Muzzaffer Acunbay ist frei!

SoliaktionErfolgreiche Protestbewegung gegen die Ausschaffung eines anerkannten Flüchtling

Griechenland schafft den anerkannten Flüchtling nicht an die Türkei aus. Die griechischen Behörden haben endlich entschieden: Der anerkannte Flüchtling wird nicht an sein Heimatland die Türkei verschleppt. Europaweit solidarisierten sich Menschen mit Muzaffer Acunbay. In Hamburg, Athen, Zürich und in Bern kam es in den vergangenen Monaten wiederholt zu Demonstrationen, welche die Freilassung von Acunbay forderten. Der Fall Acunbay zeigt den schlechten Schutz von politischen Flüchtlingen durch die Schweiz beispielhaft auf.

Muzaffer Acunbay ist seit mehr als zehn Jahren politisch anerkannter Flüchtling in der Schweiz. In den 1990er Jahren wurde er aufgrund seiner politischen Aktivitäten in der Türkei verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einem langen Hungerstreik kam Acunbay vorläufig frei und floh in die Schweiz. Seither fahndet die Türkei über Interpol nach ihm.

Im Sommer 2014 verbrachte Acunbay – nach Abklärungen mit den Schweizer Behörden am 14. April 2014 – seine Ferien in Griechenland. Dort nahmen ihn die griechischen Behörden fest und ordneten eine Ausschaffung in die Türkei an. Die Schweiz hat nur eingeschränkt Zugriff auf internationale Fahndungsdatenbanken. In seiner Antwort auf eine Frage von Balthasar Glättli gibt der Bundesrat zu, dass „das Fedpol keine umfassende Kenntnis aller internationalen Fahndungsersuchen und sonstigen Ausschreibungen habe“ . Dieser eingeschränkte Zugang kann, wie sich nun zeigt, Menschenleben gefährden. Die Schweiz müsste deshalb gewährleisten können, dass anerkannte Flüchtlinge automatisch von der Interpol-Datenbank gelöscht werden, sofern dies nicht die internationale öffentliche Sicherheit gefährdet.

Nach einem Rekurs stand am 13. Februar 2015 die höchstinstanzliche Verhandlung in Griechenland an. Diese wurde auf den 20. Februar verschoben. Grund war, dass die griechischen Behörden einen eindeutigen schriftlichen Beweis wollten, dass Acunbay in der Schweiz politisch anerkannter Flüchtling sei. Gegenüber dem Komitee FREIHEIT FÜR MUZAFFER ACUNBAY bestätigten die schweizer Behörden, dass bereits vor Monaten diplomatische Noten des SEMs und des EDA nach Griechenland geschickt wurden. Ob dies stimmt ist offen. Inakzeptabler Fakt ist jedoch, dass die bürokratischen Umstände zwischen der Schweiz und Griechenland unklar sind. Dies führte dazu, dass Acunbay seit Juni 2014 in einem griechischen Gefängnis verharren muss.

Letzte Woche nun erhielten die Richter, die von ihnen benötigten Dokumente. Sie entschieden am 20. Februar 2015: Keine Auslieferung Acunbays an die Türkei. Morgen Dienstag wird Acunbay voraussichtlich aus der Haft entlassen und kann in die Schweiz zurückkehren.

Aus dem Newsletter von solidarités sans frontières

Degradierung zur KonsumentIn

medicine2Im Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen geht es in der Öffentlichkeit primär um die Kosten und KostenverursacherInnen. Die Benennung jener geschieht nicht zuletzt auf subtile Art und Weise auf der sprachlichen Ebene und führt so zu einer Entsolidarisierung in der Gesellschaft und zum Verlust der Fähigkeit, Kämpfe zu sehen. Wenn heute über Gesundheit und Krankheit sowie Pflege diskutiert oder geschrieben wird, geht es ausschliesslich um Kosten, Finanzierung und vor allen um – «zu teuer». Die Vorstellung, dass eine gute Gesundheitsversorgung (für wenig Verdienende gratis) kosten und vom Gemeinwesen bezahlt werden soll, hat sich auch aus linken Debatten verabschiedet. Die Fixierung auf PatientInnen als KostenverursacherInnen soll durch Umbenennungen in den Köpfen verankert werden: von PatientInnen zu KundInnen und KlientInnen. Vorbereitet wird damit ein weiterer Schritt zur Entsolidarisierung der Bevölkerung, ein Ausdehnen der «JedeR gegen JedeR»-Mentalität zugunsten der neoliberalen Strategie, die Finanzierung der Gesundheitsversorgung an Private zu übergeben bzw. aus staatlicher Sicht, ganz abzuschaffen.

KlientInnen und Kunden

Das Benennen von Patientinnen als Kundinnen/Klientinnen suggeriert eine Wahlmöglichkeit, die es bei Krankheit nicht gibt! Worte wie «Bedarf» und «Bedürfnisse» unterscheiden zwischen einer Minimalvariante, die als «legitim» erscheint, und einem übertriebenen Anspruch von PatientInnen als Kostenfaktor. Was dabei als bedarfsgerecht bezeichnet wird, variiert nach aktueller Doktrin. Vor einigen Jahren galt es noch als erstrebenswert, eine ganzheitliche Pflege zu bieten. Heute wird es von Pflegeleitungen öffentlich als ein (Kosten-) Problem genannt, dass auf Pflege angewiesene immer mehr Ansprüche erheben und sich Pflegende zu wenig abgrenzen können. Ist es denn wirklich so übertrieben, dass Menschen in einer Krisensituation, was eine Krankheit immer ist, nicht nur technisch, sondern auch persönlich gut betreut werden?

Der Gesundheitswahn

Der Gesundheitswahn, der seit Jahren immer mehr zunimmt, ist zu einem lukrativen Markt geworden. Die Angebote, sich innerlich und äusserlich «gesund/fit/jung/schlank» zu halten, sind enorm. So wird fleissig gewellnesst, gefittet, gewässert, gefastet. Wo das nicht mehr reicht, dürfen wir uns vertrauensvoll der plastischen Chirurgie zuwenden. Denn genau da sind wir als «Kundinnen» sehr willkommen. Das Herumschnippeln an Frauenkörpern wird vom Modetrend zur «Normalität». Zur Norm werden soll dabei nicht ein freundlicher Blick auf den eigenen Körper mit verschiedensten Formen, Falten und Unebenheiten, sondern der Blick aus patriarchaler Perspektive, der ausschliesslich Männerphantasien bedient. Das Monopol der Normierung ist dabei fest in Männerhand. Dass es Frauen gibt, die da mitmachen, heisst, dass sie diese patriarchalen Vorgaben bereits verinnerlicht haben. Setzen wir dem unsere wilden Andersgeformtheiten entgegen! Die ausschliessliche Beschäftigung mit sich selbst hat aber nicht nur eine absolute Vereinzelung zur Folge, sondern sie verändert generell unsere Haltung zu Normal/Aus der Norm, Gesund/Krank und kranken Menschen gegenüber. Mit aggressiven Kampagnen wie gegen RaucherInnen und Übergewichtige, durch die vermeintlich aufgezeigt wird, was falsches Verhalten kostet, wird die Entsolidarisierung geschürt. Wenn Krankheit aber nur noch als «selbstgemacht», das heisst als etwas wahrgenommen wird, das Frau bekommt, weil sie etwas zu viel oder zu wenig, oder das Falsche getan oder nicht getan hat, heisst das, dass Gesunde sich über Kranke stellen. Denn offensichtlich haben sich diese richtig verhalten, während jene ein Fehlverhalten an den Tag legen. Was genau dieses richtige Verhalten sein könnte, verändert sich alle paar Jahre, weshalb es sowieso KeineR gelingt, alles richtig zu machen. Was bleibt, ist aber die eigene Schuld, das Unmögliche nicht möglich zu machen.

Aufruf zur Selbstverantwortung

«Selbst» ist das Zauberwort des Neoliberalismus. Gemeint ist «Selbst»optimierung, «Selbst»unterwerfung, «Selbst»verantwortung bis hin zur «Selbst»verblödung. Die Liste der «Selbst» kann beliebig verlängert werden. Nehmen wir den Aufruf zur Selbstbestimmung aber ernst, stossen wir schnell an die Grenzen dessen, was gewünscht wird: «Erlaubt ist, was nicht stört», was also die kapitalistische Bereicherungs- und Ausbeutungspolitik nicht stört. Und die wird gestört durch den Aufbau von kollektiven Widerständen gegen Individualisierung, Verinnerlichung von Dispositiven und dem grossen «Selbst». Deshalb: Setzen wir der neoliberalen Strategie der Vereinzelung unser solidarisches Antiselbst entgegen!

Solidarität und Kämpfe

Das sind nur Beispiele, wie unsere Fähigkeit, solidarisch zu denken und zu handeln, abhandengekommen ist. Ohne solidarisches Denken in unserem eigenen Umfeld, verlieren wir auch die Fähigkeit, Kämpfe zu sehen, die weltweit geführt werden und die uns zeigen, dass es viele Menschen gibt, die sich gegen Kapitalismus und neoliberale Indoktrinierung organisieren und kämpfen.

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Die Revolution in Rojava ist die Revolution der Frau

KobanêWo anfangen, um den Stimmen der Frauen und Frauenbefreiungsbewegung in Kurdistan Gehör zu verschaffen, zur Solidarität mit dem kurdischen Freiheitskampf und für Frauenbefreiung international aufzurufen und gegen Rassismus und europäische und andere «westliche» Kriegstreiber die Stimme zu erheben?! Das fragten sich autonome Feministinnen aus Wien und schrieben dazu eine Broschüre. Wir veröffentlichen hier in leicht gekürzte Fassung die Abschnitte über die Hintergründe der Revolution.

Die Revolution begann in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 in Kobanê. Die Selbstverteidigungseinheiten der YPG nahmen die Strassen, die in die Stadt hinein- und hinausführen unter ihre Kontrolle. Die Bevölkerung setzte zeitgleich die Belagerung und Einnahme aller staatlichen Institutionen der Stadt ein. Schliesslich versammelte sich die Bevölkerung vor dem Militärstützpunkt der Assad-Armee in Kobanê. Eine Delegation aus der Bevölkerung ging hinein, um mit dem Militär zu verhandeln. Sie sollten ihre Waffen abgeben und man werde für ihre Sicherheit garantieren, das war das Angebot der kurdischen Seite.

Frauenbewegung, Frauenräte und Frauenzentren

Unter diesen Umständen haben sich die Frauen organisiert, aus der langjährigen Überzeugung, dass die Revolution ohne Befreiung der Frauen nicht möglich ist. Delsha Osman, Mitglied der Koordination der Yekitîya Star: «Wir können die Situation in Westkurdistan und Syrien nicht losgelöst von den Entwicklungen im Mittleren Osten und in Nordafrika betrachten. Auch viele Frauen haben sich an diesen Aufständen (…) mit grossen Hoffnungen und Emotionen beteiligt. Allerdings waren sie nicht organisiert. Deshalb konnten sie ihre Forderungen nicht durchsetzen und wurden vereinzelt aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt. Demgegenüber können Frauen in Westkurdistan heute auf die Analysen und die 30jährige Erfahrung der Organisierung der kurdischen Befreiungsbewegung zurückgreifen. Das war die Grundlage, die den Weg dafür geöffnet hat, dass wir unter dem Namen ‚Yekitîya Star‘ im Jahr 2005 unsere eigene Organisierung aufbauen konnten. Yekitîya Star ist zu einer neuen Identität geworden, über die sich Frauen definieren und organisieren können. Die Zielsetzung von Yekitîya Star ist es, eine demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft aufzubauen und als Frauen eine treibende und gestaltende Kraft in diesem Prozess zu sein.»

«Früher konnten wir als Frauen nicht am öffentlichen Leben teilnehmen. Entweder stand uns unser Vater oder unser grosser Bruder im Weg», sagt Zeynep Muhammed, eine Koordinatorin der Yekitiya Star. In Rojava sind die Frauen heute eine treibende Kraft in der Rätedemokratie, denn «die Frau kann in den Bereichen, in denen sie organisiert ist, die männliche Dominanz hinterfragen und bekämpfen», sagt eine kurdische Aktivistin. Sie organisieren sich eigenständig, bauen Frauenräte und Frauenzentren in den befreiten Kommunen und Städten auf und spielen eine tragende Rolle in den allgemeinen Strukturen, bei denen eine vierzigprozentige Geschlechterquote gilt und die über eine geschlechterparitätische «Doppelspitze» verfügt.

In den Stadtteilen und Dörfern werden Frauenräte organisiert, die Frauenkommunen. Aus Vertreterinnen der Frauenkommunen setzt sich der Frauen-Stadtrat zusammen und dies entsendt Delegierte an den Frauenrat des Kantons. Zuletzt gibt es noch eine Frauenkoordination, die sich aus den Frauen der drei Frauenräte der Kantone zusammensetzt. «Die Frauenräte sind das verbindende und beschlussfassende Gremium aller Frauen (…) Nuha Mahmud erklärt zum Beispiel, dass auch zahlreiche arabische und christliche Frauen sich an den Rat wenden, zum Beispiel wenn die Frauen den Wunsch haben sich scheiden zu lassen. (…) [auch aufgrund] sexueller Gewalt wenden sie sich an Räte. (…) Frauen, die vergewaltigt wurden, [werden] oft von ihren Familien verstossen, manchmal sogar ermordet. Daher hätten Frauen logischerweise oft geschwiegen, nun sieht es anders aus», schreibt Anja Flach.

Patriarchale Praktiken überwinden

Die Frauen bauen ihre eigenen Frauenbildungseinrichtungen und Frauenzentren auf. Delsha Osman sagt: «Dutzende Frauen konnten vor dem Tod bewahrt werden. Es wurde verhindert, dass sie Opfer von ‚Ehrenmorden‘ werden. In diesen Häusern finden Frauen Solidarität und Unterstützung.» Zusätzlich gibt es ein wöchentliches Bildungsangebot für die Frauen zu Themen wie den gesellschaftlichen Sexismus, die Geschichte der Frau, die demokratische Autonomie oder die legitime Selbstverteidigung.

Die Yekitîya Star konnte wichtige Beschlüsse auf der Konferenz des Volksrates durchsetzen: Morde «im Namen der Ehre» werden als Verbrechen gegen Frauen und die Gesellschaft verurteilt und bestraft. Patriarchale Praktiken, wie die Verheiratung im jungem Alter, arrangierte Ehen bei der Geburt, Zwangsverheiratung usw., werden geächtet und nicht akzeptiert. Verheiratete Männer, die zusätzlich eine weitere Frau heiraten, werden aus allen Organisationen und Gremien ausgeschlossen. Für die «Frauenarbeit» als Frauenorganisierung für Frauenbefreiung gilt eine gemeinsame Verantwortung. Zum Beispiel können Männer die Frauenarbeit unterstützen, indem sie sich mit sich selbst auseinandersetzen und ihre patriarchalen Denk- und Verhaltensweisen überwinden. Gleichzeitig baut die Yekitîya Star eine Zusammenarbeit mit Frauen anderer Bevölkerungsgruppen auf. «Wir haben gemeinsame Plattformen mit arabischen, assyrischen und ezidischen Frauen sowie Beziehungen zu verschiedenen Frauen und Frauenorganisationen aufgebaut. Ein wichtiges Anliegen ist es hierbei, ein demokratisches Zusammenleben aller Volksgruppen und Religionen mit ihrer eigenen Identität zu verwirklichen, sowie Nationalismus und religiösen Spaltungen entgegenzuwirken», so Delsha Osman.

Neuer Gesellschaftsvertrag

Die Selbstverwaltung durch Rätedemokratie wird mit Volksräten, Frauenräten, Räten von Bevölkerungs- und religiösen Gruppen aufgebaut. Die unterste Organisationsstruktur ist die Kommune, die meist aus 30 bis 150 Haushalten besteht. Die nächsthöhere Organisationsstruktur ist in einem Stadtteil bzw. in einer Dörfergemeinschaft, die etwa sieben bis zehn Dörfer umfasst, dann folgt die Organisierung auf Kommunalebene und in Kantonen. Den Räten sind Komitees angegliedert.

Auf die Bildung der Bevölkerung wird besonderen Wert gelegt. «Alle Mitglieder der Komitees und der Verwaltung nehmen an der Ausbildung in den allgemeinen Volksakademien teil, wo das neue Paradigma detailliert erläutert wird. Zudem findet Unterricht statt zu Themen wie demokratische Kultur und Volksverwaltung. Für die Bevölkerung selbst gibt es in den Stadtteilen und den Dörfern regelmässig Seminare und Diskussionsrunden. Und in regelmässigen Abständen organisieren wir Volksversammlungen. Dort wird über die politische Situation und über Lösungen für gesellschaftliche Probleme diskutiert. Wir nehmen die Kritik, Vorschläge und Bewertungen aus der Bevölkerung sehr ernst», sagt Asya Abdullah von der PYD.

Alle Bedürfnisse der Bevölkerung, von Gesundheit bis Sicherheit, werden durch die Komitees abgedeckt. Aber es gibt natürlich auch Einschränkungen, Engpässe und Schwierigkeiten, vor allem durch die Kriegssituation in Syrien, aber auch durch das Embargo – unter anderen von der Türkei und der Regionalregierung in Südkurdistan (im Nordirak).

Für eine kollektive Ökonomie

Dara Kurdaxi, Wirtschaftswissenschaftlerin und Vertreterin des Komitees für wirtschaftliche Belebung und Entwicklung von Afrîn: «Es soll kein kapitalistisches System sein, das seiner Umwelt keinen Respekt zollt; und auch kein System, das die Klassenwidersprüche fortsetzt und letzten Endes nur dem Kapital dient». Das Wirtschaftsmodell Rojavas sei eine Antwort auf den Neoliberalismus der kapitalistischen Moderne und eine Kritik am Staatskapitalismus realsozialistischer Prägung. Eine volksnahe Wirtschaft sollte deshalb auf Umverteilung und Nutzorientierung beruhen, statt sich ausschliesslich an der Anhäufung und am Raub von Mehrwert und Mehrprodukt zu orientieren. Das Modell Rojavas soll ein Modell für den ganzen Mittleren Osten sein.

Eine besondere Bedeutung hat das neue Rechtssystem. Auf der untersten Ebene arbeiten die «Friedens- und Konsenskomitees», die in den Dörfern und Stadtteilen gebildet wurden. Damit wird eine traditionelle Struktur der «Ältestenräte» aufgebaut, aber mit den Werten des Gesellschaftsvertrages von Rojava gefüllt, in dem Rätedemokratie, Geschlechterbefreiung und Menschenrechte festgeschrieben stehen. Auf der Kommunalebene besteht eine Doppelstruktur dieser Komitees, ein allgemeines Komitee und ein Frauenkomitee, das für Fälle von patriarchaler Gewalt, Zwangsehe, Mehrehe, Vergewaltigung etc. zuständig ist. Diese Frauenkomitees sind direkt an die Yekitîya Star angebunden und sollen garantieren, dass sich in Fällen patriarchaler Gewalt nicht patriarchale Rechtsbesprechung durchsetzt.

Das Recht auf Selbstverteidigung

Der kurdische Freiheitskampf sieht seit Ende der 90er Jahren, nach ausführlichen Diskussionen, nicht mehr den «Volkskrieg zur Befreiung von Kolonialherrschaft», als strategisches Konzept, sondern die «Legitime Selbstverteidigung». Diese beinhaltet eine soziale Revolution und internationale Perspektive und hat zum Ziel die Selbstorganisierung der Bevölkerung zu verteidigen und zu schützen. «Die Organisierung von Selbstverteidigungskräften ist eine grundlegende Voraussetzung, um gegen jede Form von Unterdrückung, Fremdbestimmung und Herrschaft einen eigenen Willen und Entscheidungskraft entwickeln zu können. Damit ist die Fähigkeit zur Selbstverteidigung das Fundament der Selbstbestimmung», sagt Hevala Servin, feministische Internationalistin im kurdischen Freiheitskampf. Die Frauenbefreiungsbewegung Kurdistans schreibt 2010: «In der sexistische Gesellschaft, in der wir leben, stellt nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft eine Quelle der Gewalt dar. In dieser Situation können Frauen, die keine Verteidigungsmöglichkeiten haben, in jedem Land und in jeder Kultur leicht zum Ziel von Gewalt werden.» Sie sehen Selbstverteidigung als eine wichtige Grundlage für die Frauenbewegung.

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Lang leben die Frauenkämpfe hier und international!

2014_03_08_frauenkampftag2_fWir widmen den Internationalen Frauenkampftag 2015 der Frauenrevolution in Rojava, dem Widerstand der Frauenverteidigungseinheiten YPJ und allen kämpfenden Frauen der Welt. Den gefallenen und lebenden, den eingesperrten und freien Frauen, die um die Befreiung aller von Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen, ihnen allen gilt unsere Verbundenheit und unsere Erinnerung. Es gibt dieses Jahr eine Demo für Lohngleichheit in Bern, die von den Gewerkschaften, den grossen Frauenverbänden und Parteien organisiert wird. Warum also noch eine Frauendemo in Zürich? Warum nicht nach Bern? Weil grosse inhaltliche Differenzen bestehen. So wird für eine gemischte Demo aufgerufen. Ausserdem ist der 8. März für uns Internationaler Frauen-kampf-tag. International soll auch unsere Perspektive sein, wohingegen der Inhalt der Demo in Bern einzig die Lohngleichheit ist. Dies unter Teilnahme der FDP, CVP und SP, die Verantwortung für neoliberale Sparprogramme und Privatisierungen tragen sowie für die Einführung der rassistischen Zwangsmassnahmen im AusländerInnenrecht vor nun 20 Jahren. Es ist Wahlkampf, die Parteien wollen sich profilieren und geben sehr viel Geld dafür aus. Trotz Gratis-Zug: Ohne uns!

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist eine richtige Forderung. Doch für sich allein stellt sie die Perspektive weisser Mittelklassefrauen ins Zentrum und verschweigt die anderen Unterschiede, die grundlegend sind dafür, wer welchen Lohn erhält: «Bessere» Ausbildung oder gar keine, legale oder illegale Arbeitsverhältnisse, Produktions- oder Reproduktionsarbeit, bezahlte oder unbezahlte Arbeit, mit rotem Pass oder mit der Polizei im Nacken… Es geht in Bern nicht um einen Arbeitskampf, sondern nur um Teilhabe, um ein grösseres Stück des Kuchens für die Privilegierten.

So werden Spaltungen zementiert: Weisse Mittelklassefrauen leisten verhältnismässig gut bezahlte Lohnarbeit, feilen an ihren Karrieren und stellen eine Putzfrau an, da sie sich nicht mit ihren Lebenspartner über die Reproduktionsarbeit streiten wollen. Diese Arbeit wird also ausgelagert, meist an Migrantinnen (die erst eine Generation später vielleicht an einer Karriere feilen dürfen). Was individuell eine pragmatische Lösung zu sein scheint, ist letztlich eine Niederlage feministischer Kämpfe. Keine Kollektivierung von Arbeiten, keine Sprengung der klassischen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern.

Frauen kämpfen!

Gerade an der Geschichte des 8. März zeigt sich, wie langsam sich Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse auflösen lassen. Es braucht die Kraft und den revolutionären Mut von tausenden von Frauen überall auf der Welt, um die bestehenden patriarchalen und kapitalistischen Verhältnisse zu ändern. Wir sehen uns verankert in einer langen Geschichte von feministischen, revolutionären und emanzipatorischen Kämpfen und wissen, dass diese Kämpfe noch nicht zu Ende gekämpft sind. Wie es unsere kurdischen Genossinnen in ihrem diesjährigen Aufruf treffend sagen: «Am 8. März 2015, 104 Jahre nach der Ausrufung des Internationalen Frauentages, kämpfen Frauen auf der ganzen Welt noch immer gegen das patriarchale Herrschaftssystem. In Erinnerung an die Textilarbeiterinnen in New York, die in ihrem Widerstand ihr Leben ließen, wurde auf der 2. Internationalen Frauenkonferenz 1910, auf Vorschlag Clara Zetkins, der 8. März als Symbol für Frauenkampf und -widerstand verankert. Diese Bewegung, dieser Aufschrei widerhallt noch immer auf den Strassen. Die Revolution gegen Ungleichheit, Sexismus und jede Form der Gewalt hat sich bis heute ausgeweitet und ist weiterhin Verteidigerin aller menschlichen Werte.»

Obwohl weltweit vieles erreicht wurde durch kämpfende Frauen, sind auch immer wieder Rückschläge und Niederlagen zu verzeichnen. Wir sind uns schmerzlich bewusst, dass hier in der Schweiz viele Frauen denken, es gäbe nichts mehr wofür es sich zu kämpfen lohne. Denn immerhin können einige (wenige) Frauen gar Bundesrätinnen oder Managerinnen werden und (fast) alle können ihr Glück im Konsum finden und Karriere und Kinder und Party mit etwas Geschick auf die Reihe kriegen und sich dabei selbst optimieren. Wenn frau sich nur genug Mühe gibt, lebt sie hier in der besten aller Welten…

Der individualistischen, neoliberalen Propaganda, die täglich über alle Kanäle, Zeitungen und Smartphones verbreitet wird, setzen wir unsern solidarischen und internationalistischen Kampf entgegen. Darum widmen wir den 8. März 2015 den Frauenverteidigungseinheiten der YPJ. In Rojava wird versucht mitten im Krieg eine emanzipatorische Gesellschaft zu erschaffen, in der die Frauen sich von patriarchaler, religiös und moralisch legitimierter Gewalt und Herrschaft befreien und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Sie tun dies selbstbestimmt und greifen dabei zu den Waffen. Was ihnen ausnahmsweise zu viel Öffentlichkeit verhilft.

… hier und international!

Wir möchten dabei aber nicht jene kämpfenden Frauen vergessen, die weniger oder gar keinen Platz in den Schlagzeilen der bürgerlichen Medien erhalten.

So organisieren sich beispielsweise die Textilarbeiterinnen in Bangladesh und Kambodscha, unter massiven Angriffen der Polizei, in massenhaften Arbeitskämpfen; in Indien gingen Mitte Februar 100000 Frauen gegen die Privatisierung von Kinderkrippen auf die Strasse; auch in der Schweiz gab es Streiks von Verkäuferinnen und von Pflegearbeiterinnen. Vielerorts kämpfen Frauen gegen die Kriminalisierung der Sexarbeit. Auf allen Kontinenten mobilisieren sich Frauen gegen die anhaltende sexualisierte und physische Gewalt gegen Frauen, für die Selbstbestimmung über Körper und Psyche, für das Recht auf Abtreibung und gegen kolonialistische Bevölkerungspolitik.

Unter anderem in Indien, Mexico, Kolumbien und auf den Philippinen kämpfen Frauen in linken Guerillas um die Befreiung und Würde der Unterklassen, um die Rechte der Indigenen und gegen die Zerstörung und den Raub des Landes. In vielen verschiedenen Kämpfen nehmen Frauen eine zentrale Rolle ein: In den Kämpfen gegen Zwangsräumungen und Vertreibung der Armen aus den Städten, in den Kämpfen um das Territorium und den Schutz der Natur, wie im Val Susa gegen den Hochgeschwindigkeitszug (TAV) oder gegen die Keystone-Ölpipeline durch Kanada und die USA. Auch im Kampf gegen die mörderische rassistische Asylpolitik in Europa oder gegen die rassistische Polizeigewalt in den USA. Unsere Solidarität allen kämpfenden Frauen! Venceremos!

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Syriza in den Startlöchern

crimeDer Athener Genosse Spyros Dapergolas beschreibt in diesem Artikel für die Zeitung Internationell Solidaritet der schwedischen syndikalistischen Gewerkschaft SAC, wie revolutionär die Pasok einst war, wie Syriza tickt und was von ihr erwartet werden kann. Der Text erschien noch am Vortag der Wahlen und liegt hier übersetzt vor. 

Der 18. Oktober 1981 war ein symbolischer Tag für das Nachkriegs-Griechenland. Nicht einmal sieben Jahre nach der Rückkehr griechischer Linker aus dem Exil und nach den Folterungen, die auf den Fall der Militärjunta folgten, schaffte es eine linke Partei plötzlich, ihre Wählerprozente zu multiplizieren und die Macht zu ergreifen. Ihr politisches Programm schreckte die rechten Kräfte der griechischen Gesellschaft (die GewinnerInnen des griechischen Bürgerkriegs), wie auch Teile der Oberschicht auf. Das Programm der Partei beinhaltete etwa den Austritt Griechenlands aus der Europäischen Gemeinschaft, die Loslösung von der NATO und der US-Einflusssphäre, eine massenhafte Sozialisierung von Unternehmen und gesellschaftliche Kontrolle in Fabriken, eine Auflösung/Desintegration des militärischen Parastaates, eine Attacke auf die rechtsaussen stehende orthodoxe Kirche sowie Freiheiten, die heute selbstverständlich sind. Die Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) war eine wirkliche Linkspartei, die eine friedliche sozialistische Transformation propagierte (und für den Notfall dennoch Gewehre hortete). Sie war eine radikale Partei, selbst für die 1980er-Jahre. Die Parallelen mit Syriza sind offensichtlich.

Was ist Syriza?

Syriza startet als eigenartige Sammlung. Sie ist die Evolution einer abscheulich vulgären und reformistischen, historischen eurokommunistischen Strömung, in der linke Gruppen des gesamten Spektrums – von leninistischen KetzerInnen bis zu den Basisbewegungen und anderen AktivistInnen – koexistieren. Syriza «wird aus dem Nichts kommend alles», genau wie damals die Pasok. Aber verglichen zur Pasok, transformiert sich Syriza schneller, ihr politisches Programm ist nie so radikal, wie jenes von Pasok in den 1980er, zudem besteht Syriza nur aus ein paar Tausend Mitgliedern.

Die Machtübernahme in der Syriza durch Tsipras – er war der Auserwählte des früheren Parteichefs – im Jahr 2008 bedeutete die Aufgabe des Eurokommunismus und die Schaffung einer neuen politischen Identität. Mit einer Rhetorik, die mit der libertären Tradition flirtet, mit einer Fixierung auf politische Rechte und mit einer Mitglieder-Präsenz auf der Strasse, zielte diese neue Identität darauf ab, soziale Kämpfe und Forderungen zu unterstützen. Schliesslich brachten die linken Parteien ihre Erfahrungen in Kämpfen der Strasse sowie eine kleinere Anzahl kämpferischer Mitglieder mit, für welche die erwähnte Neuorientierung für eine gewisse Einheitsbildung notwendig war.

Keine linke Einheitspartei

Zur selben Zeit versuchte Tsipras, den Einfluss von Syriza in den Gewerkschaften zu mehren, dies hauptsächlich im öffentlichen Sektor und unter den organisierten Studierenden der Universitäten. Zusätzlich propagierte Syriza, welche damals nicht mehr als 4 Prozent der WählerInnen hinter sich hatte, kontinuierlich die generelle und emotionale Einheit des gesamten linken Spektrums in Griechenland, auch wenn dies zuvor sowohl von der Griechischen Kommunistischen Partei (KKE), als auch von anderen linken Kräften ausserhalb der Syriza offen abgelehnt worden war.

Ferner musste die 4-Prozent-Partei als Sündenbock für das gesamte rechte und faschistische Spektrum herhalten: Syrizas einwanderungsfreundlichen Positionen, ihre relativ säkularen Ideen, ihre Polemiken gegen die sozialen Diskriminierungen und ihr Antinationalismus standen unter ständigem und manchmal hysterischem Beschuss.

Diese alte Syriza zog eine riesige Wählerdynamik auf sich, welche die Parteikader niemals vorhersagen oder planen hätten können. Von einer Oppositionspartei, die sich bemühte, die für den Parlamentseinzug nötige 3-Prozenthürde zu erreichen, wandelte sich Syriza zu einer Partei, welche die KKE weit überholte, die symbolische Hegemonie in der Linken übernahm und mit der Machtübernahme zu liebäugeln begann.

Einige Worte zum politischen Klima

In Griechenland erlebten die ArbeiterInnen das Ende des Traumes der Prosperität und wurden Zeugen der Lüge hinter den systematischen Versprechen der EU und Griechenland. Die ArbeiterInnen sahen sich mit Arbeitslosigkeit oder mit viel tieferen Löhnen konfrontiert, gezwungen, für ihre Gesundheit zu zahlen, und gleichzeitig Leistungen zu verlieren.

Für die Älteren ist die Situation noch schlechter, da sie nicht nur ihre Renten verlieren, sondern auch von dem verschlechterten Gesundheitswesen abhängig sind. Alles was den «Wohlfahrtsstaat» ausmachte, schrumpfte, wurde teurer und schlechter. Die allgemeine Korruption war aufgeteilt. In diesem Rahmen diente die Korruption, die unter den Leuten der gesellschaftlichen Basis gefunden werden konnte, als Alibi für massenhafte Kürzungen bei Sozialleistungen. Ging es jedoch um die bourgeoise oder staatliche Korruption, blieben die Mitglieder der oberen Klasse unangetastet.

Die zwei früheren grossen Parlamentsparteien (Pasok und Neue Demokratie) wurden schwerwiegend entwertet. Da diese nicht länger Stimmen «kaufen» können durch simple «Austausche» (etwa Anstellungen im öffentlichen Sektor oder Steuerreduktionen) und zugleich versuchen, so viel zurückzunehmen wie sie durch ihren politischen Klientelismus weggegeben haben, sind sie nur noch Schatten ihrer Vergangenheit.

Die rechte Neue Demokratie (ND) überlebte, weil sie genug Glück hatte, die Bombe des wirtschaftlichen Zusammenbruchs 2009 an die Pasok-Regierung weiterzugeben. ND war seit 2012 an der Regierung und sammelte eine heterogene Dynamik von WählerInnen, die rechtsaussen, konservativ, liberal, bourgeois oder oligarchisch waren. Doch auch politische Professionelle, verängstigte KleinbürgerInnen und ältere WählerInnen, die damit rechnen, dass sie nur noch wenige Jahre leben werden und deshalb nicht ihre Pensionen und ihren Frieden durch eine linke Regierung aufs Spiel setzen wollen, stehen hinter ND. Dennoch erreicht die Partei bloss die Hälfte der vergangenen parlamentarischen Stärke.

Der andere Pol des Zweiparteiensystems und Mitglied der Regierungskoalition, die Pasok, schrumpfte auf 4 Prozent und ist mit dem Risiko konfrontiert, nicht einmal ins Parlament einzuziehen, besonders angesichts der Abspaltung durch Papandreou vor einigen Wochen.

Die zwei Parteien, die von jenen profitieren werden, die entschieden haben, nicht mehr ND oder Pasok zu wählen, sind die FaschistInnen von der Goldenen Morgenröte und die Syriza. In ein paar Tagen, am 25. Januar, werden diese Dynamiken in den Wahlresultaten abzulesen sein.

Syriza ante portas

Die Geschichte von der Realpolitik, die jede radikale Kraft kreiert, sobald sie mit der Macht konfrontiert ist, wurde schon oft erzählt. Syriza ist noch nicht an diesem Punkt angelangt. Die aktuelle Realpolitik von Syriza ist es, es allen Recht zu machen. Sie propagiert ihre Verpflichtung zu den demokratischen Institutionen, während sie gleichzeitig ihre Verbindungen zu den Basisbewegungen rühmt. Freimütig unterstützt sie das Szenario des Verbleibs in der EU unter der Bedingung, dass letztere eine Union der Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit wird. Syriza predigt Basiskämpfe, will aber deren Dynamiken in Wählerzahlen reflektiert sehen. Sie verurteilt Gewalt und Brüche mit der Rechtsordnung während verschiedener Kämpfe, doch tut sie dies nur halbherzig. Sie verurteilt den Imperialismus und alle Arten von Interventionen, während sie zu Griechenlands Position in der NATO schweigt. Sie flirtet mit Russland, China und den USA. Es kursieren Gerüchte über Arrangements mit der besitzenden Klasse. Gleichzeitig unterstützt Syriza von Repression bedrohte anarchistische Besetzungen und anarchistische Hungerstreikende.

Syrizas Hauptanliegen ist alle zufrieden zu stimmen. Was sonst könnte sie tun, besonders da sie bloss daran interessiert ist, die Wahlen zu gewinnen?

Wir müssen uns einer Sache bewusst sein: Wenn wir von Syriza sprechen, verweisen wir auf eine politische Kraft, deren Wahl und soziale Dynamiken unausgeglichen sind. Wer denkt, dass Syriza in Griechenland oder in Europa wichtige sozialistische Änderungen einführt, peitscht ein totes Pferd.

Veränderung für aber ohne die Klasse?

Die notwendigen Bedingungen, die Radikalismen erlauben würden, sind schlicht nicht vorhanden: Das Gewerkschaftswesen im Privatsektor ist eine unbedeutende Bewegung, die von der KKE kontrolliert wird. Die Studierendenbewegung ist laut und bestimmt aber sie ist auch relativ klein, saisonal und hat einen Hang zum Linkspopulismus. Zwar gibt es ein paar lokale Kämpfe, doch wird Syriza auf diesem Gebiet ernsthaft von den AnarchistInnen und der revolutionären Linken herausgefordert. Selbst in den Bereichen der sozialen Rechte, der Solidarität mit Gefangenen und im Antifaschismus versucht Syriza verzweifelt, von der von AnarchistInnen auf der Strasse geschaffenen Medienaufmerksamkeit und von diesem politischen Kapital zu profitieren.

Die griechische Gesellschaft, die ArbeiterInnen, die soziale Basis gingen durch fünf harte Jahre, in denen sie alle Kampfmittel ausprobiert haben, die von früheren sozialen Konflikten und Kämpfen bekannt waren. Und es war ein totaler Reinfall. Mit wenigen Ausnahmen, die aktiv blieben (und diese werden Syriza in den Wahlen kaum unterstützen), sind die ArbeiterInnen isoliert zu Hause. Viele von ihnen warten auf Syriza mit einer schwachen Hoffnung.

Ist es in einer derart globalisierten Umgebung möglich, grössere Umbrüche ohne allgemeine soziale Unterstützung der Klasse voranzutreiben? Sind Veränderungen für die Massen ohne die Massen möglich? Nein, das ist unmöglich und die Aktiven in Syriza wissen das ganz genau.

Zweifelsohne gibt es ehrliche Kader in der Partei (und für die griechischen systemischen Gewohnheiten ist das selten). Es gibt in der Syriza erfahrene linke AktivistInnen, die sich nie an die Pasok verkauft haben, obwohl sie es gekonnt hätten, gutwillige Radikale aus den Nachbarschaften und Arbeitsstätten. Diese Leute kämpfen heute und morgen innerhalb der Partei für die ewige linke Illusion eines freien sozialistischen Staatswächters der ArbeiterInnenklasse. Klar ist es amüsant, zu beobachten, wie überraschter Ekel sich auf den Gesichtern der Rechtsextremen breitmacht angesichts des nahenden «Sieges der national-nihilistischen Bolschewiken». Es ist gut, dass sich mehr Menschen der repressiven Agenda des Faschismus widersetzen. All dies ist dennoch temporär.

Ein Teil der altgedienten Mitglieder der Pasok ist schon zu Syriza übergelaufen und greift, entlang den Überbleibseln der eurokommunistischen Tendenz, nach der Macht in der Partei, denn je näher diese an der Macht ist, desto weniger Platz bleibt für die «verrückten Linken». Diese Tendenz zeigt etwa der Fakt, dass sie beim Konflikt mit Deutschland und der EU über die Schulden- und Austeritätsmassnahmen bereits zurückkrebsen.

Kompromiss statt Umsturz

Zusätzlich müssen wir beachten, dass Syriza einen Staat zu regieren haben wird, in dem der bürokratische Mechanismus aus ehemaligen Pasok-Mitgliedern und der repressive Mechanismus, das heisst der tiefe Staat (Armee, Polizei und Justizsystem) aus Rechten und FaschistInnen bestehen. Wenn wir davon ausgehen, dass Syriza keine Junta etablieren kann, wie soll sie den Staat kontrollieren, wenn nicht durch Austausch und Verhandlungen mit diesen Akteuren?

Die alte radikale Syriza der 4 Prozent träumt noch immer von Umstürzen. Sie wollten, doch sie konnten nicht! Syriza bleibt nur der Kompromiss. Er ist das einzig mögliche Ziel auf dem Regierungsweg einer linken Partei, welche die Macht nicht mit Gewalt ergreifen will. Was bleibt, ist eine Partei, die nicht einmal organisierte Massen loyaler WählerInnen hinter sich hat. Die Regierungs-Syriza der 30 Prozent träumt vom Überleben an der Macht. Umstürze kann sie nicht herbeiführen, doch schlimmer ist, sie will auch nicht mehr umstürzen.

Was wird nach den Wahlen passieren?

In den ersten zwei Jahren nach 1981 realisierte Pasok, die aus mindestens 400 000 fanatischen Mitgliedern bestand, welche der Partei die Linie vorgaben, einige Punkte aus ihrem Programm. Sie erhöhte Löhne, etablierte Gewerkschaftsrechte und sozialisierte (heuchlerisch und von oben herab) ein paar Unternehmen, die eigentlich geschlossen werden sollten. Nach fünf Jahren an der Macht fokussierte Pasok nur noch darauf, im grossen Stil Linke im öffentlichen Sektor anzustellen, was zuvor 40 Jahre verboten war. Auch beendete sie einige mittelalterliche Gesetze und solche aus dem Bürgerkrieg. Als nächstes wurde die Partei sozialdemokratisch und dann liberal. Pasok tauchte in die Korruption ab und vor ein paar Jahren schliesslich öffnete sie Tür und Tor für die von der EU angeführten wirtschaftlichen Überwachung und die auferlegten Austeritätsmassnahmen.

Es gibt die Möglichkeit, dass Syriza diese Art der Parteievolution wiederholen wird, nur viel schneller und nicht in einem so grossen Umfang.

Eine mögliche erfolgreiche Verhandlung über die Schulden, eine essentielle Entlastung von der Austerität und was immer Positives Tsipras der griechischen Gesellschaft garantieren kann, wird als Sieg über die internationalen Kredithaie präsentiert werden, wird die Syriza in der Macht stärken und das alte politische Personal kaputtmachen.

Wenn man sie nicht ertragen müsste, wäre es extrem amüsant, dieses alte politische Personal nun zu beobachten: Sie haben Angst, sind parasitär, korrupt, religiös besessen und mit Bürgerkriegskomplexen versehrt, eine unglaubliche Kombination von NationalistInnen und KollaborateurInnen. Wenn der Kontrast zwischen der Regierung und Syriza riesig erscheint, so ist das, weil die gegenwärtige Regierung widerwärtig ist.

Deshalb wird Syriza, obwohl sie offensichtlich undurchsichtig ist, die Wahlen gewinnen. Wenn Syriza mit irgend etwas durchkommt, selbst mit einer kleinen Sache, wird das politisch für lange Zeit halten. Wenn sie scheitert, das heisst, wenn Deutschland als dominanter Staat in der EU beabsichtigt, mit Griechenland zu brechen, dann wird die Entwicklung der Ereignisse zweifelsohne völlig unvorhersehbar.

Es gibt nichts, das anzeigen kann, was in einem solchen Szenario die Reaktion der griechischen Gesellschaft sein wird. Nicht einmal, ob die Gesellschaft in eine emanzipatorische oder reaktionäre Richtung schreiten wird.

Was sollte geschehen?

Wenn es darum geht, ein intaktes Management der griechischen Schuldenkrise sowie dem Wahnsinn der Austerität zu bewerkstelligen, dann, ja, ist Syriza die Lösung. Das wäre eine fortschreitende systemische und beruhigende Lösung für den schrumpfenden «Mittelstand» wie auch für die kleinbürgerlichen Teile der griechischen Gesellschaft, welche die Illusion haben, dass all dies vorübergehend sei.

Für jene, die mehr wollen, für jene, die an ihrer Klasse interessiert sind, für jene, die nach Selbstorganisierung und Partizipation streben, für die Menschen der Kämpfe aller Sorten ist Syriza eine Illlusion. Es ist nicht Syrizas Fehler, dass die ausgebeutete Gesellschaft ruhig ist. Und es ist nicht Syrizas Fehler, wenn die neue Generation dem Parlamentarismus und dem Unsinn linker Herrschaft verfällt.

Es ist ein langer Weg und er verlangt viel Arbeit an der Basis: Die Verbindung der ArbeiterInnen mit den Gemeinplätzen durch einen militanten und horizontalen Syndikalismus, durch Selbstorganisierung in Nachbarschaften und durch ein radikales politisches Engagement mit libertären/anarchistischen Ideen und Praktiken.

Die wenigen Kräfte in Griechenland, die im Klassensyndikalismus, in lokalen sozialen Bewegungen und in der anarchistischen Bewegung daheim sind, umfassen ein subversives politisches Kapital, welches klein ist, aber nicht so klein.

Sozialer Wandel erlaubt keine indirekten Wege und der Weg der Macht ist die ultimative Sackgasse. Es kann den Anschein machen, dass Zeit vorhanden ist, aber es könnte auch nicht so sein: Momente der Krise, Momente, in denen die Ohren der ArbeiterInnen offen sind, Momente, die verlangen Risiken einzugehen, treten nicht nur durch bewusste Vorbereitung ein, sondern oft auch «wie Diebe während der Nacht». In jedem Fall kann nur eine soziale Bewegung, die sich der Basisarbeit verschrieben hat, die Kanäle der Kommunikation und der politischen Gärung geschaffen hat, und die ihre Beständigkeit bewiesen hat, der Funke sein, welcher die Massen befähigt, zu explodieren.

Alles andere ist ein Rezept für das Versagen, Enttäuschung, ein Verlust von Zeit und natürlich eine politische und individuelle Korruption, also das, was Macht und Staat immer kreieren. Wie einst mit Pasok, so einmal mit Syriza…

Das englische Original gibt es hier: http://internationellsolidaritet.com/2015/01/24/syriza-at-the-gates/

«Syriza, lasst Acunbay frei!»

SoliaktionSeit Juni 2014 sitzt der in der Schweiz als politischer Flüchtling anerkannte Muzaffer Acunbay in Griechenland in Auslieferungshaft. Am 13. Februar entscheidet nun die höchste griechische Instanz, ob er in die Türkei ausgeliefert wird, wo ihm lebenslange Haft und Folter drohen. Rund sechzig Personen demonstrierten am Freitagnachmittag, dem 6. Februar, in Bern mit der Parole «Syriza, lasst Acunbay frei!». Die Demo führte von der Heiliggeistkirche über den Casinoplatz zur griechischen Botschaft. Die Demonstration ist Teil einer Kampagne, die sich seit mehreren Monaten mit dem in vielerlei Hinsicht brisanten Schicksal von Muzaffer Acunbay beschäftigt. Neben dem Komitee «Freiheit für Muzaffer Acunbay» und «Solidarité sans frontières» fordern verschiedene Organisationen seine umgehende Freilassung und ungehinderte Rückkehr in die Schweiz.

Politisch anerkannter Flüchtling

Muzaffer Acunbay lebt seit mehr als zehn Jahren als politisch anerkannter Flüchtling in der Schweiz. Er ist im Oktober 2003 in die Schweiz eingereist und lebt seither in Zürich. Sein Asylgesuch wurde schon im Juni 2004 positiv beantwortet. Muzaffer Acunbay war in den 90er Jahren auf Grund seiner politischen Aktivitäten in der Türkei verhaftet und während seiner Vernehmung durch die türkische Geheimpolizei aufs Schwerste gefoltert worden. Schliesslich wurde er vom berüchtigten türkischen Staatssicherheitsgericht (DMG), welches schon mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für seine ungerechten und politisch motivierten Urteile kritisiert wurde, zu lebenslanger Haft verurteilt. Acunbay war über neun Jahre in verschiedenen türkischen Gefängnissen inhaftiert, wo er aufgrund seines sehr schlechten Gesundheitszustandes in Folge der unmenschlichen Haftbedingungen sowie eines mehrmonatigen Hungerstreiks vorübergehend freigelassen wurde. Von einer erneuten Inhaftierung bedroht, floh er schliesslich in die Schweiz.

Knast statt Ferien

Im Sommer 2014 machte Muzaffer Acunbay Ferien in Griechenland. Zuvor hatte er beim Bundesamt für Polizei (Fedpol) abgeklärt, ob gegen ihn ein internationaler Haftbefehl vorliegt, denn schon mehrfach wurden in der Schweiz anerkannte Flüchtlinge im Ausland verhaftet, da sie seitens der Türkei per Interpol zur Fahndung ausgeschrieben waren. Schliesslich beschied ihm das Fedpol schriftlich, dass kein internationaler Haftbefehl gegen ihn vorläge. Trotzdem wurde er bei einer routinemässigen Strassenkontrolle in Griechenland im Juni 2014 völlig überraschend verhaftet. Seither sitzt Acunbay im Knast. Am 7. November 2014 beschloss ein griechisches Gericht erstinstanzlich seine Auslieferung in die Türkei. Nach einem Rekurs steht am 13. Februar 2015 die höchstinstanzliche Verhandlung an. Dann wird entschieden, ob die griechischen Behörden daran festhalten, Acunbay an die Türkei auszuliefern.

«Das neu gewählte politische Linksbündnis Syriza soll dieses Unrecht verhindern», fordert Ahmet Taner vom Komitee «Freiheit für Muzaffer Acunbay». Da sein Status als politischer Flüchtling seitens der Schweiz anerkannt wurde, darf Acunbay gemäss der 1951 verabschiedeten Genfer UN-Flüchtlingskonvention nicht an ein Land, aus dem er auf Grund politischer Repressionen und Verfolgung geflohen ist, ausgeliefert werden. Doch obwohl diese Konvention auch für Griechenland rechtlich bindend ist, haben die dortigen Behörden Acunbay festgenommen und erstinstanzlich entschieden, ihn an die Türkei auszuliefern. Dieses Urteil verstösst sowohl gegen internationales als auch griechisches Recht.

Türkei missbraucht Interpol

«Der Fall Acunbay ist aufgrund mehrerer Aspekte brisant. Er zeigt, dass die Schweiz keinen uneingeschränkten Zugang zu der Interpol-Datenbank hat, in der die internationalen Haftbefehle aufgeführt sind. Dieser eingeschränkte Zugang kann, wie sich nun zeigt, Menschenleben gefährden. Die Schweiz müsste deshalb gewährleisten können, dass anerkannte Flüchtlinge automatisch von der Interpol-Datenbank gelöscht werden, sofern dies nicht die internationale öffentliche Sicherheit gefährdet», fordert «Solidarité sans frontières» in ihrer Solidaritätsbotschaft vom 6. Februar.

Mehrere ähnlich gelagerte Fälle aus der jüngeren Vergangenheit belegen, wie die Türkei Interpol instrumentalisiert und missbräuchlich gegen politisch unliebsame Personen einen internationalen Haftbefehl erlässt, sie so terrorisiert und in ihrer Bewegungsfreiheit massiv einschränkt. Sollte Griechenland tatsächlich die Auslieferung von Muzaffer Acunbay an die Türkei beschliessen, droht ihm eine lebenslange Haft sowie schwerste Misshandlungen. Deshalb fordert «Solidarité sans frontières» die Schweizer Behörden auf, sich vehement für seine Freilassung und seine Rechte einzusetzen. Die Situation in türkischen Knästen ist bis heute schockierend: Es wird massiver Druck auf die Häftlinge ausgeübt. Insbesondere Personen, die auf Grund ihrer politischen Aktivität zu Haftstrafen verurteilt wurden, werden von anderen Häftlingen isoliert. Kranke Häftlinge werden oftmals dem Tod überlassen. Nahezu wöchentlich veranstalten deshalb Menschenrechtsorganisationen in der Türkei Kundgebungen gegen diese unmenschlichen Zustände. Auch kann Muzaffer Acunbay mit keinem fairen und rechtsstaatlich angemessen Verfahren rechnen, da die türkischen Gerichte bis heute nicht unabhängig sind, wie selbst Staatspräsident Abdullah Gül unlängst einräumen musste.

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Italien-Rückführungen – Das Elend mit dem Schweizer Humanlabel

lampe-sos«Solidarité sans frontières» hat eine Petition mit dem Titel «Stoppt die Rückschaffungen nach Italien» lanciert. Es ist offensichtlich, dass Italien die Neuankünfte über das Mittelmeer nicht mehr bewältigen kann. Die Forderung ist also inhaltlich folgerichtig, taktisch jedoch umso bemerkenswerter. Die Schweizer Asylpolitik kann nicht ohne Blick nach Italien verstanden werden. Allen «Bemühungen» der letzten zwanzig Jahren zum Trotz – Rückübernahme-Abkommen, Militär an der Tessiner Grenze, diplomatische und technische Gespräche auf allen Ebenen – bleibt die Zahl der über das Land in die Schweiz eingereisten Asylsuchenden hoch. In seiner kommentierten Asylstatistik für das Jahr 2014 zieht das «Staatssekretariat für Migration» (SEM) folgenden Schluss: «Aufgrund des hohen Migrationsdrucks auf die Küsten Italiens und der damit einhergehenden Überlastung des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems ist die Dublin-Zusammenarbeit mit Italien, dem wichtigsten Dublin-Partnerstaat, im Jahr 2014 (…) anspruchsvoller geworden und war während mehrerer Monate stark beeinträchtigt.»

Fürwahr: Über das Mittelmeer sind allein letztes Jahr 166000 Bootsflüchtlinge in Süditalien eingetroffen. Ginge es nach dem Dublin-Assoziierungsabkommen, müsste das Land für sie alle aufkommen, eine Unterkunft zur Verfügung stellen, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Schule, etc. So wie schon für die 42925 gestrandeten Bootsflüchtlinge 2013 und die über 13 000 ein Jahr zuvor. Ende 2014 verfügte Italien jedoch nur über 24 771 Plätze. Das reichte bei weitem nicht einmal, um die 76?263 bereits anerkannten Flüchtlinge und subsidiär Aufgenommene zu versorgen. Letztes Jahr kamen fast so viele Asylgesuche dazu. Die Schweizer Öffentlichkeit mag sich zwar empören über die angebliche Renitenz Italiens, das Dublin-Abkommen streng umzusetzen. 2014 stellte die Schweiz Italien 11322 Dublin-Überstellungsgesuche, wovon nur 3019 gutgeheissen und «nur» 1367 durchgesetzt wurden. Mit ihrer Empörung blendet sie jedoch aus, dass sich diese Überstellungen angesichts des eklatanten Mangels an geeigneten Empfangsstrukturen verheerend auf die Betroffenen selbst auswirken können und erheblich zur Verschärfung der gesamten Unterbringungssituation in Italien beitragen, wo seit geraumer Zeit und in Kenntnis derselben Schweizer Öffentlichkeit täglich Zehntausende von MigrantInnen in besetzten Gebäuden, leerstehenden Hallen oder schlicht auf der Strasse darben müssen. Nur logisch, dass Neuankömmlinge versuchen, sich der Abnahme der Fingerabdrücke in Italien zu entziehen, das Weite suchen und nach Norden ziehen. Um der Diskrepanz zwischen Neuankünften und Platzressourcen einigermassen Herr zu werden, ist Italien ohnehin darauf angewiesen, ein Rotationsprinzip in den Zentren aufrecht zu erhalten: Spätestens mit dem Erhalt des Asylentscheides werden die Schutzsuchenden aus den Camps geworfen, um Neuankömmlingen Platz zu machen. Vorausgesetzt, sie erhielten zuvor überhaupt je Eingang in eine der grösstenteils maroden Empfangsstrukturen namens SPRAR, CARA, CPSA und CDA.

Dublin ad absurdum geführt

Unzählige Urteile in verschiedenen europäischen Ländern lassen daran keine Zweifel aufkommen. Im November letzten Jahres verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention und befand, eine afghanische Familie dürfe nicht ohne Garantien nach Italien zurückgeschafft werden. Während Dänemark zum Beispiel daraufhin umgehend alle Rückschaffungen von Familien nach Italien stoppte, traf das SEM eine Vereinbarung mit dem italienischen Pendant. Seitdem garantiert der italienische Staat dem schweizerischen jeweils auf Anfrage, die rückzuführende Familie anständig zu behandeln. Wieviel diese Garantien wert sind, zeigen neuste Ermittlungen, die in Italien unter dem Stichwort «mafia capitale» für Schlagzeilen sorgten, nicht aber in der Schweiz. Im November wurde bekannt: Mafia, extreme Rechte, PolitikerInnen und soziale Institutionen haben sich jahrelang just an den Asylstrukturen masslos bereichert, für die nun Garantien abgegeben werden.

Doch selbst wenn Italien seine Versprechen tatsächlich einhielte: Ist es zum Beispiel in Ordnung, Alleinstehende verelenden zu lassen, junge Erwachsene, Gesunde? Dass sogenannt besonders verletzliche Personen andere verdrängen, die über kein solches Label verfügen? Nicht genug, dass sie aufgrund der Dublin-Verordnung in Italien feststecken, wo sie keine Zukunft haben, und es ihnen verboten wird, auch nur die Nähe ihrer Verwandten und Bekannten zu suchen. Das Schweizer Humanlabel schafft in Italien ein Zweiklassensystem, das über den spärlichen Zugang zur Existenzsicherung entscheidet. Auf den Punkt gefragt: Sollen nun alle asylsuchenden Familien, die nachweislich durch Italien gereist sind, in die Schweiz fahren und ein Asylgesuch stellen, nur um sich so ein Label und damit eine Unterkunft und Nahrung in Italien zu sichern?

Wider besseres Wissen

Der Bundesrat, das SEM, aber auch das Parlament und die Medien beharren nichtsdestotrotz und wider besseres Wissen auf die strikte Anwendung der Dubliner Konvention, offenbar ohne Rücksicht auf Kollateralschaden. Der Konsens geht politisch bis weit in die SP- und Grünen-Fraktion hinein: Dublin muss durchgesetzt werden, Italien seine Aufgaben machen. Natürlich soll Italien seine Aufgaben machen und deutlich mehr und bessere Aufnahmeplätze zur Verfügung stellen als bisher! Die 166 000 letztes Jahr in Italien angekommenen Flüchtlinge kann aber ein einziges Land, das sich zudem in der Dauerkrise befindet, nicht ohne die Solidarität seiner Partner bewältigen. Mit ihrer sturen Haltung unterwandert die Schweiz nicht nur jegliche Bemühung Italiens, menschenwürdige Empfangsstrukturen aufzubauen und zu unterhalten, sondern produziert auch unnötig menschliches Leid.

Es ist inhaltlich nichts als logisch, taktisch jedoch umso bemerkenswerter, dass «Solidarité sans frontières» eine Kampagne lanciert, um ein Moratorium der Rückschaffungen nach Italien gemäss Dublin-Konvention durchzusetzen. Die Forderung stellt nüchtern betrachtet bei weitem keine Revolution dar, fühlt sich aber im heutigen Migrationsdiskurs genauso an. Wir kennen diese Situation aus dem letzten Referendum gegen Asylverschärfungen. Gut möglich, dass wir auch diese Schlacht verlieren. Auch im Kampf für Menschenrechte, zu denen Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit nun mal gehören, ist und bleibt jedoch die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist.

Weitere Infos, Materialien und
Online-Petition: www.stoprenvois.ch

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Umverteilung als Skandal

Freihandelsabkommen_webEine neue Studie der Ökonomin Monika Engler sieht für den in der Schweiz so innig geliebten «Mittelstand» düstere Zeiten. Diese strebsame und fleissige politische Zielgruppe habe nach dem staatlichen Transfer von Geld und Sachleistungen weniger zur Verfügung als die untersten Einkommensschichten. Nach der staatlichen Umverteilung verfüge eine Person mit einem Jahres-Lohn von rund 12 000 Fanken über ein Einkommen von 66 800 Franken und sei damit stärker aufgestellt als eine Person, die ein Einkommen zwischen 35 000 und 100 000 Franken erziele. Stark wirke die Umverteilung auch zwischen Teilzeit- und Vollzeitstellen. Ein kinderloser Haushalt mit einem Vollzeitsalär von 105 000 Franken verfüge über ein Einkommen von 66 000 Franken, während ein Haushalt mit einem Teilzeitsalär von 32 000 Franken nach dem staatlichen Eingriff über 72 000 Franken verfüge.

Die Fondation CH2048

In Auftrag gegeben hat die Studie die Fondation CH2048, die sich als Reaktion auf die Abzocker- und die Zuwanderungsinitiative gegründet hat. Die Organisation setzt laut ihrer Homepage «auf Gemeinsinn und Dialog und will zu einer Versachlichung der innenpolitischen Auseinandersetzung beitragen». Was das heisst, wird allerdings schon in ihrer Selbstbeschreibung als «Allianz für eine global wettbewerbsfähige und verantwortliche Schweiz» angedeutet. CH2048 möchte «die Spannungsfelder zwischen den Anforderungen im globalen Standortwettbewerb und den berechtigten Anliegen der Bevölkerung im Inland» abbauen. Bekanntlich lassen sich die Anforderungen des abstrakten Zwangs der globalen Konkurrenz kaum reduzieren und so ist offensichtlich auf welcher Seite man am «Spannungsfeld» arbeiten will. So gab etwa der Stiftungsgründer von CH2048, der Sozialdemokrat Christoph Koellreuter, dem Tagesanzeiger kürzlich zu Protokoll, entscheidend sei, dass die Wirtschaft alle am Erfolg habe teilhaben lassen, unbefriedigend sei erst die Umverteilung.

Die Forderungen

Die Zahlen der Studie scheinen verlässlich zu sein, wenn man das Haushaltseinkommen auf eine einzelne erwerbstätige erwachsene Person herunterbricht, zumindest bis eine soziale Institution das Ganze in einer neuen Studie gegenrechnen lässt. Weil zu den untersten Einkommen auch Arbeitslose, IV-RentnerInnen und Frühpensionierte aus der umworbenen «Mittelschicht» und der «Oberschicht» gehören, schreiben die AuftraggeberInnen in einem Kommentar zur Studie: «Der relativ hohe Nettotransfer […] darf sicher nicht in seinem ganzen Umfang als Umverteilung vom Mittelstand zugunsten des untersten Dezils interpretiert werden.» Entscheidend ist aber, welche politischen Forderungen die Fondation CH2048 aus dem Resultat der Studie zieht. Sie fordert, dass ein «individuelles Wohlstandskonto» eingerichtet werde. Für einen Teil der Sozialleistungen sollen die BürgerInnen künftig selber sparen und das Geld in schlechten Jahren vom Konto abziehen. So individualisiert man die Sozialleistung und unterläuft die staatlich organisierte Unterstützung jener, die nur schlechte Jahre kennen. Zudem soll gewisse staatliche Leistungen nur noch erhalten, wer arbeitet; die Sozialhilfe soll besteuert und ein Einheitssteuersatz eingeführt werden, der auf eine Progression verzichtet, aber die tiefsten Einkommen durch Freibeträge vor der Armutsgrenze schützt.

Die Forderungen zielen faktisch mit der Verbesserung des Niveaus des «Mittelstandes» auf eine Verschlechterung der untersten Einkommensschichten. Statt also das Kapital – das künftig mit der Unternehmenssteuerreform III zusätzlich entlastet werden soll – zu belasten, will die Fondation zwischen den untersten und den mittleren Einkommen umverteilen. So löst man also das «Spannungsfeld» zwischen internationaler Konkurrenz und den sozialen Problemen im Inland. Wenn man den nationalen Standort voranbringen will, ist das nur folgerichtig.

Staatliches Regime

Was will man dem entgegensetzen? Man sollte sich an dieser scheinheiligen umverteilungszentrierten Debatte gar nicht beteiligen. Letztlich ginge es darum, dass die Proletarisierten – und dazu gehören sowohl die untersten als auch die mittleren Einkommen – gemeinsam und solidarisch für bessere Lebensbedingungen kämpfen, ohne Bittsteller beim staatlichen Moloch zu sein und ohne sich um die Studien jener zu kümmern, die für eine «wettbewerbsfähige Schweiz» eintreten.

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Wir werden das ändern!

syriza_junge frauHerr Katrougkaos, der Präsident des europäischen Parlaments, Martin Schulz, war am Donnerstag in Athen. Am Freitag soll der Vorsitzende der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, sich mit der neuen Regierung treffen. Die Vertreter der europäischen Institutionen, die Syriza vor den Wahlen scharf geisselten, eilen heute nach Athen. Ist dies ein Zeichen, dass der Sieg der gegen die Sparzwangpolitik auftretenden Linken das europäische Spielbrett durcheinander wirft?

Katrougkalos: Das ist klar. Vor den Wahlen sagten uns unsere politischen Gegner, dass selbst das Prinzip einer Neuverhandlung der Schulden ausgeschlossen sei. ‚Ein abgeschlossenes Abkommen wird nicht wieder neu verhandelt‘, wiederholten sie. Nun scheint es, dass die Logik beide Seiten zu Neuverhandlungen zwingt. Ganz einfach, weil das Resultat der Memoranden, der Sparpolitik, ein eklatantes Scheitern ist. Diese antisoziale Politik bringt desaströse ökonomische Auswirkungen hervor. Der Sieg von Syriza hat bereits Rückwirkungen auf dem Kontinent. Zwei grosse Lager zeichnen sich nunmehr ab: die harte deutsche Rechte und ihre Verbündeten aus den Nordstaaten. Das andere Lager vereinigt die Parteien der europäischen Linken, zu denen SYRIZA gehört, und neu aufkommende Kräfte wie PODEMOS. Möglicherweise kann sich dieses Lager ausweiten auf manche Sozialdemokraten, wenn sie begreifen, dass die absolute Identifizierung mit der Politik der Rechten zum Zusammenbruch führt, wie dies in Griechenland mit der PASOK schon geschehen ist. Um deutlich zu sein: wir erkennen in den Entscheidungen von François Hollande keine linke Politik. Aber wir sagen, dass man von den Rissen in der Front der Austerität profitieren sollte, um Unterstützungen zu finden und unsere Positionen zu stärken. Die Deutschen können nicht weiterhin ihre Entscheidungen ganz Europa aufzwingen.

Sie stehen in der ersten Linie, um die Austeritätpolitik zu stoppen, da die Troika zu Beginn der Austeritätsprogramme die Streichung von 150 000 Stellen noch vor 2015 forderte, von den 667 000, die die griechischen öffentlichen Dienste insgesamt aufwiesen. Wieviele Stellen sind tatsächlich schon gestrichen worden? Werden Sie die entlassenden Beschäftigten wieder einstellen?

Katrougkalos:Wir werden alle diejenigen wieder einstellen, die entlassen worden sind. Man hat von 20.000 Entlassungen gesprochen, aber die reale Zahl ist sicherlich geringer. Was den harten Kern des Staates anbetrifft, sind nach den ersten Berichten, die ich einsehen konnte, 3.500 Staatsangestellte, die in den Ministerien arbeiteten, vor die Tür gesetzt worden. Aber dazu muss man beispielsweise noch alle entlassenen Beschäftigten infolge der brutalen Schliessung des öffentlichen Rundfunk- und Fernsehsenders ERT hinzurechnen. Wir werden das ändern.

Wie wollen Sie der Vetternwirtschaft ein Ende machen, die sich wie ein Funktionsmodell im Zug des Wechsels zwischen Pasok und Neue Demokratie durchgesetzt hat?

Katrougkalos:Das wird eine wesentliche Schiene sein, um einen Rechtsstaat wiederaufzubauen. Wir brauchen ein klares und wirksames Beurteilungssystem. Nicht um Entlassungen zu rechtfertigen, wie dies bisher konzipiert wurde, sondern um unsere Verwaltung zu verbessern. Ohne Hexenjagd werden wir einen klaren Diskurs mit den Staatsangestellten führen, über all das, was geändert werden muss. Wir werden die Gewerkschaften in diese Änderungen einbeziehen, um das System der Vetternwirtschaft zu zerbrechen und den Staat auf gesunden Grundlagen wieder aufzubauen.

Sie sind Verfassungsrechtler. Soll das griechische Grundgesetz, das die vorhergehende Regierung von jeder sozialen Verpflichtung säubern wollte, bestehen bleiben?

Katrougkalos:Das wird Gegenstand einer Debatte in der Regierung und in den Reihen von SYRIZA sein. Mein Gesichtspunkt ist, dass eine Verfassungsgebende Versammlung gebraucht würde. Wenn ein Land einer schweren Krise entgegentreten muss, wie das 1958 in Frankreich im Moment des algerischen kolonialen Befreiungskrieges der Fall war, muss es sich Institutionen schaffen, die es ihm ermöglichen, die Schwierigkeiten zu überwinden. Wir brauchen eine neue Verfassung einer IV. griechischen Republik, die auf direkte Demokratie gegründet ist. Mit zum Beispiel der Möglichkeit, korrumpierte Abgeordnete abzuberufen, und mit Anerkennung der Volksinitiative für Gesetze oder Referenden. Auf sozialem Gebiet müssten schon bestehenden Garantien auch ausgeweitet werden. Die eigentliche Ausarbeitung dieser neuen Verfassung sollte eine Übung in direkter Demokratie sein, wie in Island.

gr_george katrougalosZur Person: Georgios Katrougkalos ist stellvertretender Innenminster und zuständig für die Staatsreform Griechenlands.  Er ist 51 Jahre alt, Verfassungs- und Völkerrechtler, Professor für Staatsrecht. Katrougkalos studierte in Athen und später an der Sorbonne Paris, war Gastprofessor in Dänemark, absolvierte Studienaufenthalte in den USA, war Professor für Öffentliches Recht in Athen. Er war als Experte und Mitarbeiter von Stiftungen und anderen Einrichtungen für verschiedene griechische Ministerien tätig; Mitarbeiter an Forschungsprojekten des Europarats, Beratungstätigkeiten im internationalen Rahmen u.a. in Usbekistan, Mazedonien, Albanien, Armenien, Syrien; Verfasser zahlreicher Bücher und Artikel in juristischen Zeitschriften; zuletzt Abgeordneter für SYRIZA im Europäischen Parlament.

 

Aus der französischen kommunistischen Tageszeitung «Humanité» vom  30. Januar 2015. Übersetzung: G. Polikeit

Quelle: www.kommunisten.de

Ein Nein ohne Wenn und Aber!

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Für die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) kann die Unternehmenssteuerreform III (USR III) nicht losgelöst von der vorhergehenden Reform, die USR II, beurteilt werden. Daher ist ein kurzer Blick zurück zwingend: Am 24. Februar 2008 scheiterte das Referendum gegen die USR II mit 49.5 Prozent Nein-Stimmen denkbar knapp, 20’000 Stimmen gaben den Ausschlag. Im Abstimmungsbüchlein des Bundesrates zu dieser Volksabstimmung wurden die Steuerausfälle auf höchstens 933 Millionen Franken beziffert. Drei Jahre später, am 14. März 2011, musste der Bundesrat auf Druck des Parlaments jedoch zugeben, dass Bund, Kantone und Gemeinden wegen der USR II mit Steuerausfällen von über 7 Milliarden Franken in den nächsten 10 Jahren rechnen müssen. Steuerausfälle, die «tendenziell ansteigen und nicht zurückgehen» werden, wie Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Juni 2011 im Ständerat erklärte (Amtliches Bulletin vom 9. Juni 2011). Der Bundesrat hatte das Volk vor der Abstimmung schlicht angelogen! Das sieht auch das Bundesgericht so: Die Nationalräte Margret Kiener Nellen und Daniel Jositsch reichten eine Beschwerde ein und forderten eine Wiederholung der Abstimmung. Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab. Jedoch ist im Urteil vom 20. Dezember 2011 zu lesen, dass der Bundesrat die «Stimmbürger hinters Licht geführt» hat.

Zur USR III

Nach diesem Betrug am Volk soll nun die aktuelle Reform zu Steuerausfällten von mindestens 2.2 Milliarden führen. Es ist dies ein erneutes Geschenk an die Grossunternehmen im Lande. Wir lehnen die USR III kategorisch ab, weil sie zu einer massiven Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen vieler Menschen in der Schweiz führen wird. Die beweist die Praxis und die Realität der letzten Jahre: Die Steuergeschenke an die Unternehmen durch die letzte Reform, die USR II aus dem Jahr 2008, wurden mit einem massiven Sozialabbau finanziert. Besonders zu nennen sind dabei  die «Reformen» der Arbeitslosen- sowie der Invalidenversicherung, der Abbau im Bildungswesen und im öffentlichen Dienst. Dies wird bei der USR III nicht anders sein, davon ist die PdAS überzeugt.

Wir lehnen daher sämtliche vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen ab, wobei wir zwei besonders erwähnen:

– Lizenzboxen

Selbst in den veröffentlichten Unterlagen des Bundesrats ist zu lesen, dass die Einführung der Lizenzboxen «verfassungsrechtlich problematisch sei». Dies, weil die Schweizer Verfassung eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vorschreibt. Bei der Einführung der Lizenzboxen wäre dies nicht mehr der Fall, da zum Beispiel Chemiefirmen mit vielen Lizenzen steuerlich bevorteilt würden gegenüber etwa Dienstleistungsunternehmen ohne Patente. Es ist bedenklich, dass der Bundesrat wissentlich den Verstoss gegen die Verfassung in Kauf nimmt, um die Interessen der Grossunternehmen zu befriedigen.

– Kapitalgewinnsteuer

Die Einführung einer Kapitalgewinnsteuer, die laut Bundesrat etwa 300 Millionen Franken einbringen würde, ist eine alte Forderung der PdAS. Die Steuer darf jedoch nicht als Massnahme eingeführt werden, um die geplanten Steuerausfälle etwas zu lindern. Sie muss vielmehr mit dem Ziel und Zweck eingeführt werden, dass sie Mehreinnahmen generiert, die zur Finanzierung und dem Ausbau der Sozialversicherungen führen.

Forderungen der PdAS

In diesem Sinne sind auch die folgenden steuerpolitischen Forderungen der PdAS zu verstehen:

– Erhöhung der Gewinnsteuer bei Kapitalgesellschaften

– Radikale Erhöhung der Grundstückgewinnsteuer

– Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen

– Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer

– Harmonisierung der Steuersätze von Gemeinden und Kantonen

– Erhöhung der Steuern der Grossvermögen

Schlussbemerkung

Die PdAS wird jede Vorlage mit dem Referendum  entschieden und entschlossen bekämpfen, die Steuerausfälle, sprich Steuergeschenke für die Unternehmen, vorsehen wird.

Partei der Arbeit der Schweiz

Weitere Infos zur USRIII: 2.2 Milliarden pro Jahr!  Und die Linke?

Kapitulation vor wirtschaftlichen Argumenten

atomDie Atomaufsicht ENSI krebst von ihren ursprünglichen Nachrüstforderungen zurück. Das uralte AKW in Mühleberg wird noch vier Jahre mit nachweislichen Sicherheitsmängeln weiterbetrieben. Das ist gut für die BKW Rendite, aber schlecht für die Sicherheit der Bevölkerung. Aber vor allem zeigt es die Schwächen der Aufsichtsbehörde und ihres gesetzlichen Auftrages auf. Der Ständerat und seine Kommission sind gut beraten, hier politische Verantwortung zu übernehmen und die Gesetze im Rahmen der laufenden Beratung zu verbessern. 

Das AKW Mühleberg weist nebst seiner Alterschwäche (Risse im Kernmantel, etc.) und der Tatsache, dass es weltweit das einzige AKW ist, das unter einer Staumauer gebaut wurde, drei grosse Sicherheitsdefizite auf: 1. Ungenügendes Nachwärmeabfuhrsystem, 2. Keine redundante Notkühlung (weltweit einzigartig), 3. Keine ausreichende Kühlung des Brennelementlagerbeckens. Trotz dieser unbestrittenen Mängel, hat das ENSI heute das unzureichende Nachrüstkonzept der BKW für den Weiterbetrieb von Mühleberg bis 2019 gutgeheissen.

Im Dezember äusserte sich das ENSI zu den Nachrüstungen in Mühleberg noch folgendermassen: „Einem Betrieb über das Jahr 2017 hinaus kann die Aufsichtsbehörde nur zustimmen, wenn die BKW umfassende Nachrüstungen realisiert.“ Das war gestern. Heute krebst das ENSI zurück und zeigt sich mit dem Betrieb bis 2019 einverstanden, ohne dass die 2012 geforderten Nachrüstungen im vollen Ausmass umgesetzt werden. Damit wird wahr, was der Verwaltungsratspräsident der BKW, Urs Gasche, Ende 2013 angedeutet: Es gibt für die letzten 5 Jahre nur noch eine billige „Blache“ aufs Dach.

Das heutige Zurückkrebsen des ENSI ist Beweis dafür, dass das Lebensende der alten Atomkraftwerke ungenügend geregelt ist. Solange Nachrüstungen wirtschaftlich „angemessen“ sein müssen (KEG Art. 22g), kann das ENSI seine Nachrüstforderungen nicht durchsetzen. Und das darf bei einer Aufsichtsbehörde, die für die Sicherheit der gefährlichsten Maschinen im Land zuständig ist, nicht sein.

Mit dieser Gesetzgebung ist der Weiterbetrieb unserer Atomkraftwerke ein Spiel mit dem Feuer. Die Politik steht in der Verantwortung. Sie muss das Lebensende der Reaktoren besser regeln und klar befristen. Der Nationalrat hat dies im letzten Dezember verpasst. Die Schweizerische Energie-Stiftung SES wird nun dem Ständerat Vorschläge unterbreiten, wie verhindert werden kann, dass alte AKW auf Kosten der Sicherheit ausgepresst und weiterbetrieben werden.

Die SES fordert, dass das Kernenergiegesetz im Rahmen der Beratung der Energiestrategie 2050 verbessert wird, damit das ENSI künftig im Interesse der Bevölkerung und nicht der AKW-Betreiber entscheidet.

Quelle: Medienmitteilung des SES – Schweizerische Energie-Stiftung

Im Staate der Eidgenossen

schweizer fahnDa hat uns die Nationalbank ein fettes Ei ins heimische, kuschlige Nest gelegt. Alle wurden überrascht. Aber wirklich alle. Selbst der Bundesrat, der doch eigentlich die Aufgabe hat, das Land zu regieren. Aber zur Frage des Eurokurses hatte er nichts zu melden. So hat der «Ausschuss Wirtschaftspolitik des Bundesrats» (sie nennen sich wirklich so), bestehend aus den BundesrätInnen Johann-Schneider Ammann, Eveline Widmer-Schlumpf und Doris Leuthard, «vom Entscheid der Schweizerischen Nationalbank SNB Kenntnis genommen, den Mindestkurs des Schweizer Frankens zum Euro nicht aufrecht zu erhalten.» Das ist kein Witz, so steht es in der Medienmitteilung der Landesregierung. Schneider-Ammann, immerhin Finanzminister, wurde kurz vor Bekanntgabe der Explosion der Finanzbombe informiert. Ob ihm da bewusst wurde, wie wenig er in Sachen Finanzpolitik zu entscheiden hat?

Am Nachmittag hat sich dann das bundesrätliche Trio mit der «Situation nach dem SNB-Entscheid befasst». Wie? So: «Er hat sich vom Nationalbankpräsidenten informieren lassen und mögliche Auswirkungen des Entscheids auf die schweizerische Volkswirtschaft diskutiert.» Beeindruckende Führungsqualitäten, die da der Bundesrat einmal mehr unter Beweis stellte. Als Resultat der Diskussionsrunde wurde festgehalten: «Der Ausschuss Wirtschaftspolitik des Bundesrats hat Vertrauen in die Nationalbank, dass sie die Preisstabilität gewährleistet und dabei die konjunkturelle Entwicklung berücksichtigt.» Super, vielen Dank für die wertvolle Information.

Den Entscheid über den Eurokurs haben die drei Herren getroffen, die in der Chefetage, sprich im Direktorium der SNB sitzen. Das sind Prof. Dr. Thomas J. Jordan, Präsident, Prof. Dr. Jean-Pierre Danthine, Vizepräsident und Dr. Fritz Zurbrügg, Mitglied des Direktoriums. Sie tragen zweifelsohne eine grosse Verantwortung, denn die SNB führt die Geld- und Währungspolitik und muss sich dabei «gemäss Verfassung und Gesetz vom Gesamtinteresse des Landes leiten lassen», wie sie selber erklären. Nun, wie haben sich diese drei wichtigen Herren ihre Meinung gebildet, um im Gesamtinteresse der Eidgenossenschaft zu entscheiden? Sie taten es sicher nicht an Gemeinde-, Partei- oder sonstigen Versammlungen, an denen Menschen aus dem Volk teilnahmen. Die drei Herren fragten auch nicht die BesitzerInnen der SNB. Das wäre hauptsächlich die so genannte Öffentliche Hand (zum Beispiel die Kantone) gewesen, die mit 55 Prozent die Mehrheit der SNB-Aktien besitzt, aber auch nichts zu sagen hatte.

Auch ist es naiv zu glauben, das Führungstrio habe sich über Tage in ein Kämmerlein eingesperrt, um sich mit rauchenden, hochroten Köpfen den Entscheid genau zu überlegen. Dieser reifte viel mehr in Kreisen, zu denen wir normalsterblichen EidgenossInnen keinen Zutritt haben, in den Sphären der internationalen Hochfinanz. So hat Direktoriumsmitglied Fritz Zurbrügg beste und direkte Kontakte zum «Internationalen Währungsfonds» (IWF). Von 1998 bis 2006 war er als Senior Advisor und Exekutivdirektor im schweizerischen Büro beim IWF in Washington tätig. Dabei vertrat er im Exekutivrat die Interessen der Schweiz sowie jene von Aserbaidschan, Kirgistan, Polen, Serbien/Montenegro, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Ein multifunktionales Talent der liebe Fritz. Danach wurde er Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung und er vertrat die Schweiz in nationalen und internationalen Fachgremien für Finanzpolitik.

Vizepräsident Jean-Pierre Danthine ist Mitglied der «European Economic Association» (EEA) und der «Academia Europaea». Beides sind Eliteclubs im Sinne von «Denkfabriken» der internationalen Finanzwelt. Von 2006 bis 2009 war Danthine Direktor des «Swiss Finance Institute». Das als Stiftung organisierte Institut gehört zu den wichtigsten Wissenspools des Schweizer Finanzplatzes. Überflüssig zu erwähnen, dass sich der Stiftungsrat aus SpitzenmanagerInnen der Wirtschaft zusammensetzt.

Fehlt noch der Oberguru, Monsieur le président Thomas J. Jordan. Seit 1997 arbeitet er bei der SNB und weist somit eine Bilderbuchkarriere aus. Neben seinem Job als Capo der SNB ist er unter anderem Mitglied des Verwaltungsrates der «Bank für Internationalen Zahlungsausgleich» (BIZ) in Basel und des Steuerungsausschusses des «Financial Stability Board» (FSB). Die BIZ gilt als «Bank der Zentralbanken» und nimmt eine Schlüsselrolle bei der Kooperation der Zentralbanken und anderer Institutionen aus dem Finanzbereich ein. An den regelmässigen Sitzungen trifft Jordan seine Kumpels wie etwa EZB-Präsident Mario Draghi, den deutschen Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann, die Präsidentin der US-Zentralbank Janet Yellen, sowie den Gouverneur der Chinesischen Volksbank, Zhou Xiaochuan. Das FSB hingegen, auch als Finanzstabilitätsrat bezeichnet, ist eine internationale Organisation. Sie überwacht das globale Finanzsystem und spricht Empfehlungen aus. Das FSB ist im April 2009 am Gipfeltreffen der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) in London eingerichtet worden.

Ja, liebe EidgenossInnen, es ist doch beruhigend zu wissen, dass die «Gesamtinteressen des Landes» in so illustren und urschweizerischen Kreisen und Organisationen besprochen und entschieden werden. Und beruhigend die Tatsache, dass wir nicht in einer Diktatur sondern in einer Demokratie leben, in der bekanntlich das Volk immer das letzte Wort hat.

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Und jetzt kommt der Schmerz

Finanzminister beraten über Euro-KriseAndere Länder sorgten in den letzten Jahren für internationale Schlagzeilen, weil sie von sozialen Bewegungen erschüttert wurden oder sich die Krisenfolgen in politische Verwerfungen ummünzten. Die Eidgenossenschaft schafft es – wie soll es auch anders sein – wegen eines waghalsigen Manövers der Schweizer Nationalbank (SNB) in die internationale Presse. Am 14. Januar morgens um halb elf gab der SNB-Präsident, Thomas Jordan, bekannt, dass man ab sofort den seit dreieinhalb Jahren gültigen Euro-Mindestkurs von 1.20 Franken aufgeben würde. Börse und Devisenmärkte reagierten auf die finanzpolitische Bombe: Der Swiss Market Index (SMI) gab innerhalb von zwei Tagen um gut 14 Prozent nach, der Euro sank zwischenzeitlich auf ein Allzeittief von 86 Rappen und pendelte sich dann etwa auf paritätischem Kurs ein.

Was war in die Schweizer Nationalbank gefahren? Die SNB ist nach dem «Bundesgesetz über die Schweizerische Nationalbank» verpflichtet, «die Geld- und Währungspolitik im Gesamtinteresse des Landes» zu führen. Offensichtlich hat das Direktorium entschieden, dass die Untergrenze des Euros für die Schweizer Nationalökonomie – von der die Proletarisierten natürlich immer nur abhängige Variabel sind – nicht mehr von hochrangiger Bedeutung ist oder dass zumindest der Preis für diesen Wechselkurs längerfristig einfach zu hoch ist.

Ausgerechnet jetzt??

Die Mitteilung der SNB kam für alle völlig überraschend. Doch wollte die Nationalbank den Mindestkurs halten, war das nur folgerichtig. Hätte sie im Vorfeld auch nur Andeutungen gemacht, wäre der Kurs angesichts der InvestorInnen am Devisenmarkt in kürzester Zeit ruiniert gewesen.

Als die Nationalbank den Mindestkurs im September 2011 eingeführt hatte, reagierte sie damit auf ein drohendes Auseinanderbrechen des Euros. Man hatte in der SNB-Direktion wohl darauf gehofft, dass die Euro-Krise in absehbarer Frist ausgestanden sei. Heute sind die liberalen MarktanbeterInnen in ihrer Einschätzung näher dran als die etatistisch orientierten Linken, wenn sie erklären, dass diese Massnahme nicht für die Ewigkeit sein konnte. Doch warum wurde der Kurs gerade jetzt aufgekündigt? Die Euro-Krise ist längst nicht ausgestanden und die Wachstumsdaten der Schweizer Wirtschaft sind auch nicht gerade berauschend. Verschiedene Erklärungen machen die Runde: Zum einen hatte sich die Weltwährung Dollar gegenüber dem Schweizer Franken – der sich faktisch an den schwächelnden Euro gebunden hatte – in den vergangenen Jahren stark aufgewertet. Zudem hält die SNB, auch wegen ihrer massiven Stabilisierungskäufe, mittlerweile Devisen im Wert von etwa 500 Milliarden Franken. Zwar kann die Bank theoretisch unendlich viel Devisenreserven halten, bloss birgt dies das Risiko, dass sich diese abwerten und die Bank eine Verlustgeschäft einfährt. Mit weiteren Stützungskäufen hätte sich dieses Risiko zugespitzt. Die SNB ist diesbezüglich politisch unter Druck, weil sowohl Bund als auch Kantone von Gewinnausschüttungen profitieren. Ausschlaggebend dürfte aber gewesen sein, dass bereits im Vorfeld der Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) vom letzten Donnerstag gemunkelt wurde, dass diese mit enormen Aufkäufen von Staatsanleihen ein sogenanntes «Quantitative Easing» anvisiert und den Markt mit Euros überschwemmen würde. Dagegen hätte die Schweizer Nationalbank ihren Mindestkurs nur schwer verteidigen können.

Wirtschaftliche Folgen

Als die SNB die Untergrenze aufhob, brach der Markt kurzfristig zusammen. Es gab während rund 20 bis 30 Minuten keine Kurse. Danach war Augenreiben angesagt: Schweizer Pensionskassen hatten auf einen Schlag rund 30 Milliarden Franken verloren. Mehrere Investorenfirmen mussten die Pforten schliessen. Die Banken sitzen als Kreditgeberinnen von DeviseninstorInnen auf offenen Forderungen, deren Begleichung höchst fraglich ist.

Doch was den ratlosen ExpertInnen wirklich Kopfzerbrechen bereitet, sind die noch ausstehenden Folgen des SNB-Entscheids. Wie üblich sind sich die WahrsagerInnen der Volksökonomie nicht einig, sondern zerfallen in die widerstreitenden Schulen. Einig ist man sich indes, dass für die Schweizer Exportindustrie und den Tourismus schwere Zeiten anstehen. Die Kosten in der Schweiz sind im Verhältnis zu den ausländischen Kundenvermögen auf einen Schlag um rund 20 Prozent gestiegen, was man nur teilweise und zeitverzögert abbauen kann, indem man es auf die Proletarisierten abwälzt. Es kursieren verschiedene Kurshöhen auf welchen sich der Euro angeblich einpendeln werde, und es sind unterschiedliche Ansichten zu hören, was die Schweizer Wirtschaft ertragen könne. Angesichts der kaum ausgestandenen Krise in der EU – aktuell stehen die Reaktionen auf die Wahl in Griechenland an – und dem «Quantitative Easing» der EZB muss man wohl kein Wahrsager sein, um einen schwachen Euro zu prognostizieren. Fest steht: Wenn der Euro-Kurs sich auf tiefem Niveau einpendelt, ist für die Schweiz ein schleppendes Wachstum und eine steigende Arbeitslosigkeit zu erwarten. Dreieinhalb Jahre konnte man die Insel der Glückseligen aufrechterhalten, jetzt folgt erstmal der Einbruch der globalen ökonomischen Realität.

Politische Reaktionen

Wieder Mal folgt wohl auf eine ökonomische Misere ein politisches Desaster. Und zwar nicht weil der Staat ohnmächtig ist, sondern weil er schlicht und einfach das Interesse der Nationalökonomie organisieren muss. Das heisst konkret, immer annehmbare Akkumulationsbedingungen für das Kapital zu garantieren. Die rasche Unterzeichnung von Freihandelsverträgen, wie sie einige FDP-ExponentInnen bereits öffentlich bewarben, dürfte für die Lohnabhänigen noch das kleinere Problem darstellen. Wer die «Arena» am Wochende nach dem SNB-Entscheid geschaut hat, weiss, worauf sich die Proletarisierten einstellen müssen. Zum einen wurde von Unternehmerseite vehement darauf hingewiesen, dass man Rationalisierungen und Lohnkürzungen vornehmen müsse, um die Exportunternehmen wieder in Schuss zu bringen. Mehr Stress und weniger Lohn lautet das Rezept. Von mehreren PolitikerInnen wurde im Fernsehen die Unternehmenssteuerreform III ins Spiel gebracht. Im Windschatten des Diskurses über die sich verschlechternden Standortbedingungen will die Rechte diese Reform so schnell wie möglich durchbringen. In Kombination mit dem Abflauen der Konjunktur bedeutet dies Mindereinnahmen für den Staat und dürfte folgerichtig die weitere Ausdehung von Sparpaketen und Sozialabbau bedeuten.

Angesichts der bedauerlichen Schwäche der proletarischen Gegenwehr in diesem Land lässt sich die nähere ökonomische und politische Zukunft wohl mit einem einfachen Satz zusammenfassen: Und jetzt kommt der Schmerz.

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Lenins Materialismus

leninDas Ziel von Lenin war mit der Arbeit «Materialismus und Empiriokritizismus», eine Gesamtübersicht der philosophischen Strömung des Empiriokritizismus zu geben und ihren Platz zu bewerten. Allgemein sieht er die wissenschaftlichen Aufgaben von MarxistInnen darin, Erkenntnisse der bürgerlichen Tatsachenforschung zu verarbeiten und zu verstehen, dabei aber die reaktionären Tendenzen, die unweigerlich darin auftauchen, zu verwerfen. Wenn spezifisch ein philosophisches System untersucht und beurteilt werden soll, muss danach gefragt werden, wie die theoretischen Grundfragen gelöst werden; welchen Platz das System unter den philosophischen Schulen einnimmt und mit welchen es verbunden ist; für wen Partei ergriffen wird mit dem Inhalt der Lehre; was die SchülerInnen und NachfolgerInnen vertreten; welcher Zusammenhang mit äusseren Entwicklungen besteht. In «Materialismus und Empiriokritizismus», das 1909 erschienen ist, hat Lenin diese Fragen bezüglich des Empiriokritizismus beantwortet.

Zwei Lager der Philosophie

Der Grund für die Untersuchung und gnadenlose Kritik am Empiriokritizismus war, dass er von wichtigen Mitgliedern der Bolschewiki wie Bogdanow und Lunatscharski vertreten wurde. Diese philosophische Strömung ging auf den Naturwissenschaftler Mach und den Philosophen Avenarius zurück, die den Idealismus mit dem Materialismus versöhnen wollten. Die besagten Bolschewiki ihrerseits wollten den Empiriokritizismus in den Marxismus einführen. Lenin deckte auf, dass es sich bei dieser Philosophie um Agnostizismus (siehe unten) handelt, dass sie eng mit der erzreaktionären Immanenzschule verbunden ist und ihre Wurzeln beim Philosophen Berkeley hat. Konsequent durchdacht würde der Empiriokritizismus in den Solipsismus führen (die Welt ist meine Empfindung), und müsste Religion und Gott als valide Theorien zulassen. Rückblickend kann gesagt werden, dass es sich um eine kurzlebige Modephilosophie handelte, wie Lenin richtig voraussagte, die aus der damaligen «Krise der Physik» mit ihren neuen Erkenntnissen zum Aufbau des Atoms entwuchs. Wir wollen uns auch nicht länger damit aufhalten, sondern dem zuwenden, was Lenin dieser Philosophie entgegengesetzt hat: den dialektischen Materialismus.

Alle philosophischen Systeme können grundsätzlich in zwei grosse Lager eingeteilt werden, in Materialismus und Idealismus, wobei solche, die zwischen den beiden schwanken, zum Agnostizismus gezählt werden. Lenin bekennt sich dazu, dass die Philosophie des Marxismus, seine Philosophie, der dialektische Materialismus ist. Die Dialektik ist Methode, der Materialismus die Erkenntnistheorie.

Die grundlegenden Begriffe der Erkenntnistheorie stecken in den Begriffspaaren Sein und Denken sowie Materie und Empfindung. Mit diesen Begriffen wird in den Grundfragen der Philosophie operiert, und genau in der gegensätzlichen Beantwortung dieser Fragen scheiden sich die PhilosophInnen in zwei Lager: Was ist das Verhältnis zwischen Denken und Sein? Was ist die ursprüngliche Quelle der Erkenntnis?

Praxis als Ausgangspunkt

Der Materialismus teilt die «naive Überzeugung» der Menschheit, von der auch die Naturwissenschaften spontan (d.h. ohne das Studium der Erkenntnistheorie) ausgehen, dass die Aussenwelt, die Materie, existiert, und zwar unabhängig existiert vom Denken der Menschen. Die Praxis ist der Ausgangspunkt der materialistischen Erkenntnistheorie und unbedingt Teil ihrer Beantwortung der philosophischen Grundfragen. Die Praxis erlaubt uns, die Richtigkeit unserer Vorstellungen zu überprüfen, und lässt eben nur einen einzigen Schluss zu: Die Natur existiert unabhängig von und existierte bereits vor den Menschen. Umgekehrt ist unsere Existenz und unser Denken von der Natur abhängig. Wir existieren, bevor wir empfinden. Die Natur, die Materie, ist das Primäre; das Denken, die Empfindung, das Sekundäre.

Die Empfindung ist die Quelle unserer Erkenntnis. Aber unsere Empfindung ist blosse Widerspiegelung der objektiven Realität, unsere Ideen sind Abbilder der Materie. Die Materie wirkt auf unsere Sinnesorgane ein und erzeugt Empfindungen, Vorstellungen, Abbilder ihrer selbst. Die Sinnesorgane sind andererseits in ihrer Funktion abhängig vom Gehirn, einem materiellen Organ. Wir erhalten durch sie ein subjektives Abbild der objektiven Welt. Wir können die Welt erkennen, aber unsere Erkenntnis ist nie fertig und ist nicht unveränderlich. Wir erkennen einen relativen Teil des existierenden absoluten Ganzen.

Relativismus in der Dialektik

Unsere Kenntnisse sind relativ, aber die unabhängige Existenz einer objektiven Realität muss vom Materialismus bedingungslos anerkannt werden, weil die Praxis es gebietet und gleichzeitig nur so Praxis möglich ist. Der Einschluss des Relativismus bildet das dialektische Moment des marxistischen Materialismus (die Dialektik reduziert sich aber nicht auf den Relativismus). Wissenschaftliche Theorien haben damit immer nur annähernde Geltung. Unsere Raum- und Zeitbegriffe, unsere Vorstellungen über den Aufbau der Materie können und müssen sich mit neuen Erkenntnissen laufend ändern. Nicht ändern wird sich die Tatsache, dass Raum, Zeit, Materie existieren, dass etwas existiert, dass unsere Vorstellungen über sie hervorruft, dass etwas Existierendes dahinter steckt. Jede wissenschaftliche Wahrheit enthält trotz ihrer Relativität ein Element der absoluten Wahrheit. Ordnung, Zweck, Gesetz, die wir in der Natur erkennen, sind menschliche Konstrukte, aber Konstrukte, mit denen sich Wirkliches verstehen lässt. Wir vereinfachen in unserem Denken den objektiven Zusammenhang der «universellen Wechselwirkung» von Ursache und Wirkung, den Zusammenhang der sich in ständiger Bewegung befindenden Welt. Die Wissenschaft ist die ewige Annäherung daran.

Der materialistische Ansatz überträgt sich auch auf die Gesellschaft. Das gesellschaftliche Bewusstsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein, jedoch immer nur annähernd. Die Aufgabe der MarxistInnen als WissenschaftlerInnen ist das Verstehen der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Aufklärung darüber: die Anpassung des Bewusstseins an das Sein. Denn nur mit der Einsicht in das Funktionieren der Welt, in ihre Gesetze und Notwendigkeiten, können wir frei sein. Grössere Freiheit bedeutet, mit grösserer Sachkenntnis zu entscheiden. Je freier wir entscheiden können, je tiefer unsere Kenntnisse sind, desto notwendiger wissen wir, wie wir entscheiden müssen. Die Praxis ist damit Ausgangs- sowie Endpunkt.

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Bundesgericht setzt «DNA-Fishing» klare Grenzen

Massen-Gentest im Fall des toten Babys von SchwarzenbergDas Bundesgericht hat mit seinem Urteil, welches am 23. Dezember 2014 veröffentlicht wurde, klare Spielregeln im Umgang mit DNA-Profilen festgelegt. Das Urteil hält fest, dass das Verhalten der Berner Strafverfolgungsbehörden auf verschiedenen Ebenen bundesrechtswidrig ist. Mit dem Urteil wurde einer Aktivistin Recht gegeben, die sich gegen Zwangsmassnahmen und eine DNA-Fichierung auf juristischem Weg zur Wehr setzte. Sie war anlässlich eines Asylsymposiums, welches am 31. Januar 2013 an der Universität Bern stattfand, wegen «Sachbeschädigung» verhaftet worden. Dies weil sie zusammen mit drei weiteren AktivistInnen aus Protest gegen die unmenschliche Asylpolitik Kuhmist auf den Tischen verteilt hatte. Obwohl die Universität auf eine Strafanzeige verzichtete und der Kantonspolizei telefonisch mitteilte, dass kein Sachschaden entstanden war, gab die Staatsanwaltschaft mündlich grünes Licht für eine erkennungsdienstliche Erfassung. Die Kantonspolizei Bern veranlasste zudem eigenmächtig eine DNA-Entnahme per Mundhöhlenabstrich von den vier Festgenommenen, die Analyse des Materials sowie das Anlegen von DNA-Profilen. Zwar hat das Berner Obergericht am 23. Juni 2014 die Beschwerde abgewiesen. Das Bundesgericht als höchste Instanz hat nun aber der Beschwerdeführerin Recht gegeben.

Die Überwachungsgesellschaft

Dieser Urteilsspruch ist bedeutsam, weil es die Behörden auffordert, beim Sammeln von DNA-Proben wichtige Grundsätze einzuhalten. Insbesondere bemängelt das Bundesgericht in ihrem Leitentscheid, der dem vorwärts vorliegt, die systematische DNA-Entnahme und Erstellung eines sogenannten DNA-Profils, selbst bei kleinsten Vergehen. Damit erteilt das Bundesgericht der Datenspeicherung auf Vorrate eine klare Absage. Dazu halten die Demokratischen JuristInnen Bern (DJB) fest: «Erfreulich und für die Zukunft schweizweit wegweisend ist auch die Feststellung des Bundesgerichts, wonach die Weisung der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, gemäss welcher in sämtlichen Fällen, in welchen eine DNA-Probe entnommen worden ist, automatisch auch ein DNA-Profil zu erstellen ist, bundesrechtswidrig ist und der notwendigen Einzelfallabwägung nicht gerecht wird. Das Urteil ist aus rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Sicht zu begrüssen: Einer ausufernden polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Datenerfassung wird damit klar Einhalt geboten.» Der höchstinstanzliche Urteilspruch kritisiert die Berner Strafverfolgungsbehörden in mehrfacher Hinsicht. Gemäss dem Bundesgericht waren die Ereignisse, die zur Festnahme der Beschwerdeführerin führten, hinsichtlich Ablauf und Beteiligung bekannt. Weder die erkennungsdienstliche Erfassung (Fingerabdruck, Foto, körperliche Merkmale) noch die Entnahme der DNA-Probe und die Profilerstellung waren deshalb notwendig. Die Zwangsmassnahmen liessen sich auch nicht mit anderen, möglicherweise von der Beschwerdeführerin begangenen oder noch zu begehenden Straftaten begründen. Darüber hinaus hielt das Bundesgericht klar fest, dass die Polizei die Erstellung eines DNA-Profils nicht selbst anordnen darf.

DNA-Fishing for the future

Die Weisung bei der Entnahme von DNA, generell die Analyse zwecks Erstellung eines DNA-Profils vorzunehmen, ist gemäss Bundesgerichtsentscheid zudem «in mehrfacher Hinsicht bundesrechtswidrig». Laut Bundesgericht rechtfertigt das geltende Recht selbst bei einem hinreichenden Tatverdacht nicht in jedem Fall die Entnahme von DNA-Proben, geschweige denn generell deren -Analyse und Archivierung in einer genetischen -Datenbank. Erforderlich sei eine sorgfältige Prüfung des Einzelfalls.

Schon seit Jahren kritisieren RechtsexpertInnen deshalb die oft sehr eigenwillige Interpretation von bestehendem Recht durch die Ermittlungsbehörden und werfen den Behörden im Umgang mit DNA-Profilen fehlendes Augenmass vor. So auch der Strafrechtsprofessor Jörg Paul Müller, der schon 2012 die gängige Praxis, DNA-Analysen vorzunehmen, «nur um zu schauen, welche Treffer die DNA-Datenbank des Bundes liefert», als unverhältnismässig. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit oft DNA-Proben aus erpresserischen Gründen entnommen wurden, etwa wenn Betroffene nicht mit der Polizei kooperierten und vom Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen. Die Menschenrechtsgruppe «augenauf Bern» bezeichnet diese Praxis als «DNA-Fishing for the future». Sie wirft den Behörden vor, damit «allfällige auch in Zukunft politisch aktive junge Erwachsene präventiv im Voraus zu fichieren – mit dem Ziel, diese einzuschüchtern», wie es Fälle aus der jüngsten Zeit mehrfach belegen. Inwieweit dieser Leitspruch des Bundesgerichtes an der ausufernden Praxis der systematischen Entnahme von DNA durch die Ermittlungsbehörden ändert, wird die Zukunft zeigen.

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Und die Linke??

Karl-Marx1Am 31. Januar läuft die Vernehmlassungsfrist zur Unternehmenssteuerreform III (USR III) ab. Bereits heute kann jedoch Folgendes festgehalten werden: Sämtliche bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände begrüssen die Stossrichtung der USR III. Sie lehnen jedoch die Einführung der Kapitalgewinnsteuer kategorisch ab und weisen darauf hin, dass diese im Jahr 2001 vom Volk mit über 65 Prozent Nein-Stimmen bereits abgelehnt wurde. Und die SP? Laut NZZ vom 16. Juli 2014 erklärte die Nationalrätin Margret Kiener Nellen die Kapitalgewinnsteuer zur «conditio sine qua non», damit die SP der USR III zustimmt. Wie die SozialdemokratInnen ein allfälliges Ja zur USR III alleine wegen der Kapitalgewinnsteuer erklären werden, ist wahrlich ihr Problem. Die PdA lehnt die Reform ohne Wenn und Aber ab und wird ein allfälliges Referendum tatkräftig unterstützen. Ein Referendum, zu dem es wohl kommen wird, denn die Vorlage wird im Parlament mit oder ohne SP-Stimmen eine Mehrheit finden. Dafür werden der Druck und die Drohungen der Wirtschafslobby schon sorgen und man muss kein Wahrsager mit magischer Kristallkugel sein, um vorauszusehen, dass die Kapitalgewinnsteuer aus der Vorlage gekippt werden wird.

Die USR III als Chance für die radikale Linke??

Die Argumente der Bürgerlichen und der Wirtschaft sind heute schon bekannt: Ohne USR III sind vier Milliarden Franken Steuereinnahmen in Gefahr, denn die betroffenen Unternehmen würden ins Ausland ziehen. Dies vernichtet 150’000 Arbeitsplätze. Dazu noch der Schaden für die KMUs, die als Zulieferbetriebe von den Grossunternehmen abhängig sind. Nochmals Tausende von Arbeitsplätzen in Gefahr und so weiter und so fort. Die parlamentarische Linke wird wie üblich die «Moralkeule» schwingen und Argumente wie die «Ungerechtigkeit», die «verantwortungslosen AbzockerInnen» und die «raffgierigen ManagerInnen» ins Spiel bringen. Alles gut und recht, aber es wird nicht reichen. Die USR III muss in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt werden. Es muss aufgezeigt werden, dass mit der USR III der neoliberale Umbau der Gesellschaft vorangetrieben wird und diese Reform daher nicht losgelöst von anderen Prozessen, wie etwa dem Engagement der Eidgenossenschaft beim Freihandelsabkommen TiSA, betrachtet werden kann. Ein gesellschaftspolitischer Umbau findet statt, der für immer mehr Menschen massive Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen bedeutet. Die Streiks des Personals des öffentlichen Verkehrs in Genf, der Steinmetze im Tessin oder des Pflegepersonals in Neuenburg zeugen davon und beweisen gleichzeitig, dass Widerstand möglich ist. Diese Zusammenhänge aufzuzeigen und den Widerstand von unten zu fördern ist für die radikale Linke Pflicht im Kampf gegen diese neue «Steuergeschenke-Reform»! Weiter muss ganz konkret die Frage der Demokratie gestellt werden. Denn die URS III ist ein weiteres Beispiel dafür, dass wir in einer Diktatur der Wirtschaft leben, deren Entscheide formell im Parlament abgesegnet werden. Auf den Punkt gebracht: Die USR III kann für die radikale Linke eine Chance sein, wenn sie in der Diskussion aufzeigt, dass die USR III eine Normalität innerhalb des kapitalistischen Rahmens ist. Die Alternative zu dieser Normalität heisst Sozialismus. Die Diskussion über diese Alternative, sprich über die Überwindung des Kapitalismus, muss Bestandteil des Kampfs gegen die URS III sein.

Das Volk wurde bewusst angelogen

Ein wesentliches und entscheidendes Argument gegen die USR III hat pikanterweise der Bundesrat selber bereits geliefert und zwar mit der letzten Reform der Unternehmenssteuer, der USR II. Ein kurzer Blick zurück ist daher zwingend. Am 24. Februar 2008 scheiterte das Referendum gegen die USR II mit 49,5 Prozent Nein-Stimmen denkbar knapp. 20’000 Stimmen gaben den Ausschlag. Im Abstimmungsbüchlein des Bundesrates zu dieser Volksabstimmung wurden Steuerausfälle von höchstens 933 Millionen beziffert. Drei Jahre später, am 14. März 2011, musste der Bundesrat auf Druck des Parlaments jedoch zugeben, dass Bund, Kantone und Gemeinden wegen der USR II mit Steuerausfällen von über 7 Milliarden Franken in den nächsten 10 Jahren rechnen müssen. Steuerausfälle, die «tendenziell ansteigen und nicht zurückgehen» werden, wie Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Juni 2011 dem Ständerat erklärte (Amtliches Bulletin vom 9. Juni 2011). Der Bundesrat hatte das Volk vor der Abstimmung schlicht verarscht! Das sieht auch das Bundesgericht so. Es musste sich damit befassen, da SP-Nationalrat Daniel Jositsch eine Beschwerde einreichte. Er forderte eine Wiederholung der Volksabstimmung, blitzte damit jedoch ab. Dies obwohl die höchsten RichterInnen im Lande dem Bundesrat vorwarfen, die «Stimmbürger hinters Licht geführt» zu haben. Ganz im Sinne der bürgerlichen Klassenjustiz wertete das Bundesgericht die Interessen der Unternehmen höher als die der StimmbürgerInnen. Dazu Jositsch, der nicht gerade als Staatsfeind bekannt ist, in einem Interview im «Beobachter» vom 21. Dezember 2011: «Das ist ein Hohn gegenüber dem Rechtsstaat. Das Bundesgericht hat es verpasst, den BürgerInnen zu zeigen, dass sie ihren Institutionen vertrauen können.» Nun, wer garantiert den BürgerInnen, dass sich der Bundesrat bei der USR III nicht wieder bewusst «verschätzt»?

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2,2 Milliarden Franken pro Jahr?!

Geschenke«Ich sehe keine andere Möglichkeit, als diese Reform durchzusetzen. Vielleicht auch tatsächlich damit zu leben, dass wir vorübergehend Mindereinnahmen haben. Dies im Wissen aber, dass wir in fünf, zehn Jahren ein System haben, das nicht dauernd angefochten wird», so Finanzministerin Eveline Widmer Schlumpf bei der Vorstellung der Unternehmenssteuerreform III (USR III) am 22. September 2014. Diese «Mindereinahmen», wie es die Bundesrätin nennt, belaufen sich auf mindestens 2,2 Milliarden Franken und sind nichts anderes als Steuergeschenke an die grossen international tätigen Unternehmen im Lande.

Die Steueroase Helvetia

Laut Bundesamt für Statistik zählt die Schweiz 572’000 Unternehmen. Rund 24?000 international tätige Unternehmen profitieren von kantonalen Steuerbegünstigungen. Es sind dies die so genannten Statusgesellschaften (Holding-, Domizil- und gemischte Gesellschaften). Sie bilden gerade mal vier Prozent aller Unternehmen. Doch – und hier beginnt das Eisen heiss zu werden – spült diese Minderheit der Unternehmen knapp vier Milliarden Franken in die Bundeskasse, was beinahe 50 Prozent der gesamten Gewinnsteuereinnahmen ausmacht. 17 Prozent dieser Einnahmen verbleiben bei den Kantonen. Hinzu zahlen die Statusgesellschaften über eine Milliarde Franken Kantons- und Gemeindesteuern. Milliardenbeträge, die deutlich machen, über welche gigantische finanzielle und somit auch politische Macht diese Unternehmen verfügen.

Nun soll aber Schluss sein mit der steuerpolitischen Wohlfühloase Helvetia. Dies will die EU und zwar mit kräftiger Unterstützung der OEZD und der G20. In den Erläuterungen des Bundesrats ist zu lesen: «Die steuerliche Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Einnahmen ist für die EU eine unerlaubte staatliche Unterstützung und bildet somit eine Verletzung des Freihandelsabkommens aus dem Jahr 1972 zwischen der Schweiz und der EU.» In anderen Worten: Die Schweiz verschafft sich durch ihre aktuelle Steuerpolitik Vorteile im internationalen Steuerwettbewerb, indem sie gegen EU-Regelungen verstösst. So fordert Brüssel von Bern immer vehementer Massnahmen hin zu einer EU-kompatiblen Besteuerung der Unternehmen und vor allem die Abschaffung der Statusgesellschaften.

Im Sinne und Geist des adligen Herrn Tancredi

So stand der Bundesrat vor folgender Frage: Wie kann die EU besänftigt werden, ohne die eidgenössischen Steuerprivilegien für international tätige Unternehmen abzuschaffen? Denn ohne Steuervorteile drohen diese mit dem Wegzug ins Ausland und mit ihnen auch die Steuereinnahmen von jährlich vier Milliarden. Die Antwort: Die kantonalen Statusgesellschaften werden – so wie von der EU verlangt – abgeschafft, doch dafür wird eine Reihe von neuen Steuerprivilegien eingeführt. So einfach. Ein Vorhaben, das an den berühmten Satz aus dem Film «Der Leopard» (Il Gattopardo) von Luchino Visconti aus dem Jahr 1963 erinnert: «Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.» Dies sagte der adlige Herr Tancredi zum Fürsten Selina, als auch auf Sizilien der Sieg der Republikaner unaufhaltsam wurde. Im Sinne, Geist und Zweck des adligen Herrn Tancredi ist die USR III konzipiert. economiesuisse, der Dachverband der Wirtschaft, fasst die Ziele der Reform wie folgt zusammen: «Die Stärkung der steuerlichen Wett-bewerbsfähigkeit des Standorts, die Sicherstellung der internationalen Akzeptanz des Steuersystems sowie der Erhalt der finanziellen Ergiebigkeit der Unternehmenssteuern.» Klar ist für economiesuisse, dass «eine erfolgreiche Unternehmenssteuerreform alle drei Ziele erreichen» muss. Ziele, die in der Praxis ein Steuergeschenk von 2,2 Milliarden Franken für die gut 24’000 betroffenen Grossunternehmen ergeben.

Die Kernelemente der Reform

Konkret schlägt der Bundesrat die so genannten Lizenzboxen vor, ein Modell ähnlich wie es England, Belgien und Luxemburg schon kennen. Lizenzboxen sind Steuererleichterungen für Unternehmen, die mit Patenten Geld machen. Das sind hauptsächlich Firmen, die Forschung betreiben, und sicher davon profitieren würden die Pharmakonzerne. Kein Zufall angesichts der starken Lobby der Pharmaindustrie im Bundeshaus. Die Box würde dazu führen, dass ein Chemiekonzern in Basel-Stadt mit vielen Lizenzen weniger Steuern zahlen muss als ein Rohstoffunternehmen im Kanton Genf oder ein Dienstleistungsunternehmen im Kanton Zürich. Doch die Schweizer Verfassung sieht vor, dass die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgen muss. Wird dieses Verfassungsprinzip mit der Lizenzbox verletzt? «Das ist tatsächlich ein sehr heikler Punkt», erklärt SFR-Bundeshauskorrespondent Philipp Burkhardt in der Sendung «Echo der Zeit» vom 21. Juni 2014. So lese man «brisantes in den schriftlichen Unterlagen des Bunderates». Denn die Regierung hält wörtlich selber fest, dass «eine Lizenzbox verfassungsrechtlich problematisch sei (…), jedoch aus Standortsicht notwendig». Burkhardt kommt zu folgendem Fazit: «Der Bundesrat verstösst wissentlich gegen die Verfassung, nimmt den Verstoss aber in Kauf, weil es aus seiner Sicht nicht anders geht.»

Neben den Boxen sind die Einführung des «kalkulatorischen Zinsabzugs auf das Sicherheitskapital» sowie die Senkung der kantonalen Gewinnsteuersätze die Kernelemente der Reform. Bei ersterem profitieren die Firmen mit einem hohen Eigenkapital und der Bund geht davon aus, dass alleine diese Massnahme zu Steuerausfällen, sprich Steuergeschenken, von rund 630 Millionen Franken führen wird. Bei der Senkung der kantonalen Gewinnsteuer wird geschätzt, dass sie von heute durchschnittlich 22 auf 16 Prozent fallen wird. Mehrere Kantone, darunter Genf und Waadt, haben Schritte in diese Richtung bereits angekündigt. Das Geschenkpaket an die Unternehmen beinhaltet dann noch weitere «Massnahmen zur Verbesserung der Systematik des Steuerrechts» (economiesuisse) wie etwa die Abschaffung der Emissionsabgabe, die Anpassung der Kapitalsteuer und die «unbeschränkte zeitliche Nutzung von Verlustvorträgen mit jährlicher Beschränkung auf 80 Prozent des steuerbaren Ergebnisses».

Gegenfinanzierung durch Sozialabbau

Stellt sich die Frage der Gegenfinanzierung der 2,2 Milliarden, die sich Bund und Kantone je zur Hälfte teilen wollen. Als Zuckerwürfel für die parlamentarische Linke will der Bundesrat die Kapitalgewinnsteuer einführen, die etwa 300 Millionen in die Kasse bringen würde. Eine alte linke Forderung, die aber im Jahr 2001 bereits vom Volk mit über 65 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt wurde. Den Rest will der Bund mit erhofften Mehreinnahmen finanzieren. Dazu die Bundesrätin Widmer-Schlumpf: «Wir sehen heute, dass die Einnahmen höher sein werden als die Ausgaben im Jahre 2016 und wenn man sich jetzt politisch vernünftig oder sachdienlich einstellt, dann könnte man das für eine Gegenfinanzierung gebrauchen.» Schön zu wissen, dass wir eine Bundesrätin haben, die in die Zukunft sehen kann. Hingegen weniger schön ist die Tatsache, dass Widmer-Schlumpf in diesem Zusammenhang verschweigt, dass mit den möglichen Überschüssen bereits andere Vorhaben finanziert werden sollen. So zum Beispiel die 300 zusätzlichen Millionen für die Armee oder die Reform der Ehepaarbesteuerung, die ein Loch von gut einer Milliarde Franken reissen wird. Der blauäugigen Zukunftswunschvorstellung der Bundesrätin ist die harte Realität der letzten Jahre gegenüberzustellen. Die Steuergeschenke durch die letzte Reform aus dem 2008 in der Höhe von sieben Milliarden Franken wurden mit einem massiven Sozialabbau finanziert, wie etwa durch die «Reformen» der Arbeitslosen- und der Invalidenversicherung, sowie durch den Abbau im Bildungswesen und im öffentlichen Dienst. Mit der USR III wird es nicht anders sein. Wetten? Die laufende Reform der AHV lässt grüssen …

Aus der Printausgabe vom 16. Januar 2015. Unterstütze uns mit einem Abo.

Im Staate der Eidgenossen

schweizer fahnIm Staate der Eidgenossen Wir haben am 30. November wieder mal Demokratie spielen dürfen, 2:1 für uns lautet das Schlussresultat: Abfuhr für die rassistische Ecopop-Initiative und Abfuhr für die demagogische Gold-Initiative. Gut, dass Dummheit dieses Mal bestraft wurde. Es war auch schon anders und der 9. Februar 2014 ist gar nicht so lange her; genau, das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative der SVP. Schade um das Gegentor, auch wenn es zu erwarten war. Die gut 5000 pauschalbesteuerten Superreichen stehen nun demokratisch abgesegnet unter Artenschutz und dies in einem der reichsten Länder der Welt. Es lebe die bürgerliche Demokratie! Einer dieser Multimillionäre ist Ingvar Kamprad, Besitzer von IKEA. Sein Vermögen türmt sich laut dem Wirtschaftsmagazin «Bilanz» auf 42 Milliarden Franken. Herr Kamprad wird weiterhin 50 Rappen Steuern pro Jahr bezahlen, zumindest im Vergleich zu Frau Müller. Ja, denn würde Frau Müller, die ein Vermögen von 100?000 Franken besitzt, mit dem gleichen Ansatz wie Herr Kamprad besteuert werden, würde sie 50 Rappen Steuern im Jahr bezahlen. Dieses absurde Missverhältnis nennt sich bei uns in der Eidgenossenschaft Steuergerechtigkeit. Bitte merken.

Im Schatten der eidgenössischen Wahlen fand im Zürcher Unterland eine Abstimmung statt, die den heutigen Zeitgeist wie wohl kaum was anderes auf den Punkt bringt: Die Mehrheit der Stimmberechtigten der 34 Zweckverbandgemeinden in den Bezirken Bülach und Dielsdorf haben entschieden, dass das Spital Bülach zu einer Aktiengesellschaft umgewandelt wird. 21?190:?15?649 lautet hier das Resultat. Ganz spannend ist dabei, dass das Spital Bülach auf seiner Webseite den Menschen den Neoliberalismus bilderbuchmässig erklärt: «Das Umfeld, in dem wir uns bewegen, hat sich mit der Einführung der neuen Spitalfinanzierung massiv verändert. Spitäler wurden mit der neuen Spitalfinanzierung in die Selbständigkeit entlassen und müssen heute auf eigenen Beinen stehen. Eine Defizitgarantie vom Kanton und den Trägergemeinden gibt es nicht mehr. Andere Spitäler sind von Mitbewerbern zu Konkurrenten geworden, da die Patientinnen und Patienten heute ihr Spital frei wählen können.» Krass? Machen wir uns nichts vor, das ist das bitterer Präsens und die düstere Zukunft zugleich. Bülach ist der Vorbote des Bösen und des Schlimmen. Nein, ich meine es nicht ironisch. Das Böse und Schlimme hat einen Namen, das Monster nennt sich «TiSA». Es erscheint in Form eines Freihandelsabkommens, an dem die Schweiz gemeinsam mit den USA, der EU und weitere 20 Ländern seit 2012 kräftig mitbastelt. Eines der Hauptziele des Abkommens ist es, das Gesundheitswesen komplett dem Markt zu unterwerfen.

Daher gleich zurück zum Schulbeispiel in Bülach und wir lernen dabei: «In erster Linie sind Spitäler heute Unternehmen wie andere auch, die Ertragsüberschüsse erwirtschaften müssen, um in die Zukunft investieren zu können. Sie müssen sich im Markt mit guten Leistungen von den Mitbewerbern abheben, um bestehen zu können. Sie benötigen eine solide Trägerschaft, Flexibilität und Handlungsspielraum, um auf Veränderungen zeitgerecht reagieren zu können.» Voilà, liebe Eidgenossen, ein Spital ist ein Unternehmen und muss Gewinn abschütteln. Und Gewinn erzielen, das ist die erste und einzige Priorität im Kapitalismus. Das wissen wir alle. Wer das Gegenteil davon behauptet, ist – um es mit den Worten des deutschen Kabarettisten Volker Pispers zu sagen – ein «kompletter Vollidiot oder eine extrem unappetitliche Körperöffnung». Nicht die Kranken und Pflegbedürftigen stehen im Mittelpunk, sondern man muss sich «im Markt mit guten Leistungen von den Mitbewerbern abheben». Warum eigentlich? Warum kann sich ein Spital nicht einfach auf sein Kerngeschäft konzentrieren, sprich die Kranken möglichst gut und rasch zu pflegen? Und: Wie misst man diese «Leistungen», mit denen man sich «abheben» muss? Anhand des Prozentsatzes derjenigen Menschen, die ins Spital eingeliefert wurden und es wieder lebend verlassen können? Verlassen auf den eigenen Beinen gibt zehn Leistungspunkte, das Verlassen im Rollstuhl fünf und wenn es leider Füsse voran in der Bahre liegend ist, dann null Leistungspunkte? Oder misst man den Erfolg, so wie bei jeder AG, durch die Höhe der Gewinne, die auf das Bankkonto der AktionärInnen fliessen?

Das Spital kommt auf den Markt. Es wird somit zu einer Ware, wie alles was auf dem Markt ist, und die PatientInnen zu Kostenfaktoren. So einfach ist die Sache und man muss nicht mal MarxistIn sein, um dies zu begreifen. Vor noch 25 bis 30 Jahren, als die Mauer noch stand, da redeten nur ein paar wenige, kranke MarktfetischistInnen davon, dass ein Spital ein Unternehmen werden muss. Es war selbstverständlich und völlig klar, dass sich die öffentliche Hand an den Kosten des Spitals beteiligte. Heute ist genau das Gegenteil der Fall, was das Ausmass unserer Niederlage und die herrschende Dominanz der kapitalistischen Ideologie beweist. Wir lecken mal wieder unsere Wunden, während andere die Korken knallen lassen. So auch Frau Ilse Kaufmann, Verwaltungsratspräsidentin und Vizepräsidentin der Stiftung des Spitals Bülachs. Sie freut sich über «das klare Zeichen der Bevölkerung» und sagt: «Das positive Resultat ist für die Spitalverantwortlichen zugleich Auftrag und Bestätigung, ihren Dienst an der Bevölkerung des Zürcher Unterlandes mit guten Leistungen weiterzuführen.» Liebe Frau Kaufmann, dass die Leistungen gut sein sollen, erwarten wir als Selbstverständlichkeit. Genauso wie Sie, Frau Kaufmann, wenn Sie in eine Pizzeria gehen, erwarten Sie bestimmt, dass die Pizza fein schmeckt und nicht nach dem, was die unappetitliche Körperöffnung raus wirft, oder etwa nicht? Die Frage ist vielmehr, ob sich alle die Dienstleistungen des Spitals auch leisten können? Aber diese Frage an Frau Kaufmann zu stellen, ist so, als würde man den Fuchs fragen, wie der Hühnerstall am besten zu bewachen sei. Die Frage geht daher an uns Linke. Was tun wir, dass jede und jeder unabhängig des Bankkontos sich der Aufenthalt im Spital leisten kann? Hat jemand eine Antwort?

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