Fünf Jahre später: Die Ruinen von Deisswil

Ein ehemaliger Arbeiter der Kartonfabrik in Deisswil berichtet darüber, was mit ihm und seinen Kollegen und dem Unternehmen geschah, nachdem sie aus den Schlagzeilen verschwunden sind.

Noch im Juni 2010 betitelten die schweizerischen Zeitungen den CS-Banker Hans-Ulrich Müller, der einige Monate vorher die ehemalige Kartonfabrik in Deisswil übernommen hatte, als «Der Retter von Deisswil». In einem Interview mit der Berner Zeitung vom 5. Juni 2010 kündete Müller an, fünf Jahre nach der Übernahme würden auf dem Areal neue Unternehmen im Bereich des Maschinenbaus und der Zulieferung tätig sein. Ich habe selber über 20 Jahre in der Kartonfabrik in Deisswil gearbeitet. Nach der Betriebsschliessung und der Entlassung wurde ich von der «Bernapark», die von Müller gegründet worden war, übernommen. Ich war vor allem mit Aufräumarbeiten auf dem Areal der ehemaligen Fabrik beschäftigt. Nach einiger Zeit wurde mein Einkommen im Namen der «Lohnharmonisierung» um über 1500 Franken gekürzt. Danach war Kurzarbeit angesagt und mein Lohn verringerte sich erneut. Vor knapp zwei Jahren wurde mir dann ein Arbeitsvertrag des Transportunternehmens Sieber, welches damals in den Räumen der ehemaligen Fabrik einquartiert war, vorgelegt. Ich hatte die Wahl: Entweder zu unterschreiben oder ich würde auch noch meine «Anstellung» beim «Bernapark» verlieren. Mir blieb praktisch nichts anderes übrig, als zu unterschreiben. Beim Transportunternehmen musste ich Arbeiten ausüben, die ich vorher noch nie gemacht hatte, ohne Einschulung oder Grundkurs. Nach nur zwei Monaten wurde ich dann entlassen. Und genau so erging es vier weiteren Arbeitskollegen der ehemaligen Karton Deisswil. Sieber Transporte hat mittlerweile auch seinen Standort gewechselt und Deisswil verlassen. Das ganze Fabrikgelände gleicht heute vielmehr einer Ruine als einem wiederbelebten Industriestandort. Seither bin ich arbeitslos. Ich bin 61 Jahre alt und es ist alles andere als einfach, auch nur an irgendeinen Job zu kommen. Auf 90 schriftliche Bewerbungen habe ich sage und schreibe drei schriftliche Absagen erhalten. Alle anderen Unternehmen denken nicht einmal daran zu antworten. Das RAV will mich zwar zu Computerkursen zwingen, aber was soll ich damit? Mein Vorschlag, mir einen Staplerkurs zu finanzieren, damit ich meine Chancen bei den Bewerbungen aufbessern kann, lehnen sie ab. Auch wird meine finanzielle Situation durch die Arbeitslosenkasse der Unia prekärer: Einerseits zahlt sie die Taggelder mit bis zu drei Monaten Verspätung aus, andererseits fordert sie die Rückzahlung eines Teils der Taggelder, weil ich während eines Monats in einem Zwischenverdienst ein wenig mehr als das Übliche verdient habe. Durch eine solche Haltung macht sich die gewerkschaftliche Kasse mitverantwortlich für die ruinöse Situation zahlreicher Arbeiter der ehemaligen Karton Deisswil.

 

Aus der Printausgabe vom 13. März 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

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