Tunesien: Selbstkritik der Genossen

Nach den grossen Erhebungen dieses Jahres im nordafrikanischen und nahöstlichen Raum kam es inzwischen auch zu Neuwahlen in Tunesien und Ägypten. Wenig überraschend dominierten dabei überwiegend islamisch orientierte Parteien und Kräfte. Vor kurzem äusserten sich führende Vertreter der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT) in einem Interview selbstkritisch zu dem Ausgang und dem für sie unbefriedigenden Ergebnis der tunesischen Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung Ende Oktober.

Wie schätzen Sie die Ergebnisse der PCOT bei den Wahlen ein? Meinen Sie, dass der Wahlkampf erfolgreich die Sachverhalte thematisierte, die Sie anstrebten?

Hamma Hammami: Einige Zeitungen vertraten die Ansicht, dass die Wahlen am 23. Oktober aussergewöhnlich und einzigartig waren, ja mehr noch dass sie vollkommen waren. Das ist eindeutig eine Übertreibung. Wir müssen blinden Optimismus über die Wahlergebnisse vermeiden und sie stattdessen mit mehr Kritik betrachten.

Es gab viele Vorwürfe gegen einige Wahllisten, und ich denke nicht, dass die Justiz diese rüde zurückweisen würde. Trotz unserer Kritik fordert die PCOT aber weder eine Wiederholung noch eine Annullierung der Wahlen. Allerdings haben wir einige Anmerkungen.

Die erste betrifft die geringe Zahl der Teilnehmer an den Wahlen: gemäß Angaben der Wahlleitung haben nur 48,9% der Wahlberechtigten abgestimmt. (Anm.: Das oben verlinkte Wahlergebnis weist 42% Nichtwähler und 18% ungültiger Stimmen aus!) Solche Zahlen sind Besorgnis erregend und ihre Auswirkungen auf die politische Zukunft der Konstituierenden Versammlung wäre bedeutend – denn auf dieser Basis spiegelt die (dort zu verabschiedende) Verfassung nicht die Meinung der Mehrheit des Volkes wider. Um dieses Problem zu lösen, fordert die PCOT, den Verfassungsentwurf dem Volk im Rahmen eines Referendums vorzulegen. So könnte dann die ganze tunesische Bevölkerung die Verfassung bestätigen oder ablehnen.

Zweitens war politisches Geld (welches die Parteien in ihren Wahlkampagnen einsetzten) ein erheblicher Faktor für die Wahlergebnisse. Niemand kann leugnen, dass es deutliche Unterschiede gibt zwischen durchschnittlichen Ausgaben von 25 Dinar pro Wähler und 500 Dinar pro Wähler.

Drittens hat die Benutzung religiöser Rhetorik in Moscheen und in öffentlichen Bereichen direkt oder indirekt das Volk beeinflusst. Der größte Mangel diesbezüglich war, dass Menschen, die eigentlich den Versuchen zur Beeinflussung der Wähler hätten entgegen treten müssen, dies nicht taten und sich so passiv verhielten, wie unter Ben Alis Regime. Es war fast so, als gäbe es verborgene Mächte, die danach trachteten, Atheisten und Gläubige zu trennen.

Viertens spielten die Medien, vor allem die öffentlichen, eine armselige Rolle. Damit ist gemeint, dass sie dem Volk nicht dabei halfen zu unterscheiden, auszuwählen und zu verstehen, was die Verfassung bewirkt und welche Bedeutung ihrem Inhalt zukommt.

Fünftens gab es gegenseitige Angriffe zwischen den Parteien, die manchmal ein erbärmliches Niveau erreichten.

Sechstens wurden in den Wahllokalen viele Verstöße gegen die Wahlvorschriften begangen, was von einer grossen Zahl der Wahlbeobachter bestätigt wurde.

Abschliessend ist festzustellen, dass niemand leugnen kann, dass die tunesischen Wahlen durch internationale Kräfte (hauptsächlich die USA und seitens der EU) mit dem Ziel manipuliert wurden, die tunesische Revolution auf kleinere Reformen und Veränderungen zu begrenzen und das frühere Machtsystem, sowie die pro-kapitalistische Wirtschaft mit ihrer politischen und sozialen Orientierung aufrecht zu halten. Diese ausländische Einmischung wurde durch die Übergangsregierung und einige Parteien erleichtert, indem während der Wahlkampagne ein reger politischer Reiseverkehr von und nach Tunesien stattfand. Es waren auch von verschiedenen Parteien immer wieder Zusicherungen zu hören, dass Tunesien an den alten politischen und wirtschaftlichen Grundsätzen festhalten würde.

Wie bewertet die PCOT ihre eigene Teilnahme an den Wahlen?

Chrif Khraief: Wir schätzen unsere Teilnahme als schwach ein, und wir sind nicht zufrieden, weil drei Sitze von uns in der Versammlung nicht das wahre Gewicht der PCOT auf den Straßen widerspiegeln. Niemand kann die historische Rolle, den historischen Einsatz und den großen Einfluss der PCOT auf die Durchführung der Revolution leugnen. Wir schauen stets kritisch auf uns selbst, um voran zu kommen und unsere Schwäche zu überwinden und uns zu verbessern.

Es ist wahr, dass die PCOT revolutionären Aktivismus gelernt hat und dabei stets recht gut gehandelt hat. Aber wir haben nie Wahlkampagnen gelernt und diesbezüglich Erfahrungen gesammelt. Wir führten einen saubereb Wahlkampf, in dem wir uns auf unser Programm und Vorschläge für die Verfassung und die Übergangsregierung ausrichteten, und wir setzten auf die Energie und Motivation unserer Aktivisten, besonders der jungen. Aber wir litten auch unter unserer schwachen Verankerung in den Städten und auf dem Lande, was die Umwandlung unseres politischen Ansehens in eine gewählte Macht negativ beeinflusste. Und wir verloren viele Stimmen durch den Namenswechsel unserer ‚PCOT‘ in ‚Al Badil‘ (Revolutionäre Alternative), wodurch uns viele Menschen am Wahltag auf den Listen gar nicht erkannten.

Wir machten auch einen schweren Fehler, als wir nicht für jedes Wahllokal einen überwachenden Beobachter organisierten. Das erlaubte einigen Parteien, die Gelegenheit zur Manipulation der Menschen zu nutzen. Wir gingen ferner mit sehr geringen materiellen Mitteln in den Wahlkampf und vertrauten auf die Finanzierung des Wahlkampfes durch die Behörden, die uns aber dann erst sehr spät im Wahlkampf erreichte. Zusätzlich waren unsere Kandidaten wegen unserer Grundsätze und Integrität Ziel einer sehr rüden Angriffskampagne; einige Parteien verbreiteten viel Hetze gegen uns, was ebenfalls dazu beitrug, dass wir unser eigenes Ziel von 10% der Stimmen nicht erreichten.

Obwohl unsere Wahlergebnisse nicht zufrieden stellen, haben wir doch viel aus diesen Erfahrungen gelernt. Wir kennen jetzt unsere Schwächen und wir sind mehr denn je von unseren Grundsätzen überzeugt.

Haben Sie das Gefühl, dass die neue Regierung irgendwelche tiefen sozialen oder wirtschaftlichen Veränderungen vornehmen wird? Wird sie wirkliche Gerechtigkeit hinsichtlich des früheren Regimes verfolgen?

Chrif Khraief: Wir glauben nicht, dass die neue Regierung in ihrer jetzigen Zusammensetzung gewillt ist, radikale und wirkliche Veränderungen an der sozialen und wirtschaftlichen Front vorzunehmen. Bereits vor der ersten Tagung der Verfassunggebenden Versammlung haben Regierungsmitglieder der Welt versichert, dass sie so weiter machen würden, wie das frühere Regime. Dies ist besonders zutreffend hinsichtlich der Wirtschaftspolitik. Sie erklärten, dass sie die Auslandsschulden tilgen werden und an der Marktwirtschaft festhalten wollen, die uns in die politische Diktatur, in wirtschaftliche Depression und in soziale Ungleichheit hineingeführt hat.

An der sozialen Front hat die Verfassunggebende Versammlung kein Interesse für die Armen und die benachteiligten Menschen innerhalb Tunesiens gezeigt, die ja unter Ben Ali lange Zeit verleugnet wurden, was eine der Ursachen für die Proteste und Streiks Anfang des Jahres war. Und selbst wenn die neue Regierung gewisse Entscheidungen träfen, so wäre das angesichts des Fehlens einer Justizreform eher ein Schwindel. Denn wir können keine reale Demokratie praktizieren, wenn die Vertreter des alten Regimes weiterhin aktiv sind, wenn die Justiz weder gerecht noch frei ist, wenn die Medien nicht frei sind, wenn die Verwaltung immer noch korrupt ist, und wenn Menschen noch frei herumlaufen, die in Folter und Korruption verwickelt sind. Man kann nicht von wirklicher Gerechtigkeit sprechen, ohne über frühere Verantwortlichkeiten zu reden und den Opfern von Ben Ali ihre Würde zurück zu geben.

Seit den Wahlen Ende Oktober hat es grosse Streiks im Tourismus, im Transportwesen und anderen Wirtschaftsbereichen gegeben. Waren Mitglieder der PCOT daran beteiligt oder haben sie diese Aktionen unterstützt? Welche Rolle nimmt die All-Union der tunesischen Arbeiter (UGTT) in diesen revolutionären Kämpfen ein?

Chrif Khraief: Die PCOT stand nicht hinter diesen Protesten, aber sie unterstützt sie und wird dies weiterhin stets tun! Wir werden darauf bestehen, dass die Regierung ihre Versprechen einlöst, die sie nach der Revolution machte – wie etwa Abschaffung von tariflosen Gehältern, Unterstützung der zu Festgehältern Arbeitenden, Durchsetzung von transparenten Standards bei Einstellungen.

Die Arbeiter sind derzeit in zwei Gruppen gespalten. Die einen sind die Revolutionäre, die das Ziel anstreben, intern in der Allunion der Tunesischen Arbeiter Demokratie zu verwirklichen und die Arbeiter gegen die Kapitalisten und die Geschäftsführungen zu verteidigen. Dies umfasst Demokraten, Linke, Syndikalisten und andere. Und das war in den glänzendsten Aktionen der UGTT immer deutlich: im Streik vom 26. Januar 1978; im revolutionären Feuer von 1984; in den rechtlichen Kämpfen von 1985; bei der Unterstützung des Iraks im Golfkrieg von 1990 und im Aufstand im Jahre 2008 in Redeyef und Oum Laarayes. Aber hauptsächlich und an erster Stelle waren diese Arbeiter aktiv in der revolutionären Bewegung, die zum Sturz von Ben Ali am 14. Januar 2011 führte.

Alle Aktivisten dieser Art werden sich im Dezember in einer Versammlung zusammenfinden, um den Weg der Revolution fortzusetzen, um reale Demokratie zu schaffen und weiterhin die Rechte der Arbeiter zu verteidigen.

Die zweite Gruppe von Arbeitern sind die Bürokraten, die die konter-revolutionären Kräfte (Gewerkschaft der Bosse) repräsentieren, die lieber Verhandlungen der Gewerkschaften scheitern lassen, als dass sie die Gewerkschaften zu einem Werkzeug der Unabhängigkeit und Macht der Arbeiter machen. Diese Bürokraten waren diejenigen, die Ben Ali bis zum letzten Augenblick unterstützten und die Revolutionäre als Unruhestifter behandelten.

Quelle: kommunisten.de und  Al-Thawra Eyewitness  /  Übersetzung: hth  /  Foto: AndyWorthington

Der humanitäre Notstand der EU

Seit dem Sturz des tunesischen Regimes fliehen Tausende von Menschen auf die italienische Insel Lampedusa. Um dem Flüchtlingsstrom zu begegnen, forderte Italien die Hilfe der EU. Heute findet ein „Europäischer Polizeikongress“ statt, auf dem auch der Direktor der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Ilkka Laitinen, erwartet wird. Dabei sind die Fronten schon klar gezogen.

Die Vergangenheit: Ein Pakt zwischen Teufeln

In Zeiten, da die tunesische Diktatur unter Ben Ali noch bestand, schien für die EU alles gut. Italien hatte mit dem Regime ein Abkommen über die „Flüchtlingsabwehr“ geschlossen. Der Flüchtlingsstrom versiegte, denn die tunesische Regierung liess die Seewege mit Patrouilleschiffen bewachen und sagte zu, Flüchtlinge wieder ins eigene Land aufzunehmen. Da man mit Staaten wie Lybien und Ägypten ähnliche Verträge geschlossen hatte, war der Erfolg einschneidend: Innerhalb eines Jahres sank die Zahl der Flüchtlinge, die auf der italienischen Insel Lampedusa landeten, von 20.000 auf gut 400. Auch in dieser Hinsicht dienten die Diktaturen im arabischen Raum also zur Erhaltung von EU-Interessen.

Die Gegenwart: Vom „humanitären Notstand“

Nach dem Sturz der tunesischen Diktatur – nun wohl bitter bedauert vom EU-Personal – wurden die Verträge nicht weiter eingehalten. Man weigerte sich, Flüchtlinge ins eigene Land zurückzuführen und auch die Kontrolle der Fluchtwege wurde kaum mehr betrieben. So kamen, vom Mittwoch bis zum Sonntag letzter Woche, etwa 5.000 Flüchtlinge aus Tunesien in Italien an. Daraufhin erklärte Italien den „humanitären Notstand“. Dieser besteht in der Tat: Da man sich weigert, die Flüchtlinge ins Landesinnere zu lassen, sind die Notunterkünfte Lampedusas hoffnungslos überfüllt. So hat der Präfekt von Palermo, unter dessen Zuständigkeitsbereich Lampedusa gehört, „Sondervollmachten“ bekommen und der Zivilschutz wurde eingeschaltet. Damit nicht genug: Italien wollte sogar eigene Soldaten in Tunesien stationieren, um der Flüchtlinge Herr zu werden. Dieses Vorgehen wurde aber von Tunesien scharf zurückgewiesen.

Die Zukunft: Die Schotten dicht machen?

Inzwischen scheint die neue tunesische Regierung dem Druck nachgegeben zu haben. Gestern berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Tunesiens, dass bereits möglichst viele Fluchtwege blockiert worden seien. Darüber hinaus trifft sich heute in Berlin der EU-Polizeikongress. Auf diesem wird auch der Direktor von Frontex, der europäischen Grenzschutzagentur, erwartet. Vor dem Treffen zeichnen sich die Fronten bereits klar ab: Die bürgerlich-rechten Parteien, insbesondere die deutsche CDU/CSU pocht auf eine Ausweitung der Befugnisse von Frontex, damit Flüchtlingswellen schon auf dem Seeweg abgefangen werden können. Auch im Gespräch: Besonders „fahrlässige“ Staaten (will heissen: Staaten, die Flüchtlinge aufnehmen) sollen aus dem Schengen-Verbund ausgeschlossen werden. Dies fordert etwa der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl (CSU). Die Argumentation spricht eine deutliche Sprache: Es sei „nicht Aufgabe des Asylrechts, Wirtschaftsmigranten in die EU zu lassen“. Schon erstaunlich, wie man in der Rechten in jedem Menschen einen potentiellen Attentäter auf den eigenen Wohlstand sehen kann…

Wir haben gegen den Despoten Ben Ali revoltiert

Interview mit Sami Aouadi,  Mitglied der Nationalleitung der UGTT (Union Générale Tunesienne du Travail – Allgemeiner Tunesischer Arbeiterbund)

Welchen Anteil haben die Gewerkschafter der UGTT an der Erhebung gegen Ben Ali?

Die soziale Erhebung ist nicht von den Strukturen der UGTT ausgelöst worden, aber diese haben schnell reagiert; eine Vielzahl von regionalen und sektoralen Strukturen haben sie flankiert, indem sie ihr ihre Lokale und Aktivisten zur Verfügung stellten. Die Gewerkschafter waren vor Ort, überall und jederzeit. Ohne diese logistische Unterstützung hätten viele Dinge nicht stattfinden können. Es ist wahr, dass die Gewerkschaftszentrale ein wenig gezögert hat. Die Führung hat nicht den Streik ausgerufen, aber sie hat ihre Gliederungen nicht gehindert, es zu tun und sich dem sozialen Kampf in unserem Land zur Verfügung zu stellen. Diese Haltung muss im Kontext der tunesischen Diktatur gesehen werden. Es war nicht leicht, einem solchen Regime gegenüberzutreten.

Bei den letzten Präsidentenwahlen hatte die UGTT-Führung ihre offizielle Unterstützung für Ben Ali erklärt…

Das ist richtig. Die Führung der UGTT war von der Macht sehr stark bedrängt worden, sie zu unterstützen. Wir haben alle das Gewicht des ausgeübten Drucks auf die Gewerkschaftszentrale begriffen. Immerhin konnten aber innerhalb der Nationalen Administrativen Kommission (Führungsgremium der UGTT, Anm. d. Red.) einige Gewerkschafen ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Die Gewerkschaften der Kader (Fachkräfte), der Mediziner, der Oberschul- und Hochschullehrer haben sich immer gegen die Unterstützung der Gewerkschaftsführung für den Despoten Ben Ali ausgesprochen. Darüberhinaus war diese Unterstützung nur formal, ein Lippenbekenntnis. Das war ein Kompromiss unter Druck, weil andernfalls die Staatsmacht drohte, die UGTT in die Knie zu zwingen.

Ihre Genugtuung heute kann man sich vorstellen…

Was sich in unserem Land abspielt, ist aussergewöhnlich, wunderbar. Das ist eine soziale Revolte, ohne Ideologie, ohne eine politische Partei an der Spitze der Bewegung. Das ist die Aktion von aktiven Gewerkschaftern, Aktivisten der Zivilgesellschaft, die den Polizeikräften die Stirn boten. Und in erster Linie die Aktion der Jugend, sowohl der Jugend der verarmten Stadtviertel wie der wohlhabenden Viertel, alle waren dabei. Wir haben mindestens 200 000 diplomierte Hochschulabsolventen, die auf der Strasse liegen, ohne Arbeit; sie machen 27 Prozent der tunesischen Arbeitslosen aus. Die meisten sind unter sehr schwierigen Bedingungen ausgebildet worden, ohne Stipendien oder Unterkunft zu bekommen. Und danach waren sie arbeitslos. Wie sollten die denn reagieren…?

Was sind ihre dringendsten Erwartungen hinsichtlich einer Veränderung?

Vorrang hat, eine echte Demokratie zu installieren. Wir verlangen eine Regierung der nationalen Versöhnung, eine allgemeine Amnestie aller Verurteilten wegen eines Meinungsdelikts, die Aufhebung jeder Beschränkung der politischen Aktivität.

Meinen Sie, Gehör zu finden?

Wir werden unserer Stimme Gehör verschaffen, dafür kämpfen, uns mit anderen Komponenten der Zivilgesellschaft koordinieren. Ich bin zugleich sowohl optimistisch wie skeptisch. Optimistisch aufgrund der Tatsache, dass diese soziale Bewegung aussergewöhnlich, immens, eigenständig, jung ist, ohne ausländische Einmischung – wir sind von niemandem manipuliert. Wir sind Gewerkschafter, Aktivisten, Universitätsangehörige, Mediziner, Anwälte, Staatsbedienstete, Arbeiter; wir haben gegen den Despoten Ben Ali revoltiert, wir haben ihn davongejagt… Zur gleichen Zeit bin ich mir klar über die Möglichkeiten der Fehlleitung, der Irreführung unserer Revolte durch die Kräfte, die gegen die Veränderung noch Widerstand leisten, die Präsidentengarde, die Milizien der Ben-Ali-Partei.

Welches sind in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht die Perspektiven, die Sie zu bestärken wünschen?

Wir haben hundert Forderungen! Wir werden eine neue Runde von sozialen Verhandlungen beginnen, bei der wir eine Aufwertung unserer Löhne und unserer Kaufkraft, eine Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen und die Respektierung der gewerkschaftilchen Freiheiten verlangen werden. Wir fordern die Infragestellung des von Tunesien übernommenen Modells der Wirtschaftsentwicklung. Ich beziehe mich auf den Konsens von Washington mit liberaler Orientierung, der empfahl, dass die Staaten sich zurückziehen und die Märkte der ausländischen Konkurrenz öffnen. Wir haben als Konsequenz einen doppelten Rückzug gehabt, sowohl aus dem öffentlichen und staatlichen Sektor infolge der Wirkung der neoliberalen Ideen wie aus dem Privatsektor infolge der Bedrohung durch die internationale Konkurrenz.

 

Interview mit Fathi Chamkhi, Präsident von Attac Tunesien

Welches waren die tiefen sozialen und wirtschaftlichen Auslöser, die zur Erhebung der Jugendlichen und zur Revolution des 14. Januar geführt haben?

Das von Ben Ali 1987 eingeführte Wirtschaftsregime war sehr liberal orientiert. Für die internationalen Institutionen, ob dies die Welthandelsorganisation, der Weltwährungsfonds oder die Europäische Union über ihre euro-mediterrane Partnerschaft war, ist Ben Ali der Musterschüler der liberalen Globalisierung geworden. Indessen haben sich die Zerstörung der öffentlichen Dienste sowie die Privatisierungswellen in Tunesien in totalster Intransparenz unter dem Zugriff von mafiosen Clans vollzogen. Unternehmen wurden zum Beispiel von ihren neuen Eigentümern ausgeplündert und verkauft zum Zweck der Immobilienspekulation. Landwirtschaftliche Flächen wurden von der Familie Ben Ali über ausländische Gesellschaften zusammengehamstert. Schritt für Schritt hat die Entwicklung dieses mafiosen Sektors die gesamte Wirtschaftstätigkeit kontaminiert.

Parallel dazu hat das Regime ein Null-Steuer-System für die ausländischen Unternehmen geschaffen. Die französischen Unternehmen wurden der zweitgrösste Arbeitgeber in Tunesien nach dem Staat. Dieses System ergab ein durchschnittliches Wachstum von fünf Prozent pro Jahr, aber das war Augenwischerei. Von 1984 bis zur Mitte der Jahre 2000 haben sich die Kapitaleinkünfte um 90 Prozent vergrössert, während gleichzeitig der durchschnittliche Reallohn unverändert blieb. Der aus der Epoche Bourgiba geerbte hohe Stand der Arbeitslosigkeit blieb bestehen, trotz der Verbesserung des Bildungsniveaus. Die ausgebildeten jungen Hochschulabsolventen waren am meisten von der Arbeitslosigkeit betroffen, da Tunesien seine Wirtschaftsstrategie auf Sektoren mit der Verwendung von gering qualifizierten Arbeitskräften gründete wie Textilindustrie, Bekleidungs-Konfektion oder Tourismus. Schlimmer noch: die von Ben Ali betriebene Politik hat eine Explosion der Unterbeschäftigung hervorgebracht. Zwei von drei Erwerbstätigen sind unterbeschäftigt. Eine Massenverarmung trat zutage. Die Weltwirtschaftskrise von 2008 hat die soziale Not verschärft. Aber der Staat hat darauf reagiert, indem er die Zahlen schönte, bis zur Ankündigung eines Sinkens der Arbeitslosigkeit. Die Reichtümer der Familien Ben Ali und Trabelsi (Frau des Ex-Diktators, Anm. d. Red.) wurden auf unverschämte und beleidigende Weise der Bevölkerung zur Schau gestellt. Die Bedingungen waren gegeben, dass das Pulverfass explodiert.

Welche Veränderungen können sich auch dieser Revolution ergeben?

Ich bin davon überzeugt, dass Tunesien über zahlreiche Vorzüge verfügt: die Bedingungen für die Frau, qualifizierte Arbeitskräfte, zahlreiche Reichtümer. Sie müssen von diesem politischen Druck befreit werden, der glaubt, unsere Interessen besser zu kennen als wir selbst. Die Revolution beginnt, einen Prozess auf der demokratischen Ebene einzuleiten. Auf wirtschaftlichem Gebiet ist das aber noch nicht gewonnen. Die neue Regierung der nationalen Einheit glaubt, dass der wirtschaftliche Liberalismus funktioniert. Ihre einzige Sorge ist, das Geschäftsklima zu verbessern, die Korruption zu bekämpfen und vor allem die ausländischen Investoren zu beruhigen, damit sie die Tunesier noch mehr ausbeuten. Während es darum geht, ein System sozialer Gerechtigkeit und ein Wachstum einzuführen, das die Grundbedürfnisse befriedigt. Man muss wachsam bleiben: selbst geschwächt, versucht das Regime, sich auf seinem Platz zu halten.

Tunesien: Erklärung der Kommunistischen Partei.

Der Sprecher der KAPT, Hamma Hammami, war am Mittwoch letzter Woche noch vom alten Regime in Haft genommen worden. Am Freitag wurde er dann im Zuge des allgemeinen Zusammenbruches der persönlichen Herrschaft von Ben Ali freigelassen. In der von Hammami am Samstag (15. Januar) vorgetragenen Erklärung heisst es:

Das tunesische Volk erreichte gestern Abend einen historischen Sieg über den Despoten Ben Ali, als dieser auf Suche nach einem sicheren Aufenthalt aus dem Lande floh. Und heute benannte der Verfassungsrat Fouad Mebazaa als Interimspräsident bis zu neuen Präsidentschaftswahlen, die innerhalb von 45 bis 60 Tagen stattfinden sollen.

Die tunesische kommunistische Arbeiterpartei verneigt sich vor diesem historischen, durch seine eigene Standhaftigkeit erzielten Sieg des Volkes und vor seinen gerechten Söhnen und Töchtern, die ihr Blut opferten und erklärt:

1  Der bisher erzielte Sieg ist nur die Hälfte des zu gehenden Weges, die andere Hälfte besteht in der Verwirklichung des erstrebten demokratischen Wandels und der erstrebten demokratischen Grundwerte.

2  Der demokratische Wandel wird keinesfalls von einer Partei, ihren Amtsinhabern, Institutionen, Organen und Gesetzgebung kommen, die sich der Diktatur ergeben und das Volk während der mehr als 23 Jahre dauernden Herrschaft von Ben Ali  seiner Grundrechte beraubt haben.

3  Fouad Mebazaa, der als Interimspräsident eingesetzt wurde, ist einer der engsten Gefährten von Ben Ali, Vorsitzender der im Feuer stehenden Regierungspartei RCD. Er vertritt nicht die Sache des Volkes und die Vorbereitungszeit zu den Präsidentschaftswahlen von 45 bis 60 Tagen dient ihm letzten Endes nur zu beschleunigten Versuchen zur Sicherung der Fortsetzung der diktatorischen Herrschaft unter einem der ehemaligen Amtsinhaber.

4  Das Gefährlichste, was heute geschehen könnte, wäre es, wenn dem tunesischen Volk der Sieg gestohlen würde und wenn die gerechtfertigten Erwartungen von Freiheit und einem Leben in Würde und die Opfer unterlaufen würden, indem ein System der vorher Herrschenden ohne Ben Ali, jedoch mit der Gloriole eines demokratischen Scheines umkränzt, aufrecht erhalten würde.

5  Der demokratische Wandel in all seinen Dimensionen, in den politischen, wirtschaftlichen, sozialen Rechten erfordert die Zerschlagung der Tyrannei. Der einzig richtige Schritt dazu ist die Bildung einer Interimsregierung oder einer anderen Körperschaft der Exekutive zur Organisierung von freien Wahlen zu einer Konstituierenden Versammlung, welche die Fundamente einer wahren Demokratie legt, in der sich das Volk der Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und nationaler Würde erfreuen kann.

6  Alle Kräfte, die maßgeblich und entscheidend dazu beigetragen haben, die Diktatur zu stürzen, gleich ob politische oder gewerkschaftliche Vereinigungen, ob Menschenrechts- oder Kulturorganisationen oder mit diesen verbundene Organisationen und die breiten Volksmassen können bei der Gestaltung der Zukunft Tunesiens nicht stellvertretend durch irgendeine Partei oder Gruppe in Verhandlungen oder Gesprächen mit der Staatsmacht vertreten werden.

7  Es ist dringend notwendig, dass sich die demokratischen unter den gesellschaftlichen Kräften für einen demokratischen Wandel zusammen schließen und die Aufgabe übernehmen, die Erfolge der Erhebung des tunesischen Volkes zu verteidigen und mit der Staatsmacht über einen friedlichen Regierungsübergang an das Volk zu verhandeln.

8  Die demokratischen Kräfte in allen Teilen des Landes sollten die Eingliederung ihrer Führungskräfte in die Organe, Kommitees oder Vorstände auf regionaler, lokaler oder sektoraler Ebene einfordern, um der RCD und ihren Gegenmanövern zu begegnen: den Akten von Vandalismus und den Plünderungen durch verdeckte Gruppen, mit denen Terror unter die Bevölkerung gebracht werden, ihre Sicherheit bedroht und Angst vor dem demokratischen Wandel verbreitet werden soll.

9  Die Armee, die überwiegend aus den Reihen der Söhne des Volkes besteht, wird aufgerufen, unsere persönliche Sicherheit und die des Landes zu bewahren und die Entscheidungen und Erwartungen des Volkes hinsichtlich Freiheit, Würde und sozialer Gerechtigkeit zu respektieren. So allein ist die Aufhebung des Ausnahmezustandes baldmöglichst zu verwirklichen und das ist wesentlich, um keine Ausrede mehr für die Unterdrückung des tunesischen Volkes in seinem anhaltenden Kampf zu ermöglichen und den Erwartungen der Basis unseres Landes zu entsprechen.

Für eine Interimsregierung der nationalen Einheit
für eine verfassunggebende Versammlung
für eine demokratische Republik

Tunesische kommunistische Arbeiterpartei
Tunis, den 15. Januar 2011

Dass die KAPT durchaus die Gefühle breiter Teile des Volkes in ihrer Erklärung berücksichtigt und zum Ausdruck bringt, zeigt sich daran, dass viele Tunesier mit dem bisherigen Ergebnis ihrer Revolution nicht zufrieden sind. In einem Interview mit ‚Welt online‘ (15.1.) beschrieb die Bloggerin Lina Ben Mhenni die Stimmung der Menschen wohl realistisch so: „die meisten Leute haben das Gefühl, dass wir noch nicht viel gewonnen haben. Selbst wenn Ben Ali jetzt weg ist, hat mit Mohammed Ghannouchi ein Mann die Macht übernommen, der das alte System repräsentiert. Er war ein Vierteljahrhundert ein Vertrauter Ben Alis. Die Partei und den Apparat sind wir noch lange nicht los. … Die meisten Leute sind eher traurig. Wir wollten ja nicht nur, dass Ben Ali verschwindet, sondern seine gesamte Regierung. Viele haben jetzt das Gefühl, hereingelegt worden zu sein.“

Für den heutigen Dienstag werden dementsprechend neue Demonstrationen in mehreren tunesischen Städten gegen die inzwischen gebildete Übergangsregierung erwartet. Und soeben machte die stärkste Gewerkschaft des Landes UGTT bekannt, dass sie die von den alten Kräften beherrschte neue Übergangsregierung  unter Fouad Mebazaa nicht anerkennen wird und die drei ihr darin angebotenen Ministerposten ablehnt. Sicher geschah diese Entscheidung unter dem Druck der Mitglieder und Volksmassen.

Ob die Kraft und Organisiertheit des tunesischen Volkes allerdings ausreicht, um ganz zu wirklicher Demokratie und zu sozialer Emanzipation im Sinne der KAPT-Erklärung voran zu schreiten, muss sich erst noch zeigen. Unsere Solidarität und Herzenswünsche sind dem tunesischen Volke jedenfalls sicher.

Quelle: Humanite.fr / kommunisten.de