«Die Schweiz ist bis heute den Beweis schuldig geblieben»

11 nestleAm 11. September 2005 wird der kolumbianische Gewerkschaftsaktivist Luciano Romero ermordet. Sieben Jahre -später, am 5. März 2012, hat das «European Center for Constitutional and Human Rights» (ECCHR) zusammen mit der kolumbianischen Gewerkschaft «Sinaltrainal» bei der Staatsanwaltschaft Zug Strafanzeige gegen Nestlé und fünf ihrer Führungsmitglieder eingereicht. Der vorwärts sprach mit Rechtsanwalt Marcel Bosonnet, der in diesem Fall die Witwe des ermordeten Romero vertritt. 

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Marcel, wie ist der aktuelle Stand der Dinge?

Vor dem Mord an Luciano Romero gab es gefährdende Diffamierungen gegen ihn, die von den lokalen Nestlé-VertreterInnen in Kolumbien ausgingen. Den führenden Mitgliedern von Nestlé wird daher vorgeworfen, nichts zur Unterbindung oder zur -Entschärfung der Drohungen unternommen zu haben. Die Beschuldigten waren unter anderem aufgrund von Schutzübernahmeerklärungen verpflichtet, für die Sicherheit von Luciano Romero zu garantieren. Sollte die strafrechtliche Verantwortung einzelner Unternehmensangehöriger aufgrund mangelnder interner Organisation, Überwachung und Dokumentation innerhalb des Unternehmens nicht nachweisbar sein, so kommt der nach dem Gesetz nachrangige Strafanspruch gegen das Unternehmen selbst gemäss Art. 102 Abs. 1 StGB zum Tragen. Denn die mangelnde individuelle Zurechenbarkeit der strafrechtlichen Verantwortung deutet auf schwere Organisationsmängel innerhalb des Unternehmens hin. Aus diesen Gründen haben wir entschieden, gegen die fünf Führungsmitglieder und gegen Nestlé AG als juristische Person Strafanzeige einzureichen. Nach mehr als einem Jahr, in dem die Staatsanwaltschaft in Zug und dann in Renens keine einzige Untersuchungshandlung vornahmen, verfügte die Staatsanwaltschaft Renens am 1. Mai 2013 – das Datum wurde wohl kaum zufällig gewählt –, eine Nichtanhandnahme der Strafuntersuchung, da beide eingeklagten Delikte inzwischen verjährt seien. Gegen diese Verfügung reichten wir beim Kantonsgericht Waadt eine Beschwerde ein. Wir versuchten darin darzulegen, dass es Pflicht einer Staatsanwaltschaft ist, angezeigte Delikte zu verfolgen und nicht einfach zu warten, bis allenfalls das Delikt verjährt ist. Zudem wiesen wir darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft bei der Klage gegen die Nestlé AG von einem falschen Verständnis der Verjährungsfrist ausging, da ein Organisationsmangel in einem Unternehmen gar nicht verjähren kann solange der Mangel, wie im vorliegenden Fall nachgewiesen, weiterhin anhält. Das Kantonsgericht Waadt hat diese Klage vor kurzer Zeit abgewiesen und mehr oder weniger die Argumentation der Staatsanwaltschaft übernommen. Doch ein negatives Urteil allein ergibt noch keinen verlorenen Prozess. Gegen diesen Entscheid werden wir in den kommenden Tagen beim Bundesgericht Beschwerde einreichen.

Was waren die Beweggründe gegen Nestlé AG zu klagen?

Es gibt verschiedene Gründe gegen die Verantwortlichen bei Nestlé und gegen Nestlé AG als juristische Person eine Strafanzeige einzureichen. Der Fall von Luciano Romero bot sich speziell an, da die Unterlassungen der Nestlé-Verantwortlichen sehr gut und detailliert dokumentiert wurden. Zudem ist auf Folgendes hinzuweisen: Der kolumbianische Richter José Nirio Sanchez hat am 26. November 2007 die unmittelbaren Täter Contreras Puello und Ustariz Acuña – beide aus dem Kreise der Paramilitärs – wegen des Mordes an Romero mit Urteil des 2. Strafgerichts des Bezirks Bogotáu zu  Haftstrafen von bis zu vierzig Jahren verurteilt. Im selben Urteil fordert der Richter die kolum-bianische Staatsanwaltschaft auf, weitere Ermittlungen gegen die Auftraggeber der Mörder zu führen und dabei insbesondere auch die Rolle des Unternehmens Nestlé zu untersuchen. Im Urteil lesen wir dazu: «Es wird angeordnet, beglaubigte Kopien zur Verifizierung der Direktoren der Nestlé-Cicolac zu beschaffen zu dem Zweck, ihre mutmassliche Beteiligung oder Bestimmung der Tötung des Gewerkschaftsführers Luciano Enrique Romero Molina zu untersuchen.»Entgegen dieser klaren Anweisung an die kolumbianische Staatsanwaltschaft sind jedoch seitdem keine entsprechenden Untersuchungen eingeleitet worden. Stattdessen wurde der Richter entlassen. In Kolumbien ist zurzeit offensichtlich eine Strafuntersuchung gegen die Verantwortlichen der Nestlé AG aus politischen Gründen nicht möglich. Dies spiegelt den Zustand andauernder Straflosigkeit von schweren Menschenrechtsver-letzungen in Kolumbien wieder, der von in- und ausländischen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen seit vielen Jahren und bis heute scharf kritisiert wird.

Was sind die Hintergründe der Tat?

Am Nestlé-Standort Valledupar, wo Luciano Romero arbeitete, standen hartnäckige Auseinandersetzungen um eine Kollektivvereinbarung und um Entlassungen von ArbeiterInnen im Vordergrund der Gewerkschaftsarbeit. Diese Auseinandersetzungen gehen einher mit einem Klima der Existenzbedrohung für die Gewerkschaft. Bereits wenige Jahre nach der Gründung der Gewerkschaft «Sinaltrainal» begann eine Serie von Gewalttaten gegen Gewerkschaftsmitglieder in den Nestlé-Fabriken in Valledupar, Bugalagrande und Dosquebradas. Seit 1986 wurden 15 bei Nestlé beschäftigte ArbeiterInnen und Gewerkschaftsmitglieder getötet, zwei überlebten Attentate, fünf weitere mussten ins Exil oder sind innerhalb Kolumbiens vertrieben worden. In keinem dieser Fälle – mit Ausnahme von der Ermordung Luciano Romeros – sind die strafrechtlich Verantwortlichen ermittelt und verurteilt worden. In keinem Fall wurde die Rolle Nestlés ermittelt. Die Tätigkeit der Nestlé in Kolumbien und am Standort Valledupar kann zudem nicht isoliert vom Kontext des bewaffneten Konfliktes in der Region betrachtet werden. Denn die Region Cesar, die sich Nestlé für ihre Ansiedlungen ausgesucht hat, gehört zu den konfliktreichsten Regionen Kolumbiens. Landeigentum ist auf einige wenige GrossgrundbesitzerInnen und ViehzüchterInnen – darunter auch Milchlieferanten für Nestlé – konzentriert. Dies hat zu grossen sozialen Ungleichheiten und Konflikten geführt. Die paramilitärischen Gruppen finanzieren sich in dieser Region durch illegale Geschäfte, illegale Steuern und Schutzgelder, die sie bei den Unternehmern der Region eintreiben. Darüber hinaus sind zahlreiche paramilitärische Führungsfiguren gleichzeitig auch Mitglieder der wirtschaftlichen und politischen Elite des Landes. Daher gibt es traditionell enge Verbindungen zwischen GrossgrundbesitzerInnen und Paramilitärs. Auch im Department Cesar gehörten mehrere Führungsmitglieder der Paramilitärs zu den Geschäftspartnern von Nestlé-Cicolac. Der Paramilitarismus in Kolumbien ist aber nicht nur mit der Privatwirtschaft verflochten, sondern arbeitet auch mit staatlichen Institutionen, insbesondere den Sicherheitskräften und dem Geheimdienst «Departamento Administrativo de Seguridad» (DAS), systematisch zusammen. Ehemalige leitende Angestellte der Nestlé-Cicolac sind zudem heute in der kolumbianischen Regierung tätig.

Welche Schwierigkeiten trefft ihr an? 

Wir waren uns immer bewusst, dass es nicht einfach sein wird, die Verantwortlichen der Nestlé AG strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Dass die Staatsanwaltschaften jedoch nicht einmal eine Strafuntersuchung anordneten, keine einzige Untersuchungshandlung tätigten, obwohl die Straftaten damals selbst nach Ansicht der Staatsanwaltschaften nicht verjährt waren, überrascht gleichwohl. Offensichtlich soll eine strafrechtliche Aufarbeitung mit einer scheinheiligen Argumentation unter allen Umständen verhindert werden. Obwohl wir die juristische Situation in der Schweiz nicht mit derjenigen in Kolumbien vergleichen können, ist in diesem Fall die Schweiz den Beweis bis heute schuldig geblieben, dass es nicht auch hier eine «impunidat» (Straffreiheit) für Nestlé gibt.

Wie muss man sich den juristischen Widerstand von Nestlé vorstellen? Sitzen dir da jeweils die drei bestbezahlten Topanwälte der Welt gegenüber?

Nestlé musste seine Anwälte bisher gar nicht ins Spiel bringen, da die Staatsanwaltschaft gar keine Strafuntersuchung eröffnete und keine Untersuchungshandlungen tätigte. So sahen wir einzelne Vertreter der Anwaltschaft bisher leider erst als schweigsame, aber doch als aufmerksame «incognito-Zuhörer» bei unseren diversen Veranstaltungen in der Schweiz.

Viele werden sich sagen: Gegen Néstle zu klagen, bringt nichts. Die sind zu mächtig!

Wir arbeiten eng mit der kolumbianischen Gewerkschaft «Sinaltrainal» zusammen, für die auch Luciano Romero tätig war. Seit Jahren versucht diese Gewerkschaft fundamentale Rechte der Ar-bei-terIn-nen durchzusetzen. Mit der umfangreichen und detailgenauen Strafanzeige ist es uns gelungen, in einer umfangreichen Strafanzeige die strafrechtliche Verantwortung von einzelnen Nestlé-MitarbeiterInnen aufzuzeigen. Dabei betraten wir auch bewusst strafrechtliches Neuland, indem wir neben den natürlichen Personen auch die Nestlé AG selbst direkt wegen Organisationsmangels einklagten. Zweifellos ist das Strafrecht nicht die einzige Möglichkeit gegen Verbrechen von Multis anzugehen. So sind zum Bespiel in Kolumbien Gewerkschafter in einen -Hungerstreik getreten. Wir sind jedoch ebenfalls der Ansicht, dass die Forderung aufrecht erhalten bleiben muss, dass das Strafrecht auch gegen Verantwortliche von multinationalen Konzernen durchgesetzt werden muss.

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