Dresden

Der folgende Artikel wurde von Ulrike Meinhof geschrieben und 1965 in der „konkret“ veröffentlicht.

Vor zwanzig Jahren, am 13. und 14. Februar 1945, in der Nacht von Fastnachtsdienstag auf Aschermittwoch, ist der größte Luftangriff der alliierten Bomberkommandos im Zweiten Weltkrieg auf eine deutsche Stadt geflogen worden: Der Angriff auf Dresden. Dreimal innerhalb von 14 Stunden wurde die Stadt bombardiert. Von 22 Uhr 13 bis 22 Uhr 21 dauerte der erste Schlag. Als die englischen Bomber abflogen, hinterließen sie ein Flammenmeer, das über 80 Kilometer weit den Himmel glühend machte. Der zweite Schlag erfolgte von 1 Uhr 30 bis 1 Uhr 50 . Die abfliegenden Bomber haben das Feuer von Dresden über 300 Kilometer weit beobachten können. Den dritten Angriff flog ein amerikanisches Bombergeschwader am nächsten Vormittag zwischen 12 Uhr 12 und 12 Uhr 23.

Über 200 000 Menschen sind in den Flammen von Dresden umgekommen. Der Engländer David Irving schreibt in seinem Buch „Der Untergang Dresdens“: „Zum ersten Male in der Geschichte des Krieges hatte ein Luftangriff ein Ziel so verheerend zerstört, daß es nicht genügend unverletzte Überlebende gab, um die Toten zu begraben.“

Dresden hatte 630 000 ständige Einwohner. Als es zerstört wurde, hielten sich über eine Million Menschen in dieser Stadt auf. Man schätzt 1,2 bis 1,4 Millionen. Flüchtlinge aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen, Evakuierte aus Berlin und aus dem Rheinland, Kindertransporte, Kriegsgefangene und Fremdarbeiter. Dresden war eine Sammelstelle für genesende und verwundete Soldaten. Dresden hatte keine Rüstungsindustrie. Dresden war eine unverteidigte Stadt ohne Flak und ohne Luftabwehr. (sic!) Dresden galt in ganz Deutschland als eine Stadt, die nicht bombardiert werden würde. Es gab Gerüchte, wie: Die Engländer würden Dresden schonen, wenn Oxford nicht angegriffen würde – oder: Die Alliierten würden Dresden nach dem Krieg zur deutschen Hauptstadt machen und deshalb nicht zerstören. Es gab noch mehr Gerüchte, aber vor allem konnte sich kein Mensch vorstellen, daß eine Stadt, die täglich neue Krankenhäuser und Lazarette einrichtete, in die täglich Hunderttausende von Flüchtlingen, hauptsächlich Frauen und Kinder, einströmten, bombardiert werden würde.

Militärisch interessant an Dresden war höchstens ein größerer Güter- und Truppenumschlagbahnhof. Aber in den drei Angriffen, als man zuerst Sprengbomben abwarf, um Fenster zum Platzen zu bringen und Dächer zum Einsturz, um Dachstühle und Wohnungen den folgenden Brandbomben um so schutzloser auszuliefern, als das alles planmäßig mit höchster Präzision ablief, da wurde dieser Bahnhof kaum getroffen. Als Tage darauf Berge von Toten in den Bahnhofshallen aufgeschichtet wurden, waren die Gleise schon wieder repariert. – Dresden hat sieben Tage und acht Nächte lang gebrannt.

Man hatte den englischen Soldaten, die die Angriffe geflogen haben, nicht die Wahrheit gesagt. Man hat gesagt: Ihre Flotte greift das Oberkommando des Heeres in Dresden an. Man hat gesagt, Dresden sei ein wichtiges Nachschubzentrum für die Ostfront. Man hat gesagt, das Angriffsziel sei ein Gestapo-Hauptquartier im Stadtzentrum, ein wichtiges Munitionswerk, ein großes Giftgaswerk. – Schon 1943 hatte es in der britischen Öffentlichkeit Proteste gegen die Bombardierung der deutschen Zivilbevölkerung gegeben. Der Bischof von Chichester, der Erzbischof von Canterbury, der Kirchenpräsident der Church of Scotland erhoben ihre Stimme. Ihnen aber ebennso wie einem Labourabgeordneten im englischen Unterhaus wurde gesagt, das sei nicht wahr, daß ein Befehl ergangen wäre, Wohngebiete statt Rüstungszentren zu zerstören. Es ist der englischen Regierung unter ihrem Premierminister Sir Winston Churchill bis zum Ende des Krieges, bis März 45, gelungen, den tatsächlichen, absichtlichen, planmäßigen Charakter der britischen Bomberangriffe auf deutsche Städte geheimzuhalten. Dresden war der Höhepunkt dieser Politik. Dresden ging in Schutt und Asche, zwei Jahre nachdem der Ausgang des Zweiten Weltkrieges in Stalingrad entschieden worden war. Als Dresden bombardiert wurde, standen die sowjetischen Truppen schon an der Oder und Neiße, lag die Westfront am Rhein. Der Oberbefehlshaber der Royal Air Force, Sir Arthur Harris, der den Einsatz gegen Dresden geleitet hatte, ging ein Jahr danach, am 13. Februar 1946, in Southhampton an Bord, um das Land zu verlassen, das nicht mehr bereit war, seine Verdienste zu würdigen. Als die deutsche Bevölkerung die Wahrheit über Auschwitz erfuhr, erfuhr die englische Öffentlichkeit die Wahrheit über Dresden. Den Tätern wurde der Ruhm versagt, der ihnen von den Regierenden versprochen worden war. Hier und dort.

In Dresden ist der Anti-Hitler-Krieg zu dem entartet, was man zu bekämpfen vorgab und wohl auch bekämpft hatte: Zu Barbarei und Unmenschlichkeit, für die es keine Rechtfertigung gibt.

Wenn es eines Beweises bedürfte, daß es den gerechten Krieg nicht gibt – Dresden wäre der Beweis. Wenn es eines Beweises bedürfte, daß der Verteidigungsfall zwangsläufig zu Aggression entartet – Dresden wäre der Beweis. Wenn es eines Beweises bedürfte, daß die Völker von den kriegführenden Regierungen selbst mißbraucht werden, selbst degradiert werden zu Vorwand und Opfer der angewandten Barbarei – Dresden wäre der Beweis. Daß an der Bahre Sir Winston Churchills das Stichwort Dresden nicht gefallen ist, legt den Verdacht nahe, Dresden sollte immer noch dem Volk angelastet werden, das doch selbst betrogen worden ist. Es ist der gleiche Takt, den die Bundesregierung praktiziert, wenn sie die Verjährungsfrist für in der NS-Zeit begangenen Mord nicht aufhebt. Wer die Täter nicht denunziert, denunziert aber die Völker.

Faschismus ist keine Meinung sondern ein Verbrechen!

Gemeinsame Erklärung Deutscher und Tschechischer Widerstandskämpfer gegen den Hitlerfaschismus zum geplanten Neonaziaufmarsch am 19. Februar 2011 in Dresden.

Mit grosser Sorge verfolgen wir das Wiedererstarken des Rechtsradikalismus und insbesondere des Neofaschismus in Deutschland. Es ist besorgniserregend, dass Neonazis offen und vielfältig ihre menschenverachtenden Ideen und Auffassungen unter dem Mantel der Demokratie zur Schau stellen können, während Antifaschisten, die sich diesem braunen Spuk in den Weg stellen, kriminalisiert werden. Dass dabei das Gedenken an die barbarischen Bombenangriffe vom 13. Februar 1945 auf Dresden missbraucht wird, macht uns besonders nachdenklich.
Dafür sind Millionen Kameraden nicht in den faschistischen Konzentrationslagern in den Tod gegangen, haben unzählige Widerstandskämpfer während der braunen Barbarei nicht Folter und Tortouren überstanden, ohne ihren Glauben an Demokratie und Menschlichkeit, an eine bessere Zukunft, ein friedliches Miteinander, zu verlieren!

Getreu dem Schwur unserer Kameraden von Buchenwald werden wir nicht eher ruhen, bis der Faschismus mit seinen Wurzeln ausgerottet und eine neue Welt des Friedens und der Freiheit errichtet ist.

Wir rufen deshalb alle Bürgerinnen und Bürger dazu auf, sich den Neonazis in Dresden entschlossen entgegen zu stellen. Verhindert mit allen demokratisch legitimierten Mitteln den Naziaufmarsch am 19. Februar 2011 durch Dresden! Dresden soll nazifrei werden! Protest ist das Gebot der Stunde.

Prof. Hans Lauter, Ehrenvorsitzender der VVN-BdA, Zuchthaus, Moorsoldat
And?la Dvo?áková, Präsidentin ?SBS
Frido Seydewitz, Ehrenvorsitzender des VVN-BdA Sachsen, Emigration, GULAG
Libuše Nachtmannová, Überlebende KZ Ravensbrück
Ruth Burse, Überlebende KZ Theresienstadt
Vojmir Srde?ny, Überlebender KZ Sachsenhausen
Justin Sonder, Überlebender KZ Auschwitz
Antonín Hnili?ka, Überlebender KZ Mauthausen

Der humanitäre Notstand der EU

Seit dem Sturz des tunesischen Regimes fliehen Tausende von Menschen auf die italienische Insel Lampedusa. Um dem Flüchtlingsstrom zu begegnen, forderte Italien die Hilfe der EU. Heute findet ein „Europäischer Polizeikongress“ statt, auf dem auch der Direktor der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Ilkka Laitinen, erwartet wird. Dabei sind die Fronten schon klar gezogen.

Die Vergangenheit: Ein Pakt zwischen Teufeln

In Zeiten, da die tunesische Diktatur unter Ben Ali noch bestand, schien für die EU alles gut. Italien hatte mit dem Regime ein Abkommen über die „Flüchtlingsabwehr“ geschlossen. Der Flüchtlingsstrom versiegte, denn die tunesische Regierung liess die Seewege mit Patrouilleschiffen bewachen und sagte zu, Flüchtlinge wieder ins eigene Land aufzunehmen. Da man mit Staaten wie Lybien und Ägypten ähnliche Verträge geschlossen hatte, war der Erfolg einschneidend: Innerhalb eines Jahres sank die Zahl der Flüchtlinge, die auf der italienischen Insel Lampedusa landeten, von 20.000 auf gut 400. Auch in dieser Hinsicht dienten die Diktaturen im arabischen Raum also zur Erhaltung von EU-Interessen.

Die Gegenwart: Vom „humanitären Notstand“

Nach dem Sturz der tunesischen Diktatur – nun wohl bitter bedauert vom EU-Personal – wurden die Verträge nicht weiter eingehalten. Man weigerte sich, Flüchtlinge ins eigene Land zurückzuführen und auch die Kontrolle der Fluchtwege wurde kaum mehr betrieben. So kamen, vom Mittwoch bis zum Sonntag letzter Woche, etwa 5.000 Flüchtlinge aus Tunesien in Italien an. Daraufhin erklärte Italien den „humanitären Notstand“. Dieser besteht in der Tat: Da man sich weigert, die Flüchtlinge ins Landesinnere zu lassen, sind die Notunterkünfte Lampedusas hoffnungslos überfüllt. So hat der Präfekt von Palermo, unter dessen Zuständigkeitsbereich Lampedusa gehört, „Sondervollmachten“ bekommen und der Zivilschutz wurde eingeschaltet. Damit nicht genug: Italien wollte sogar eigene Soldaten in Tunesien stationieren, um der Flüchtlinge Herr zu werden. Dieses Vorgehen wurde aber von Tunesien scharf zurückgewiesen.

Die Zukunft: Die Schotten dicht machen?

Inzwischen scheint die neue tunesische Regierung dem Druck nachgegeben zu haben. Gestern berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Tunesiens, dass bereits möglichst viele Fluchtwege blockiert worden seien. Darüber hinaus trifft sich heute in Berlin der EU-Polizeikongress. Auf diesem wird auch der Direktor von Frontex, der europäischen Grenzschutzagentur, erwartet. Vor dem Treffen zeichnen sich die Fronten bereits klar ab: Die bürgerlich-rechten Parteien, insbesondere die deutsche CDU/CSU pocht auf eine Ausweitung der Befugnisse von Frontex, damit Flüchtlingswellen schon auf dem Seeweg abgefangen werden können. Auch im Gespräch: Besonders „fahrlässige“ Staaten (will heissen: Staaten, die Flüchtlinge aufnehmen) sollen aus dem Schengen-Verbund ausgeschlossen werden. Dies fordert etwa der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl (CSU). Die Argumentation spricht eine deutliche Sprache: Es sei „nicht Aufgabe des Asylrechts, Wirtschaftsmigranten in die EU zu lassen“. Schon erstaunlich, wie man in der Rechten in jedem Menschen einen potentiellen Attentäter auf den eigenen Wohlstand sehen kann…

Mubaraks Ende

Nach einem chaotischen Tag trat der ägyptische Präsident Mubarak gestern von allen Ämtern zurück. Damit wurde die drängenste Forderung der Millionen Demonstranten erfüllt. An die Stelle Mubaraks tritt ein Militärrat, der die Regierungsgeschäfte übernehmen und den Übergang zu Neuwahlen regeln soll.

Der Tag, an dem Mubarak ging

Noch am Donnerstagabend  verkündete Mubarak, er selbst werde den Übergang zu einer neuen Regierung leiten. Daraufhin folgte ein Tag, an dem sich die Ereignisse überschlugen. Das Militär, das verkündet hatte, alle Forderungen des Volkes würden erfüllt, gab am Freitagmorgen bekannt, es würde Mubarak unterstützen. Während die Proteste weiter anhielten und sich Demonstranten auch vor Regierungsgebäuden und Medienanstalten sammelten, riegelte das Militär ganze Bezirke ab, teilweise sogar mit Stacheldraht. Dann kam die nächste grosse Nachricht des Tages: Mubarak verliess Kairo und wurde per Helikopter zum Badeort Sharm el Sheik ausgeflogen. Am Abend verkündete Vizepräsident Suleiman dann, dass Mubarak zurückgetreten sei und dass ein Militärrat die anstehende Übergangsphase zu freien Wahlen regeln werde.

Jubel im ganzen Land

Die Nachricht von Mubaraks Rücktritt löste flächendeckenden Jubel aus. Die 30 Sekunden, die Suleiman sprach um den Regierungswechsel zu verkünden, genügten, um ein ganzes Land in Euphorie zu versetzen. Nach 18 Tagen, die die Demonstrationen anhielten, wurde nun also die Hauptforderung der Menschen in Ägypten erfüllt. Der Rücktritt Mubaraks wurde als Zeichen gewertet, dem Willen des Volkes endlich zu entsprechen. Heute normalisierten sich die Zustände in Ägypten langsam: Zivilisten und Militär arbeiteten gemeinsam daran, die errichteten Barrikaden zu demontieren.

Hussein Tantawi neben Robert GatesDemokratie durch das Militär?

Nun liegt die weitere Gestaltung der Ereignisse in Ägypten beim Militär. Die Spitze des Militärrates, der jetzt Ägypten regiert, bildet Hussein Tantawi. Er ist Feldmarschall, Oberkommandierender der Streitkräfte und war Verteidigungsminister unter Mubarak. Angekündigt wurde die Aufhebung des Ausnahmezustandes und die Abhaltung freier Wahlen. Dabei erklärte ein Militärsprecher, dass „die Armee eine legitime zivile Regierung nicht auf Dauer ersetzen werde“.

Diese Entwicklung der Ereignisse ist schwer zu beurteilen. Einerseits kann der Rücktritt Mubaraks nur als Erfolg der Volksbewegung gewertet werden. Andererseits macht die Übergabe der Regierungsgewalt an einen Militärrat misstrauisch. Das Militär trat in der gesamten Zeit der Proteste als dritte Macht in Ägypten, neben Mubaraks Administration und den Demonstranten, auf. Es ist unklar, wessen Interessen nun vertreten werden. Die ägyptische Armee ist eine Wehrpflichtarmee; die meisten ihrer Angehörigen und niederen Offiziere haben durchaus Sympathie mit den Demonstranten bekundet. Die Generalität und oberste Leitung der Armee stellt jedoch eine eigene Klasse dar: Sie ist es, die durch das Regime Mubaraks profitierte und sowohl Macht wie auch Villen zu verteidigen hat. Dass sich derlei Privilegien am besten in der Diktatur sichern lassen, ist eine alte Binsenweisheit und es verwundert deshalb auch nicht, dass Hussein Tantawi zu den engen Vertrauten Mubaraks gerechnet wird. Ob das Militär seinen Ankündigungen nach freien Wahlen und Abgabe der eigenen Macht also Taten folgen lassen wird, ist mehr als unklar. Immerhin: Das ägyptische Volk hat seine Entschlossenheit im Kampf gegen Despoten glorreich bewiesen.

Ägypten: Revolution oder Militärputsch?

In seiner mit Spannung erwarteten Rede enttäuschte Präsident Mubarak gestern seine Bevölkerung: Er erklärte, dass er selbst den Übergang zu einer neuen Regierung leiten werde, dass er weiterhin im Amt bleibe. Damit schürt Mubarak den Zorn seines Volkes, welches seinen sofortigen Rücktritt erwartet hatte. Für den heutigen Tag sind sowohl Demonstrationen im ganzen Land wie auch eine Ansprache der Militärführung angekündigt.

Die Enttäuschung der Massen

Mit seiner Weigerung zurückzutreten, könnte Mubarak ungeahnte Entwicklungen in Gang gesetzt haben. Weitere Demonstrationen sind angekündigt und es werden bis zu 2 Millionen (!) Demonstranten im ganzen Land erwartet. Dabei wurde gestern eine Enttäuschung spürbar, die durchaus in Wut umschlagen könnte. Es mag Mubaraks letzte Chance gewesen sein, friedlich und sebstbestimmt sein Amt zu verlassen. Allein die Masse der Demonstranten gibt ihnen die Machtmittel in die Hand, die Herrschaft Mubaraks und seiner Schergen endgültig zu beenden. Ihre Forderungen nach einer neuen Verfassung, nach Mubaraks sofortigem Abtritt und Neuwahlen innerhalb von 60Tagen wurden bislang nicht erfüllt, wurden allenfalls verlacht. Vielleicht ist dies also der Tag, da die Massenproteste in eine wirkliche Revolution umschlagen.

Die unbestimmte Grösse: Das Militär

Neben Mubarak mit seiner Regierung und den Demonstranten gibt es noch eine dritte Macht in Ägypten: das Militär. Im Verlauf der letzten Tage wurde immer deutlicher, dass das ägyptische Militär einen Staat im Staat darstellt. Bislang war dies den Demonstranten von grossem Nutzen, denn stünde das Militär auf Mubaraks Seite, wären blutige Gefechte wahrscheinlich gewesen. Nun aber wird das Militär zu einer unbestimmten Grösse in Ägypten. Auch das Militär verfügt über Machtmittel in Form von Truppenstärke und Waffen und niemand weiss, wie es sich nun positionieren wird. Gestern verkündete ein Militärsprecher, dass „alle Forderungen des Volkes erfüllt werden“. Daraufhin hoffte man, dass Mubarak in seiner Ansprache seinen Rücktritt erklären werde. Nachdem dies nicht geschehen ist, hat das Militär ebenfalls eine Ansprache für diesen Morgen angesetzt.

Denkbar ist, dass das Militär Mubarak seines Amts enthebt. Also ein Militärputsch. In diesem Fall wäre eine Militärherrschaft zu befürchten. Denn eines ist auch klar: Das Militär hat ganz eigene Interessen, die sich kaum mit denen des Volkes decken dürften. Bei freien Wahlen, die unter Umständen die Muslimbrüder begünstigen würden, hätte das Militär einiges zu verlieren. Es ist also unwahrscheinlich, dass das Militär den demokratischen Prozess befördern wird. Damit befindet sich Ägypten in einer kritischen Lage: Revolution und Militärputsch erscheinen gleichsam wahrscheinlich, schliessen sich aber gegenseitig aus.

Und jetzt Algerien

Bei den Protesten gegen die hohen Lebensmittelpreise in Algerien wurden drei Menschen getötet und 826 weitere verletzt, 763 davon Polizisten. In Ägypten scheinen die letzten Stunden von Mubarak angebrochen zu sein.

„Im Schatten der Ereignisse in Ägypten spitzen sich in Algerien die Proteste gegen die Regierung weiter zu“, ist auf der Homepage der NZZ zu lesen. Zwei Tage vor einer von Regimegegnern geplanten Massendemonstration in der Hauptstadt Algier gab es erneut Berichte von Streiks, Selbstverbrennungen und Plünderungen in öffentlichen Einrichtungen. Mit Spannung wird in Algerien der für Samstag geplante Protestmarsch erwartet. Die Organisatoren wollen ihn trotz eines Demonstrationsverbotes starten lassen. Sie fordern einen demokratischen Wandel und ein sofortiges Ende der autoritären Herrschaft von Präsident Abdelaziz Bouteflika. Der 73-Jährige ist seit 1999 im Amt. Aus Angst um seine Macht hatte Bouteflika zuletzt bereits weitreichende Versprechungen gemacht und ein Ende des seit 19 Jahren geltenden Ausnahmezustands in Aussicht gestellt. Am Donnerstag machten Gerüchte die Runde, dass noch vor dem Protestmarsch am Samstag vier bislang verbotene Parteien zugelassen werden könnten.

Game over

Die Gerüchte über den Rücktritt Mubaraks zogen am Abend Zehntausende jubelnde Menschen auf den Tahrir-Platz in Kairo. Der für den Grossraum Kairo zuständige General Hassan al-Rueini hatte am Nachmittag vor den Demonstranten erklärt: «Alle eure Forderungen werden heute erfüllt.»

Kommentar: Zweierlei Freunde

Das ägyptische Volk demonstriert. Millionen sind auf der Strasse und fordern die Absetzung des Regimes und die Schaffung einer neuen, demokratischen Verfassung. Die einen Sprechen von Protest, die anderen von Revolution. Dabei geniesst das Volk derzeit zweierlei Freundschaften.

Die erste Freundschaft kommt von denen, die Macht haben. Es ist die Freundschaft der USA und Europas, die nun die Umsetzung des Volkswillens fordern und ihre Sympathie mit den Demonstranten kundgetan haben. Diese Freundschaft scheint dem ägyptischen Volk nützlich, denn sie kommt von einem starken Freund mit grossen Mitteln. Was aber ist der tiefe Kern dieser plötzlichen Solidarität? Es ist das Eigeninteresse der Herrschenden. Gezwungen von der öffentlichen Meinung und getrieben von den moralischen Standards, die man aufbaute um sie anderen vorzugaukeln, hat man sich mit dem ägyptischen Volk gemein gemacht. Man unterstützt es. Wir haben aber gesehen, dass dies nicht von Anfang an galt. Solange es noch wahrscheinlich schien, dass Mubarak und seine Schergen sich halten können, solange hielt man sich mit Kritik zurück. Unvergessen ist, dass es gerade die westlichen Staaten, gerade ihre Regierenden, gerade die sind, die sich jetzt Freunde des Volkes nennen, die über Jahrzehnte gute Geschäfte mit der Diktatur in Kairo gemacht haben. Wenn sie sich nun mit dem Volk verbrüdern, dann, weil sie hoffen, auch mit dem zukünftigen Ägypten weiter paktieren zu können. Es ist nicht das Mitfühlen mit der Sache der Massen, sondern der drohende Verlust von Profiten, der die Regierungen des Westens umtreibt. Es ist keine Frage: Wenn Ägypten ein stabiles Land wäre, dann gäbe es diese Freundschaft nicht.

Die zweite Freundschaft ist kleiner in Masse und Wirkung. Ihr Nutzen offenbart sich erst auf den zweiten Blick und sie verbringt kaum grosse Taten. Es ist die Freundschaft der Linken, der Sozialisten und Kommunisten mit dem ägyptischen Volk. Dies sind die echten Freunde des Volkes; sie teilen die Bedürfnisse der Ägypter nach einem Ende der Despotie und sind bereit, in jeder Minute ihre Solidarität offen kundzugeben. Sie sind die Ehrlichen, Unbeirrbaren, Rationalen. Ihre Freundschaft mit dem Volk bestand vor den Demonstrationen, sie besteht nun und wird auch danach bestehen. Dabei ist es ganz gleich, welchen Ausgang die Proteste nehmen. Es sind die Linken, die das Zögern der Regierenden am schärfsten kritisieren, die sie zur Aktion mahnen, die ihnen ihre Doppelmoral vorwerfen. Darin liegt ihr Nutzen. Er ist begrenzt, aber er ist da. Auch dies ist keine Frage: Bestünde der Westen aus sozialistischen Ländern, man hätte – kein Zweifel! – die Demonstranten nach Kräften unterstützt.

Ägypten: USA fordern sofortige Reformen

Während die Massenproteste in Ägypten anhalten, fordern die USA die sofortige Umsetzung von Reformen. Man setzt hierbei auf den Dialog mit Omar Suleiman, der von Mubarak als Vizepräsident eingesetzt wurde. Dem steht die Drohung des ägyptischen Aussenministers gegenüber, der verlauten liess, dass die Streitkräfte intervenieren würden, sollte „Chaos“ ausbrechen.

Forderungen der USA…

US-Regierungssprecher Robert Gibbs gab am Mittwoch bekannt, dass die amerikanische Regierung mit den „Fortschritten“ in Ägypten unzufrieden ist. Er sprach darüber, dass die „Minimalforderungen des ägyptischen Volkes“ noch nicht erfüllt seien. Nun erhöht Amerika den Druck auf ägyptens Herrschaftsriege und fordert, dass „ein ordentlicher Übergang jetzt zu beginnen hat und ohne Verzögerungen unmittelbare und unumkehrbare Fortschritte hervorbringen muss“. Dabei setzt man offenbar auf Omar Suleiman, den Vizepräsidenten Ägyptens. Joe Biden (US-Vizepräsident) sprach am Mittwoch persönlich mit Suleiman, um ihm die Wünsche der USA mitzuteilen. Offenbar will man auf diese Weise die Zusammenarbeit mit Mubarak umgehen und seine Regierung spalten.

Dabei befinden sich die USA in einem Dilemma: Einerseits will man nicht die Sympathien Suleimans verlieren, andererseits ist man getrieben von den eigenen moralischen Ansprüchen und der öffentlichen Meinung. So kommt es auch, dass die USA einmal fordern, den „Dialog“ der Regierung mit der Opposition auf Zivilgruppen auszudehnen, die bislang nicht an den Gesprächen beteiligt waren, und dann sagen, man könne Ägypten keine Reformen diktieren. Entschieden hingegen ist man in der Frage des Militärs: Von diesem erbittet sich die US-Regierung weitere Zurückhaltung bezüglich der Demonstranten.

…und Reaktionen aus Kairo

Die Regierung um Mubarak und Suleiman weist die Forderungen der USA zurück. „Wenn man einem großen Land wie Ägypten Forderungen nach sofortigen Reformen stellt, dann drückt man ihm seinen Willen auf“, sagt der ägyptische Aussenminister Gheit. Dieser zeigte sich empört, denn die ägyptische Regierung sei immer ein „guter Freund“ der USA gewesen und habe die „beste aller Beziehungen“ aufrechterhalten. Auch drohte Gheit damit, dass die Armee intervenieren würde, wenn Chaos ausbräche.

Allerdings musste sich das Regime in Ägypten dem öffentlichen Druck ein Stück weit beugen. Man will sechs Artikel der Verfassung ändern lassen, die u.a. die eine unbegrenzte Wiederwahl des Präsidenten ermöglichen und die Kandidatur von Oppositionskandidaten erschweren. Die Wünsche des Volkes gehen jedoch viel weiter: Man will eine gänzlich neue Verfassung. So sind die „Reformen“ des Regimes blosse Spiegelfechtereien.

Ökologischer und ökonomischer Unfug

Neben aktuellen Themen, wie der Lage in Ägypten und der Euro-Krise, steht auf dem heutigen EU-Gipfel in Brüssel die Energieversorgung Europas im Mittelpunkt. Ein Gipfel mit wenig Energie.

Die Umweltschutzorganisation WWF mahnt an, dass die Staats- und Regierungschefs der Union die bereits beschlossenen Ziele endlich mit verbindlichen Massnahmen untermauern müssen. «Wir verbrennen Jahr für Jahr Milliarden Euro auf dem Scheiterhaufen eines veralteten, unsicheren und ineffizienten Energiesektors», sagt Regine Günther, Leiterin Klimapolitik beim WWF Deutschland. «Das ist ökologischer und ökonomischer Unfug.»

Angesichts des schnell fortschreitenden Klimawandels hatte man sich bereits im Oktober 2009 darauf verständigt, die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent reduzieren zu wollen. Wichtige, ehrgeizige Zwischenziele fehlen aber noch. Auch die Vorgabe, die Energieeffizienz in Europa bis 2020 um zwanzig Prozent (im Vergleich zu 1990) zu steigern, werde nach derzeitigem Stand nicht erreicht. Es müsse dringend mit konkreten Massnahmen nachgesteuert werden, so der WWF. Die derzeitige Beschlussvorlage des EU-Gipfels, die dem WWF vorliegt, sei in dieser Hinsicht ungenügend. «Anstatt jetzt schon der drohenden Zielverfehlung entgegenzusteuern, ist von einer Wiedervorlage im Jahr 2013 die Rede. Diese Verzögerungstaktik wird den drängenden Problemen auf dem Energiesektor nicht gerecht. Europa hat sich den Herausforderungen einer sicheren, sauberen und effizienten Energieversorgung bisher ungenügend gestellt», kritisiert Günther.

Gegen Krieg & Krise: Demonstration in München

Am vergangenen Samstag fand in München eine Demonstration gegen die NATO und ihre Kriege statt. Hintergrund der Demonstration war die sogenannte Sicherheitskonferenz (SiKo), bei der sich die Spitzen von Militär und Rüstungsindustrie mit den Aussen- und Verteidigungsministern der NATO-Staaten sowie Regierungschefs weiterer Staaten trafen. Die Protestaktion verlief friedlich und konnte um die fünftausend Menschen mobilisieren.

Eine Unsicherheitskonferenz

Die erklärten Ziele der Sicherheitskonferenz sind die Schaffung von Frieden und Sicherheit. Sie will zum Dialog einladen und tatsächlich bietet sie Jahr für Jahr ein grosses Spektakel für willige Journalisten. Allerdings ist die Münchner Sicherheitskonferenz kein offizieller Akt, keine Regierungsveranstaltung . Sie ist „privat“ organisiert und privat sind auch große Teile der Gespräche, die in Hinterzimmern und von der Presse unbeobachtet stattfinden. Dazu passt, dass die Teilnehmerlisten noch unter Verschluss gehalten werden und sich auf der offiziellen Website interessanterweise kaum eine Information zu den anwesenden Teilnehmern aus Hochindustrie und Rüstungsbetrieben finden lässt. Präsentiert werden schöne Fotos von Aussenministern und Politikern; kein Wort wird aber über Profite und Wirtschaftsinteressen verloren. In den letzten Jahren waren allerdings Vertreter von Unternehmen wie der „Russian Gas Society“ oder den „Roland Berger Strategy Consultants“ anwesend, die multinational agieren und jährlich Millionen- oder Milliardengewinne machen.

Die Skepsis derer, die bezweifeln, dass eine solche Runde aus Wirtschaftsmagnaten und Rüstungsprofiteuren tatsächlich den Frieden im Sinn hat, scheint da nicht unberechtigt zu sein.

Die Friedensdemonstration

Am Samstag versammelte sich der Widerstand gegen diese „Sicherheitskonferenz“. Die offiziellen Angaben sprechen von 3.400 Demonstranten, allerdings fiel während der Demonstration mehrmals die Zahl 5.000. Der Demonstrationszug begann und endete am Münchner Marienplatz. Einmal ging es rund durch München, drei Stunden lang und begleitet von den neugierigen Blicken der Bevölkerung sowie strahlendem Sonnenschein. Die Demonstration richtete sich gegen die SiKo, gegen Krieg, Nato und die imperialistische Politik des Grosskapitals. Da Deutschland ein NATO-Mitgliedsstaat ist, befindet es sich seit 2001 im Afghanisten-Krieg und entsprechend forderten die Demonstranten den sofortigen Abzug aller Streitkräfte aus dem Land. Beachtlich ist auch, wie deutlich die Verknüpfung zwischen Kapitalinteressen und Kriegstendenzen aufgezeigt wurde.

Ins Leben gerufen wurde die Demonstration von einem Aktionsbündnis aus gut 90 Organisationen. Hier muss festgehalten werden: Diejenigen, die da auf die Strasse gingen, waren keine Fanatiker. Es haben sich friedliche, freundliche, teilweise fröhliche Menschen versammelt. Rentner gingen neben Studenten; Schüler haben ihren Unmut ebenso artikuliert wie Sozialisten. Es waren Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes da und auch die kommunistischen Parteien DKP und MLPD haben bei der Demonstration mitgewirkt. Neben ihnen: Vertreter der Partei „Die Linke“ und einige von den „Jungen Grünen“. Aber auch die PdA hat ein Zeichen für den Frieden gesetzt: Mit 32 Personen aus Zürich, Bern und Luzern reiste sie an, um an den Protesten teilzunehmen. Diese Demonstration kann also keineswegs auf einige „Spinner“ oder „Extremisten“ reduziert werden; vielmehr zeigt sich in ihr, dass die Sache des Friedens breiten und bunt gemischten Bevölkerungsteilen ein Anliegen ist.

Die Polizei: Weder Freund noch Feind

Natürlich glich München einer Festung: Mehr als 3.400 Polizisten (zusammengezogen aus der ganzen BRD) und weitere 300 Soldaten waren im Einsatz. Letztere sind sogar für deutsche Verhältnisse erstaunlich, denn eigentlich verbietet das deutsche Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr im eigenen Land. Da zeigt sich, welchen Rang die Verfassung hat, wenn es um die Interessen des Kapitals geht. Jedoch muss der Polizei an dieser Stelle zugestanden werden, sich weit besser und humaner als in den letzten Jahren verhalten zu haben. Es kam zu keinerlei grösseren Konflikten und die Demonstration konnte ungehindert passieren. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, zeigt etwa das Jahr 2002, in dem mehrere Hundert Demonstranten festgenommen und die Gewerkschaftshäuser von der Polizei umstellt wurden.

Insgesamt darf eine sehr positive Bilanz gezogen werden. Die Demonstration war ein Erfolg, auch wenn sie die SiKo natürlich nicht stoppen konnte. Worauf es ankommt und was auch geleistet wurde, das ist: ein Zeichen zu setzen. Es wurde gezeigt, dass es noch eine Öffentlichkeit gibt, die nicht bereit ist, sich mit Krieg und Kriegstreiberei abzufinden.

„Europäische Wirtschaftsregierung“

Eine „Europäische Wirtschaftsregierung“ soll aufgebaut werden. So die Forderung der deutschen und französischen Regierung, vertreten von Merkel und Sarkozy. Gestern wurde der Plan in seinen Grundzügen von den Regierungschefs Europas abgesegnet.

Eine Wirtschaftsregierung?

Der Plan macht skeptisch: Regieren in Europa nicht ohnehin Wirtschaft und Kapital? Ja, aber das ist offenbar nicht genug. In dem Plan der Wirtschaftsregierung steckt vor allem die Hoffnung, das Vorgehen der europäischen Staaten zu harmonisieren. Und was das heissen soll, wird schnell klar: Ein einheitliches Rentenalter (nämlich das deutsche, das bei 67 liegt), eine einheitliche Lohnpolitik (gelenkt von den Regierungen) und auch eine einheitliche Steuerpolitik soll es geben. Kommentiert wird all das mit der „Abschaffung von Wettbewerbsnachteilen“.

Widerstand innerhalb der EU

Immerhin wurde dieser Plan nicht einfach abgenickt: Widerstand meldete sich, unter anderem, aus Österreich und Belgien. Jedoch scheint es, als ob man weniger die geplante Vernichtung der Sozialstaaten fürchtet, als viel mehr den Kontrollverlust über den eigenen Sozialabbau. So wurde der Plan zwar angenommen, aber seine Details wurden noch ausgeklammert und man ist nicht bereit, sich Zeitplan und Inhalt der „Wirtschaftsregierung“ von Deutschland oder Frankreich diktieren zu lassen. Was folgt, sind weitere Spitzengipfel und Treffen, auf denen das Projekt weiter besprochen werden soll.

Interessante Implikationen

Zweierlei ist interessant an den Plänen. Zuerst offenbart sich die EU ein weiteres Mal als Institution zur Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen. Der hier geplante Sozialabbau dürfte tatsächlich von gewaltigem Ausmass sein; die Folgen einer derartigen Wirtschaftsregierung für die Arbeiterklasse wären wohl verheerend. Andererseits ist interessant, dass die Gespräche um die Wirtschaftsregierung nicht im Europaparlament stattfanden, sondern im kleinen Kreis der Regierenden. Hier zeigt sich, dass das eigentliche Zentrum europäischer Macht nicht in den Dutzenden von Institutionen liegt, die Europa angehäuft hat, sondern noch immer bei den Regierungschefs. Deutlich gemacht wird dies auch von Jerzy Buzek, dem Präsidenten des Europaparlaments, der davor warnt, genau dieses zu umgehen.

Angela Merkel bringt es auf den Punkt: „Wir verteidigen den Euro nicht nur als Währung, sondern auch als politisches Projekt“. Genau das ist es, was zu befürchten steht…

„Der letzte Schub“

„Der Tag der Abreise“ wurde in Ägypten ausgerufen. Es soll der „Letzte Schub“ sein, der Präsident Mubarak endlich dazu veranlasst, sein Amt niederzulegen und den Willen des ägyptischen Volkes zu respektieren. Mehr als eine Million Menschen in Kairo und Hunderttausend in Alexandria haben sich zu einer letzten, friedlichen Demonstration versammelt. Ihre Kampfansage: „Wir gehen nicht, ehe Mubarak verschwunden ist!“

Der unwillige Präsident

Das aber will Mubarak nicht hinnehmen. Es grenzt an eine Komödie: Mubarak äußerte sich, dass er „genug hat“ und „nach 62 Jahren des Staatsdienstes“ das Amt verlassen will. Dies jedoch ist kein Grund zur Freude, denn im selben Atemzug erklärt Mubarak auch, dass er „nicht jetzt“ gehen werde. Seiner Meinung nach würde seine Abdankung nur Chaos schaffen. Auch ansonsten gibt Mubarak sich tief besorgt, er bedaure zu sehen, dass „Ägypter gegen Ägypter“ gekämpft haben.

Dabei übersieht der ungeliebte Präsident allerdings, einerseits, dass er selbst es war, der mit Bestechungen und Polizeieinsätzen für Blutvergiessen gesorgt hatte und dass, andererseits, allein sein Bleiben das Land ins Chaos stürzt.

Die Fortsetzung der Demonstrationen?

Dieser Unwille, dem massiv geäusserten allgemeinem Willen zu folgen, bringt die Frage hervor, wie  und ob die Demonstrationen weitergehen. Mubarak hat kaum mehr Unterstützer: Wenige Hundert Pro-Mubarak-Demonstranten stehen Millionen gegenüber und auch die Unterstützung durch andere Staaten schwindet zusehends. Jedoch sollte auch bedacht werden, dass die letzte Woche einen Ausnahmezustand für Ägypten darstellte, in dem normale Tagesabläufe kaum mehr möglich waren. Diese Tatsache könnte sich in die Achillesferse der Revolution verwandeln: Wenn in den nächsten Tagen kein Ergebnis bezüglich Mubarak erzielt wird, ist es denkbar, dass Frustration und Lethargie sich ausbreiten und die Demonstrationen zum Erliegen kommen.

Auch ist unklar, was geschieht, wenn Mubarak tatsächlich geht. Da die Proteste Ausdruck einer Massenbewegung sind, die sich aus allen Teilen der ägyptischen Bevölkerung zusammensetzt, ist ihr einziges konkretes Ziel die Absetzung Mubaraks. Proletarier und Arbeitslose demonstrieren neben Intellektuellen und Bürgerlichen. Wer sich im Falle der Abdankung Mubaraks durchsetzt, ist noch nicht absehbar. Zu befürchten stünde aber, dass radikale Muslime die Oberhand in Ägypten gewinnen. Gerade hier also ist die aktive und zielgerichtete Arbeit der Kommunistischen Partei Ägyptens gefordert.

Trotz aller Bedenken und der unsicheren Zukunft, der Ägypten entgegensteuert, sollte jeder Linke und jeder Sozialist der ägyptischen Bewegung den Sieg gegen das bestehende Regime wünschen. Die Fesseln der Diktatur müssen gesprengt werden, wenn der Sozialismus eine Chance haben soll!


Demonstrationen in Ägypten und Gerede in Europa

Kairo: Tausende Demonstranten begehen gemeinsam ihr Freitagsgebet. Gleichzeitig fordern Prediger die Freilassung aller politischen Gefangenen.  Auch in Alexandria versammelten sich heute Zehntausende, um ihre Solidarität mit den Demonstrierenden zu bekunden. Der Kampf gegen Mubarak und seine Regierung geht also weiter.

Klare Worte aus Washington

Nachdem in den letzten Tagen mehr als 600 Menschen verletzt und eine noch unbestimmte Zahl getötet wurden, scheint Mubaraks Treiben auch dem Weissen Haus suspekt zu werden. So liess die Obama-Regierung durch ihren Pressesprecher am Dienstagabend verkünden, dass sie den sofortigen Rücktritt Mubaraks wünscht. Gleichzeitig wurden freie Wahlen gefordert. So verliert Mubarak also einen mächtigen Unterstützer – immerhin geben die USA jährlich 1.3Mrd Dollar an Militärunterstützung für Ägypten aus. Die Forderung nach freien Wahlen scheint dabei illusorisch, handelt es sich in Ägypten doch bekanntermassen um ein korruptionsgebeuteltes Land. (Platz 111 von 180 auf dem Korruptionsindex von TI) Dass die amerikanische Regierung dieses Land Jahrzehnte unterstützt, lässt ahnen, dass der Ruf nach freien Wahlen gleichbedeutend mit dem Wunsch nach einer US-freundlichen Regierung ist.

Europas Schlingerkurs

Noch bizarrer mutet die Haltung Europas gegenüber den Demonstrationen in Ägypten an. Die Europa-Aussenministerin Catherine Ashton liess heute verlauten, dass es entscheidend sei, dass Regierung und Bevölkerung „gemeinsam vorangehen“. Auch meint sie, eine Art von nationalem Dialog „zwischen dem Regime und der Opposition“ zu vernehmen. Daraus folgert Ashton, dass der nächste Schritt ein Zeitplan für einen geordneten Übergang sei, der von der Regierung ausgearbeitet werden solle, um Vertrauen zu schaffen.

Damit beweist Ausseministerin Ashton ein gerüttelt Mass an Weltfremdheit und bourgeoiser Bequemlichkeit, welches als symptomatisch für die ganze Europäische Union betrachtet werden darf. In Anbetracht von Zehntausenden von Demonstranten, die den sofortigen Sturz der Mubarak-Regierung fordern, scheint die Rede vom Vertrauen geradezu lächerlich. Auch die Nachricht des „nationalen Dialogs“ erstaunt; von einem solchen kann nur dann die Rede sein, wenn nicht zur Kenntnis genommen wird, dass die Kommunistische Partei Ägyptens (in ihrem Kommuniqué) jede Zusammenarbeit mit Mubarak ablehnte.

Proteste im Jemen:Der Präsident macht Zugeständnisse

Wie in Tunesien und Ägypten: Auch im Jemen demonstrieren Tausende Menschen gegen ihre Regierung. Ein erster Erfolg zeichnet sich jetzt ab, denn der jeminitische Präsident Ali Abdullah Saleh erklärte gestern, dass er nicht wieder für das Präsidentschaftsamt kandidieren werde; eine Verfassungsänderung, die dazu nötig gewesen wäre, wurde ebenfalls fallen gelassen. Auch forderte er die Oppositionsparteien auf, mit ihm eine „nationale Einheitsregierung“ zu bilden.

Reaktion der sozialistischen Oppositionspartei

Es scheint, als sei Salehs Angebot zu verlockend, um ihm zu widerstehen. Erste Reaktionen aus der Jeminitischen Sozialistischen Partei (YSP) deuten an, dass man bereit ist, mit Saleh eine gemeinsame Regierung zu bilden.  So berichtet die „Welt-Online“ etwa, dass der Chef der YSP glaubt, eine Einheitsregierung würde ein Machtvakuum und Chaos wie in Tunesien und Ägypten verhindern. Wie allerdings das tatsächliche Verhalten der YSP zu Salehs Angebot ausfallen wird, werden wohl erst die nächsten Tage zeigen.

Politische und gesellschaftliche Lage des Jemen

„Im Jemen sind die Lebensbedingungen der Menschen weitaus schlimmer als in Ägypten oder Tunesien“, sagt Aidrus al-Nakib,  Chef der Sozialistischen Partei. „Die sozialen Dienstleistungen sind noch miserabler. Der Zorn und Ärger der Bevölkerung ist daher viel größer als in Ägypten. Wenn auch die Zivilgesellschaft schwächer ist und keine Oppositionskultur existiert.“ Mit dieser Aussage fasst al-Nakib die Lage des Jemen treffend zusammen. Tatsächlich ist der Jemen unter den arabischen Ländern eines der ärmsten. Knapp 40% der Bevölkerung leben von weniger als 2Dollarn täglich und weitere 40% der Bevölkerung sind arbeitslos. Gleichzeitig haben fast 70% der Menschen keinen Zugang zu Ausbildung, medizinischer Versorgung oder Unterkunft.

Neben dieser miserablen sozialen Lage des Landes verstärkt die wuchernde Korruption die Probleme des Jemen stetig. Korrupte Eliten und Beamte berauben das Land und die Bevölkerung jeder Chance auf eine Besserung der Lage und so landet der Jemen auf Platz 141 von insgesamt 180 Ländern des Korruptionsindexes von Transparency International.

Noch schlimmer allerdings ist, dass der Jemen sich seit Jahren in einem Bürgerkrieg befindet. Im Norden wie im Süden des Landes gibt es andauernde Kämpfe, da sich der schiitische Norden vom Rest des Landes lösen will und im Süden massive Proteste gegen Polizei und Armee ausgetragen werden. Dazu kommt, dass der Jemen, auf Druck der USA, sich in einem „Krieg“ gegen angebliche al-Quaida-Stellungen befindet.

Fortsetzung der Proteste?

In derlei viele Krisen verstrickt ahnt man nichts Gutes, wenn die jetzt Herrschenden von „nationaler Einheitsregierung“ und dem „Ende der Proteste“ sprechen. Misstrauen gegenüber der angestrebten Einheitsregierung scheint angebracht und tatsächlich ist für diesen Donnerstag ein „Tag des Zorns“ ausgerufen worden – in Anlehnung nämlich an die gleichnahmige Demonstration in Ägypten, die Zehntausende mobilisierte.

Es gibt also mehr als genug gute Gründe für den Widerstand der Bevölkerung und gleichzeitig scheint fraglich, ob eine „nationale Einheitsregierung“ die Probleme lösen kann.

Stellungsnahme der ägyptischen KP

Die Kommunistische Partei Ägyptens veröffentlichte gestern eine Stellungsnahme, in der sie die Fortsetzung der Revolution bis zum Sturz des Regimes um Mubarak fordert. Hintergrund des Schreibens sind die andauernden Massenproteste gegen den ägyptischen Präsidenten Muhammad Husni Mubarak und seine Regierung. Einen Tag zuvor hatte bereits die Kommunistische Partei Portugals ihre Solidarität mit dem ägyptischen Volk bekundet.

Das Kommuniqué der ägyptischen Kommunistischen Partei

Die Revolution geht weiter bis zur Verwirklichung der Forderungen des Volkes

Die Stunde der Wahrheit naht. Die Stunde in der das ägyptische Volk den Sturz Mubaraks und seines Regimes durchsetzen wird.

Das Unterdrückungsregime erlebt seinen letzten Augenblick, vor allem nach dem es seine US-Sponsoren, in der Folge der Volksrevolution, die stetig anwachsend alle Städte und Regionen Ägyptens erfasst, verlassen haben.

Die heutigen Demonstrationen haben Millionen Bürger hinter der der Forderung nach einer Abreise Mubaraks versammelt. Sie garantieren, dass jeder Komplott des Diktators und seiner Bande, die Revolution zu zerstören, zum Scheitern verurteilt sein wird.

Das Abkommen zwischen den verschiedenen Oppositionsparteien zur Gründung eines Wohlfahrtsausschusses, dass die Forderungen der Volksmassen, und im besonderen der Demonstranten aufnimmt, ist ein wesentlicher Punkt um die politischen, ökonomischen und sozialen Forderungen der Revolution zu erfüllen.

Deshalb bestehen wir auf den wesentlichen Forderungen, die von allen patriotischen Kräften, die im konstituierten Volksparlament vertreten sind, akzeptiert werden:

1. Den Sturz Mubaraks durchsetzen und einen Präsidialrat für eine zeitlich begrenzte Periode bilden;
2. Eine Koalitionsregierung bilden, die sich der Führung des Landes während einer Übergangsperiode annimmt;
3. Den Appell für eine verfassungsgebende Versammlung, die gewählt wird mit der Aufgabe der Ausarbeitung einer neuen Verfassung auf der Grundlage des Prinzips der nationalen Souveränität und die diesen Wechsel im Rahmen eines laizistischen, demokratischen und gerechten Staates garantiert;
4. Die Verantwortlichen der Massaker, die hunderten Märtyrern das Leben gekostet haben und Tausende Verletzte gefordert haben, vor Gericht stellen, aber auch die Verantwortlichen für die Korruption, die die Reichtümer, die vom ägyptischen Volk geschaffen wurden, gestohlen haben.

Es lebe die Revolution des ägyptischen Volkes!

Kairo, den 1. Februar 2011

Übersetzung aus dem Französischen: Martin Hantke

Kampf der Frauen gegen das Regime

«Es hat viele Frauen auf den Strassen», berichtet Pascal Weber, SF-Korrespondent in Kairo. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen sehe man nur Männer, bei den friedlichen Demonstrationen seien aber viele Frauen – alte, junge, mit oder ohne Kopftuch – mit dabei. Quelle: tagesschau.ch

Es ist kein Kampf «Frauen gegen Männer», sondern ein Kampf für die Demokratie, sagt Hoda Salah, Ägypterin und Politologin an der Frankfurter Universität. Die Frauen seien schon immer beteiligt gewesen, so Salah, beispielsweise auch bei der Revolution gegen die Briten Anfang des 20. Jahrhunderts.

Tatsächlich liegt aber noch einiges im Argen. Auf der einen Seite besetzen ägyptische Frauen hohe Positionen in Unternehmen, sind Professorinnen an Universitäten und werden arbeitsrechtlich gut geschützt.

Auf der anderen Seite stehen sie bei Themen wie Scheidung, Erbrecht oder Vormundschaft hinter den Männern an. Die Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) spricht davon, dass noch im Jahr 2005 über 95 Prozent aller Ägypterinnen zwischen 10 und 14 Jahren beschnitten wurden. 50 Prozent sind Analphabeten.

Spagat zwischen Tradition und Moderne

Besser sieht die Situation der Frauen in Tunesien aus, wo die Menschen vor den Unruhen in Ägypten die eigene Regierung zum Stürzen gebracht hatten. Tunesien gilt als das fortschrittlichste der arabischen Länder. Seit 1956 ist die Gleichstellung der Frau gesetzlich verankert, sagt der frankotunesische Journalist Kusai Kedri zu «tagesschau.sf.tv». «Auch die Kulturministerin ist in Tunesien eine Frau», ergänzt Kedri.

In beiden Ländern sieht man moderne, fortschrittliche Frauen – und auch das Gegenteil: «Miniröcke an den Universitäten sind genauso üblich wie lange Kleidung und Kopftuch», so SF-Korrespondent Pascal Weber.

Zwei Millionen!

Das ägyptische Militär spricht mittlerweile von mehr als zwei Millionen Menschen, die am Nachmittag  im Zentrum Kairos gegen das Regime von Staatschef Hosni Mubarak demonstrieren.

Auch in den anderen Städten des Landes kommt es Medienberichten zufolge zu riesigen Demonstrationen. Während viele Geschäfte wegen des ausgerufenen Generalstreiks geschlossen blieben, hat auch die Eisenbahn ihren Betrieb eingestellt. Panzer sind an der geplanten Demonstrationsroute aufgefahren, das Militär hat Strassensperren errichtet und hält offenbar an den Zufahrtswegen zur Hauptstadt Tausende vom Erreichen Kairos ab.

Die USA haben alle nicht unbedingt gebrauchten Botschaftsangehörigen und Regierungsmitarbeiter aus Ägypten abberufen. Unterdessen schwört der US-Fernsehsender «Fox News» seine Zuschauer gegen die Protestierenden in Ägypten ein. Kommentator Glenn Beck sagte gestern Abend, der Aufstand in Ägypten werde von «marxistischen Kommunisten und der Muslimbruderschaft gelenkt». Ein Sturz Mubaraks könne dazu führen, dass die gesamte islamische Welt zu einem grossen Kalifat werde.
Unterdessen hat die Protestwelle in der arabischen Welt einen weiteren Erfolg errungen. Nach tagelangen Protesten hat der jordanische König Abdullah die Regierung in Amman abgesetzt.

Quelle: redglobe.de

Das Mubarak-Regime ist am Ende

Frage: Du bist gerade von einer Nahost-Reise zurückgekommen und hast die Entwicklung ion Ägypten hautnah mitbekommen. Was sind Deine Eindrücke

Wolfgang Gehrcke: Ich war in Ägypten, Syrien, Jordanien, Israel und Palästina.

Gegenstand meiner Reise war zwar im Kern die Auseinandersetzung Israel – Palästina und die Gründung eines palästinensischen Staates. Aber so etwas geht nicht, ohne dass man sich das Umfeld der arabischen Staaten anschaut. Einige Ergebnisse, wie ich sie wahrgenommen habe.

Ägypten hat, dies war mir nach vielen Gesprächen völlig klar, eine sehr zersplitterte Opposition. Die Linke ist ausserordentlich schwach innerhalb dieser Opposition, aber sie ist vorhanden. Man kann wohl sagen, dass das Mubarak-Regime am Ende ist, es ist politisch und moralisch verschlissen. Es wird an der Macht gehalten von Armee und Geheimdienst und finanziert durch die USA. Und es war nur eine Frage der Zeit, wann die Konflikte offen ausbrechen und wie sie ausgetragen werden. Der reale Machtfaktor ist meiner Wahrnehmung nach die Armee und der Geheimdienst. Offensichtlich akzeptieren sie nicht eine erneute Kandidatur von Mubarak, der ist ja schon 82 Jahre alt, und sie akzeptieren wohl auch nicht eine Präsidentschafts-Kandidatur seines Sohnes. Dass die Wahlen gefälscht sind, weiss mittlerweile jeder.

Ohne Zustimmung von Armee und Geheimdienst gibt es keine relevante Präsidentschafts-Kandidatur. Mubarak kann sich noch halten, weil es noch keinen von mehreren Kräften getragenen Gegenpart gibt. Ein solcher Gegenpart könnte El Baradei sein, der ja jetzt wieder in Ägypten ist. Ich hatte versucht, ihn zu einem Gespräch zu treffen, aber dies haben die ägyptischen Behörden mit allen Mittel verhindert.

Die Bewegungen ist, wie mir gute ägyptische Freunde erzählt haben, eine Mittelschichtenbewegung, die jetzt rebelliert, die sich nicht mehr das Wort verbieten lassen will, die sich nicht die Bewegungsfreiheit verbieten lassen will. Es ist noch keine Bewegung der Unterschicht, aber es mischt sich.

Ob Mubarak noch einmal mit Hilfe der Armee und des Geheimdienstes diesen Ansturm überlebt, ist noch offen. Ich würde jetzt noch nicht wagen, zu sagen, er ist bereits weg, aber moralisch ist er verschlissen.

Frage: Welche Rolle spielt der Palästina-Konflikt

Wolfgang Gehrcke: Es spielt eine Rolle, wie in allen arabischen Konflikten. Und grossen Einfluss hat die schändliche Rolle Ägyptens im Verhältnis zu Palästina, zu den Palästinensern, insbesondere was Gaza angeht. Was wenig bekannt ist, auch die Ägypter bauen nun eine Mauer um Gaza, aber nicht in die Höhe sondern in den Erdboden, um weitere Tunnelbauten zu verhindern. Natürlich ist Ägypten die stärkste Macht in diesem Raum ausserhalb Israels, deswegen auch die Finanzierung durch die USA.

Mein Eindruck ist, dass die israelische Politik im arabischen Raum völlig isoliert ist, auch bei den herrschenden Eliten. Aber der grösste Sprengsatz in Israel ist momentan nicht das Verhältnis zu den Palästinensern, sondern ist das innere Verhältnis zwischen den jüdischen Bürgern Israels und den palästinensischen und arabischen Bürgern Israels, die deutlich weniger Rechte haben und Bürger zweiter Klasse sind. Jetzt mit der Diskussion um den jüdischen Staat Israel müssen es viele so empfinden, dass sie aus diesem jüdischen Staat herausbefördert werden sollen. Und dies merkt man dann auch an der Konzeption, die von der Netanjahu-Regierung betrieben wird.. Israel hat ein Interesse daran, den Gaza-Streifen an Ägypten zu übergeben, um damit ein Problem los zu sei. Auch Teile des Westjordan-Landes sollen an Jordanien gehen, einen Teil will Israel selber kassieren. Also, es geht nicht um einen Gebietsaustausch, sondern es geht faktisch um einen Bevölkerungsaustausch, bei dem Teile der palästinensischen und der arabischen Bevölkerung Israels in andere Länder abgeschoben werden sollen. Das ist das ganze explosive Gemisch, was sich zusammengeschoben hat. Und Tunesien war der Funken, mit der Besonderheit, dass der Aufstand in Tunesien ganz stark von den Gewerkschaften und der Linken beeinflusst wurde.

Frage: Gibt es eine Art gemeinsamer Strategie der linken Kräfte in diesen Ländern?

Wolfgang Gehrcke: Wir versuchen gerade, Kontakte herzustellen, aber das gestaltet sich äusserst schwierig. Ich habe meine Freunde in Ägypten gefragt, wie sich arabische Kommunisten und Sozialisten untereinander koordinieren. Sie habe mir berichtet, wie unendlich schwer dies sei. Und auch da steht immer noch das Problem im Raum, dass es noch viel schwerer ist, sich mit israelischen und palästinensischen Kommunisten und Sozialisten zusammenzusetzen.

Hintergrund meiner Reise war auch, dass ich immer noch hoffe, dass das, was auf der Staatsebene nicht stattfindet, auf der nichtparlamentarischen Ebene stattfinden kann: ein Treffen zwischen Linken und Friedenskräften aus Israel und Palästina und den arabischen Ländern, wo man ohne Zwang, ein Dokument unterschreiben zu müssen, einfach miteinander diskutieren kann. Zumindest in Syrien habe ich sehr viel Sympathie für diesen Gedanken gefunden. Für mich wäre Cypern der ideale Austragungsort. Cypern liegt geografisch sehr günstig und hat einem hohen Anteil von Palästinensern und jüdischen Emigranten,

Frage: Die CDU hat nun in Hessen eine neue Rote-Socken-Kampagne gegen die Linke gestartet, sie sei „Radikal, latent antisemitisch und nicht auf dem Boden unserer Verfassung“. Die Angriffe richten sich besonders gegen Dich.

Wolfgang Gehrcke: Man wirft mir vor, dass ich Kommunist bin, aber das ist nichts Neues. Der Kern des Angriffes ist meine Position in der Nahost-Frage. Das pikante daran ist, dass der CDU-Abgeordnete Peter Tauber, der diese Studie nun vorgestellt hat, ein Dauerschreiber in dem rechtsradikalen Blatt „Junge Freiheit “ ist. Wenn der mir Antisemitismus vorwirft, da lacht selbst die Kadima-Partei in Israel. Aber dies ist Teil der alten Masche, jede kritische Debatte über die Politik des Staates Israel mit dem Label „antisemitisch“ zu versehen.

Frage: Ägypten hat als erster Staat einen Cyber-Krieg gegen seine eigene Bevölkerung geführt, hat die Internet-Verbindungen total gekappt und die Telekommunikationsdienste abgeschaltet. Aber es gibt kaum Proteste der Regierung gegen diese Art der Total-Zensur

Wolfgang Gehrcke: Erst einmal lerne ich persönlich viel daraus, wie Bewegungen heute vermehrt über elektronische Medien organisiert und vorangebracht werden. Das Internet, die Mail , Twitter und SMS ersetzen zum Teil das Flugblatt, ohne dass man auf das Flugplatt und andere Printmedien verzichten kann. Es ist einfach wichtig, eine Kommunikationsebene herzustellen. Das Kappen der neuen Medien ist der Versuch, Kommunikation untereinander zu unterbinden und die Bewegung kaputt zu machen. Und wir müssen da auch ein Stück Solidarität an den Tag legen und Druck machen, dass mit dem alten Regime in Ägypten und in Tunesien nicht weiter in der alten Weise zusammengearbeitet wird, dass nicht weiter Gelder in diese Kanäle fliessen, dass die Zusammenarbeit der Geheimdienste beendet wird. Wir müssen den Mythos entlarven, dies seine stabile Länder und wir bräuchten diese Stabilität, um dem Islamismus einzudämmen.

Deutschland redet ja immer von Demokratie. Nun ist Deutschland auch Mitglied im Weltsicherheitsrat, – ich war immer dagegen. Aber jetzt müssen wir sie zwingen, auch in dieser Funktion etwas zu tun:

  1. Sie müssen sich auf die Seite der demokratischen Bewegung in Ägypten stellen
  2. Sie müssen jegliche Militärhilfe einstellen
  3. Protest gegen die Einschränkung der demokratischen Rechte, der Presse- und Informationseinheit, der Versammlungsfreiheit

Aufgabe der linken in allen Ländern ist nun die praktische Solidarität. Vielleicht kann dies auch ein Mittel gegen unsere Kleingläubigkeit sein. Wenn jemand vor einem halben Jahr diese Entwicklungen in Ägypten, Tunesien und Jordanien vorausgesagt hätte, er wäre ausgelacht worden. Ich weiss nicht, wie sich diese Bewegungen weiter entwickeln werden, da fehlt es uns noch sehr viel an Analytischen. Aber ich weiss, dass diese Bewegung elementare soziale Wurzeln hat, die zu diesem Ausbruch geführt haben.

Quelle: kommunisten.de

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