Die Intervention geht weiter

Mideast Saudi Arabia Air ForceSaudi-Arabien führt die Bombardements im Jemen trotz gegenteiliger Ankündigung weiter. Die Militärintervention hat mittlerweile über tausend Menschenleben gefordert sowie mehr als das Dreifache an Verletzten.

Weniger als einen Monat nach Beginn der Intervention im Jemen seitens Saudi-Arabiens verkündete die Militärführung in Riad das Ende der Operation «Sturm der Entschlossenheit». Der jemenitische Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi im saudischen Exil glaubte, «dass die wichtigsten Ziele der Operation am Boden erreicht seien, dass die Legitimität seiner Regierung gesichert sei und die Bürger Jemens nicht mehr in Gefahr wären wie zuvor». Auf sein «Ersuchen» hin sollte die Operation nun beendet werden. Wer dies als das Ende der Militärintervention interpretierte, lag falsch. Um die Präsenz der Regierung auf dem Territorium Jemens zu verstärken und dem Volk Sicherheit und Stabilität zu bringen, wurde bloss eine neue Phase der Intervention eingeläutet, die Operation «Wiederherstellung der Hoffnung». Die neue Operation bedeutet in Wirklichkeit die Fortsetzung der Luftangriffe durch die von Saudi-Arabien angeführte Kriegskoalition.

Präsident ohne Legitimation

Die Militärintervention durch die Saudis begann am 26. März und hat das Ziel, den jementischen Präsidenten Hadi, der im Januar gestürzt wurde, wieder an die Macht zu bomben. Die schiitischen sogenannten Huthi-RebellInnen, aber auch ein grosser Teil der regulären Streitkräfte im Jemen, darunter Luftwaffe und Spezialeinheiten, stehen in Opposition zum ehemaligen Machthaber. Die Mehrheit des Militärs ist noch immer dem Vorgänger Hadis treu, Ali Abdullah Saleh, der nach den Massendemonstration der jemenitischen Version des «Arabischen Frühlings» von den USA zum Rücktritt gezwungen worden war. Der gegenwärtige offizielle Amtsinhaber Hadi wurde von den Monarchien der arabischen Halbinsel und der US-Regierung zum Nachfolger bestimmt. In einer Wahl 2012 wurde er «demokratisch» legitimiert: Es ergab sich eine Zustimmung von 99,8 Prozent für Hadi, wobei er als einziger Kandidat zur Auswahl stand.

UN-gestützte Aggression

Mitte April hat sich nun auch der UN-Sicherheitsrat dazu herabgelassen, einige Worte über die saudische Aggression zu verlieren. Die Resolution, die von 14 der 15 Mitglieder des Sicherheitsrates gebilligt wurde, stellt sich auf Seiten Saudi-Arabiens und verurteilt einzig die Gewalt der RebellInnen. Während von den US-treuen Regierungen nichts anderes zu erwarten war, da die Intervention auf den ausdrücklichen Segen und die logistische Unterstützung der USA zählen kann, gibt das Verhalten Chinas und Venezuelas, die beide der Resolution zugestimmt haben, zu denken. Für China habe die «Einheit, Souveränität und territoriale Integrität» des Jemens Priorität und der Konflikt solle auf friedlichem Weg durch Dialog gelöst werden. Auch Venezuela pocht auf eine politische Lösung und kritisiert bloss, dass nicht alle Parteien in die Gespräche einbezogen werden. Eine friedliche Lösung, wie sie die beiden Länder vorschlagen, kann aber nur ein frommer Wunsch bleiben, wenn nur eine Seite dazu aufgefordert wird. Russland hat als einziges Land sich wenigstens eine Zustimmung zur Resolution verweigert. Wie der russische Vertreter richtig bemerkt, werden darin nicht beide Seiten zum Ende der Gewalt aufgerufen.

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Post-GAV als Katastrophe?

muelligen-originalDer neue GAV für die Post ist beschlossene Sache. Syndicom und transfair sehen ihn als Erfolg. Die kleinere «Schweizerische Autonome Pöstlergewerkschaft» (SAP) hingegen spricht von einer Katastrophe, die besonders gewerkschaftliche AktivistInnen treffe, und kündigt Kampfmassnahmen an. Die Gewerkschaftsdelegation, die den neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ausgehandelt hat, schaue «mit Zufriedenheit und einem bisschen Stolz auf das Erreichte», das «ausgewogen und akzeptabel» sei, schreibt der syndicom-Präsident Alain Carrupt in einem GAV-Extrablatt. «Eine Katastrophe» ist der GAV hingegen für die kleinere «Schweizerische Autonome Pöstlergewerkschaft» (SAP), überdies macht sie den grösseren Konkurrenzgewerkschaften heftige Vorwürfe. Was ist geschehen?

Seit August 2013 verhandelten die Post und die ihr angegliederten Unternehmen mit den beiden Gewerkschaften syndicom und transfair über einen neuen GAV. Es schien ein zähes Ringen gewesen zu sein. Über Monate wurden die Verhandlungen sogar ausgesetzt. Das allerdings darf nicht verwundern, denn der alte Vertrag ist seit 2002 in Kraft. Und vor über zehn Jahren konnte sich noch kaum jemand die heutige Wirtschaftslage ausmalen, dafür war die Umwandlung des Staatsunternehmens in eine spezialgesetzliche Aktiengesellschaft schon in vollem Gange. Eine AG ist die Post seit Neujahr 2013, den Beamtenstatus verloren die PöstlerInnen jedoch bereits 2001 mit der Inkraftsetzung des neuen Bundespersonalgesetzes.

Nun ist der neue Vertrag also unter Dach und Fach. Rund Dreiviertel der 250 Gewerkschaftsdelegierten haben in Bern für seine Annahme gestimmt, wobei die Zustimmung der Angestellten der Post AG nur 66 Prozent erreichte. Unterstellt sind dem GAV rund 60000 Angestellte der Post AG, der PostFinance AG und der PostAuto Schweiz AG sowie neu auch die ChauffeurInnen der privaten PostautobetreiberInnen. Das war eine der gewerkschaftlichen Forderungen. «Alles Gelbe» gehöre «unter ein Dach». Den neuen, manchmal auch als «modernisiert» bezeichneten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen begegneten die Gewerkschaften zudem mit dem Motto «Umbau ja – Abbau nein». Aber offenbar besteht bei den ArbeiterInnen der Post keine Einigkeit darüber, was einen «Abbau» genau ausmacht.

SAP sieht betriebliche AktivistInnen in Gefahr

Fakt ist, dass der neue GAV durchaus einige Verbesserungen beinhaltet. Im Detail sticht hier besonders die ausgedehnte Abdeckung hervor, die neu auch Lernende, Aushilfen sowie das erwähnte private Busfahrpersonal mit einschliesst. Doch bereits mit diesem Punkt waren nicht alle ChauffeurInnen zufrieden. So legte fast die Hälfte aller Berner ChauffeurInnen mittels einer Petition ihren Widerspruch ein. Grund war die Reduktion der Zuschläge für Sonntags- und Nachtarbeit, welche die oppositionellen BusfahrerInnen als eine Folge der Ausweitung des GAVs sehen.

Auf Verbesserungen können hingegen frischgebackene Mütter und Väter zählen, deren Urlaubstage merklich erhöht werden. Zudem sind die verschiedenen Lohnzulagen neu in der Pensionskasse versichert und damit rentenbildend. So viel zum Positiven.

Doch für Olivier Cottagnoud, Präsident der Basisgewerkschaft SAP, überwiegen eindeutig die Verschlechterungen. Am schlimmsten sei der Wegfall der garantierten Wiedereinstellung im Falle einer missbräuchlichen Kündigung. Künftig erhalten illegal Gekündigte 12 Monatslöhne ausbezahlt. Syndicom hält das für einen präventiven Schutz, nicht so Cottagnoud: «Für die Post ist das nicht schlimm, sie hat das Geld dazu!» Doch für die engagierten Leute an der Front sei das bedrohlich. Schon heute sei es schwierig, die KollegInnen für den Kampf zu motivieren, da viele Repressalien fürchteten. Bruno Schmucki, Mediensprecher von syndicom, hält dem entgegen, dass der Paragraph zur Wiedereinstellung ohnehin kaum zur Anwendung gekommen sei und dass neu der Preis für eine Kündigung deutlich gestiegen sei und so durchaus präventiven Charakter habe. Cottagnoud dagegen fragt rhetorisch: «Warum war es der Post denn ein Anliegen, dass dieser Kündigungsschutz wegfällt, wenn er doch kaum zur Anwendung kam?»

Weitere Einbussen muss das Personal bei den Treueprämien machen, aber auch bei der Arbeitszeit, die partiell leicht erhöht wird. Weiter wird den Postangestellten noch immer lediglich eine 15-minütige bezahlte Pause gewährt, aber auch nur dann, wenn sie vorher bereits 3,5 Stunden gearbeitet haben. Weiter entfällt die automatische Lohnerhöhung abgestuft nach Anstellungsdauer. An ihrer Stelle tritt die individuelle Leistungserhöhung. Dieser individuelle Lohnanteil macht zwar bloss 0,4 Prozent aus, war gemäss Schmucki aber nicht verhandelbar. «Hier zeigte sich die ideologische Seite der Post».

Von «Stellvertreterpolitik» und «Geheimverhandlungen»

Auch ein dezidiert linker Zürcher Briefträger, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt dem vorwärts: «Bei aller berechtigten Kritik an den Gewerkschaften; es ist die Post, die einen schlechteren GAV wollte!» Doch unter den KollegInnen sei die Enttäuschung dennoch verbreitet. Auch Cottagnoud weiss von Frustrierten, die nun der syndicom den Rücken zukehren. Doch weshalb hat die Basis, wenn auch weit weniger klar als in anderen Jahren, den GAV durchgewinkt? «Eigentlich wollte man mit einer Mobilisierungsgruppe kontinuierlich Druck aufbauen», erinnert sich der Zürcher Briefträger, «doch alle Versuche in diese Richtung wurden von oben demobilisiert.» Unter den KollegInnen seien die GAV-Verhandlungen als Geheimverhandlungen wahrgenommen worden. «Wie soll Druck aufgebaut werden, wenn kaum Informationen an die Basis gelangen?» Der monatelange Verhandlungsunterbruch sei etwa eine Folge der Kritik an dieser Arbeitsweise gewesen. Dabei bemühte sich syndicom, Transparenz zu schaffen und setzte ein 50-köpfiges «Soundigboard» ein, eine Beobachtungsgruppe, die den Prozess begleitete. Das kampflose Abschliessen des GAVs ist für den Briefträger auch eine Folge längjähriger «Stellvertreterpolitik» der Gewerkschaften.

Die autonome PöstlerInnen der SAP teilen diese Kritik: «Das, was die Gewerkschaften in den noblen Salons nicht erreichen, müssen sie sich erkämpfen! Doch an den Kampf sind sie nicht mehr gewohnt.» Deshalb gründeten gewerkschaftliche DissidentInnen vor zehn Jahren die SAP, die ständig wachsend, heute rund 700 Mitglieder zählt, kein Geld von der Post erhält, dafür in einem internationalen Netzwerk von Basisgewerkschaften vernetzt ist und auch mal nach Tunis an das Weltsozialforum reist. Von den GAV-Verhandlungen war sie hingegen ausgeschlossen, trotz unzähliger Einsprüche, zuletzt beim Bundesgericht. Dafür hat sie nun eine Klage bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eingereicht und möchte sich, wenn auch nicht mehr mit Streik, so doch mit symbolischen Kampfmassnahmen gegen den neuen GAV äussern.

 

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Neonazis gegen Kapitalismus?

May Day In Germany: RostockDie heutigen Nazis lassen häufig antikapitalistische und antiimperialistische Töne von sich hören. In Deutschland hat sich der sogenannte Strasserismus in den 90er Jahren durchsetzen können, sodass auch die NPD für eine «antikapitalistische Wirtschaftsordnung» kämpft.

«Sie haben völlig recht», entgegnete vor einigen Jahren ein schulbekannter Neonazi in einer Schule im Berlin-Prenzlauer Berg seiner Lehrerin. «Hitler war ein grosser Verbrecher. Er hat den Nationalsozialismus an das Kapital verraten. Unsere Leit- und Vorbilder sind nicht Hitler, Himmler, Goebbels und andere Grössen des ‹Dritten Reiches›, sondern Gregor und Otto Strasser.» Die Lehrerin war zunächst in zweierlei Hinsicht sprachlos. Zum einen hatte sie während ihrer Ausbildung in der DDR nie etwas über die Faschisten Gregor Strasser (1892–1934) und Otto Strasser (1897–1974) gehört und zum anderen verblüffte sie die völlig unerwartete Ideologie heutiger neonazistischer Gruppierungen in der BRD. Diese Berliner Lehrerin stellt keine Ausnahme dar. Bis in die Gegenwart hinein ist den meisten Menschen in den alten und neuen Bundesländern die geistige und programmatische Metamorphose beachtlicher Teile des bundesdeutschen Neonazismus kaum bekannt. Nach dem Scheitern aller Pläne von Otto Strasser, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre sein in der Weimarer Republik und danach entwickeltes faschistisches Politikkonzept nahtlos auf die BRD zu übertragen, war der Strasserismus bis auf die heute noch in Nordrhein-Westfalen agierende Unabhängige Arbeiterpartei (UAP) weitgehend in der politischen Versenkung verschwunden. Ein zaghafter Wandel machte sich erst wieder in den 70er Jahren bemerkbar, als die Neue Rechte in der Bundesrepublik analog ihrer französischen Gesinnungsfreunde nach neuen Ideen suchten, um die politische wie geistige Isolierung der Rechtsextremen zu überwinden. Während man in der französischen Nouvelle Droite insbesondere Vorstellungen von Antonio Gramcsi von der Eroberung der kulturellen Hegemonie vor einer politischen Machtübernahme aufgriff, suchte der sogenannte nationalrevolutionäre Flügel der westdeutschen Neuen Rechten Anknüpfungspunkte beim angeblich linken Flügel der NSDAP, der besonders von den Gebrüdern Strasser repräsentiert wurde. Diese rechtsextremen sogenannten Nationalrevolutionäre, die sich vom Hitlerismus und dem NS-System, aber nicht von der Idee eines «nationalen Sozialismus» distanzierten, gruppierten sich in den 80er Jahren vor allem um die Zeitschriften «wir selbst» (Koblenz), «Europa Vorn» (Köln) und um die «Deutsch-Europäische Studiengesellschaft» (Hamburg).

«Ethnopluralismus» statt Rassismus

Von den IdeologInnen dieser Kräfte, die sich als «progressive NationalistInnen» verstanden, wurden eine Reihe neuer Begriffe entwickelt, um den Rechtsextremismus besser in der Öffentlichkeit anbringen zu können. So sprach man anstatt von Rassismus jetzt vom Ethnopluralismus, statt Biologismus nur noch von einem Biohumanismus. Nach wie vor blieb aber auch bei ihnen die Überwindung der demokratischen Republik und die Errichtung eines neuen Deutschen Reiches das Ziel, in dem die Grundwerte der Aufklärung, vor allem das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, überwunden und durch eine ethnisch homogene und hierarchische Volksgemeinschaft ersetzt werden sollte. Die Rezeption der Strasser-Vorstellungen in der BRD vollzog sich über verschiedene Phasen, die nicht widerspruchslos abliefen. Bis in die 80er Jahre hinein waren die neuen Strasser-AnhängerInnen in intellektuellen Zirkeln relativ isoliert und politisch wirkungslos. Das änderte sich in dem Masse, wie Michael Kühnen, von den 70er bis Anfang der 90er Jahre wichtigster Repräsentant des bundesrepublikanischen Neonazismus, sich über Positionen der faschistischen Sturmabteilung (SA) dem Strasser-Konzept näherte. Bis zu Beginn der 90er Jahre dominierten dann Strasser-Ideen in fast allen nennenswerten neonazistischen Gruppen der BRD. Zu nennen sind hier insbesondere die inzwischen verbotenen Gruppierungen Nationalistische Front (NF) einschliesslich ihrer diversen Nachfolgegruppen, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und die Deutsche Alternative (DA). Dass die Strasser-Ideen gerade in Ostdeutschland einen beachtlichen Widerhall fanden und finden, hängt mit einer diffusen Nachwirkung des «Sozialismus« in der DDR, der Ambivalenz zu den angeblich antikapitalistischen Vorstellungen der Gebrüder Strasser und der neonazistischen Parole zusammen, dass der Sozialismus an sich eine gute Idee wäre, nur müsse dieser nicht internationalistisch, sondern nationalistisch ausgerichtet sein.

Durchsetzung des Strasserismus

Die Durchsetzung des Strasserismus in den meisten neonazistischen Vereinigungen vollzog sich nicht konfliktfrei. So setzte 1992 der damalige DA-Bundesvorsitzende Frank Hübner den verantwortlichen Redakteur der DA-Zeitung «Brandenburger Beobachter», Frank Mencke, ohne viel Federlesens ab, weil dieser in einem Artikel Hitler als Wahrer der Menschenrechte und den SS-Obergruppenführer und Organisator des Holocaust, Reinhard Heidrich, als Vorbild für die jungen Neonazis hingestellt hatte. In der Begründung seines Handelns erklärte Hübner, dass solche Auffassungen nicht den Positionen der DA entsprächen. Ein anderes typisches Beispiel waren die Auseinandersetzungen über diese Problematik in der neonazistischen NPD und ihrer Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN), die im Sommer 1996 zur Absetzung fast der gesamten Redaktion der JN-Zeitschrift «Der Aktivist – Nationalistisches Infoblatt» führte. Erst in dem Umfang, wie sich der 1995 neugewählte NPD-Vorsitzende Udo Voigt gegen den Flügel des abgesetzten vorherigen Vorsitzenden Günter Deckert durchsetzte, veränderte sich auch der politische und ideologische Kurs der NPD in Richtung auf die Strasser-Linie. Der von Deckert favorisierte geschichtliche Revisionismus (vor allem die «Auschwitz-Lüge») wurde zugunsten der sozialen Gegenwartsprobleme in den Hintergrund gerückt. Wie im Strasserismus wird jetzt auch in der NPD eine hemmungslose nationalistische und rassistische Revolutions- und Sozialismus-Phraseologie betrieben, die durch den Übertritt von Funktionären der Ende 1997 aufgelösten Gruppierung Die Nationalen (NAT) noch verstärkt wurde. Bereits im Mai 1996 fand der 26. ordentliche Bundeskongress der JN in Leipzig unter der heute bundesweit vorgetragenen Losung «Gegen System und Kapital – unser Kampf ist national!» statt. In Distanzierung von bisherigen Praktiken beteiligte sich auch die NPD im August 1997 nicht mehr offiziell an den Gedenkveranstaltungen für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess. Dazu argumentierte die Spitze der NPD, so etwas sei nicht mehr zeitgemäss und würde von der Masse der Bevölkerung nicht verstanden.

Testfeld Osten

Hauptexperimentierfeld für die Durchsetzung des neuen NPD-Kurses ist der Freistaat Sachsen. Hier haben NDP und JN seit dem Ende der 90er Jahre ihre politische Isolierung durchbrochen und zählen jetzt ca. 1000 hauptsächlich junge Mitglieder. 2004 und 2009 konnten Abgeordnete der NPD in den Sächsischen Landtag einziehen, 2014 scheiterte sie knapp an der 5-Prozent-Hürde. Ähnlich wie in Sachsen agieren NPD und JN auch in Mecklenburg-Vorpommern. Bei den neonazistischen Mitgliedern und AnhängerInnen der NPD steht nach wie vor die rassistische Hetze gegen AusländerInnen und eine massive soziale Demagogie im Zusammenhang mit der Massenarbeitslosigkeit und der Lehrstellenmisere im Vordergrund der Tagesagitation. Das verdeutlicht aber noch nicht genügend die veränderte, angeblich antiimperialistische Politik der NPD. Das wird deutlicher, sieht man sich die weitergehenden Positionen der NPD an. So heisst es im aktualisierten Parteiprogramm: «Die NPD lehnt die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung systematisch betriebene Internationalisierung der Volkswirtschaften entschieden ab. (…) Auf der ganzen Welt erteilt der Aufbruch der Völker dem multikulturellen Einheitswahn eine Absage. Grundlage einer europäischen Neuordnung muss das Bekenntnis zum nationalstaatlichen Ordnungsprinzip und zum Prinzip der Volksabstammung sein. (…) Wir fordern die Revision der nach dem Krieg abgeschlossenen Grenzanerkennungsverträge.» Noch deutlicher wird die der NPD nahestehende Zeitung, in der «der Kampf für eine nationale, antikapitalistische Wirtschaftsordnung», eine «Basisdemokratie gegen Bonzenhierarchie» gefordert wird. Das alles wird in den neuen Bundesländern mit einer rechtsextremen Vereinnahmung der DDR und einer Anbiederung an einstige DDR-Funktionsträger verbunden. In einem in Sachsen verbreiteten NPD-Flugblatt wird dazu erklärt: «Wir Mitglieder der NPD stehen zur ganzen deutschen Geschichte und auch zur Geschichte der DDR. Die Mehrheit unserer Mitglieder ist (…) der Meinung, dass die DDR das bessere Deutschland war. Wir wollen deshalb die positiven Erfahrungen der DDR in unsere Politik einbringen.» Aber selbst das reicht der NPD noch nicht. Um an ehemalige Kader der SED heranzukommen, wird in dem zitierten Flugblatt entgegen der geschichtlichen Wahrheit weiter verkündet, dass die NPD «in der Tradition der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung» steht. Ideologisch ist man in diesem Zusammenhang bereit, den bisherigen extremen Antikommunismus zugunsten eines ausgeprägteren Antiamerikanismus zurückzunehmen. All das soll dem Ziel der Schaffung einer «Volksfront von rechts» – oder wie es in dem Sachsenflugblatt formuliert wird – der Installierung einer «neuen Nationalen Front des demokratischen Deutschlands» dienen.

Genauere Analysen

Diese geschicktere pseudopatriotische und systemkritische Demagogie wesentlicher Teile des heutigen bundesrepublikanischen Neonazismus findet nicht nur unter Teilen der Jugend, sondern auch bei älteren BürgerInnen in den neuen Bundesländern Widerhall. So bekannte der Sprecher der Bündnisgrünen in Mecklenburg-Vorpommern, Klaus-Dieter Feige: «Ich bin immer wieder erschüttert, wenn ich mich mit Rechtsextremen unterhalte, in wie vielen Punkten wir in der Kritik am existierenden Kapitalismus übereinstimmen.» Zum Schluss sei hier noch darauf verwiesen, dass sich in Gestalt der Europäischen Synergien, einer Absonderung von den europäischen Neuen Rechten, eine neue internationale Struktur herausbildet, die sich verstärkt mit der Thematik des sogenannten Nationalkommunismus befasst und deren Verbindungen bis zu hohen russischen Militärs in Moskau reichen. Ohne jetzt hier noch weitere Thesen und Praktiken der Strasser-ErbInnen zu erörtern, verdeutlicht schon diese kurze Abhandlung, dass viele linke Analysen des heutigen Rechtsextremismus noch zu sehr in überholten Vorstellungen befangen sind und auch viele Argumente des heutigen Antifaschismus nicht die neuen Entwicklungen reflektieren und daher kaum Wirkung zeigen. Anliegen aller Linken sollte es sein, in ihren Analysen genauer die rechtsextremistische Gegenwart zu untersuchen, um daraus effektivere Argumente und politische Aktivitäten zur Zurückdrängung des zur Zeit immer noch wachsenden Einflusses des Rechtsextremismus in allen seinen Varianten zu entwickeln.

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¡NO PASARAN!

nopasaran-494x329Vor 70 Jahren endete der Horror des Zweiten Weltkriegs. Die diesjährige Beilag der 1.Mai-Ausgabe des vorwärts steht im Zeichen von diesem historischen Ereignis. Es ist ein Beitrag, so bescheiden er auch sein mag, um niemals zu vergessen! Gleichzeitig soll die Beilage aber auch anregen, sich darüber Gedanken zu machen, was es heisst, heute Antifaschist zu sein.

Mai 1945: Europa liegt in Schutt und Asche. Es beweint 60 bis 70 Millionen Tote. Die genaue Zahl wird die Menschheit nie erfahren. Weitere Millionen kehren als Krüppel von den Schlachtfeldern zurück oder sind es durch die flächendeckenden Bombardierungen geworden. Millionen von Menschen schwören sich: «Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!».

Mai 2015: Wir stellen fest, dass es in Europa sehr wohl wieder Kriege gab und noch gibt. Wir wissen, dass in der Ukraine faschistische Kräfte von der EU unterstützt werden. Wir sehen, wie rassistische, faschistoide Parteien auf dem ganzen Kontinent an Zuspruch gewinnen, grossen Einfluss haben oder gar – wie in Ungarn – an der Macht sitzen. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Was ist aus diesem Eid geworden? Was heisst es heute, Antifaschist zu sein? Eine Frage, die sich vor allem jene Linke stellen muss, die ihren Aktionsradius etwas grösser und breiter als einen Bierdeckel definiert und sich daher nicht nur auf den bürgerlichen Parlamentarismus, Initiativen und Referenden beschränkt.

Auf der Suche nach Antworten finden wir einen ganz grossen Schriftsteller, Politiker, marxistischen Philosophen und Antifaschisten aus Italien, der seine felsenfeste Überzeug mit dem Tod bezahlte: Antonio Gramsci. «Die Illusion ist die hartnäckigste Quecke des kollektiven Bewusstseins: Die Geschichte lehrt, hat aber keine Schüler», ist eine seiner Weisheiten, die er uns hinterliess. Die Quecke ist bekanntlich ein Gras, das sehr schnell wächst und alles andere «überdeckt». Und Gramsci fordert uns auf, SchülerInnen der Geschichte zu werden. Das heisst heute: Niemals die Quecke wuchern lassen, niemals vergessen! Niemals den Holocaust vergessen. Niemals den blutigen, heldenhaften Befreiungskampf der PartisanInnen vergessen. Niemals die tragende, zentrale Rolle der sozialistischen, kommunistischen Parteien und anarchistischen Organisationen im antifaschistischen Kampf vergessen. Niemals vergessen, dass Europa auch von der Roten Armee befreit wurde und nicht nur von den Amis alleine. Niemals vergessen, dass die Sowjetunion weitaus die grösste Anzahl Opfer zu beklagen hatte.

Geschwüre auch in der Schweiz

Aber das Nichtvergessen alleine reicht nicht. Auch dies sagt uns Genosse Gramsci, Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei (Partito Comunista Italiano) im Jahr 1921 und Gründer der geschichtsträchtigen Parteizeitung «L’Unità» im Jahr 1924: «Der Faschismus hat sich als Antipartei gegeben, hat allen Kandidaten die Türe geöffnet, hat einer ungeordneten Vielfalt die Möglichkeit geboten, nebulöse und vage politische Ideale mit einem Farbanstrich zu überstreichen. Es ist das wilde Überborden der Leidenschaft, des Hasses, der Wünsche.» Ins Heute umgemünzt, beschreibt hier Gramsci unter anderem die Organisation «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) aus Deutschland, die Tausende von WutbürgerInnen auf die Strasse mobilisiert. Aber auch die Schweiz ist nicht frei von solchen Geschwüren. Am 29. März 2014 versuchte die Gruppe «Stopp Kuscheljustiz» eine Kundgebung unter dem Namen «Volksversammlung» zu organisieren. Ihr Facebook-Auftritt zeigt, dass die Gruppe ein Sammelbecken für rechtskonservative und rechtsextreme Ideologien darstellt. Die «Helvetia» wird zur Heimat der «Eidgenossen» hochstilisiert und populistische Hetzberichte gegen AusländerInnen, Asylsuchende und Kriminelle von Seiten rechtsextremer Parteien wie der Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) folgen regelmässig. Auf-forderungen wie «Schweiz erwache» in Anlehnung an das SA-Kampflied «Deutschland erwache» und Aufrufe zu ethnischen Säuberungen oder die Forderung der Todesstrafe gegenüber Andersdenkenden oder MigrantInnen sind die Regel. In «Gefahr» ist alles angeblich Schweizerische, von der direkten Demokratie bis zur Cervelat. Obwohl sich die VeranstalterInnen von rechtsextremen Positionen distanzieren und sich nicht als FaschistInnen oder Neonazis wissen wollen, zieht eine solche «Volksversammlung» sehr wohl offen deklarierte RassistInnen, FaschistInnen und RechtspopulistInnen an. Die faschistoiden Züge der Rechten in der Schweiz haben sich ständig durch rassistische Komponenten und den Schutz der eigenen «Identität» und «Tradition» charakterisiert. Und sie sind vor allem auch immer bis in die «Mitte der Gesellschaft» vorzufinden.

Die Speerspitze der herrschenden Klasse

Bei Gramsci bildeten Ideologie, Philosophie und politische Praxis eine feste Einheit. Er konzentrierte sich stark auf das Verständnis der realen Situation und der gesellschaftlichen Verhältnissen Italiens jener Zeit und der Möglichkeit, diese im sozialistischem Sinne zu transformieren. Den Faschismus definierte er als «Speerspitze der Krise der bürgerlichen Gesellschaft», da der herrschenden Klasse, die «soziale, intellektuelle und moralische Hegemonie verloren hatte» und zur Gewalt greifen musste. Ein Blick auf die herrschende Klasse von heute zeigt, dass sie mit den sogenannten Freihandelsverträgen wie TiSA und TTIP (um nur zwei zu nennen) dabei ist, einen epochalen neoliberalen Angriff durchzuführen. Was wird ihre Speerspitze sein? Und: Welche Alternative bieten wir zur aktuelle Barbarei? Die Antworten auf die Frage, was es heisst, heute AntifaschistIn zu sein, finden wir in der Vergangenheit, im Heute und in dem, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Um diese im sozialistischen Sinne aufzubauen, heisst die gemeinsame Kampfparole: NO PASARAN!

 

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TISA: Weitere Schritte in der Privatisierung

tisa-banner-dang-ngo-31Seit Anfang 2012 laufen in Genf hinter verschlossenen Türen die Gespräche und Verhandlungen über die Abkommen TiSA und TTIP. Das Ziel dieser sind weitere Privatisierungen und die Beseitigung von Handelshemmnissen im Dienstleistungssektor. Dass die Folgen der beiden Abkommen vor allem die Werktätigen trifft und nicht deren Bosse, wird schnell klar.

Das Ziel von TiSA («Trade in Service Agreement», zu Deutsch «Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen») ist die globale Liberalisierung von Dienstleistungen. Dabei handelt es sich beim Abkommen um einen völkerrechtlichen Vertrag, bei dem über 20 Staaten eingebunden sind, darunter auch die USA und die EU, wobei die EU als ein Staat gilt. Faktisch sind also über 50 Staaten in die Verhandlungen involviert. Schaut man sich die Informationen über TiSA an, die trotz Geheimhaltungsversuchen durchgesickert sind, so wird deutlich, was die primären Ziele der Verhandlungen sind: Einerseits werden die Privatisierungen staatlicher Betriebe vorangetrieben, andererseits soll gleichzeitig durch das Abkommen verhindert werden, dass die Privatisierungen rückgängig gemacht werden können. Kurzum bedeute dies, dass einmal privatisierte Staatsbetriebe wie Wasserwerke niemals mehr verstaatlicht werden können, egal in welche missliche Situationen die Privatisierung führt. Gleichzeitig führt das TiSA-Abkommen Punkte zur staatlichen Handhabung von Privatisierungen auf. Diese beinhalten, typisch für supranationale Klauseln, Bestimmungen darüber, in welchem Masse Privatisierungen staatlicher Betriebe vorzunehmen seien. Wäre das TiSA-Abkommen schon für die Schweiz verbindlich in Kraft getreten, als das Zürcher Stimmvolk gegen die Privatisierung des EWZ abgestimmt hat, wäre dieser Entscheid für ungültig erklärt worden. Charakteristika von supranationalen Bündnissen sind, dass sie die Souveränität der beteiligten Staatsnationen indirekt angreifen. Dies führt oftmals zu inneren Widersprüchen und Interessenskonflikten, was schon manche Verhandlungen scheitern liess.

Staat als Markthemmnis

Legitimiert wird der Kernpunkt des TiSA-Abkommens durch die Argumentation, dass durch die staatliche Unterstützung gewisser Betriebe wie Schulen oder Elektrizitätswerke anderen Marktteilnehmern der Eintritt in den Handel erschwert oder gar verwehrt bleibe. So wird auch bei staatlichen Auflagen im Bereich Gesundheit oder Umwelt von «Markthemmnissen» gesprochen, die es zu beseitigen gilt. Es scheint zentral zu sein, für das Kapital und seine Interessen die Wege so breit wie nur möglich zu ebnen. Das oberste Ziel ist dabei die Profitmaximierung. Wird diese durch Privatisierungen durchgerungen, bedeutet dies meist eine weitere Verschärfung der Arbeitsbedingungen für die Lohnabhängigen einerseits und eine Verschlechterung der Lebensbedingungen andererseits. Gerade wenn im Gesundheits- oder Bildungssektor privatisiert wird, bedeutet dies, dass nur noch die zahlungskräftige Minderheit der Bevölkerung es sich leisten kann, für die eigene Vorsorge und Ausbildung aufzukommen. Motiviert sind Privatisierungen oftmals durch Krisen des Kapitalismus. Gleichermassen wie die kapitalistische Urbanisierung ist die Privatisierung eine Alternative in Krisensituationen, falls das Spielfeld für neue Investitionen eng wird. Betriebe, welche früher einen öffentlichen Auftrag gegenüber der Bevölkerung innehatten, sollen zukünftig in private Taschen rentieren.

TiSA reiht sich historisch in die Verhandlungen über MAI («Multilaterales Abkommen für Investitionen»), welches von den OECD-Staaten entworfen, aber nie angenommen wurde. Dieses wiederum lässt sich als ein Versuch zur Verschärfung des GATS-Abkommen («Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen») beschreiben. Mit den GATS-Verhandlungen wurde im Besonderen die Privatisierungen von elementaren Diensten wie Wasser, Gesundheitswesen uns Bildung vorangetrieben. Versuche, Privatisierungen zu etablieren und dadurch mehr Profit zu generieren, ist nicht etwas, was erst durch TiSA unternommen wurde. TiSA und TTIP stellen vielmehr eine neue Etappe in der Geschichte der Privatisierungen und somit neue Angriffe von oben dar.

Enteignen statt privatisieren!

Global konzipierten Liberalisierungsversuchen wurde schon viel Widerstand entgegnet. So gingen in Seattle im Jahre 1999 Tausende auf die Strasse, um gegen die WTO zu protestieren. Seattle wurde zum Symbol für eine starke und lebendige Antiglobalisierungsbewegung, die durchaus Massencharakter bewies. Mit den Protesten solidarisierten sich international Lohnabhängige wie Arbeitslose, StädterInnen wie BauerInnen. Die öffentliche Aufmerksamkeit den Themen der Globalisierung gegenüber war extrem hoch. Und so gilt es auch in der Gegenwart, sich mit dem aktuellen Angriff auf die Lebensgrundlage von vielen Menschen zu beschäftigen und sich dagegen zur Wehr zu setzten. Der Kampf gegen Abkommen wie TiSA ist ein Kampf für gute Lebensbedingungen für alle. Dabei ist wichtig zu betonen, dass von Privatisierungen sehr viele, auch reichere Länder betroffen sind. So existiert beispielsweise im Kanton Zürich kein Spital mehr, deren Auslagerung oder Privatisierung nicht vorangetrieben wurde. Arbeitskämpfe im In- wie im Ausland haben gezeigt, das Widerstand nötig und möglich ist. Dabei baut man den grössten Druck auf, wenn man Kämpfe verbindet.

In verschiedensten Ländern regt sich der Widerstand gegen TiSA. Auch in der Schweiz haben sich Aktionen gegen TiSA bemerkbar gemacht. So wurde am 18. April zu einem internationalen Aktionstag gegen TiSA aufgerufen. Um 14 Uhr trafen am Paradeplatz etwa 150 Leute zu einer Kundgebung ein. Diese Mobilisierung des revolutionären Bündnisses gegen TiSA war die erste Aktion, die das Thema in die Öffentlichkeit trug. Das ist bei einem Abkommen wie TiSA besonders wichtig, da man nur so die Verhandlungen aus der Sphäre des Geheimen holen kann. Es ist klar, TiSA muss öffentlich Thema sein und werden! Die Kundgebung wurde begleitet von Einschüchterungsversuchen der Polizei, die mehrere Personen in Gewahrsam genommen, weggewiesen oder kontrolliert haben. Verhindern konnte aber auch die Stapo Züri die Kundgebung nicht, weil ihnen die politische Legitimation dafür offensichtlich gefehlt hat. Dies, weil die Kundgebung verschiedenste Kräfte zusammengebracht hat, darunter auch die Basisgruppe «Zürich bleibt öffentlich». Deren Teilnahme an der Kundgebung zeigt, dass sich auch in den gewerkschaftlichen Strukturen erste Stimmen gegen TiSA erheben, was durchaus notwendig ist.

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Besetzung des Migrationsamts in Luzern

MigrationsamtAktion Würde statt Hürde. Ein Mann stach sich mit einem Messer in den Bauch, um sich das Leben zu nehmen. Er hielt die Situation als abgewiesener Asylsuchender nicht mehr aus. Darauf empörten sich einige LuzernerInnen einmal mehr über das menschenunwürdige Asylsystem der Schweiz. Es war höchste Zeit, ein Zeichen zu setzen. So entstanden wir, die «Aktion Würde statt Hürde», die aus Menschen mit und ohne Schweizer Pass besteht. In langen Diskussionen und Vorbereitungen füllte sich unsere Aktion mit Inhalt. Wir führten Interviews mit Asylsuchenden, denn wir wollten ihre Geschichten und Anliegen hören. Als wir sie dann hörten, aufschrieben und auf Tonband aufnahmen, wurde aus Empörung Betroffenheit und aus Wut der Wunsch, Solidarität zu zeigen. Deshalb besetzten wir das Amt für Migration in Luzern. Wir trugen die Stimmen derer hinein, die sich selber nicht wehren können, ohne damit rechnen zu müssen, dass sie ihren Traum von einem menschenwürdigeren Leben begraben müssen. «Leben in der Nothilfe ist schwierig und mühsam. Wir haben eine begrenzte Umgebung. Wir sind nicht frei, wir haben ganz wenige Möglichkeiten, uns zu bewegen. Wir müssen nur überleben. Das macht mit der Zeit müde, es ist schwierig und mühsam. Das macht Leute mit der Zeit depressiv. Wir haben keine Perspektive und keinen Plan für die Zukunft. Das ist meine Meinung.», sagt eine bgewiesene asylsuchende Person im Interview.

Im Amt für Migration lasen wir die Transkripte der Interviews immer wieder vor. Die Angestellten des Amigras sollten ein Gefühl dafür bekommen, dass es Menschen sind, die sie schikanieren, die sie beschimpfen, für die sie Durchsetzungshaft anordnen. Per Lautsprecher übertrugen wir die Stimmen nach draussen, um eine Verbindung herzustellen zwischen den PassantInnen, den Demonstrierenden und den beobachtenden PolizistInnen. Die Unmenschlichkeit des Asylsystems war für einmal nicht abgeschottet in Amtsgemäuern, sondern gut hörbar in Luzerns Strassen. Es gelang uns, die mediale Berichterstattung mit unseren Inhalten zu füllen.

Wir wollen, dass die Menschen verstehen, dass abgewiesene Asylsuchende, ohne etwas Kriminelles getan zu haben, verfolgt und illegalisiert werden. Schlicht wegen fehlenden Papieren sind Gefängnisstrafen und Bussen Alltag. Die Lebensumstände sind prekär: Abgeschottete, zu kleine Notunterkünfte und die täglichen 10-Franken-Gutscheine von Coop, die bei Weitem nicht zum Leben reichen, zumal zusätzlich ein Arbeitsverbot besteht. Auch zu Bildung besteht kein Zugang. Dies alles verunmöglicht ein menschenwürdiges Dasein und eine Integration in der Schweiz. «Wir sind hier seit mehr als zehn Jahren. Meine Hoffnung ist, arbeiten zu gehen oder etwas zu machen. Das ist das Minimum, das sie uns geben sollten. Meine Hoffnung ist, dass sie uns anschauen und nicht nur unsere Dossiers, und das sie diese stattdessen eines Tages schliessen. Wir sind auch. Wir brauchen auch ein Leben als Menschen.»

Ein paar Tage nach der Besetzung zogen wir lautstark demonstrierend mit 300 Personen durch Luzern. Zur Demonstration aufgerufen hatte Bleiberecht Luzern. Wir hatten einen Gastauftritt: Die Stimmen der betroffenen Menschen erschallten wieder in den Strassen und stimmten die PassantInnen nachdenklich. Hört man die persönlichen Geschichten der sonst in der anonymen Masse der «AusländerInnen» untergehenden Individuen, kann sich niemand taub stellen. Die vergangenen Wochen (auch mit der Kirchenbesetzung in Lausanne) haben gezeigt, dass es mit hartnäckigem Aktivismus eben doch möglich ist, Menschen wachzurütteln. Gemeinsam können wir so laut sein, dass die tägliche Unterteilung in wertvolle, also erwünschte, und wertlose, unerwünschte Menschen nicht mehr totgeschwiegen werden kann. Wir kommen wieder. Das war erst der Anfang!

Mehr Infos: https://aktion2303.wordpress.com

 

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Die Mär von der «Lohngleichheit»

05_FrauendemoZum diesjährigen Internationalen Frauenkampftag demonstrierten tausende Menschen gegen die Lohndiskriminierung von Frauen. Trotz gesetzlicher Regelung wird der Grundsatz «gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» von Unternehmen systematisch missachtet. Mit obligatorischen Kontrollen und Sanktionierungsmöglichkeiten wollen die Gewerkschaften dagegen angehen.

Seit mehr als 33 Jahren gilt in der Schweiz das Gleichstellungsgesetz. Seit mehr als 33 Jahren wird es von den Unternehmen ignoriert. Nun regt sich Protest. Rund 12000 Personen waren am 7. März dem Appell eines Demonstrationsbündnisses, bestehend aus 48 Frauenorganisationen von links bis rechts, gefolgt und trugen die Forderung nach «Gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit» auf die Strasse. Rund 24 Jahre nach dem historischen Frauenstreiktag von 1991, zu dem fast eine halbe Million ArbeiterInnen ihre Tätigkeit niedergelegt hatten, sei es an der Zeit, einem «der grössten Skandale der Schweiz» ein Ende zu bereiten, erklärte die Gewerkschaft Unia.

Die «Lohngleichheit» ist seit 1981 in der Bundesverfassung und seit 1996 – im Nachgang zum Frauenstreiktag – im Gesetzbuch verbindlich verankert. Dennoch verdienen Frauen gemäss den neusten Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2012 in der Schweiz immer noch rund 19 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Eine Differenz von durchschnittlich 677 Franken pro Monat. Der Unterschied zu Staaten, die kein gesetzliches Verbot von Lohndiskriminierung kennen, ist marginal. In Deutschland etwa liegt die Differenz bei rund 22 Prozent. Begründen könne man den Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern teilweise durch Faktoren wie Ausbildung, Qualifikation und beruflicher Stellung. Dennoch bleibt gemäss BFS eine «unerklärbare» Differenz von 8,7 Prozent. In Branchen mit hohem Frauenanteil – wie etwa in der Pflege und im Detailhandel – sind die Zustände für die ArbeiterInnen noch gravierender: Die Löhne sind auf unterdurchschnittlichem Niveau und das Lohngefälle zwischen Mann und Frau noch höher als in anderen Wirtschaftszweigen. Der Gesamtwert der «Einsparungen», welche Unternehmen durch die Zurücksetzung der Frauen in der Arbeitswelt erzielen, beläuft sich in der Schweiz auf insgesamt 7,7 Milliarden Franken pro Jahr. Geld, das den Frauen nicht nur während ihrer Erwerbszeit, sondern auch später im Rentenalter fehlt.

Selbst verantwortlich

Der Grund, warum das vorhandene Gesetz gegen «Lohndiskriminierung» nicht greift, ist simpel: Privaten Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen ist es freigestellt zu prüfen, ob sie eine diskriminierende Lohnpolitik führen und beheben wollen. Der Staat leistet den Unternehmen dabei finanzielle und personelle Unterstützung, der Blick in die Lohnbuchhaltungen bleibt aber verwehrt. Stichkontrollen vornehmen dürfen die Behörden nur bei der Vergabe von Bundesaufträgen. Gemäss dem Eidgenössischen Büro für Gleichstellung (EBG) wurden in diesem Bereich bisher jedoch lediglich 43 von rund 300000 Unternehmen und Organisationen, mit denen der Bund Geschäftsbeziehungen unterhält, geprüft. Kurzum: Für die Durchsetzung des Verfassungsrechts ist jede Frau selber verantwortlich. Und nicht selten führt dieser Weg vor Gericht.

Mehr als 262 Fälle von Lohnungleichheit sind in der Schweiz in den vergangenen 19 Jahren eingeklagt worden. Die Dunkelziffer dürfte allerdings um einiges höher sein, da viele Betroffene entweder gar nicht erst um die Diskriminierung wissen oder den kräftezehrenden Rechtsweg nicht auf sich nehmen können. Dass das Einklagen von Lohn ein aufreibender und langwieriger Weg ist, zeigt das Beispiel einer Schneiderin aus Lausanne. Seit mehr als zwei Jahren führt die Frau einen Rechtsstreit gegen das Unternehmen, in dem sie sechs Jahre lang tätig war. Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie als Fachperson mit Berufserfahrung monatlich rund 1200 Franken weniger verdient als ein Arbeitskollege ohne eigentliche Qualifikation, verlangte sie bei ihrem Chef eine Lohnerhöhung. Kurze Zeit später kam die Kündigung. Die Schneiderin zog den Fall vor Gericht, doch die Anordnung eines wissenschaftlichen Attests, mit dem die Lohnungleichheit bewiesen werden muss, wurde von der Justiz – zugunsten des Unternehmens – verzögert. Bis heute lässt der Urteilsspruch auf sich warten.

Freiwillige Prüfung?

Die Gewerkschaft Unia spricht von «Verschleppungstaktik» und einem «hürdenreichen Weg». Nichtsdestotrotz sieht die Unia-Gleichstellungssekretärin Corinne Schärer in den Lohnklagen «das wichtigste Mittel», um Druck aufzubauen. Gewerkschaftliche Organisation und Arbeitskämpfe gegen diskriminierende Entlohnung sind bisher kein Thema zur Durchsetzung der «Lohngleichheit». Man konzentriert sich weiterhin auf den Rechtsweg und die Forderungen, die man bereits im Jahr 2007 gestellt hat. Damals, als das Parlament eine Sondersitzung zur Diskussion des Gleichstellungsgesetzes abhielt, verlangten die Gewerkschaften «griffige Massnahmen» wie Kontrollen und Sanktionen. Ohne Erfolg. Der Bundesrat entschied stattdessen, in eine zusätzliche freiwillige «Förderungsmassnahme» zu investieren und einen »Lohngleichheitsdialog» zwischen den «Sozialpartnern» zu veranlassen. Dabei konnten sich alle Unternehmen in der Schweiz einer externen Kontrolle unterziehen, um zu prüfen, ob sie eine diskriminierende Lohnpolitik führen. Doch während der fünfjährigen Pilotphase machten lediglich 50 Unternehmen von diesem «Angebot» Gebrauch. Davon waren 70 Prozent staatlich oder «staatsnah».

Ein ernüchterndes Ergebnis. Selbst der Bundesrat musste daraufhin im vergangenen Oktober eingestehen, dass «freiwillige Lösungen alleine nicht zum Ziel führen». Justizministerin Simonetta Sommaruga kündigte eine «Verschärfung» des Gleichstellungsgesetzes an, die vorsieht, dass Unternehmen künftig alle drei Jahre eine «Lohnanalyse» durchführen, das Resultat von einem «Dritten» ihrer Wahl bestätigen lassen und im Geschäftsbericht erwähnen, dass die gesetzliche Pflicht eingehalten worden sei. Darüber, wie gross die tatsächlich festgestellte Lohndifferenz ist und welche Massnahmen ergriffen wurden, sollen die Unternehmen keine Rechenschaft ablegen müssen. Man wolle «keine Lohnpolizei» und dass «die zusätzliche administrative Belastung für die Unternehmen gering bleibt», so die SP-Bundesrätin.

Dass Bewegung in die Lohngleicheitsdiskussion kommt, begrüssten die Gewerkschaften zwar als einen «Schritt in die richtige Richtung», die bundesrätliche Vorstellung der «Gesetzesverschärfung» teilen sie aber nicht. Die vorgesehenen Massnahmen seien «zahnlos», es brauche verbindliche Kontrollen, eine Meldebehörde und die Möglichkeit, Unternehmen zu sanktionieren, wenn sie Diskriminierung nicht beheben, heisst es seitens der Unia. Dem Gewerkschaftsbund schwebt eine Kontrollstelle in Form einer «Tripartiten Kommission» vor. Ein Organ zur «Beobachtung des Arbeitsmarkts», wie es aktuell in Zusammenhang mit den «flankierenden Massnahmen» eingesetzt wird und das befugt ist, die Einhaltung von Arbeitsverträgen zu kontrollieren, Verstösse wie Lohndumping an die kantonalen Vollzugsbehörden zu melden und «Massnahmen» zu beantragen. Einsitz haben VertreterInnen der «Sozialpartner» – Gewerkschaften und Unternehmen – sowie der Behörden. Diesem Kräfteverhältnis entsprechend ist die Durchschlagskraft der Kommission: Immer wieder werden Forderungen nach Einhaltung und Verschärfung der «flankierenden Massnahmen» laut. Im Basler Parlament hiess es im September 2012 sogar: «Die Tripartite Kommission muss endlich ihre Kontrollfunktion gemäss Auftrag ausführen.» Der Tages-Anzeiger titelte im April 2014: «Flankierende Massnahmen sind fast folgenlos» und die Unia führt eine lange Liste mit Forderungen zur «Verstärkung der flankierenden Massnahmen», die seit jeher unverändert blieb.

Torpedierte Lohngleichheit

Eine Erfolgsgeschichte sieht anders aus. Nichtsdestotrotz schwebt den Gewerkschaften auch für die Durchsetzung der «Lohngleichheit» eine Tripartite Kommission als Kontrollgremium und somit die «Zusammenarbeit» mit den Unternehmen vor. Alternative Ideen sind Mangelware, wie sich an der Frauendemonstration am 7. März zeigte, als die SP-Frauen-Präsidentin Yvonne Feri «vielleicht ein bisschen provokativ» anregte, man solle «die Männerlöhne bei Ungleichheiten gegen unten korrigieren». So könne die Wirtschaft sparen und dieses Geld in gleichstellungspolitische Massnahmen investieren.

Die Unternehmen dürften applaudiert haben, denn Sparen steht bei ihnen derzeit ausserordentlich hoch im Kurs. Aufgrund des «starken Frankens» sehen sich Firmen, vor allem im Exportbereich, «unter Druck». Mögliche Einbussen sollen kompensiert werden. Mehr Arbeit zu weniger Lohn sowie Stellenstreichungen wurden mancherorts bereits durchgesetzt. Und damit die Wirtschaft noch freier walten kann, rief die SVP Ende Februar dem Appell von UBS-Chef Sergio Ermotti folgend zu einen «Deregulierungspakt» zwischen Wirtschaft und Politik auf. Lohnangleichung gegen oben und Kontrolle von Unternehmen kommen für die SVP nicht in Frage. So soll auch die Frauendiskriminierung fortgesetzt werden, wie SVP-Parteipräsident Toni Brunner im Interview mit der NZZ am Sonntag darlegte. Die vom Bundesrat geplante «Lohnpolizei» müsse man «abbrechen oder wenigstens sistieren«, so Brunner. Gestützt werden die Rechtspopulisten von der CVP und der FDP. Die «Frankenstärke» dient als dankbarer Vorwand, um das Ansinnen für «Lohngleichheit» weiter zu torpedieren.

«Das werden wir verhindern», konterte indes der Gewerkschaftsbund. Man wolle nun den konkreten Gesetzesentwurf abwarten, den die Regierung im Sommer vorlegen wird. Sollten die Anliegen der Frauen weiter auf die lange Bank geschoben werden, würde man wieder auf die Strasse gehen. Dennoch ist absehbar, dass die Diskriminierung von Frauen ohne eine entschiedenere Haltung weiter Realität sein wird.

 

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Keine Rentenerhöhung

0029_147Die zuständige Kommission des Ständerats lehnt die «AHVplus» Initiative des Gewerkschaftsbundes ab. Wie immer, wenn es um die AHV geht, wird der klare Verfassungsauftrag missachtet. Ein Verfassungsauftrag, der nur mit einem radikalen Wechsel erfüllt werden kann. «Die sozialpolitische Kommission des Ständerats nimmt die Sorgen vieler Rentnerinnen und Rentner nicht ernst und lehnt eine dringend nötige Rentenerhöhung, so wie sie die Initiative «AHVplus» vorschlägt, sang- und klanglos ab», schreibt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) in seiner Medienmitteilung von 26. März 2015. Selbst 116 Franken im Monat mehr für RentnerInnen mit einer Minimalrente von monatlich 1160 Franken sind der Kommission zu viel. Bei einer Maximalrente von derzeit 2320 Franken wären es 232 Franken und bei einer vollen Ehepaarrente würde der Zuschlag 348 Franken betragen. Die «AHVplus»-Initiative des SGB verlangt eine Erhöhung von zehn Prozent der aktuellen AHV-Renten und wurde am 17. Dezember 2013 mit über 112000 Unterschriften eingereicht.

Weit, weit weg!

Es ist bemerkenswert, wie die Kommission des Ständerats auf die Verfassung spuckt. Denn diese schreibt vor, dass die Renten der AHV und der Pensionskasse zusammen die «Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise» gewährleisten müssen. Für viele Leute ist dieses Verfassungsrecht ein schlechter Witz, ein Hohn. 185 800 RentnerInnen beziehen Ergänzungsleistungen, ihre AHV-Rente und die eventuellen Bezüge aus der Pensionskasse reichen nicht aus, um die minimalsten Lebensunterhaltskosten zu decken. Gemäss Hochrechnungen von Pro Senectute steigt diese Zahl jedes Jahr um 5000 zusätzliche PensionärInnen an. Ohne die AHV-Zusatzleistungen, die bei der Einführung als vorübergehend bezeichnet wurden, könnten rund 300 000 Personen kaum mehr anständig leben. Nicht zu vergessen sind jene Menschen, die keine Zusatzleistungen beziehen, da sie den Anspruch darauf nicht erheben und dies oft, weil sie ihr Recht dazu gar nicht kennen oder sich schämen. Das alles betrifft nicht nur Menschen, die nach der Pensionierung einzig auf ihre AHV-Rente zählen können, sondern auch viele mit Renten aus der ersten und zweiten Säule. Ein Elektriker etwa, der zuletzt rund 5500 Franken verdiente, muss sich nach seiner Pensionierung mit weniger als 3500 Franken aus erster und zweiter Säule begnügen. Eine Verkäuferin mit einem Monatsgehalt von gerade mal 4000 Franken bekommt eine Rente von 3000 Franken. Weit, weit weg von dem, was die Verfassung garantiert und diese so – zumindest in diesem Punkt – zu einem wertlosen Papierfetzen macht!

PdAS arbeitet an Initiative

Laut SGB würde die vorgeschlagene Rentenerhöhung dem Bund vier Milliarden Franken kosten. Davon wäre gut die Hälfte mit einer nationalen Erbschaftsteuer gedeckt. Weitere 2,2 Milliarden durch die Tabaksteuer, wenn diese direkt in die AHV statt in die Bundeskasse fliessen würde. «Auch Lohnprozente, die seit 1975 nie erhöht worden sind, dürfen kein Tabu sein. 0,6 Lohnprozente würden reichen, um den Mehrbedarf zu decken», rechnet der SGB weiter vor. Die Initiative ist finanzierbar. Ob man sie finanzieren will, ist wie immer eine politische Frage. Als kurzfristige Massnahme macht die SGB-Initiative durchaus Sinn. Doch längerfristig kann auch sie den Verfassungsauftrag nicht erfüllen. Das ist nur mit einem radikalen Wechsel möglich: Die 1. Säule, sprich die AHV, muss gestärkt werden und zwar durch die Überführung der Pensionskasse (2. Säule) in die 1. Säule. Ein Projekt, an dem die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) arbeitet und eine entsprechende Volksinitiative angekündigt hat.

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Töten wir das Monster!

01_TISAAm 18. April findet der globale Aktionstag gegen Freihandel statt. Es ist der konkrete Widerstand gegen die Freihandelsabkommen, die der schrankenlosen Privatisierung und Liberalisierung den Weg ebnen soll. Was dabei die -Folgen sind, zeigt die Privatisierung des Spitals «La Providence» in Neuenburg. Die Abkommen betreffen direkt auch die Schweiz. Am Aktionstag findet auf dem Zürcher Paradeplatz eine Kundgebung statt.

TiSA? TTIP? Tafta? Das sind Abkürzungen für so genannte Freihandelsabkommen. Freihandelsabkommen? Das ist der «diplomatische Fachbegriff» für die komplette, vollständige Liberalisierung und Privatisierung! «Privatisierungen der öffentlichen Dienste und Liberalisierung sind die politischen Waffen der Unternehmen und Besitzenden, um ihre Profitinteressen durchzusetzen. Für die ArbeitnehmerInnen bedeuten sie schlicht eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und somit auch der Lebensbedingungen», hält die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) in ihrem Wahlprogramm 2015 fest. So geschehen beim Spital «La Providence» in Neuenburg: Nachdem das Spital durch die private Gruppe «Genolier» übernommen wurde, kam es zur Kündigung des Gesamtarbeitsvertrags (GAV), der Auslagerung nicht- medizinischer und nicht-pflegerischer Leistungen. Die Folgen waren ein allgemeiner Lohn- und Stellenabbau. Dies geschah mit dem Einverständnis der Neuenburger Regierung: Sie erlaubte der Gruppe «Genolier», den GAV zu kündigen, obwohl eine Verordnung des Regierungsrates selbst festlegte, dass der GAV respektiert werden muss, um einen öffentlichen Auftrag im Gesundheitswesen zu erhalten. Eine «Ausnahme»? Nein! «Ein Musterbeispiel von Privatisierung und Liberalisierung im Sinne des kapitalistischen Diktats, das heute Globalisierung genannt wird», schreibt die PdAS dazu und trifft damit den Nagel auf dem Kopf.

Weltweite, undemokratische Verhandlungen

Seit 2012 verhandelt das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) im Auftrag des Bundesrats mit der EU, die ihrerseits 28 Länder umfasst, sowie weiteren 20 Ländern unter der Führung der USA über das Freihandelsabkommen «Trade in Services Agreement» (TiSA). Auf der Website des Komitee Stop-Tisa ist darüber zu lesen: «Es geht um fast alles, was wir zum Leben brauchen: vom Trinkwasser bis zur Abfallentsorgung, vom Kindergarten bis zum Altersheim, von Post und Bank über Eisenbahn und Elektrizitätswerke bis zum Theater. Der ganze Service public, wie wir ihn in der Schweiz nennen, ist vom Dienstleistungsabkommen TiSA bedroht.» Die Verhandlungen werden im Geheimen und undemokratisch geführt. Das Schweizer Parlament, wie auch die Öffentlichkeit, wurde erst auf öffentlichen Druck spät und unzulänglich über den Stand der Verhandlungen informiert. Die Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien kennen seit Jahrzehnten die Auswirkungen dieser Freihandelsabkommen, die ihre Wirtschaft zerstört und das Volk in Armut geführt haben. So gibt es heute gemäss WTO weltweit gegen 400 Freihandelsverträge, vor vierzig Jahren waren es weniger als zehn.

Konzerne klagen gegen Staaten

Gemäss den Freihandelsverträgen müssen alle Dienstleistungsbereiche, in denen neben den öffentlichen auch private Anbieter vorhanden sind, den Regeln des «freien und unverfälschten Wettbewerbs» unterstellt werden. Ist dies nicht der Fall, können einzelne Konzerne eine Regierung auf «entgangene Gewinne» verklagen, um diese aus Steuergeldern ausgleichen zu lassen. Die Unternehmen haben denselben Rechtsstatus wie Nationalstaaten. Geklagt wird nicht bei einem öffentlichen Gericht, sondern bei einem Schiedsgericht, das der Weltbank untersteht! Diese Regelungen sind bereits aus bestehenden Freihandelsverträgen bekannt. Zwei konkrete Beispiele, bei denen von Parlamenten demokratisch gefällte Entscheide gekippt werden sollen: Die schwedische Energiefirma «Vattenfall» hat Deutschland wegen seiner Atomausstiegspläne auf 3,7 Milliarden Euro verklagt. Philip Morris will zwei Milliarden US-Dollar von Uruguay, weil das Land seine Gesetze zum Rauchen verschärft hat.

Dem Willen der Konzerne nach sollen die Freihandelsverträge die Zukunft bilden. So verhandeln die EU mit den USA seit Juli 2013 über das sogenannte «Transatlantic Trade and Investment Partnership», abgekürzt TTIP. Dabei geht es um die Schaffung der grössten Freihandelszone der Welt und, die einen gemeinsamen Wirtschaftsraum für mehr als 800 Millionen KonsumentInnen bilden würde. Unter dem Deckmantel, die Gesetze «transatlantisch aufeinander abzustimmen», ist die Profitmaximierung das eigentliche und reell angestrebte Ziel. Das betrifft die Nahrung und Industrieprodukte sowie Bereiche wie Arbeitsrecht, Gesundheit sowie Umwelt- und Klimaschutz.

Wirtschafts-Nato als Ziel

Die US-Amerikanerin Lori Wallach, Direktorin von «Public Citizen», der grössten Verbraucherschutzorganisation der Welt, Rechtsanwältin mit Spezialgebiet Handelsrecht und führender Kopf bei den Protesten 1999 in Seattle gegen die WTO-Ministerkonferenz, nennt das TTIP einen «Staatsstreich in Zeitlupe». Und sie schreibt in einem sehr empfehlenswerten Artikel in «Le Mode diplomatique» vom 8. November 2013: «Die erklärte Absicht ist, in zwei Jahren ein Abkommen zu unterzeichnen, das eine transatlantische Freihandelszone ‹Transatlantic Free Trade Area› (Tafta) zu gründen. Das gesamte TTIP-Tafta-Projekt gleicht dem Monster aus einem Horrorfilm, das durch nichts totzukriegen ist. Denn die Vorteile, die eine solche ‹Wirtschafts-Nato› den Unternehmen bieten würde, wären bindend, dauerhaft und praktisch irreversibel, weil jede einzelne Bestimmung nur mit Zustimmung sämtlicher Unterzeichnerstaaten geändert werden kann.»

Die Schlussfolgerung aus all dem ist verdammt einfach: Töten wir das Monster!

Gegen TiSA Abkommen!
Privatisierung stoppen!
Kundgebung: 18. April, 14.00 Uhr

Paradeplatz Zürich

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Die Rückkehr der Grossgrundbesitzer

ChileDen Kleinbauern und -bäuerinnen um das chilenische Llay Llay vertrocknen die Felder. Die Hügel neben ihren Parzellen aber sind saftig grün. Hier wachsen Tausende von Avocadobäumen, zu deren Bewässerung die GrossgrundbesitzerInnen das Grundwasser abpumpen. Jeden Sommer hat sich die Situation verschärft – dieses Mal ist es zu viel: Die Bauern und Bäuerinnen rufen nun zum Widerstand gegen die GrossgrundbesitzerInnen, die Privatisierung des Wassers und die ungerechten Gesetze auf.

Als im Jahr 1961 die konservative Regierung unter Jorge Alessandri das Gesetz zur Agrarreform verabschiedete, welche in den darauffolgenden Jahren unter Eduardo Frei und Salvador Allende vertieft wurde, konnten viele LandarbeiterInnen zum ersten Mal BesitzerInnen ihrer eigenen Felder werden. So geschah es auch in Llay Llay im Tal des Aconcagua, des grössten Flusses in der Region von Valparaiso. Die Dörfer um Llay Llay leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Als Folge der Agrarreform wurden die Latifundien enteignet und anfänglich an einzelne BäuerInnen und später, unter der Regierung von Salvador Allende, an Kooperativen übergeben. Die neuen LandbesitzerInnen bekamen anfänglich staatliche Hilfe um die Ländereien zu bestellen. Unter der Diktatur Augusto Pinochets wurden jedoch alle staatlichen Hilfen eingestellt.

Die Bauern und Bäuerinnen bauten im fruchtbaren Tal Gemüse an und liessen auf den trockenen, mit dornigen Büschen bewachsenen Hügeln und Bergen ihr Vieh weiden. Das Wasser zur Bewässerung kam aus Kanälen, die das Wasser vom Aconcagua-Fluss auf die Felder brachten. Reich wurden die Leute dadurch nicht und die fehlende Hilfe bei der Produktion und der Vermarktung ihrer Produkte zwangen viele Bauern und Bäuerinnen während der Militärdiktatur ihre Ländereien wieder zu verkaufen.

Das Latifundiensystem kehrt zurück

Nach dem Ende der Militärdiktatur, im Jahre 1989, fingen reiche Familien an, die angeblich wertlosen Hügel und zum Teil auch Ländereien im Tal aufzukaufen. Anfänglich verkauften die vormaligen BesitzerInnen freiwillig, später durch gesetzlich bewilligten Zwang. Grundlage für diese Zwangsverkäufe ist ein Gesetz, welches es dem Hauptbesitzer eines Hügels ermöglicht, die anderen BesitzerInnen dazu zu zwingen, ihnen das restliche Land zu verkaufen. Die Hügel, bewohnt und bewachsen von seltenen Tieren und geschützten Pflanzen, standen einige Jahre unbenutzt da, bis ein Gesetz verabschiedet wurde, welches PrivatunternehmerInnen bis zu 80 Prozent ihrer Infrastruktur finanziert, wenn die bis dahin «ungenutzte» Hügel bewirtschaftet würden. So verschwanden über Nacht die geschützten Büsche in Löchern und es entstanden riesige Avocadoplantagen. Die Latifundien waren in neuer Form wieder aufgetaucht. Heute beschäftigt Jorge Schmidt, der grösste Grossgrundbesitzer im Tal, ironischerweise Sohn eines geflüchteten italienischen Kommunisten, in Llay Llay während der Hauptsaison über zweitausend Menschen, um seine Felder zu bestellen. Angebaut werden nebst den Avocados Weintrauben und Zitrusfrüchte – fast allesamt Exportprodukte, die in alle Welt verschifft werden. Flugzeuge fliegen über die Felder, um Pestizide zu sprühen, Busse fahren umher, um die ArbeiterInnen an neue Orte zu bringen und Container voller Avocados, Weintrauben und Orangen verlassen das Tal, um ihre Reise nach Europa, Asien und vielleicht auch in deinen Supermarkt anzutreten. Die ArbeiterInnen berichten derweil, dass kaum mehr Füchse auftauchen und wenn doch, dann nur tot – vermutlich eine Folge des ausgestreuten Rattengift. Regelmässig geschehen schwere Arbeitsunfälle, da an den steilen Hängen mit viel Gewicht gearbeitet wird und eine Arbeiterin sowie ein Stadtrat erzählen, dass noch nie eine Arbeitskontrolle oder die Umweltschutzbehörde zu Besuch kamen. Die Löhne sind an den von Pinochet eingeführten Mindestlohn von derzeit etwa 350 Franken gebunden, jedoch mit «Boni je nach Produktivität», wie sich der Grossgrundbesitzer Schmidt letztes Jahr in einem Gefälligkeitsartikel in der rechten Zeitung «El Mercurio» zitieren liess. Der Artikel porträtierte Schmidt als bodenständigen Aufsteiger und guten Arbeitgeber. Kritische Fragen wurden nicht gestellt.

Der hausgemachte Wassermangel

«Als Kind musste ich nur ein kleines Loch in die Erde graben und schon stiess ich auf Wasser», erzählt Aldo Alvarado, der schon sein ganzes Leben in Llay Llay wohnt. Die Region ist eigentlich bekannt für ihren Wasserreichtum, den es unter der Erde beherbergt, da sich das Wasser im regenreichen Winter im Kessel von Llay Llay sammelt und dort versickert. Doch seit Jahren ist dies nicht mehr so, es regnet nicht mehr so viel und der Aconcagua bringt im Sommer kaum mehr die Wassermengen von früher mit sich. Der Klimawandel macht sich im Tal des Aconcagua in aller Härte bemerkbar. Die Wasserknappheit lässt sich aber, wie in anderen Teilen Chiles, durch die industrielle Nutzung des Wassers erklären. Überall im Land verstreut gibt es Regionen, die an Trockenheit leiden. So sind es im Süden die Mapuche, die klagen, dass bei ihnen der Grundwasserspiegel aufgrund der extensiven Forstwirtschaft sinkt. Von der Mitte des Landes bis in den Norden sind es Minen in den Anden, die das Wasser zum Herauswaschen der Kupfers gebrauchen und mit Schwermetallen verseuchen. In der Mitte des Landes kommt noch die verstärkte Nutzung der Quellen durch GrossgrundbesitzerInnen hinzu, die dank mehr Kapital tiefere Brunnen als die ansässige Bevölkerung bohren können. «Im Tal des Aconcaguas kommt noch die schlechte Verteilung des Wassers, welches der Fluss mit sich bringt, dazu», so Marcelo Diaz, Vorsitzender einer frisch gegründeten Gruppierung zum Schutz des Wassers. Überdies pumpt der private Wasserkonzern Esval im Dörfchen Las Vegas bei Llay Llay Wasser für die Grossstadt Valparaiso ab. Die Pumpen von Las Vegas können derweil kein Trinkwasser mehr für die lokale Bevölkerung finden. Das Wasser im Tal wird knapp, wie in vielen Regionen Chiles, in der neue GrossgrundbesitzerInnen mit einer enorm extensiven Landwirtschaft alle Wasserressourcen ausbeuten, die sie finden.

«Das Hauptproblem ist die kapitalistische Produktionsweise»

Dagegen gibt es in Llay Llay nun Widerstand, die neu entstandene Bewegung beschwert sich wegen der schlechten Verteilung des Wassers. Denn während den kleinen Bauern und Bäuerinnen die Kanäle vertrocknen, bauen die Grossgrundbesitzer-Innen immer tiefere Brunnen – mit Rechten, die sie billig anderen abkaufen. Allein im Dorf Las Palmas wurden Rechte erworben, um mehr als 200 Liter pro Sekunde aus der Erde zu pumpen, während sich die Bevölkerung im Dorf mit 6 Liter pro Sekunde für ihr Trinkwasser zufrieden geben muss. «Das Problem», so meint Marcelo Diaz, «ist, das diese Typen alle rechtlichen Taschentricks kennen, um sich Rechte für Wasser und alles weitere zu ergattern.» In Chile ist Wasser ein privates Gut. Jemand, der das Recht zur Förderung von Wasser hat, kann mit diesem tun und lassen was er oder sie will. Die Gemeinden vergeben Wasserrechte; ist bereits die Höchstzahl an Rechten vergeben, können diese dann privat gehandelt werden. Das entsprechende Gesetz, eines von so viele Reliquien aus der Zeit der Pinochet-Diktatur, wollen Organisationen in ganz Chile nun ändern. Wenn möglich mit der Unterstützung der Regierung, wenn nötig durch Besetzungen von Autobahnen und Mobilisierungen der lokalen Bevölkerung. Das Ziel: eine Verstaatlichung des Wassers, damit dieses als ein Grundrecht für alle zugänglich gemacht werden kann. Doch dies sei nicht die Lösung aller Probleme, erklärt Marcelo Diaz. Die Übernutzung des Wassers könne durch dessen Verstaatlichung allein nicht aufgehoben werden: «Das Hauptproblem ist die kapitalistische Produktionsweise, die den Klimawandel verursacht hat. Die Landwirtschaft hat hier früher so gut funktioniert, weil nach der Ansicht von Ökonomen nicht wirtschaftlich produziert wurde.» Die Hügel wurden nur zur Weide genutzt und es wurde hauptsächlich das Wasser vom Aconcagua zur Bewirtschaftung genommen. Die neuen Produktionsweisen bewirkten, dass sich der Grundwasserspiegel in Llay Llay in den vergangenen Jahrzehnten enorm gesenkt hat. Marcelo Diaz erinnert auch an ein Staudammprojekt von Salvador Allende, welches das Wasser des Winters ähnlich wie ein Gletscher speichern sollte, damit es dann im Sommer für die Landwirtschaft genutzt werden könnte – eines von so vielen nachhaltigen und sinnvollen Projekten, die mit dem Putsch von 1973 beerdigt wurden.

Aus der Printausgabe vom 27. März 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

«Rojava ist der Anfang»

ivana-hoffmanEine junge Kommunistin aus Deutschland ist im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ums Leben gekommen.

Ohne jeglichen familiären Bezug zur Region oder Kultur hat sie sich dem Befreiungskampf der syrischen KurdInnen angeschlossen.

Nach Rojava ist sie gegangen, um die Revolution zu verteidigen. Weil man hier für die Menschlichkeit kämpfen würde. Weil man hier den Internationalismus vertreten könne. «Ich will ein Teil der Revolution in Rojava sein, ich will den Kampf, der alle unterdrückten Völker verbindet, kennenlernen und vor allen Dingen die Revolution in Rojava, wenn es sein muss, mit meinem Leben verteidigen», schrieb die 19-jährige Ivana Hoffmann in einem Brief. Am 7. März wurde sie im Kampf gegen den IS im Nordosten Syriens getötet.

In Syrien und im Irak herrscht Krieg. Der radikal islamistische IS versucht hier, mit Gewalt an die Macht zu gelangen. Offensichtlich hat das Vorhaben eine starke Anziehungskraft für junge Muslimas und Muslime in Europa. Nur schon aus Deutschland sollen Hunderte für den IS in ihren reaktionären Krieg gezogen sein.

Im Norden Syriens, in Rojava, haben die KurdInnen den syrischen Bürgerkrieg ausgenutzt und sich in ihren Gebieten Selbstbestimmung und Autonomie erkämpft. Hier ist ein einmalig progressives Projekt entstanden: Religiöse und ethnische Minderheiten werden geschützt und in die Selbstverwaltung einbezogen. Es wurden basisdemokratische Strukturen aufgebaut. Und die Frauen haben das ihnen gebührende Mitspracherecht durchgesetzt.

Rojava ist damit umgekehrt zum IS zu einem Sehnsuchtsort für Linke geworden. Allerdings hält sich der Zufluss von internationalen KämpferInnen in Grenzen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht von einer zweistelligen Zahl von Personen aus Deutschland, die in den Reihen der syrisch-kurdischen YPG-YPJ, der türkisch-kurdischen PKK oder ihrer Verbündeten kämpfen. Die meisten davon dürften auch einen familiären Bezug zu dieser Region haben. Nicht so Ivana Hoffmann.

«Ein sozialer Mensch»

Ivana Hoffmann wuchs in Duisburg in Deutschland auf. Sie war noch in der Schule, stand vor dem Abitur. Ihr Vater stammt aus Togo, die Mutter ist Deutsche. Sie sagte über Ivana: «Überall, egal ob in der Schule, beim Fussball, überall war sie beliebt. Ein fröhlicher Mensch war sie, sie hat jeden zum Lachen gebracht.» Wie kam es nun dazu, dass diese junge Frau ihr Leben hergab für diesen Kampf, der nicht der ihre zu sein scheint? «Ivana war ein sozialer Mensch», erzählt einer ihrer Duisburger Freunde. «Sie wuchs mit vielen türkischen und kurdischen Freunden auf, sie konnte Türkisch und Kurdisch und sie hat sich für Frauenrechte eingesetzt. Sie wollte die Revolution von Rojava verteidigen, die ja auch eine Revolution der Frauen ist.»

Ivana war seit ihrem 13. Lebensjahr in der migrantisch geprägten kommunistischen Jugendorganisation «Young Struggle» in Duisburg aktiv, die der türkischen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) nahesteht; später war sie auch direkt bei der MLKP. In Syrien gibt es MLKP-Mitglieder, die unter dem Oberkommando der YPG kämpfen. Einer davon war Suphi Nejat Arnasl, der im Oktober im Alter von 30 Jahren bei den Kämpfen um Kobanê getötet wurde. Er stammte ebenfalls aus Duisburg, war aber bereits vor einigen Jahren zum Studieren nach Istanbul gegangen. Die zweite Person aus Deutschland, die im Bürgerkrieg fiel, ist nun Ivana Hoffmann.

Die MLKP schreibt: «Unsere Genossin ist (…) ein Beispiel für die Loslösung von allen Fesseln geworden. Statt eines anderen geordneten Lebens, hat sie sich für die Revolution entschieden.»

Für Ivana selbst scheint es nicht der Fall gewesen zu sein, als ob sie ein «geordnetes Leben» verlassen hätte. Noch vor ihrem Aufbruch in den Krieg stellte sie sich die Sache folgendermassen vor: «Ich werde erfahren, wie es sich anfühlt, eine Waffe in der Hand zu haben. Ich werde das Leben anders spüren, intensiver und geordneter.»

Eine Freiheitskämpferin

Vor einem Dreivierteljahr hat Ivana die Schule abgebrochen, um sich unter dem Codenamen Avasin Tekosin Günes einer internationalen Brigade der MLKP anzuschliessen, die im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava gemeinsam mit den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gegen den IS kämpft. Der Mutter erklärte sie: «Ich möchte meinen Weg gehen und Freiheitskämpferin werden.»

Ivana Hoffmann war am schweren russischen Maschinengewehr BKC ausgebildet worden und hat im Kanton Cizîrê gekämpft. Ivana sei bis «zur letzten Kugel» gegen die «ISIS-Banden kämpfend bei der Verteidigung des assyrischen Dorfes Til Hemis gestorben». In jener Nacht sei sie mit «weiteren Kämpfern der YPG gefallen», der Angriff auf das christliche Dorf sei aber abgewehrt worden.

Ivana Hoffmann kämpfte in Rojava, weil ihr bewusst war, was auf dem Spiel steht: «Wir sind hier, um für die Freiheit zu kämpfen. Denn Rojava ist der Anfang, Rojava ist unsere Hoffnung.»

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La Via Campesina – der bäuerliche Weg

Jd9880sts-abtankenAuch die schweizerische BäuerInnengewerkschaft Uniterre ist Mitglied des internationalen Netzwerks La Via Campesina. Beide setzen sich zur Zeit stark für die Ernährungssouveränität ein. Ulrike Minkner, Bäuerin und -Uniterre-Sekretärin, über Struktur und Zweck der internationalen und kämpferischen BäuerInnenorganisation.

La Via Campesina (zu deutsch «der bäuerliche Weg») ist, wie der Name schon erahnen lässt, eine Organisation, die bäuerliche Interessen und eine bäuerlich geprägte Landwirtschaft vertritt. Sie wurde 1993 von 46 VertreterInnen aus unterschiedlichen Teilen der Welt in Mons in Belgien gegründet. Beteiligt waren bestehende regionale Organisationen wie die Landlosenbewegung MST aus Südamerika und ASOCODE für Zentralamerika, die Karibik und Nordamerika, Regionen, in denen La Via Campesina auch heute noch besonders stark aufgestellt ist, sowie die BäuerInnenbewegung der Philippinen (KMP) und die Europäische Landwirte Koordination (CPE) für Westeuropa. Seit Januar 2014 ist Elizabeth Mpofu, Bäuerin aus Simbabwe, die internationale Koordinatorin der Organisation. Mit heute rund 150 Mitgliedsorganisationen aus 70 Ländern ist La Via Campesina eine in weiten Teilen der Welt vertretene basisdemokratische Massenbewegung, die sich aus den rund 200 Millionen BäuerInnen, LandarbeiterInnen, Landfrauen, Landlosen, Landjugend und Indigenen aus den nationalen und regionalen Organisationen bildet. Daraus ergibt sich eine beeindruckende Vielfalt an Menschen, Kulturen, Sprachen und Formen der Landwirtschaft, die einmalig sein dürfte. La Via Campesina ist nicht nur auf der Straße präsent, sondern auch dort, wo letztlich die Entscheidungen getroffen werden. Durch die breite Basis und die globalen Aktivitäten ist die Organisation weltweit anerkannt und wird von zahlreichen Regierungen und Parlamenten sowie wichtigen internationalen Organisationen wie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und der UNO gehört.

Ernährungssouveränität als Ziel

Trotz dieser Fülle von Unterschieden vereint alle diese Menschen eine grundlegende Idee, welche es zu verteidigen oder wieder zu erlangen gilt: Die Ernährungssouveränität. Dieser auf der Welternährungskonferenz 1996 im wesentlichen von La Via Campesina geprägte Begriff bezeichnet das Recht der agrar- und ernährungspolitischen Selbstbestimmung von Ländern, Regionen und Volksgruppen und ist als politisches Konzept zu verstehen. Er beschreibt einen Zustand, in dem Lebensmittel regional durch angepasste Formen der Landwirtschaft so produziert werden, dass einerseits die Versorgung der Bevölkerung vor Ort sichergestellt ist und andererseits die natürlichen Ressourcen nicht ausgebeutet werden. Ernährungssouveränität ist das Recht aller Menschen auf gutes und kulturell angepasstes Essen, das mittels nachhaltiger Produktionsmethoden hergestellt wurde, sowie das Recht der Menschen, Nationen und Staatengemeinschaften, ihre Ernährungs- und Agrarpolitik selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität ist aber auch die Verpflichtung, die Landwirtschaft anderer Länder nicht zu beeinträchtigen. Sie beruht auf der Etablierung von lokalen Produktionssystemen, der Stärkung der lokalen Kontrolle und der internationalen Solidarität.

2007 veranstaltete La Via Campesina gemeinsam mit einigen anderen Organisationen in Mali das erste weltweite Forum für Ernährungssouveränität, das nach einer berühmten malischen Bäuerin «Nyeleni» genannt wurde. Durch dieses Forum stieg die Anzahl von Bewegungen und Initiativen, für die Ernährungssouveränität zu einem zentralen Thema geworden ist, enorm. Heute zählen dazu unter anderem die Umweltschutzorganisation Friends of the Earth International, das europäische Attac-Netzwerk, die Menschenrechtsorganisation FIAN sowie die Frauenbewegung World March of Women.

Gemeinsam und stark in Europa

Die Europäische Koordination Via Campesina (ECVC) trifft sich einmal jährlich, dieses Jahr war es in Brüssel. Die Themen Freihandelsabkommen und die Klimapolitik waren sehr bestimmend. In Arbeitsgruppen wurden Positionen erarbeitet und Informationen ausgetauscht. So berichtete die rumänische Delegation von riesigen Landaufkäufen von finanzstarken InvestorInnen (es sollen sich bereits mehr als sechs Prozent des Agrarlands in den Händen von transnationalen Konzernen befinden) und dem Verbot von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) in der Region. BäuerInnen aus Italien sprachen etwa von der Weltausstellung in Mailand. Sie wollen Gegenveranstaltungen organisieren und boykottieren die Expo. Für die Expo wurden bereits 200 Hektaren Kulturland verbetoniert und asphaltiert, für die Bauplätze, für Parkplätze und die Zufahrtsstrassen. Im Zuge der Bautätigkeiten kam es zu Landenteignungen. Der Fokus der Gegenveranstaltungen ist die regionale bäuerliche Landwirtschaft. Uniterre wird die Anliegen der italienischen Bauern und BäuerInnen im Rahmen der Anti-Syngenta-Tagung in Basel einbringen. Einzelne Organisationen stehen diesen Problemen in ihren Ländern häufig machtlos gegenüber. Aber im Bündnis mit Via Campesina bekommen wir das nötige Gewicht.

Uniterre in der Schweiz

In der Schweiz hat Uniterre als Mitglied von La Via Campesina das Thema der Ernährungssouveränität mit der Initiative auf die politische Bühne gebracht. Wir vertreten die Anliegen von Via Campesina und suchen den Dialog mit der Bevölkerung. So wie hier entstehen überall auf der Welt Initiativen für Ernährungssouveränität, welche sich vernetzen und gemeinsame Aktionen planen. Viele Leute in der Schweiz setzen die Vision bereits um. Getragen werden die Ideen von Vertragslandwirtschaftsprojekten, von Hofgemeinschaften, von Gemüsegenossenschaften, von Food-Coops, von Agriculture-Projekten in der Stadt und auf dem Land. Alle diese Initiativen sind die Basis von neuen Landwirtschafts- und Ernährungssystemen. Um uns gegen die Liberalisierungspolitik unserer Regierung zu wehren und um dem Vorhaben von Bundesrat Schneider Ammann, immer mehr Freihandelsabkommen abzuschliessen, die Stirn zu bieten, brauchen wir die politische Debatte. Weltweit kämpfen wir, so unterschiedlich die Bedingungen auch sind, mit den gleichen Problemen: Ausbreitung der GVO, die Veränderung des Weltklimas, Patentierung von Pflanzen und Saatgut, kranke Tiere in der Massentierhaltung, Antibiotikaskandale, Landgrabbing und der Industrialisierung unserer Nahrungsmittelproduktion. Unsere Initiative greift diese Problematik auf und ist, wie von La Via Campesina gefordert wird, ein umfassendes Gegenkonzept zum Ausverkauf von Landwirtschaft, Natur, Gesundheit und Ernährung.

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Barrikaden statt Bankett

FFMDer Blockupy-Aktionstag in Frankfurt war nicht nur Ausdruck eines gut organisierten internationalen und antikapitalistischen Massenprotests. Die Stimmung auf der Strasse war ebenso eine der sozialen Unruhe.

Ursprünglich war eine prunkvolle Feier geplant, doch am Ende gab es nicht mal Sekt, bloss Mineralwasser, kein Bankett, nur ein paar Oliven und anstatt überschwänglicher Lobeshymnen, hielt EZB-Präsident Mario Draghi eine fast selbstkritische Rede. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihr neues Hochhaus eröffnet. Noch gerade rechtzeitig sahen auch die EZB-FunktionärInnen ein, dass eine Feier für eine von vielen EuropäerInnen verhassten Troika-Institution nicht sehr angebracht ist. Dort Verarmungsprogramme, hier ein Freudenfest der Herrschenden. Schlechte Presse war zu befürchten. Erst recht, wenn draussen der Ausnahmezustand herrscht. Und tatsächlich war in Frankfurt am 18. März – am Tag der Pariser Kommune sowie am internationalen Tag der politischen Gefangenen – ein kleiner Aufstand im Gange. Gegen 25 000 Leute aus ganz Europa protestierten gegen die bestehenden Verhältnisse. Mehrere Tausend beteiligten sich an Blockaden und anderen direkten Aktionen. Mobilisiert hatte das nun vierjährige internationale Bündnis «Blockupy», das sich in Deutschland – von Attac bis zum linksradikalen Bündnis «…umsGanze» – aus verschiedenen Gruppen, Parteien und Initiativen zusammensetzt.

Dilettantische Polizei

Noch im kühlen Dunkel des frühen Morgens versammelten sich an vier Punkten in der Frankfurter Innenstadt immer mehr vorwiegend junge Menschen. Punkt sieben Uhr setzten sich die Gruppen in Bewegung, um die Zufahrtsstrassen zum EZB-Neubau zu blockieren. Der Blockupy-Aktionskonsens lautete «Wir sagen, was wir tun, wir tun, was wir sagen» und «von uns geht keine Eskalation aus». Natürlich ist es unmöglich, eine Grossveranstaltung mit solchen Weisungen vollständig zu kontrollieren. Darüber hinaus wird diese Strategie bei weitem nicht von allen TeilnehmerInnen akzeptiert. Die Eskalation, zu der es dann auch gekommen ist, ist aber zu einem guten Teil auf das Verhalten der Polizei zurückzuführen. Schon Tage vor der Eröffnung sperrte diese die neuralgischen Punkte mit über 100 Kilometer Nato-Draht ab und am Tag selbst waren rund 8000 PolizistInnen, vier Hubschrauber, ein Flugzeug, Polizeiboote, 28 Wasserwerfer, Panzerräumfahrzeuge und sogar die Sondereinheit GSG9 im Einsatz. Dabei vergass die Polizei aber völlig, ihre Wachen zu schützen, was schier einer Einladung gleichkam. Und anstatt hinter ihren Absperrungen zu stehen, hielten sich auf der Route vereinzelte Kastenwagen und kleinere Einheiten auf. Beim Anrücken der Masse versuchten diese wenigen PolizistInnen, ihr den Weg zu versperren. Eine völlig sinnlose Aktion, war doch etwas weiter hinten bereits die unbezwingbare Hauptabsperrung befestigt. Diese dilettantische Polizeiaktion scheiterte kläglich, die Beamten wurden von der Masse weggedrängt, die Kastenwagen angezündet. Angerückte Verstärkung prügelte sich den Weg frei und verschoss – in Deutschland ungewöhnlich – mit Gewehren Tränengaskartuschen. Auch hier ist die Frage, ob diese Eskalation von der Polizei gewollt provoziert oder aus koordinativer Inkompetenz entstanden ist, reine Spekulationssache. Die Polizeigewalt hinterliess jedenfalls 200 Verletzte, 50 davon wegen Schlagstockeinsätzen.

Ob gewaltfrei oder militant …

Natürlich gab es auch Angriffe auf Polizeieinheiten und Infrastruktur. Sieben Polizeiwannen wurden abgefackelt, eine Wache attackiert, die gesamte Strassenbahn zeitweise sabotiert, Strom- und Telekommunikationsleitungen angezündet, Banken entglast, Rüstungsproduzenten, Arbeitsagenturen und Stadtvermarktungsbüros eingefärbt, brennende Barrikaden errichtet. Doch weder das Bekennen zu gewaltfreien Aktionen noch die Anwendung von Militanz führte zu einer wahrnehmbaren Spaltung der Protestierenden. So protestierten an der abendlichen Grossdemonstration alle Spektren der Bewegung gemeinsam und mehr oder weniger ohne geschlossene Blöcke. Die Teilnahme war zudem doppelt so hoch, wie von den OrganisatorInnen erwartet – und dies trotz der morgendlichen Ausschreitungen. Eine solch besonnene Entschlossenheit ist nicht gewöhnlich. Zu oft spalten sich Bewegungen wegen unterschiedlicher Ansichten über die Taktiken. Dass es in Frankfurt nicht zu einer wesentlichen Zerklüftung kam, liegt sicherlich auch an der sich unübersehbar zuspitzenden Misere in Europa. Noch wesentlicher dürfte aber ein Lerneffekt sein, der sich immer mehr durchzusetzen scheint. Anders als bei vorangegangenen Gipfeltreffen und Gegendemonstrationen spielten sich die militanten Aktionen meistens in einiger Ferne zu den Blockadepunkten ab. Die Respektierung der gewaltfreien Ansammlungen funktionierte weitgehend. Nur selten handelten Militante aus gewaltfreien Massen heraus, sodass diese durch Polizeigewalt gefährdet gewesen wären. Es schien so, als hätte sich unter den Blockierenden ein allgemeines Bekenntnis zur Vielfalt der Aktionen etabliert. Die zahlreichen gelegten Brände, welche von der Masse nicht gelöscht, sondern verteidigt wurden, der verbreitete Wille, das EZB-Sperrgelände zu stürmen oder die Bereitschaft, die Blockadepunkte zu verteidigen, waren ein klarer Ausdruck der sozialen Unruhe.

… wichtig ist der Widerstand!

Dass mit dem rein symbolischen Protest gegen die EZB-Eröffnungsfeier der Kapitalismus nicht gestürzt wird, war auch den meisten Teilnehmenden klar. Bemerkenswert ist hierzu, dass sich rund um die seit 2012 andauernden Vernetzung des Blockupy-Bündnisses vielerlei Zusammenschlüsse gebildet haben, welche die Beschränktheit eines Gipfelprotests durchbrechen wollen. Das Ziel von Blockupy ist «eine europäische Bewegung schaffen, einig in ihrer Vielfalt, die die Macht des Krisenregimes und der Austeritätspolitik überwindet und damit beginnt, Demokratie und Solidarität von unten aufzubauen». Widerstand ist dann am wirksamsten, wenn er sich dezentral im Betrieb, in den Schulen, in den Quartieren und Strassen verschiedenster Orte äussert. Und Initiativen für die grenzüberschreitende Organisierung eines solchen Widerstandes gibt es immer mehr. So hält etwa das internationale antiautoritäre Bündnis «Beyond Europe» fest: «Die letzten Jahre haben uns die gegenwärtigen Grenzen unserer Organisierung gezeigt. Diese Grenzen wollen wir überschreiten. Nur durch koordinierte internationale Aktivität kann eine Gesellschaft jenseits von Staat, Nation und Kapital erreicht werden.» Auch fand im Februar in Rom ein von Blockupy organisiertes Treffen statt, welches einen europaweiten «Sozialen Streik» zum Ziel hat. Die Zeit für solche Vorhaben ist bestimmt nicht die schlechteste!

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Fünf Jahre später: Die Ruinen von Deisswil

Ein ehemaliger Arbeiter der Kartonfabrik in Deisswil berichtet darüber, was mit ihm und seinen Kollegen und dem Unternehmen geschah, nachdem sie aus den Schlagzeilen verschwunden sind.

Noch im Juni 2010 betitelten die schweizerischen Zeitungen den CS-Banker Hans-Ulrich Müller, der einige Monate vorher die ehemalige Kartonfabrik in Deisswil übernommen hatte, als «Der Retter von Deisswil». In einem Interview mit der Berner Zeitung vom 5. Juni 2010 kündete Müller an, fünf Jahre nach der Übernahme würden auf dem Areal neue Unternehmen im Bereich des Maschinenbaus und der Zulieferung tätig sein. Ich habe selber über 20 Jahre in der Kartonfabrik in Deisswil gearbeitet. Nach der Betriebsschliessung und der Entlassung wurde ich von der «Bernapark», die von Müller gegründet worden war, übernommen. Ich war vor allem mit Aufräumarbeiten auf dem Areal der ehemaligen Fabrik beschäftigt. Nach einiger Zeit wurde mein Einkommen im Namen der «Lohnharmonisierung» um über 1500 Franken gekürzt. Danach war Kurzarbeit angesagt und mein Lohn verringerte sich erneut. Vor knapp zwei Jahren wurde mir dann ein Arbeitsvertrag des Transportunternehmens Sieber, welches damals in den Räumen der ehemaligen Fabrik einquartiert war, vorgelegt. Ich hatte die Wahl: Entweder zu unterschreiben oder ich würde auch noch meine «Anstellung» beim «Bernapark» verlieren. Mir blieb praktisch nichts anderes übrig, als zu unterschreiben. Beim Transportunternehmen musste ich Arbeiten ausüben, die ich vorher noch nie gemacht hatte, ohne Einschulung oder Grundkurs. Nach nur zwei Monaten wurde ich dann entlassen. Und genau so erging es vier weiteren Arbeitskollegen der ehemaligen Karton Deisswil. Sieber Transporte hat mittlerweile auch seinen Standort gewechselt und Deisswil verlassen. Das ganze Fabrikgelände gleicht heute vielmehr einer Ruine als einem wiederbelebten Industriestandort. Seither bin ich arbeitslos. Ich bin 61 Jahre alt und es ist alles andere als einfach, auch nur an irgendeinen Job zu kommen. Auf 90 schriftliche Bewerbungen habe ich sage und schreibe drei schriftliche Absagen erhalten. Alle anderen Unternehmen denken nicht einmal daran zu antworten. Das RAV will mich zwar zu Computerkursen zwingen, aber was soll ich damit? Mein Vorschlag, mir einen Staplerkurs zu finanzieren, damit ich meine Chancen bei den Bewerbungen aufbessern kann, lehnen sie ab. Auch wird meine finanzielle Situation durch die Arbeitslosenkasse der Unia prekärer: Einerseits zahlt sie die Taggelder mit bis zu drei Monaten Verspätung aus, andererseits fordert sie die Rückzahlung eines Teils der Taggelder, weil ich während eines Monats in einem Zwischenverdienst ein wenig mehr als das Übliche verdient habe. Durch eine solche Haltung macht sich die gewerkschaftliche Kasse mitverantwortlich für die ruinöse Situation zahlreicher Arbeiter der ehemaligen Karton Deisswil.

 

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Big Brother is watching you

spitzel_spacejunkie_f1Mit dem Bericht «Massenüberwachung durch die Geheimdienste» lanciert die Digitale Gesellschaft eine Kampagne gegen die Revision des Nachrichtendienstgesetzes, mit dem sich der Nationalrat im März beschäftigen wird. Vor rund zwei Jahren wurde durch die Enthüllungen von Edward Snowden die wohl umfangreichste Überwachungsmaschinerie der Geschichte aufgedeckt. Die längst überfällige Aufarbeitung der Massenüberwachung durch Geheimdienste und andere Sicherheitsbehörden, und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft, fand bis heute kaum statt und die Politik und die Zivilgesellschaft scheinen sich längst mit der totalen Überwachung und dem Verlust der Privatsphäre abgefunden zu haben. Der am 20. Februar 2015 publizierte Bericht der Digitalen Gesellschaft fasst nun die Programme zur Massenüberwachung der National Security Agency (NSA) und des britischen Geheimdienstes Government Communications Headquarters (GCHQ) gemeinsam mit den Aktivitäten des schweizerischen Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) zu einem Gesamtbild zusammen und klopft die Enthüllungen von Snowden auf Bezüge zur Schweiz ab.

Abhörstationen in der Schweiz

Schon beim Verkauf der Leuker Satelliten-Bodenstation von der Swisscom an die US-amerikanische Gesellschaft Verestar im Jahr 2000 gab es grosse Bedenken wegen möglicher Spionagetätigkeit. Die berüchtigte Satellitenanlage im Oberwallis hat sich Gelände und Infrastruktur mit dem Abhörsystem Satos 3 geteilt, welches vom VBS betrieben wird. Satos 3 heisst heute Onyx und die Firma Verestar ist in die Signalhorn AG übergegangen, geblieben hingegen sind die Vorbehalte. Gemäss einer Reportage der ZDF-Sendung Zoom hat die NSA zwar seit September 2013 keinen direkten Zugang mehr zu Daten mit Inlandsbezug, doch diese Einschränkungen seien kein Problem, denn Daten «mit Deutschlandbezug kann der NSA problemlos anderswo bekommen – von seinen Abhörstationen in Dänemark und der Schweiz (!)». Der Tages-Anzeiger griff das Thema in seiner Ausgabe vom 13. September 2013 auf: «Trifft die Schilderung des ZDF zu, hätte dies in der Schweiz zweifellos ein politisches Erdbeben zur Folge, denn gemäss Schweizer Gesetz ist der Betrieb solcher Anlagen durch einen fremden Nachrichtendienst ebenso im höchsten Mass verboten wie fremder Direktzugriff auf eine Anlage, die durch die Schweiz betrieben wird und ihr gehört.» Doch das politische Erdbeben blieb aus und die Rolle der Signalhorn AG bleibt bis heute im Dunkeln.

Wirtschaftliche Interessen

Weltweit betreibt der NSA rund 80 Abhörstationen in diplomatischen Vertretungen der USA. Ehemalige Mitarbeiter berichten von Abhöranlagen auf dem Dach der amerikanischen UNO-Mission in Genf sowie in der US-Botschaft in Bern und dem US-Konsulat in Zürich. Laut NSA-Mitarbeitern ist die USA vor allem am Finanzplatz Zürich und Liechtenstein interessiert, aber auch die Rohstoffkonzerne in Zug stehen im Fokus der NSA. Man kann das als Linker durchaus mit einer gewissen Häme zur Kenntnis nehmen, trotzdem verstossen diese Aktivitäten in mehrfacher Hinsicht gegen das Schweizer Gesetz. Umso erstaunter ist man bei der Digitalen Gesellschaft über die Untätigkeit der Schweizer Behörden und stellt im aktuellen Bericht fest, dass die Geheimdienste vor allem zum Vorteil der eigenen Wirtschaft und nicht ausschliesslich aus Sicherheitsüberlegungen spionieren.

Noch im Oktober 2013 behauptet Bundesrat Ueli Maurer zudem an einer Pressekonferenz: «Wir haben keine Kontakte mit der NSA. Es werden und wurden keine Daten mit der NSA ausgetauscht.» Ein Jahr später tönt es gegenüber der Rundschau aus dem NDB etwas anders: «Der Nachrichtendienst des Bundes tauscht mit der NSA keine Daten direkt aus. Es existiert kein Abkommen NDB-NSA. (…) Letzte Kontakte waren Ende 2012.» Dass verschiedene US-Dienste «Partner» der Schweiz sind und Informationen ausgetauscht werden, scheint hingegen hinreichend belegt und ist auch nicht bestritten. Aus den Unterlagen von Edward Snowden geht jedoch hervor, dass die Schweiz als «Tier B»-Land eine «Focused Cooperation» mit den USA beziehungsweise der NSA eingegangen ist. Dies ist, unmittelbar nach der Gruppe der «Five-Eyes» (USA, Grossbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland), die zweithöchste Stufe der Zusammenarbeit und umfasst 17 europäische Länder sowie Japan und Südkorea.

Der muntere Datentausch

Wie Markus Seiler, Direktor des Nachrichtendienstes, der NZZ einmal anvertraute: «Nachrichtendienst bedeutet ein ständiges Geben und Nehmen. Die Schweiz verfügt über einen kleinen, aber feinen Dienst. Wir haben unseren Partnern im Ausland durchaus etwas zu geben.» Selbst wenn jeder Dienst «nur» die ausländische Kommunikation abhören würde, die Erkenntnisse jedoch mit den Partnerdiensten teilen, so werden schliesslich doch alle auch vom «eigenen» Geheimdienst bespitzelt. Die Informationen, welche der Schweizer Geheimdienst seinen Partnern bietet, dürften mehrheitlich aus dem Abhörsystem Onyx stammen. Durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Geheimdienste ist die Schweizer Bevölkerung in mehrfacher Hinsicht von der Überwachung betroffen: Der NDB spioniert die Kommunikation im Ausland aus, um Informationen zum «Tausch» anbieten zu können. Um an diese Information zu gelangen, müssen die ausländischen Dienste wiederum wertvolle Informationen für und somit über die Schweiz besitzen. Was also liegt näher, als die Kommunikation der Schweiz abzuhören, um an «Tauschware» zu kommen?

Forderungen an die Politik

Die Überwachung ist (wohl aus diesem Grund) auch nicht strikt auf das Ausland beschränkt, darf der NDB doch Informationen über Personen im Inland bearbeiten, wenn sie für das Verständnis eines Vorgangs im Ausland notwendig sind. Der Schweizer Nachrichtendienst und die Bundesanwaltschaft wären auch für die Spionageabwehr, also die Verfolgung von fremden Nachrichtendiensten, zuständig. Da sie aber auf Informationen der Partnerdienste angewiesen sind, befinden sie sich in einem virulenten Interessenkonflikt. Aus diesen Gründen fordert die Digitale Gesellschaft unter anderem eine «Expertenkommission zur Zukunft der Datenbearbeitung und Datensicherheit», die sich mit den Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft befassen soll. Ausserdem will die Digitale Gesellschaft, dass der zivile und militärische Nachrichtendienst getrennt und ein ausserordentlicher Bundesanwalt eingesetzt wird, um den systematischen Rechtsbruch durch in- und ausländische Geheimdienste strafrechtlich aufzuarbeiten.

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Wolffs Frauen und Männer beissen zu

fczAm 26. Februar 2015 wurden in Zürich 800 Fussballfans von der Polizei eingekesselt und fichiert. Bedenklich, dass der politische Verantwortliche der massiven Polizeiaktion, AL-Stadtrat Richard Wolff, eine subjektive Sicht zur Wahrheit erklärt und dabei die Fakten ignoriert. So spricht die Zürcher Südkurve das aus, was viele Linke in der Limmatstadt mittlerweile denken.

Am Tag nach dem Zürcher Fussballderby zwischen dem FCZ und GC standen die Schuldigen laut einhelliger Meinung der Berichterstattung fest: Die gewaltbereiten Fussballfans des FC Zürich, die mit Steinen und Flaschen die Polizei angegriffen hatten. Wie immer, wenn es um massive Polizeieinsätze und Übergriffe geht, wird ein wesentlicher Teil der Tatsachen verschwiegen. Nachdem viele Direktbetroffene erzählten, was im Kessel geschah, schreibt die Zürcher Südkurve in ihrer Stellungnahme: «Je länger die Einkesselung dauerte, desto stärker fühlten sich die Fans ungerecht und unmenschlich behandelt: Wer aufs WC musste, wurde von den Polizisten genötigt, an die umliegenden Hauswände zu urinieren. (…) Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt wurden Wasserwerfer eingesetzt, Tränengas und Pfefferspray versprüht sowie mit Gummigeschossen auf Kopfhöhe gezielt. Nach mehreren Stunden wurden sämtliche 800 Fans von der Polizei fichiert. Dabei wurden ihre Personalien aufgenommen und jede Person einzeln fotografiert.» Weiter hält die Südkurve fest: «Absehbar war auch, dass sich die nicht eingekesselten Fans mit den Eingekesselten solidarisieren würden. Dass man auf einen derart unverhältnismässigen und unterschiedslosen Polizeieinsatz mit Gegengewalt reagiert, ist nachvollziehbar – umso mehr, weil auch die Gründe für den Polizeieinsatz rätselhaft sind.» Wie kann man da widersprechen?

Welche Regel, Herr Wolff?

Es gibt wie zwei Realitäten: Eine subjektive, die von den Medien, der Polizei und dem politischen Verantwortlichen Richard Wolff, und jene Realität, die auf Fakten basiert. Die Subjektive wird jetzt auf Biegen und Brechen als Wahrheit verkauft, wie das Interview im Tages-Anzeiger vom 26. Februar mit Richard Wolff beweist. Er gibt zu Protokoll: «Die übermässige Zahl von Böllern und Pyros hat die Polizei zum Handeln gezwungen.» Und: «Die Regeln sind den Fans bekannt.» Welche Regel, Herr Wolff? Steht irgendwo geschrieben, wie viele Pyros und Böller der Polizei genehm sind? Sind es 10? Oder 42 Pyros und 17 Böller? Für die Polizei waren es «zu viele», die Zürcher Südkurve hingegen hält fest, dass es «sich im Rahmen» bewegt hat. Über das «Zuviel» oder «im Rahmen» entschied der Einsatzleiter der Stadtpolizei nach seinem Empfinden und nach seinen Vorstellungen von viel und wenig. Wolff, der selber nicht vor Ort war (kein Vorwurf, aber eine Tatsache), macht diese Wahrnehmung zu seiner Meinung und eben auch zur Regel. Wie weit ist diese Regel noch von der Grenze der Willkür entfernt?

Dass die Regel etwas gar schwammig ist, scheint auch Wolff bewusst zu sein. Er präzisiert: «Fanmärsche werden toleriert, solange die öffentliche Sicherheit und Dritte nicht gefährdet sind. Am Samstag ist dieser Rahmen deutlich überschritten worden.» Über «massiv» und «deutlich überschritten» kann man sich streiten, da es erneut subjektive Wahrnehmungen sind. Abgesehen davon ist an jedem 1. August die öffentliche Sicherheit durch Feuerwerkskörper in viel grösserer Gefahr. Fakt ist, dass der Fanmarsch der FCZ-AnhängerInnen seit Jahren vier Mal jährlich stattfindet. Dabei gab es noch nie Sachschäden! Menschen kamen nur zwei Mal zu Schaden: Vor gut einem Jahr und eben am Samstag, 26. Februar, beide Male durch die Gewalt der Polizei und die Opfer waren friedliche, junge Fussballfans.

Eine glatte Lüge?

Fast unmöglich zu glauben ist die Behauptung der Polizei, der Einsatz sei nicht geplant gewesen. Betroffene berichten einstimmig darüber, dass die nötige Infrastruktur für die ganze Fichierungsaktion kurz nach der Einkesselung zur Verfügung stand. Hinzu kommt, dass der Fanmarsch etwa 500 Meter vor dem Stadion eingekesselt wurde. Konkret: Zehn Minuten später wären alle Fans vor dem Stadion gestanden und der Marsch somit beendet gewesen. So hält die Zürcher Südkurve fest: «Die Taktik der Einkesselung mit anschliessender kollektiver Fichierung scheint eine Spezialität der Stadtpolizei Zürich zu sein, wird sie von ihr doch immer wieder angewandt. Dass diese rechtsstaatlich höchst fragwürdige Praxis auch unter dem neuen Polizeivorstand Richard Wolff fortbesteht, ist vor dessen persönlichen und politischen Hintergrund umso bedenklicher.» Die Südkurve schreibt das, was viele Linke, die Wolff gewählt haben, denken und ihn deshalb nicht mehr wählen werden.

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Resistenza in Ticino!

extenDas Tessin hat schweizweit die tiefsten Löhne. Jetzt versuchen viele Bosse, noch weniger zu zahlen – mit Verweis auf die Frankenstärke. Doch es gibt Widerstand gegen die Lohndrückerei. Zwei Belegschaften streikten, 600 Leute demonstrierten in Bellinzona und in Giubiasco wollen sich ArbeiterInnen partout nicht In- und AusländerInnen spalten lassen.

Seit der Aufhebung des Euro-Mindestkurses durch die Nationalbank vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Industriebetrieb neue Sparmassnahmen bekannt gibt. Entlohnung in Euro, Mehrarbeit, Ferienreduktion, Lohnsenkung, Entlassung oder gar Werksverlagerung ins Ausland; das sind die Rezepte der KapitalistInnen, mit denen sie die Betriebe „konkurrenzfähig“ und ihre Rendite aufrecht erhalten wollen. Nun sind die Löhne in grenznahen Regionen ohnehin schon tief. Denn die Unternehmen werben bereitwillig günstige „Frontalieri“ (italienische GrenzgängerInnen) an und drücken so das allgemeine Lohnniveau. Im Tessin liegt der durchschnittliche Lohn eines Beschäftigten ohne Führungsaufgabe bei nur 4664 Franken, das sind rund 1000 Franken weniger als im Schweizer Schnitt. In der Industrie wird allerdings weit weniger bezahlt.

Keine Maloche für 15 Franken pro Stunde!

Bei der Exten SA in Mendrisio etwa, einem Plastikfolienhersteller, verdient ein Dreher mit Wohnsitz im Ausland gemäss UNIA 3200 Franken (x13). Das ist kein Sonderfall in der Branche ohne GAV. Speziell war bei Exten jedoch die angekündigte Lohnkürzung. Sage und schreibe um 26 Prozent für Frontalieri und um 16 Prozent für Einheimische wollte Firmenchef Luigi Carlini die Saläre kürzen. Auch ein anderer Folienhersteller, die italienische Fabbri Group SA, senkt die Löhne an seinem Tessiner Standort (-5 Prozent für Einheimische, -15 für Frontalieri). Zu viel war es aber für die Arbeiter der Exten. Ein Streikender sagte: „10 oder 15 Prozent hätten wir akzeptiert, aber 26 Prozent ist zu viel!“ Also ersuchten sie die UNIA anonym um Hilfe. Einzeln mussten zuvor schon alle beim Chef vorstellig werden. Dieser legte ihnen das Dokument mit dem neuen Lohn zur Unterschrift vor. Die meisten unterzeichneten aus Angst vor Repressalien. Dennoch traten am frühen Donnerstagmorgen des 19. Februars alle hundert Arbeiter der Exten mit Unterstützung der UNIA in einen unbefristeten Streik. Chef Carlini, der jeweils mit seinem Maserati vorfuhr, zeigte sich kompromisslos. Seine Devise lautete: Entweder akzeptieren die Arbeiter die Lohnkürzung oder das Werk wird schliessen. Acht lange Tage blockierten die Arbeiter die Zufahrt zum Werk, bis der Streik Wirkung zeigte. Die Parteien einigten sich in einer Vermittlung durch FDP-Staatsrätin Laura Sadis auf eine Verhandlungsphase bis Ende April, in der die Finanzlage des Unternehmens offengelegt wird. Bis dahin wird die Lohnkürzung zurückgenommen, eine Betriebskommission gegründet und sowohl den Arbeitern als auch der UNIA garantiert, dass keine Repressalien folgen werden.

Der Streik war ein beachtlicher materieller und moralischer Erfolg für die Arbeiter. Nach der Beendigung des kräftezehrenden und mit Risiken verbundenen Arbeitskampfs zeigten sie sich so erfreut, dass sie mit dem ebenso erleichterten Chef Carlini sogar für ein Gruppenfoto posierten. Carlini dazu: „Dieser Konflikt machte uns stärker und mehr vereint.“

Ihr entlasst? Wir streiken!

Kaum war der eine Brandherd abgekühlt, entfachte sich in Biasca ein neuer. Beim Metallteilehersteller SMB sahen sich die ArbeiterInnen am Freitag den 27. Februar mit folgender Neuregelung konfrontiert: Wöchentlich vier Stunden Mehrarbeit bei gleicher Bezahlung. Dem widersetzten sich drei Arbeiter, darunter der Präsident der Personalkommission. Flugs erhielten sie die Quittung für ihre Opposition. Allen wurde gekündigt. Das erzürnte die Belegschaft aber derart, dass sie am Montag sogleich in den Streik trat. Dieser dauerte nur einen Tag, da das Management, UNIA und die christlich-soziale Gewerkschaft OCST nach siebenstündiger Verhandlung gemäss gemeinsamer Pressemitteilung eine „Vereinbarung getroffen haben, die den sozialen Frieden garantiert.“ Konkret werden die vorgesehenen Arbeitszeitverlängerungen zurückgenommen, die Kündigungen annulliert aber auch Kurzarbeit beantragt.

Spaltungsversuch scheitert an Arbeitersolidarität

Beim Metallbauunternehmen Ferriere Cattaneo SA in Giubiasco werden auch Güterwagen hergestellt. Davon jedoch nur noch etwa hundert pro Jahr, zehnmal weniger als im neueren Werk in der Slowakei. Wegen der Frankenaufwertung meinte das Unternehmen Ende Februar, die Lohnkosten senken zu müssen. Diese Massnahme hätte besonders die GrenzgängerInnen getroffen. Deren Löhne hätten um sieben Prozent reduziert werden sollen. Doch auch die schwächer betroffenen einheimischen ArbeiterInnen (minus 3 Prozent) wehrten sich an einer Personalversammlung gemeinsam mit den italienischen KollegInnen gegen den Entscheid der Chefetage. Tags darauf kam die prompte Antwort von Aleardo Cattaneo, Patron des Werks und zudem Vizedirektor des Unternehmerverbands Swissmem: Die Güterwagenproduktion in Giubiasco werde eingestellt, 20 Stellen seien betroffen. Doch es kam anders. Knapp zwei Wochen später, zweifellos unter dem Eindruck der erwähnten Streiks, krebste Cattaneo zurück. Jetzt heisst es, es werde weder Lohn- noch Personal abgebaut und auch Kurzarbeit werde es nicht geben. Die Güterwagenproduktion will Cattaneo dennoch auslagern.

Die Tessiner Situation brachte am 28. Februar immerhin rund 600 Menschen auf die Strasse. Unter der Parole „Die Arbeit verteidigen!“ demonstrierten sie an einer von der SP organisierten Kundgebung in Bellinzona. Die Gewerkschaften hielten derweil in einem Solidaritätsaufruf für die Exten-Arbeiter fest: „Die Art und Weise, in der die Abkommen unterzeichnet, psychische Gewalt ausgeübt, und die Problemlösungsvorschläge der ArbeiterInnen ausgeschlossen wurden, gibt es so in Dutzenden Betrieben unserer Region.“ Ganz anders sieht das natürlich etwa ein Daniele Lotti, Präsident des kantonalen Industrieverbands. «Unternehmer werden kriminalisiert; Gewinn zu machen, wird als Verbrechen gesehen», echauffiert er sich über die angeblich vorherrschende Stimmung im Tessin. Eine neue Phase der Kämpfe scheint eröffnet.

Massaker an Flüchtlingen – Die PdAS fordert ein radikales Umdenken!

lampe-sosSchon wieder! 232 Menschen haben in den letzten zwei Tage ihr Leben verloren beim Versuch, das Mittelmeer auf drei Gummibooten zu überqueren. Laut Aussagen der wenigen Überlebenden sei noch ein viertes Boot mit weiteren 100 Flüchtlingen unterwegs gewesen. Von diesem fehlt bisher jede Spur und es muss davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Toten in den nächsten Stunden und Tagen weiter steigen wird. Unsere Wut und Trauer ist gross! Überlebende berichteten weiter, wie die Schlepper mir ihren Waffen auf die Flüchtlinge zielten und sie so zwangen, die Boote zu besteigen trotz stürmischem, eiskaltem Winterwetter und einem meterhohen Wellengang.

Die PdAS fordert die Schweizer Regierung auf, sich umgehend auf internationaler Ebene für sofortige Massnahmen einzusetzen, die den Schutz und die Rettung der Flüchtlinge in Seenot zum Ziel haben.

Dies reicht aber noch lange nicht, denn die Schiffsüberfahrten von Flüchtlingen nach Europa werden auch in Zukunft stattfinden. Ein radikales Umdenken ist daher zwingend nötig. Die «Festung Europa», aufgebaut durch eine unmenschliche, todbringende Migrationspolitik, muss überwunden werden und die Schweiz muss ihren Beitrag dazu leisten.

Die PdAS fordert eine Migrationspolitik, die auf Menschlichkeit und Solidarität basiert. Das bedeutet zum Beispiel, dass das Dublin-Abkommen, das Flüchtlinge in unmögliche wie unnötige Situationen zwingt, komplett neu verhandelt werden muss. Ziele der internationalen Gesetzgebungen müssen u.a. den Schutz der Flüchtlinge und nicht den Kampf gegen die «illegale Einwanderung» regeln. In der Schweiz muss das so genannte «Zweikreisemodell» neu überdacht werden. Weiter sind durchgeführte Verschärfungen im Asylwesen, wie etwa die Abschaffung der Möglichkeit, Asylanträge in einer Schweizer Botschaft zu stellen, rückgängig zu machen.

 

Notwendig ist aber vor allem, dass die Hauptursachen der Fluchtgründe bekämpft werden. Krieg und Hungersnöte sind das Produkt des kapitalistischen Herrschaftssystems. So sagte schon Rosa Luxemburg: «Sozialismus oder Barbarei». Wie treffend, angesichts den Tausenden von Todesopfern im Mittelmeer in den letzten Jahren!

 

Wir werden nicht ruhen, bis mit der sozialistischen Gesellschaft Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und das Sterben von Flüchtlingen ein Relikt düsterer, kapitalistischer Vergangenheit sind.

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