von Nestlé vorstellen? Sitzen dir da jeweils die drei bestbezahlten Topanwälte der Welt gegenüber?

Nestlé musste seine Anwälte bisher gar nicht ins Spiel bringen, da die Staatsanwaltschaft gar keine Strafuntersuchung eröffnete und keine Untersuchungshandlungen tätigte. So sahen wir einzelne Vertreter der Anwaltschaft bisher leider erst als schweigsame, aber doch als aufmerksame «incognito-Zuhörer» bei unseren diversen Veranstaltungen in der Schweiz.

Viele werden sich sagen: Gegen Néstle zu klagen, bringt nichts. Die sind zu mächtig!

Wir arbeiten eng mit der kolumbianischen Gewerkschaft «Sinaltrainal» zusammen, für die auch Luciano Romero tätig war. Seit Jahren versucht diese Gewerkschaft fundamentale Rechte der Ar-bei-terIn-nen durchzusetzen. Mit der umfangreichen und detailgenauen Strafanzeige ist es uns gelungen, in einer umfangreichen Strafanzeige die strafrechtliche Verantwortung von einzelnen Nestlé-MitarbeiterInnen aufzuzeigen. Dabei betraten wir auch bewusst strafrechtliches Neuland, indem wir neben den natürlichen Personen auch die Nestlé AG selbst direkt wegen Organisationsmangels einklagten. Zweifellos ist das Strafrecht nicht die einzige Möglichkeit gegen Verbrechen von Multis anzugehen. So sind zum Bespiel in Kolumbien Gewerkschafter in einen -Hungerstreik getreten. Wir sind jedoch ebenfalls der Ansicht, dass die Forderung aufrecht erhalten bleiben muss, dass das Strafrecht auch gegen Verantwortliche von multinationalen Konzernen durchgesetzt werden muss.

Schweizer Imperialismus

tell_chWir Eidgenossen sind reich und mächtig: Die 15 umsatzgrössten Unternehmen in der Schweiz haben im 2010 einen Umsatz von 680’873 Milliarden oder 680 Billionen und 873 Milliarden oder 680’873’000’000’000 Franken erzielt. Im Verhältnis dazu hat die Eidgenossenschaft im selben Jahr läppische 191’916 Milliarden Franken eingenommen – nicht mal ein Drittel der Einnahmen der «Big 15». Die Top 5, das sind der Reihe nach Glencore  (145’000 Mil.), Nestlé (109’722) Trafigura (79’200), Novartis (52’682) und Roche (47’473) erzielten einen Umsatz von 434’077 Milliarden,  64,19 Prozent des Totalumsatz der 15 grössten Unternehmen der Schweiz! Und: Für die «Big 15» arbeiten fast eine Million Menschen verteilt auf der ganzen Welt. Noch Fragen zur Frage, wer die Welt mitregiert?

Wir Eidgenossen sind aber auch ein gebildetes Volk. Wir wissen daher, dass unser Reichtum und Überfluss darauf basiert, dass viele andere bitter arm sind und gar nichts haben. Im Kapitalismus ist es wie im Spielkasino: Wenige gewinnen, weil viele  verlieren und der ganz grosse Profit macht der Besitzer der Spielstätte. Natürlich gehören wir in unserem schönen, fetten Land mitten in Europa zu den «Winners». Die «Loosers» kennen wir auch: Laut der Vereinten Nationen (WFP) leiden rund 870 Millionen Menschen weltweit an Hunger, etwa jeder achte (12 Prozent). Jedes Jahr sterben etwa 8,8 Millionen Menschen an Hunger, was einem Todesfall alle drei Sekunden(!) entspricht. Eins … zwei … gestorben; Eins … zwei … gestorben. Während wir am Stück des weihnachtlichen Bratens kauen, um ihn besser zu verdauen, stirbt ein Mensch an Hunger. Eins … zwei … gestorben; Eins … zwei … gestorben. Häufig sind Kinder betroffen, jedes vierte ist in Ent-wicklungsländern untergewichtig. Wir wissen es, verdrängen es aber gerne gerade vor Weihnachten, um die bevorstehenden Fress-orgien überhaupt überleben zu können.

Wir wissen es: Die Schweizer Multis sitzen an der Schaltzentrale, sie sind wesentlicher Teil des Gehirns des kapitalistischen Monsters, der unglaubliche, mörderische Missstände auf dieser Welt produziert. Spätestens an dieser Stelle sollten wir Eidgenossen aber auch ein Problem haben?: Wir können nicht behaupten, von nichts gewusst zu haben. Wer in der Nähe von  Zürich, Basel, Vevey, Baar oder Rapperswil-Jona wohnt, also praktisch alle Eidgenossen, der hat die Hauptquartiere der Schweizer Multis, der  Mitverantwortlichen für die vielen Schandtaten auf der Welt als Nachbar. Wir wohnen Tür an Tür mit ihnen und niemand kann daher behaupten, sie nicht gesehen zu haben. Wenn wir sie nicht sehen, dann nur weil wir sie nicht sehen wollen, weil wir lieber wegschauen, weil es bequemer und einfacher ist.

Was kann ich dagegen tun? Sorry, das ist aber nicht die Frage. Wenn unser Nachbar ein Mörder und Halunke ist, dann ist die Frage  nicht «Was kann ich dagegen tun?» sondern ganz einfach?:  «Will ich was dagegen tun?»  Wenn wir uns diese Frage mit Ja beantworten, dann finden sich die verschiedensten Formen und Möglichkeiten, sich aktiv für mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt zu engagieren – ja, auch hier bei uns in der Eidgenossenschaft! Vielleicht finden wir zwischen den bevorstehenden Fressorgien zwei Minuten Zeit, um uns die Frage zu stellen, ob wir gegen die Ursachen der perversen Ungerechtigkeit auf dieser Welt was tun wollen. In diesem Sinne frohe Festtage liebe Eidgenossen – und denkt daran: Eins … zwei … gestorben!

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Die «grossen Industriellen»

HolcimVor einem Jahr feierte Holcim, das Schweizer Zementunternehmen von Thomas Schmidheiny, sein 100. Jubiläum. In der Schweiz zählt die Familie Schmidheiny zu den vorbildlichsten Industriellen. Doch ob in Indien, Südafrika, Italien oder in der Schweiz: Das Imperium produziert seit jeher Elend und Tod. Ein Blick hinter die Kulisse der Schmidheiny-Dynastie.

Zum 100. Jubiläum von Holcim zögerten die Medien nicht, den grössten Einzelaktionär des Zementunternehmens, Thomas Schmidheiny, als «grossen Industriellen» zu feiern. Durch seine Aktivitäten habe er die «schweizerischen Traditionen und Werte» über Holcim weltweit verbreitet.

Seit 2005 besitzt Holcim die Mehrheit zweier grosser Zementhersteller in Indien (ACC und Ambuja Cement). Nach China ist Indien der zweitgrösste Zementproduzent weltweit. Der Sektor kennt seit einigen Jahren ein jährliches Wachstum von über elf Prozent. Indien stellt also eines der wichtigsten Investitionsfelder des globalen Kapitals dar – und somit auch des schweizerischen Kapitals.

Die lokale Gewerkschaft «Pragapisheel Cement Shramik Sangh» (PCSS) klagt seit mehreren Jahren diese zwei Unternehmen an, weil sie über die Anstellung von befristeten TemporärarbeiterInnen die indischen Mindeststandards unterschreiten: Bezahlung unter dem Mindestlohn, Zwang zur Ausführung der gefährlichsten Tätigkeiten, ständige Drohungen entlassen zu werden. Über 80 Prozent der Beschäftigten arbeiten heute unter solchen ausbeuterischen Bedingungen.

Darüber hinaus werden ganze Bevölkerungsgruppen – vor allem Kleinbäuerinnen und -bauern – aus gewissen Regionen vertrieben (zum Beispiel aus dem zentralindischen Staat Chhattisgarh), weil vermehrt natürliche Ressourcen für den Bergbau entdeckt werden. In den nächsten Jahren soll die Zementproduktion in dieser Region von 13,5 auf 100 Millionen Tonnen jährlich steigen. Dafür werden weitere Produktionszentren aufgebaut .?.?.? und weitere Kleinbäuerinnen und -bauern vertrieben. Holcim rechtfertigt solche Arbeits- und Lohnbedingunen damit, dass die Übernahme der indischen Firmen auch die Übernahme von «Traditionen» und «Gewohnheiten» bedeute. Holcim könne diese nicht von einem Tag auf den anderen ändern.

Die Tradition des Kapitals – ob «schweizerischer» oder «indischer» Herkunft – bedeutet schlicht Ausbeutung. Diese löst aber auch immer Widerstand aus. Einerseits von den Kleinbauerinnen- und Kleinbaur, die Holcim direkt verurteilen, sie für die verlorenen landwirtschaftlichen Gebiete nicht entschädigt zu haben, andererseits durch die ArbeiterInnen der Zementfabriken selbst, welche über die Weitergabe von Aufträgen an Subunternehmen und TemporärarbeiterInnen einem immensen Arbeitsdruck ausgesetzt sind. Arbeitsunfälle und Tod am Arbeitsplatz gehören zum Alltag der indischen ArbeiterInnen.

Das Asbestimperium der Schmidheinys

Hinter Thomas Schmidheiny und der Holcim AG steht eine der einflussreichsten Unternehmerdynastien der Schweiz. Die rheintaler Familie Schmidheiny bereicherte sich über das Geschäft mit dem hochgiftigen Asbeststaub. Letztes Jahr kam es in Italien zu einem Schuldspruch gegen Stephan Schmidheiny. Der Bruder von Thomas (Holcim) wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt. Er ist mitschuldig, in Italien eine Umweltkatastrophe verursacht und Sicherheitsmassnahmen in den italienischen Eternit-Fabriken absichtlich unterlassen zu haben. Bis heute starben allein in Italien über 3000 Menschen an asbestverursachten Krankheiten. Der Reichtum der Schmidheinys scheint seit jeher auf dem Tod von ArbeiterInnen weltweit zu basieren.

Die Geschichte begann 1920 in Glarus, als Ernst Schmidheiny, Urgrossvater von Thomas und Stephan, Anteile der Eternit-Fabrikationsanlage in Niederurnen aufkaufte. In der Schweiz sind bisher 700 Todesopfer bekannt und weitere werden erwartet. Auch die Asbestopfer von Niederurnen reichten gegen die Schmidheinys eine Strafanzeige ein. Das Bundesgericht entschied jedoch im 2003, das Verfahren aufgrund von Verjährung einzustellen. Es wurde lediglich eine Stiftung mit läppischen 1,25 Millionen Franken Stiftungskapital für Asbestopfer geschaffen.

Zur zweiten Generation der Schmidheinys gehören die jungen Erben Max und Ernst junior. Diese entwickelten intensive Geschäftsbeziehungen zu den Nazis und dem Apartheid-Regime in Südafrika. Während des Weltkrieges belegten sie Sitze im -Aufsichts-rat der «Deutschen Asbestzement AG» (DAZAG), die damals massenhaft ZwangsarbeiterInnen ausbeutete. 1941 expandierten die Schmidheinys auch nach Südafrika, wo sie in enger Zusammenarbeit mit dem Apartheid-Regime das Asbestgeschäft zum Florieren brachten. In den südafrikanischen Asbestmienen der Schmidheinys «spotteten die gesundheitlichen und arbeitshygienischen Umstände bis Anfang der achtziger Jahre jeglicher Beschreibung. (…) Arbeiter, die ohne Schutzvorkehrungen knöcheltief im Asbest wateten; offene, vom Wind verwehte Schutthalden, Berge von Produktionsrückständen in unmittelbarer Nachbarschaft von menschlichen Behausungen und Wasserstellen» (Bilanz 2003). 2002 sollte es auch in Südafrika zu -einer Sammelklage kommen, doch der spätere Bundesrat Hans-Rudolf Merz entschärfte die Situation zugunsten der Schmidheinys. Merz ersetzte seinen Busenfreund Stephan Schmidheiny als VR-Präsident der Anova, welche die Auslandinteressen der Schmidheinys vertrat. Zur Kollaboration mit dem Apartheid-Regime behauptete Merz: «Damals war die Apartheid in der Schweiz kein Thema und niemand hat sie verurteilt. (…) Es gab auch viele Leute, die die Apartheid unter dem Aspekt der Erziehung sahen und nicht der Rasse» (Tagesanzeiger, 8. November 2002). Auf dem Höhepunkt des Eternit-Booms beschäftigten die Schmidheinys weltweit über zehntausend MitarbeiterInnen. Obwohl spätestens seit den frühen Siebzigerjahren wissenschaftlich belegt wurde, dass das Einatmen von Asbeststaub zu Krankheit und Tod führen kann, setzten die Schmidheinys ihre ArbeiterInnen noch lange Jahre dem Risiko aus. Da die Krankheit bis zu 30 Jahre nach dem Kontakt mit Asbest ausbrechen kann, werden zu den tausenden Toten noch viele weitere dazu kommen. So viel zu «schweizerische Traditionen und Werte», die Schmidheiny weltweit verbreitet hat.

Die Sparwut der Kantone

providence_streikIn den Kantonen wird gespart. Am Beispiel des Kantons Bern lässt sich gut zeigen, dass die Leidtragenden davon vorwiegend junge, alte, behinderte, kranke oder sozialhilfebeziehende Menschen sind. Dennoch ist die Bereitschaft zum Widerstand gering. Im Berner Parlament liegen -höchstens ein paar kosmetische Änderungen drin.

Aus der Printausgabe vom 20. Dezember 2014. Unterstütze uns mit einem Abo.

Insgesamt 16 Kantone erwägen für 2014 Sparpakete oder haben diese schon beschlossen. Im Kanton Bern geht es um 491 Millionen Franken, im Kanton Luzern um 220 Millionen, im Kanton Freiburg um 415 Millionen und im Kanton Aargau um weitere 120 Millionen. Als Begründung für die Defizite kommen neben der wirtschaftlichen Lage auch immer wieder die Steuersenkungen. Die Kantone hatten sich in einem Konkurrenzkampf um Hochverdienende ständig mit Steuererleichterungen übertrumpft. Das Ergebnis dieser «Standortvorteile» sind grosse Löcher in den Staatskassen, welche nun nicht etwa mit Steuererhöhungen, sondern vorwiegend mit Sparpaketen gestopft werden sollen.

All diese Sparpakete haben eins gemeinsam: Betroffen sind Staatspersonal, Bildungs- und Sozialbereiche, vor allem Spitäler und Krankenkassenprämienverbilligungen. Die Ausgaben für die Sicherheit werden jedoch kaum angetastet. Dies mag mit ein Grund sein, warum die Bürgerlichen die Sparpakete meist kritiklos durchwinken. Letztlich wird die Sparwut der Kantone von den weniger Privilegierten bezahlt.

Im Kanton Luzern sind unter anderem Schulen und Spitäler betroffen. Dabei wird auch eine Woche Zwangsferien für Schulen und Gymnasien ins Auge gefasst, während der Berufsschüler gerne in ihrem Betrieb arbeiten können. Im Kanton Aargau könnte eine Massnahme die Streichung der Einschulungsklassen sein. Diese unterstützen Kinder, welche zu weit entwickelt für den Kindergarten sind, andererseits den Lernanforderungen der regulären Schule noch nicht gewachsen sind. Der Kanton Bern, wo die Kürzungen vorwiegend den «Service Public» treffen, bietet ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Kürzungen konkret auswirken.

Zu den direkten Leidtragenden zählen auch hier in erster Linie junge, alte, behinderte, kranke oder sozialhilfebeziehende Menschen, denn die Kürzungen treffen hauptsächlich Dienstleistungen, auf die sie angewiesen sind. Dies kommt einer Herabsetzung ihre Existenz gleich. In der Gesundheits- und Fürsorgedirektion fallen in den kommenden drei Jahren 108,3 Millionen Franken und in der Erziehungsdirektion 54,35 Millionen Franken weg. Die dramatische Tragweite einer Annahme des Sparprogramms realisieren allmählich auch die Verbände. Der Spitex-Verband rechnet beispielsweise vor, dass er rund 16 000 Menschen nicht mehr betreuen könnte. Der Verband der Berner Pflege- und Betreuungszentren (VBB) warnt vor dem «Schreckgespenst Mehrbettzimmer», das in Altersheimen zum Alltag würde.

Heftig trifft das Sparpaket auch das Berner Staatspersonal. Durch das Einfrieren des Lohnsummenwachstums soll jeder vierte Franken eingespart werden. Zusätzlich werden über 600 Arbeitsstellen gestrichen. Doch die Zahl der betroffenen Menschen übersteigt diejenige des Staatspersonals und der Menschen, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind, bei weitem. Laut Karl Marx entspricht der Lohn im Schnitt dem Wert der Arbeitszeit, die es braucht, damit sich eine Arbeitskraft physisch und psychisch erneuern kann. Das Reproduktionsniveau ist nicht immer und überall gleich. In Ländern wie der Schweiz beinhaltet der Lohn zum Beispiel nicht nur eine ausbezahlte Menge Geld, sondern auch einen «Soziallohn». Damit gemeint sind die Dienstleistungen, die den Lohnabhängigen kostenlos oder gegen einen symbolischen Betrag zur Verfügung stehen und zur sozialen Reproduktion beitragen. Dazu gehören zum Beispiel Bildung, Pflege, Betreuung oder Wohlfahrt. Dass der Regierungsrat das Sparmesser genau hier ansetzen will, kommt daher einem Angriff auf alle Lohnabhängigen gleich.

Angriff auf die Frauen

Die Reduktion des Soziallohnes intensiviert und erneuert zudem sexistische Ausbeutungsverhältnisse. Erstens treffen die Lohnkürzungen und der Stellenabbau vorwiegend weibliches Staatspersonal, welches in den betroffenen Bereichen die Mehrheit der Beschäftigten stellt. Da die Bedürfnisse nach Bildung, Pflege, Betreuung oder Unterstützung mit dem sozialen Kahlschlag nicht verschwinden, verlagert sich zweitens ein Teil der reproduktiven Arbeit vermutlich zurück in die Haushalte. Dort sind es nach wie vor vorwiegend Frauen, die in Tausenden von unbezahlten Arbeitsstunden die Lücken des abgemagerten Sozialstaates kompensieren. Drittens entsteht durch den Rückzug des Staates auch ein wachsender Markt für private AnbieterInnen sozialer Dienstleistungen. Im sogenannten Care-Sektor werden Pflege-, Erziehungs- oder Betreuungsaufgaben nach kapitalistischen Prinzipien organisiert. Reproduktive Tätigkeiten lassen sich allerdings nicht einfach rationalisieren, wie Arbeitsabläufe in einer Fabrik. Reproduktionsarbeit braucht Zeit und lässt keine hohe Wertschöpfung zu. Deshalb sind im Care-Sektor Gewinne nur möglich, wenn die Löhne tief und die Arbeitsverhältnisse prekär gehalten werden. Auch hier trifft es hauptsächlich Frauen, derzeit zunehmend Migrantinnen mit unstabilen Aufenthaltsbewilligungen.

Obwohl im März über 20 000 Angestellte gegen die Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lohnbedingungen auf die Strasse gingen, sieht es derzeit nicht danach aus, als ob das Berner Sparpaket auf Widerstand stossen wird. Die bürgerliche Mehrheit im Parlament weiss, was sie zu gewinnen hat und wird das Sparpaket verteidigen oder sogar ausbauen. Die parlamentarische Linke scheint sich bisher auf kosmetische Änderungsvorschläge beschränken zu wollen. Zusammen mit den etablierten Gewerkschaften, den Personalverbänden und den Betroffenenorganisationen geht es ihr höchstens «um eine faire Umsetzung» der Sparmassnahmen. Die neoliberale Denkweise durchdringt die so genannten RepräsentantInnen der Lohnabhängigen dermassen, dass sie vor einer grundsätzlichen Absage zum Angriff von oben zurückschrecken. Die Frage ist, ob wir das auch tun.

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