Die SVP packt die Panzerfaust aus

Am 28. Februar muss das Schweizer Stimmvolk über die sogenannte «Durchsetzungsinitiative» abstimmen. Es ist in vielerlei Hinsicht einer der radikalsten und ausländerfeindlichsten Vorstösse der vergangenen Jahrzehnte. Gemäss ersten Umfragen hat die Initiative trotzdem – oder gerade deswegen – gute Chancen, angenommen zu werden.

Die «Durchsetzungsinitiative» war ursprünglich ein strategischer Schachzug der SVP um eine Verwässerung der «Ausschaffungsinitiative» zu verhindern und deren rigorose und wortgetreue Umsetzung einzufordern. Diese wurde am 28. November 2010 mit einer Mehrheit von 52,3 Prozent angenommen. Obwohl das Parlament, von der Drohkulisse der SVP eingeschüchtert, inzwischen eine detaillierte Gesetzgebung auf der Grundlage der «Ausschaffungsinitiative» ausgearbeitet hat, die teilweise sogar weiter geht als von den InitiatorInnen vorgegeben, beharrte die SVP auf eine Abstimmung.

Damit greift die SVP den Rechtsstaat frontal an, denn die «Durchsetzungsinitiative» geht in vielen Punkten um ein vielfaches weiter als es die «Ausschaffungsinitiative» tut und sieht selbst bei Bagatelldelikten künftig eine automatische Ausschaffung vor, ohne wenn und aber und ohne Prüfung, ob allenfalls ein persönlicher Härtefall vorliegt. Entsprechend empört und alarmiert sind die Fachleute, die mit ungewöhnlich scharfen Worten eindringlich vor einem Ja am 28. Februar warnen. So bezeichnet der SP-Nationalrat Jositsch die Vorlage als «strafrechtliche Selbstschussanlage» und Georg Kreis, bis Ende 2011 Präsident der «Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus» (EKR), spricht von einem Anschlag auf unsere Institutionen und die Verfassung.

Keine Sondergesetze für Ausländer

Effektiv hätte eine Annahme der «Durchsetzungsinitiative» verheerende integrationspolitische Auswirkungen, würde mehrere Säulen des schweizerischen Rechtsstaates ins Wanken bringen und die Grundrechte von zwei Millionen Menschen, die hier leben, aufs massivste beeinträchtigen und beschneiden, weshalb schon jetzt von einer «rechtlichen Apartheid» gesprochen wird.

Vor allem für viele Secondas und Secondos, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, hätte ein Ja zur Initiative bedrohliche und unmenschliche Auswirkungen. Selbst kleinste Delikte, die während dem Erwachsenwerden halt manchmal passieren, könnten automatisch zum Landesverweis führen, ohne jegliche Prüfung der persönlichen Lebensumstände, Hintergründe des Delikts oder Berücksichtigung der Verhältnismässigkeit. Welch bizarre Auswirkungen ein Ja hätte, zeigt ein Fallbeispiel, welches exemplarisch die Gefährlichkeit und den unsäglichen Verhältnisblödsinn, der hinter der Initiative steht, aufzeigt: Fatimas Eltern kommen aus Tunesien, sie ist in der Schweiz geboren, hat jedoch keinen Schweizer Pass. Nach Abbruch einer Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit jobbt sie als Reinigungskraft in Basel und Umgebung. Eines Tages macht Fatima einen Fehltritt und verknackst sich dabei den Knöchel. Sie schreibt eine Unfallmeldung, in der sie angibt, dass sie beim Joggen über eine Baumwurzel gestolpert sei. Somit übernimmt die Unfallversicherung die Arztkosten in der Höhe von 400 Franken. Fatima bekommt ein paar Wochen später ein Telefonat von der Versicherung, die wissen will, wie der Unfall genau erfolgte. Sie verplappert sich und erzählt schliesslich die Wahrheit. Sie habe bloss einen Fehltritt gemacht. Also hätte sie die Kosten über die Krankenkasse selbst berappen müssen, da sie eine Franchise von 2500 Franken hat. In der Konsequenz hat sie die Unfallversicherung vorsätzlich um 400 Franken geschädigt. Bei Annahme der «Durchsetzungsinitiative» würde sie automatisch ausgeschafft werden.

Die Linke laviert

Während der Abstimmungskampf mittlerweile eröffnet ist, wird innerhalb des NGO-Spektrum sowie der Linken schon jetzt über fehlende Kräfte und leere Kampagnenkassen geklagt und lautstark von der Wirtschaft mehr Engagement erfleht. Zwar positionieren sich alle gesellschaftlich relevanten Kräfte deutlich gegen die SVP-Initiative, aber derzeit sind es vor allem (noch) Lippenbekenntnisse und ob mit Verweisen auf die «Europäische Menschenrechtskonvention», die bilateralen Verträge und Floskeln, die die Initiative als «unschweizerisch» brandmarken, diese Abstimmung argumentativ gewonnen werden kann, muss bezweifelt werden.

Angesichts der Kompromisslosigkeit und Radikalität, mit der die Initiative daherkommt, sollte der derzeitig noch flaue Gegenwind durchaus zum Stirnrunzeln anregen, insbesondere wenn man bedenkt, dass wir seit Jahrzehnten mit ausländerfeindlichen Vorlagen aus der braunen Ecke konfrontiert sind. Da stellt sich unweigerlich die Frage, wieso es über all die Jahre hinweg nicht gelungen ist, eine breite und tragfähige Allianz gegen die SVP aufzubauen? So erstaunt es auch nicht wirklich, dass im NGO-Komitee gegen die Durchsetzungsinitiative, welches aus rund 40 Organisationen besteht, keine einzige Migrations- oder Flüchtlingsorganisation zu finden ist. Ein Paternalismus, den sich die emanzipatorischen Kräfte angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse, mit denen wir heute konfrontiert sind, nicht wirklich mehr erlauben können.

Ironischerweise würde eine Annahme der «Durchsetzungsinitiative» in erster Linie wohl dazu führen, dass die Zahl der Einbürgerungen explosionsartig nach oben schiesst. Und vielleicht könnte der vorwärts dann auch den einen oder anderen Redaktor mit etwas Kreativität, auf elegante Art und Weise, nach Bella Italia «entsorgen».

Aus dem vorwärts vom 15. Januar 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Le Locle: Mehr Geld für Abgeordnete?

 

LeLocleLe Locle hat eine Lohnerhöhung für die Gemeindeexekutive beschlossen. Die PdA ergreift dagegen das Referendum.

Das Parlament der Stadt Le Locle im Kanton Neuchâtel hat kürzlich beschlossen, einen fixen Präsidenten in der Exekutive abzuschaffen und dies zugunsten eines rotierenden Systems. Ferner wurde eine Erhöhung des Arbeitspensums seiner Mitglieder von 50 auf 80 Prozent mit einer entsprechenden Erhöhung der Löhne angenommen. Die POP Le Locle stimmte dagegen.

Während einer ausserordentlichen Versammlung hat die lokale Sektion der Partei der Arbeit (PdA) nun beschlossen, ein Referendum gegen diese zwei Entscheide zu lancieren. Dieser Schritt überrascht, denn welche andere Partei würde ein Referendum gegen die unmittelbaren Interessen seiner Delegierten lancieren und damit indirekt auch gegen die eigenen Interessen?

Die Sektion erklärt: «Weil durch die Annahme der Verordnungen durch eine kleine Mehrheit de facto eine Erhöhung von 60 Prozent der Entlohnung der GemeinderätInnen vollzogen wird, ohne dass ihr Aufgabenkatalog daran angepasst wird, scheint es uns notwendig, der Bevölkerung von Le Locle die Gelegenheit zu geben, sich über diese Massnahmen auszusprechen, die eine signifikante, langfristige Auswirkung auf die Finanzen der Gemeinde haben werden.» Die POP begründet ihren Schritt mit den schlechten finanziellen Aussichten der Gemeinde. «Eine solche Erhöhung erscheint uns unanständig zu einem Zeitpunkt, wo Entlassungen in der Uhrenindustrie angekündigt worden sind und wo der reale Lebensstandard für zahlreiche BürgerInnen sinkt», heisst es weiter im Text.

Horizontale Strukturen

Die Entscheidung hat eine Reaktion der Liberalen, der SozialdemokratInnen und der Grünen ausgelöst. In einem Kommuniqué ereifern sie sich über die Tatsache, dass die drei POP-Mitglieder der Kommission, die den Auftrag hatten, die Situation der Exekutive zu untersuchen, den Abschlussbericht akzeptiert haben. Was diese Parteien als einen Betrug erachten, zeigt nur, dass sie eine andere Vorstellung von einer demokratischen Praxis haben.

Für die POP Le Locle ist es die Basis, die entscheidet. Im Rahmen der Kommissionsarbeit können die teilnehmenden PdA-VertreterInnen, wie alle anderen, Positionen einnehmen, die sich aus den Diskussionen ergeben. Eine Mehrheit in der Kommission wollte beispielsweise ein Arbeitspensum von 100 Prozent für die Mitglieder der Exekutive durchsetzen, weshalb PdA-Vertreter den Gegenvorschlag von 80 Prozent angenommen haben, welcher in ihren Augen das kleinere Übel darstellte. Wenn die Vorlage nun innerhalb der Sektion diskutiert wird, können andere Erwägungen auftauchen und die Position, die in der Kommission entstanden ist, hinfällig machen. In der Logik der vertikalen Machtstrukturen muss die Position der KommissionsteilnehmerInnen den anderen Parteimitgliedern aufgedrückt werden. In der Logik einer möglichst horizontalen Struktur haben die gewählten VertreterInnen wie ParlamentarierInnen kein besonderes Gewicht gegenüber den anderen AktivistInnen. Es ist in den Augen der PdA deshalb kein Widerspruch, das Referendum zu ergreifen, zumal das Abstimmungsresultat sehr interessant sein dürfte, um die politische Reife der BewohnerInnen von Le Locle zu messen.

 

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Zum Wohl, Eidgenossen!

bundeshausEs war die «Wahl» zwischen einem strammen SVP-Weinbauer aus der Waadt, einem in letzter Sekunde zur SVP konvertierten Rechtspopulisten der Lega dei Ticinesi und einem politischen Enkelkind von Margaret Thatcher aus der Innerschweiz. Wer gewonnen hat, ist bekannt. Unabhängig davon wird in den kommenden Jahren ein eisiger, neoliberaler Wind durch das Land fegen. So ist es kein Zufall, dass die NZZ zum Generalangriff bläst.

Guy Parmelin, ein Weinbauer aus dem 800-Seelen-Dorf Bursins im Kanton Waadt, ist der 116. Bundesrat der Eidgenossenschaft. «Ich bin in den letzten Jahren nach rechts gerückt. Dazu stehe ich», stellt er sich dem Lande vor. Parmelin wehrt sich gegen das Etikett «moderat». Er hält im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) weiter fest, dass er «hart an den Grundsätzen der Partei» festhalte. Der SVP-Mann begrüsst daher die Tatsache, dass in Sachen «Ausländer- und Europapolitik» seine Partei so weit rechts aussen wie der französische Front National (FN) politisiert. Von der NZZ daran erinnert, dass er keine «Exekutiv- oder Managementerfahrung» habe, antwortet der neue Bundesrat selbstbewusst: «Ich war Korporal in der Armee und habe als Bauer Lehrlinge ausgebildet. Ich weiss, was es bedeutet, Menschen zu führen.» Das beruhigt unheimlich. Etwas weniger aber Folgendes: Man munkelt, dass der Meisterlandwirt ein Alkoholproblem habe. Von der Aargauer Zeitung (AZ) darauf frech angesprochen, erwidert Parmelin: «Ich habe kein Alkoholproblem. Sieht so ein Alkoholiker aus?» Nun, nimmt man seine Ansicht zur laufenden Revision der Altersvorsorge zum Massstab, ist man fast dazu geneigt, mit Ja zu antworten. «Die wichtigste Frage lautet: Können wir sie uns leisten? Die Antwort ist nein. Das Projekt muss redimensioniert werden. Alle Zusatzleistungen müssen gestrichen werden – auch die vom Ständerat vorgesehene Erhöhung der Neurenten um 70 Franken monatlich. Und wir müssen uns darauf gefasst machen, mittelfristig das Rentenalter zu erhöhen», gibt er als frischgebackenes Regierungsmitglied der NZZ zu Protokoll. Zum Wohl, liebe Eidgenossen.

Eine liberale Revitalisierungskur für das Land

Denis de la Reussille, Nationalrat der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS), kommentiert die Wahl mit folgenden Worten: «Bei einem so rechtslastigen Parlament hat die Wahl von einem der drei vorgeschlagenen SVP-Kandidaten keinen grossen Einfluss auf die allgemeine politische Stossrichtung.» Und Genosse Denis fügt hinzu: «Die kommenden vier Jahre werden schwierig sein für all jene, die für eine Gesellschaft mit weniger Unterschieden kämpfen.» So ist es sicher kein Zufall, dass die NZZ, das mediale Flaggschiff des Klassenfeinds, zum Grossangriff bläst. Unter dem Titel «Was die Schweiz tun muss» präsentiert sie ab dem 16. November eine liberale Agenda für das Land in zehn Beiträgen. Schon alleine bei der Ankündigung dieser Serie läuft es einem eiskalt den Buckel hinunter: «Die nationalen Wahlen haben Morgenröte signalisiert. Auch im Bundesrat könnte einiges in Bewegung geraten. Jetzt gilt es, diese Chance zu packen. Es ist höchste Zeit für eine mutige liberale Revitalisierungskur.» Bereits erschienen sind die Beiträge zu den Themen Energie, Regulierung, Europa und Aussenhandel, Arbeitsmarkt, Ausgaben und Steuerpolitik, Arbeitsmarkt, Privatisierung, Altersvorsorge und Pflege und Landwirtschaft. Jene zur Gesellschafts- und Familienpolitik sowie Gesundheitswesen stehen noch aus.

Was die NZZ auftischt, ist starker Tobak! In Sachen Privatisierung sei es «höchste Zeit, Staat und Privatwirtschaft wieder klar zu trennen». Ausnahmslos alles, was irgendwie privatisiert werden kann, soll voll und ganz dem Diktat der freien Marktwirtschaft unterstellt werden. Bei den Renten soll das «durchschnittliche Renteneintrittsalter bei mindestens 67 Jahren» angesetzt werden. Und natürlich muss das Rentenalter möglichst flexibel sein, «versehen aber mit starken Anreizen für den langen Verbleib im Erwerbsleben». Noch nicht genug: «Eine automatische Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung wäre eine zukunftsweisende Reform.» Die Begründung dazu macht deutlich, aus welchem Blickwinkel der neoliberale Umbau der Gesellschaft vollzogen werden soll: «Liberale Reformen sollten von Realitäten ausgehen. Dazu gehört die Feststellung, dass Altersarmut heute kein gesellschaftliches Problem mehr ist.» Ach ja? 185800 SeniorInnen beziehen Ergänzungsleistungen. Ihre AHV-Rente und die eventuellen Bezüge aus der Pensionskasse reichen nicht aus, um die minimalen Lebenskosten zu decken. Gemäss Hochrechnungen von Pro Senectute kommen jährlich 5000 zusätzliche Pensionäre dazu, deren Rente nicht existenzsichernd ist. Ohne die AHV-Zusatzleistungen könnten rund 300000 Personen kaum mehr oder weniger (eher weniger) anständig leben. Nicht zu vergessen sind auch jene Menschen, die keine Zusatzleistungen beziehen, da sie den Anspruch darauf nicht erheben und dies oft, weil sie ihr Recht dazu gar nicht kennen.

Und die Antworten auf diesen Horror?

Beim Thema Arbeit wird nach «mehr Freiheit am Arbeitsmarkt» geschrien. Die «alten Zöpfe im Arbeitsgesetz, die durch das Industriezeitalter geprägt waren», müssen eliminiert werden. So zum Beispiel die gesetzlich festgelegte Höchstarbeitszeit von 45 Stunden in der Woche für das Industrie- und Büropersonal (mit bewilligungspflichtiger Verlängerung um bis zu vier Stunden). Diese Regelung sei «zu restriktiv». Statt eine generelle gesetzliche Einschränkung oder Regelungen durch Gesamtarbeitsverträge, sind «getreu dem Prinzip der Subsidiarität Abmachungen auf Betriebs- oder Branchenebene vorzuziehen». Deutlicher könnte der Angriff auf die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften nicht formuliert werden. Bei all dem Horror, der in der NZZ zu lesen ist, drängt sich für die Zukunft eine Frage auf: Wie sieht die politische Agenda der radikalen Linken aus?

 

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Le Pantographe – c’est la vie

pantoAls gemeinnützige Organisation anerkannt, könnte der Pantographe in Moutier nach einem Räumungsbescheid bald von der Bildfläche verschwinden. In seinem zehnjährigen Bestehen hat das Kollektiv einen einzigartigen Raum für den künstlerischen und sozialen Austausch geschaffen.

Moutier ist ein Schattenloch im Berner Jura. Im Grand Val gelegen und zwischen zwei Schluchten eingezwängt, hat das Städtchen wenig zu bieten. PaläontologInnen interessieren sich für die Dinosaurierpfotenabdrücke, die, in grosser Anzahl über eine Felswand am Arête du Raimeux gesät, von blossem Auge kaum zu erkennen sind. Auch nur mit viel gutem Willen als Attraktion zu bezeichnen ist das «Musée du tour automatique», ein Museum für die in Moutier mitentwickelten Langdrehautomaten. Nicht zuletzt diese Geräte verhalfen im Zusammenhang mit der Uhrenindustrie Moutier zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Seit den 70er Jahren ist ein empfindlicher Rückgang der Feinmechanik und des Werkzeugmaschinenbaus zu verspüren. Noch zeugen herrschaftliche Häuser in Moutiers Zentrum von der einstmaligen Blüte. Den ausgeblichenen Fassaden haftet heute etwas Abgelebtes an, das den allgemeinen Eindruck der Trostlosigkeit verstärkt.

Freier Experimentierraum

Folgt man den Spuren der Vergangenheit, trifft man am Ausgang des Städtchens auf das Gebäude der Usine Junker. Offensichtlich ist auch in dieser alten Fabrik die industrielle Aktivität seit Langem eingestellt, doch lässt ein Hängeplakat an einem der zwei wuchtigen Eingangstürme mit der Aufschrift «Pantographe» weithin erkennen, dass sich hier neues Leben eingenistet hat.

Die Türe bleibt stets offen und wer eintritt, trifft auf eine erst einmal verwirrende Fülle von Einrichtungen. Eine Bar im Eingangsbereich, unweit die Werkstatt, eine Biblio- und Mediathek, im Untergeschoss Proberäume, eine Ludothek, Konzerträume, an Wandmalereien vorbei geht’s in den ersten Stock zur kollektiven Küche, daneben eine Brockenstube, im Obergeschoss schliesslich Schlafsäle; alles zum öffentlichen Gebrauch unter freier Wahl des Preises. Das selbstverwaltete Kollektiv des Pantographe hat in den bald zehn Jahren seines Bestehens auf den 1500 Quadratmetern der ausgedienten Fabrik Beachtliches auf die Beine gestellt, vieles renoviert und für den Unterhalt gesorgt.

Einen Schwerpunkt der Aktivitäten im Pantographe bilden die künstlerischen Residenzen. Wer ein Projekt im Bereich der Musik, des Theaters, des Zirkus oder der Malerei verwirklichen und sich intensiv damit beschäftigen will, hat im Pantographe bei einer Mindestdauer von einer Woche dazu die Möglichkeit. Ondine Yaffi, eine der drei ständigen KoordinatorInnen des Pantographe, präzisiert: «Wir stellen ein Mittel für künstlerisches Schaffen zur Verfügung. Daran herrscht ein enormer Mangel. Es gibt sonst kaum Orte, wo du Residenzen machen kannst, die allgemein zugänglich sind, ohne dass du vorher an Wettbewerben teilnimmst, Dossiers ausfüllst oder Subventionen gesprochen bekommst.» Mit seiner hervorragenden Infrastruktur stellt der Pantographe nicht nur für die Region, sondern schweizweit einen freien Schaffens- und Experimentierraum dar, der einzigartig ist. Wie der Schreiber dieses Artikels aus eigener Erfahrung weiss, können in der ungezwungenen und inspirierenden Atmosphäre des Panto Projekte realisiert werden, die für einmal nicht den Forderungen des kulturellen Kommerzes genügen müssen. «Die Wertschätzung des Savoir-faire (der Fertigkeiten) jeder und jedes Einzelnen entspricht unserer Auffassung von Selbstverwaltung», so Yaffni weiter. «Wir möchten zeigen, dass man sehr viel mehr auch mit wenig Geld machen kann, nämlich mit dem Savoir-faire und der Verschiedenartigkeit der Menschen. Alle bringen ihre Fähigkeiten ein und wer etwas macht, entscheidet hier auch.»

Partizipative Ideen standen am Anfang des Pantographe, wie der Mitbegründer Gilles Strambini ausführt: «Vor allem wollten wir einen Raum für Begegnungen schaffen, wo man miteinander teilt und sich austauscht, einen Ort, wo Personen aus allen Sparten, allen Altersstufen und allen Milieus sich treffen können.» Mittlerweile finden pro Jahr um die vierzig Residenzen mit öffentlichen Aufführungen statt. Über die ganze Zeitspanne des Bestehens hinweg haben 1200 KünstlerInnen aus dem In- und Ausland die Räumlichkeiten für ihre Kreationen genutzt.

Unbegründeter Rauswurf

Nun droht dem Pantographe das Aus. Während das Kollektiv immer noch Geld für den Kauf der Usine Junker sammelte, vernahm es Anfang Oktober unvermittelt den mündlichen Bescheid von der Direktion des Unternehmens Tornos SA, dem das alte Fabrikgebäude gehört, das Gebäude müsse bis Ende Februar geräumt werden. Die Verblüffung war gross, hatte doch die ehemalige Direktion den Verkauf des Gebäudes ans Kollektiv des Panthographe 2013 mündlich zugesagt. Die neue Direktion von Tornos in Moutier will davon nichts mehr wissen und meint, den Entzug der Usine Junker gegenüber ihren jahrelangen BetreiberInnen auch nicht weiter begründen zu müssen. Auf eine neue Verwendung hat sich das Unternehmen nicht festgelegt: «Wir haben danach gefragt», versichert Ondine Yaffi. «Wir haben lediglich zur Antwort gekriegt: Ihr werdet schon sehen.»

Über die Beweggründe der neuen Direktion von Tornos, die eine Produktionshalle gleich neben der Usine Junker betreibt, ein kulturelles Zentrum mit internationalem Wirkungsradius zum Verschwinden zu bringen, kann nur gerätselt werden. Yaffi vermutet: «Wenn dann Kunden aus den USA oder China vorbeikommen und daneben ist eine Gruppe von Leuten mit Hühnern, die frei im Garten herumlaufen, für Leute von ihrer Sichtweise ist das nicht tragbar.»

Was wird aus dieser Villa Kunterbunt in Zukunft werden? Eine Wiederaufnahme der Produktion im 150 Jahre alten Fabrikgebäude ist ausgeschlossen. Es steht unter der höchsten Stufe des Heimatschutzes, wie Strambini erläutert: «Es kann aussen und zu grossen Teilen auch innen nicht umgebaut werden. Nur schon für einen anderen Gebrauch, als wir davon machen – wir sind da ja ziemlich anpassungsfähig – , müsste man mindestens 3 Millionen hineinstecken.»

Gemunkelt wird von einem Foyer für die Werktätigen bei Tornos, von Konferenzräumen für die Direktion oder sogar von einem Hotel. Aber eben, nichts ist definitiv. Im schriftlichen Räumungsbescheid fällt lediglich das liberale Zauberwort der «Restrukturierung». Nun ist nicht einzusehen, warum es günstiger sein sollte, die Usine Junker neu auszustaffieren als die jetzigen NutzerInnen darin schalten und walten zu lassen, die sich nebenbei auch um die Pflege des Gebäudes kümmern. Ein Grund für die Nervosität bei Tornos und die überstürzte Übernahme wird die vermutete Belastung des Geländes mit Schadstoffen sein, auf dem die Usine Junker steht. Als damaliger Betreiber und Verursacher muss Tornos gesetzlich für die Entgiftung des Geländes aufkommen. Aber auch in dieser Frage hält sich das Unternehmen bedeckt und hat dem Kollektiv des Pantographe keine diesbezüglichen Unterlagen ausgehändigt, die für Kredite zum Erwerb nötig gewesen wären.

Kultur – eine Privatangelegenheit?

Für Moutiers kleinstädtische Verhältnisse ist die Tornos SA ein Riese. Das Unternehmen beschäftigt über 300 Angestellte in der Region und ist international tätig. Es stellt seit fast undenklichen Zeiten jene Langdrehautomaten her, die es in direkter Nachbarschaft zum Pantographe zu einem Museum geschafft haben. Seit Jahren steckt Tornos in finanziellen Schwierigkeiten. Um seinen Ruf steht es nach Entlassungen und einer Phase mit unbezahlter Überzeit schlecht. Zur Sicherung verbleibender Arbeitsplätze haben die Stadtverwaltung und der Bürgermeister Maxime Zuber Tornos stets gestützt, auch mit öffentlichen Geldern.

Angesichts der drohenden Schliessung des nicht subventionierten Pantographe hält sich der Bürgermeister hingegen vornehm zurück und hat die Angelegenheit zu einer privaten zwischen Tornos und der Pantos erklärt. Yaffi und Strambini haben ihn kaum je gesehen bei Veranstaltungen. Von der Bedeutung und Funktionsweise des Pantographe habe er nichts verstanden: «Er bringt es fertig, in den Medien zu sagen, dass es genug Kultur in der Region gebe und dass das Verschwinden des Panto nicht schwerwiegend wäre. Er spricht dabei von Aufführungsorten, die Spektakel vertreiben. Wir kaufen aber keine Aufführungen, bei uns werden sie geschaffen.»

Mit ihrem Abseitsstehen entziehen sich aus der Sicht Strambinis die politischen Entscheidungsträger in Moutier der Verantwortung: «Die kulturelle Vielfalt ist demokratisch in Frage gestellt. Es wird entschieden, dass etwas, das nicht in die Norm passt und das manchen als marginal erscheint, kein Existenzrecht hat und eliminiert werden kann. Einzelne Personen können mit ihrer wirtschaftsliberalen Logik Lebens- und Denkweisen zum Verschwinden bringen, die zu weit von ihrer entfernt sind.»

Seit Längerem ist vorgesehen, dass die interjurassische Organisation zur Koordination künstlerischer Tätigkeiten «fOrum culture» mit dem Projekt ARS, das soeben vom bernischen Grossen Rat anerkannt worden ist und Gelder gesprochen bekommen hat, ihr Büro im Pantographe bezieht. Mit seiner Schliessung müsste die Basisorganisation ARS auf einen Ort ausweichen, der nicht im Brennpunkt kreativer Prozesse stünde.

Im Pantographe laufen die Fäden eines weit verzweigten Netzes zusammen, in dem künstlerische Formen, auch Formen des Zusammenlebens und Zusammenwirkens erprobt werden. Strambini betont den grösseren Kontext: «Es gibt da einen Widerspruch. Zwischen Tornos und der Welt der Kultur. Es ist ein sozialer Konflikt. Zwischen einem neuen Denken, einer neuen Generation, die wir vielleicht repräsentieren, und der alten Welt des Fortschritts und des Wachstums, die gegen die Wand fährt. Wir verteidigen unsere Ideale weit über die Mauern des Panto hinaus.»

Wird der Dinosaurier Tornos tatsächlich über die Pantos hinwegtrampeln und sich als Alleinherrscher im Tal behaupten? Es ist eng in Moutier. Nicht auszudenken wie eng es würde, wenn die Tür zum Pantographe geschlossen würde, die Zugang zu den neuen Welten verschafft, die darin entworfen werden.

Doch noch ist es nicht so weit. Am 9. Januar findet in Moutier eine Demonstration mit Fest gegen die Schliessung statt. Eine Petition läuft. Auch für 2016 sind künstlerische Residenzen geplant. Nochmals Strambini: «Bis Juni haben wir den Kalender gut gefüllt. Das war immer unsere Funktionsweise. Heikle Situationen haben wir schon mehrfach erlebt. Wenn wir jedes Mal die Aktivitäten unterbrochen hätten, wäre die Geschichte des Panto schon lange zu Ende.»

News und für mehr Infos siehe: http://pantographe.info

 

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Hände weg von Vio.Me

Vio.Me_Der seit 2011 von den ArbeiterInnen besetzten und seit 2013 in Selbstverwaltung betriebenen Fabrik Vio.Me droht seit längerer Zeit die Zwangsversteigerung. Am 3. Dezember, dem Tag des nun schon zweiten Generalstreiks innerhalb der letzten drei Wochen, zog eine der drei Generalstreikdemonstrationen Thessaloníkis zum Gerichtsgebäude, um die für den Morgen angesetzte Versteigerung der Fabrikanlagen zu verhindern. Die gut 500 DemonstrantInnen standen am Haupteingang des Gerichts dem MAT-Sondereinsatzkommando der Polizei gegenüber. Nach Stunden des Wartens wurde schliesslich «auf Grund der Teilnahme der Anwaltsvereinigung am Generalstreik», die Vertagung der Zwangsversteigerung bekanntgegeben. Schon am 26. November 2015 war es gut 250 AktivistInnen mit der Blockade des Gerichtsgebäudes in Thessaloníki gelungen, den ersten Versteigerungstermin abzuwenden. Der nächste Versuch und erneute Mobilisierungen sind auf den 10. Dezember terminiert.

Du hältst den Betrieb am Laufen!

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass kapitalistische Krisen ausser vielfachem Leid auch die Emanzipation der von der Krise betroffenen ArbeiterInnen beinhalten kann, ist die besetzte Fabrik Viomichanikí Metallevtikí (Vio.Me) in Thessaloníki. Vio.Me wurde 1982 als eine von drei Tochterfirmen des Unternehmens Philkeram & Johnson gegründet, das Keramikkacheln produzierte. Die Firma stellte chemische Baumaterialien wie Fugenkleber her und belieferte Baufirmen in Griechenland und dem benachbarten Ausland. Im Mai 2011 stellten die damaligen EigentümerInnen, die Familie Filíppou, die Lohnzahlungen ein, verschuldeten den Betrieb und machten sich schliesslich aus dem Staub. Um die Demontage der Produktionsanlagen zu verhindern und die Zahlung der ausstehenden Löhne zu erzwingen, besetzten die ArbeiterInnen die Fabrik. Da ihre Lohnforderungen ignoriert wurden und die üblichen Wege – wie Gerichtsverfahren und Investorensuche die der Kapitalismus für diesen Fall bereit hält, ohne Erfolg blieben, beschlossen sie nach langen Diskussionen unter anderem mit ArbeiterInnen der seit 2001 besetzten und selbstverwaltet produzierenden Ziegelfabrik Zanon aus Argentinien, die Produktion in die eigene Hand zu nehmen.

Im Februar 2013 schliesslich feierten tausende Menschen mit einem grossen Solidaritätskonzert die Wiedereröffnung der Fabrik. Seit April 2013 produziert Vio.Me mithilfe selbstorganisierter Strukturen Thessaloníkis umweltfreundliche Wasch- und Reinigungsmittel. Die Produkte werden in sozialen Zentren, anarchistischen Treffpunkten, besetzten Häusern und auf informellen Märkten vertrieben und inzwischen auch an solidarische Gruppen und Organisationen ins europäische Ausland geliefert. Sie können in Deutschland über verschiedene FAU-Syndikate oder das Griechenland Solidaritätskomitee Köln (GSKK) bestellt werden. Ziel ist auch, mittels des Produkts und der selbstverwalteten Produktion und Verteilung die Vision einer selbstorganisierten Gesellschaft zu vermitteln. Alle Gespräche mit staatlichen Behörden sind trotz der mehrfach wechselnden Regierungen seit 2011 gescheitert. Auch die von der KKE dominierte Gewerkschaftsfront Pame und der Gewerkschaftsdachverband GSEE verweigern die Unterstützung der Fabrik in Selbstverwaltung, da «Arbeiterselbstverwaltung nicht auf der Tagesordnung» stehe. Trotzdem machen die ArbeiteInnen weiter und kämpfen für das Ziel eines selbstbestimmten Lebens.

Internationaler Unterstützerkreis

Ein informeller Zusammenschluss aus Kollektivbetrieben, Basisgewerkschaften, politischen Gruppen, Netzwerken und Einzelpersonen aus verschiedenen europäischen Ländern versucht, den Kampf der Vio.Me-ArbeiterInnen solidarisch zu unterstützen. Das Beispiel der selbstverwalteten Fabrik in Thessaloníki soll europaweit noch bekannter gemacht werden. Darüber hinaus soll das Beispiel der selbstverwalteten Fabrik auch andere ArbeiterInnen ermutigen, sich nicht dem Krisendiktat der Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Internationalem Währungsfond (IWF) zu beugen, sondern Widerstand zu leisten und sich selbstorganisierten, emanzipatorischen Initiativen anzuschliessen. Vio.Me zeigt, dass es eine Alternative jenseits von Austerität, Nationalismus und sozialer Zertrümmerung gibt – die Solidarität sozialer Bewegungen und die Selbstorganisierung von unten. Des Weiteren versucht der UnterstützerInnen-kreis Druck auf die griechische Syriza-Ane–l-Regierung auszuüben, da die Gefahr einer Räumung des Projekts immer – und gerade jetzt durch die angestrebte Zwangsversteigerung des Betriebsgeländes akut – besteht.

Direkte Aktion gegen Zwangsversteigerung der Fabrikanlagen

Mit der Übernahme der Fabrik durch die ehemaligen Angestellten und der Umwandlung der Produktion hin zu biologisch abbaubaren Wasch- und Reinigungsmitteln, mit der Produktion unter Arbeiterkontrolle und der Vollversammlung der ArbeiterInnen als höchstes Entscheidungsgremium, und mit der täglich erlebbaren gegenseitigen Hilfe der verschiedensten Initiativen in Griechenland und der Unterstützung der internationalen Solidaritätsbewegung, ist es den Vio.Me-ArbeiterInnen seit nunmehr zweieinhalb Jahren gelungen, ihr ökonomisches Überleben zu sichern. Gleichzeitig jedoch, und das ist der Grund für die andauernden Angriffe, stellt das Projekt die kapitalistischen Besitzverhältnisse und damit das Überleben des Systems an sich in Frage. Durch die nun angesetzte Zwangsversteigerung des Betriebsgeländes will der Insolvenzverwalter die Forderungen der Gläubiger des insolventen Mutterkonzerns Philkeram & Johnson eintreiben, um dessen Schulden bei verschiedenen Banken, beim griechischen Staat und bei privaten Gläubigern zu begleichen. Die AlteigentümerInnen der Familie Filíppou hatten 2011 die bis dahin erfolgreiche Fabrik für Baumaterialien in die Insolvenz getrieben.

Schon Anfang Oktober hatten die ArbeiterInnen zur Verhinderung der drohenden Zwangsversteigerung und einer internationalen Aktionswoche vom 17. bis 24. November 2015 aufgerufen. Am Dienstag, dem 24. November, fand eine grosse Demonstration in Thessaloniki statt, an der sich verschiedenste politische Initiativen, soziale Zentren, besetzte Häuser und GewerkschafterInnen beteiligten. Mit dabei waren entlassene Beschäftigte der lokalen Tageszeitung «Angeliofóros», die seit zwei Jahren gegen die Schliessung und für die Wiedereröffnung ihres Werkes kämpfenden Arbeiter-Innen von Coca-Cola, AktivistInnen der Karawane der Solidarität und eine Delegation der gegen den geplanten Goldabbau auf Chalkidikí kämpfenden Bevölkerung. «Von Vio.Me bis Chalkidikí, Krieg den Bossen auf der ganzen Welt», oder «Die Solidarität ist die Waffe der Völker, Krieg dem Krieg der Bosse», waren zwei der gerufenen Parolen. Am 25. November hatte im Gewerkschaftshaus von Thessaloniki eine landesweite Versammlung zur Vorbereitung der Blockade-Aktion im Gerichtssaal stattgefunden. Mit der erfolgreichen Blockade, die am folgenden Morgen von rund 250 AktivistInnen durchgeführt wurde, konnte die angestrebte Zwangsversteigerung der selbstverwalteten Fabrik vorerst verhindert werden. Entschlossene Vio.Me-ArbeiterInnen und Aktivist-Innen aus den Solidaritätsgruppen hatten sich teils in Ketten vor dem Gerichtssaal postiert und diesen dicht gemacht. Auch beim nächsten Termin, dem 3. Dezember waren gut 500 DemonstrantInnen vor das Gerichtsgebäude gezogen. Weitere direkte Aktionen sind für den nächsten Zwangsversteigerungstermin am 10. Dezember angekündigt. «Wir haben es geschafft, die Zwangsversteigerung zu verhindern, weil wir geschlossen wie eine geballte Faust sind. (…) Wir werden die Fabrik nicht verlassen. Die haben unser Leben zerstört und wir haben alleine gekämpft, um wieder auf die Beine zu kommen. Wir werden es niemandem erlauben, unser Leben erneut zu zerstören», betonte Mákis Anagnóstou, einer der Vio.Me-Sprecher.

Von der Syriza-Anel-Regierung erwarten die ArbeiterInnen nichts mehr. In ihrer Erklärung zum Zwangsversteigerungstermin stellen sie klar: «Vio.Me gegenüber stehen Staat und Kapital, die in den letzten Jahren Millionen Menschen in Griechenland in Armut und Elend gestürzt haben, die Tausende in den Selbstmord getrieben haben, die Grenzzäune am Evros (Grenzfluss zur Türkei) hochziehen und den Kampf der Bevölkerung Chalkidikís gegen den Goldabbau mit Gewalt niederschlagen; die parastaatliche faschistische Kräfte dulden, oder besser ausgedrückt anleiten, und die Ermordung von Antifaschisten und Einwanderern und Angriffe auf alle, die nicht ins faschistische Weltbild passen, erlauben».

Seit dem ersten Wahlsieg am 25. Januar 2015 hatten die Vio.Me-ArbeiterInnen vergeblich einen Termin im zuständigen Ministerium gefordert. Syriza war vor den Wahlen eine der Organisationen im UnterstützerInnenkreis von Vio.Me und auch der jetzige Ministerpräsident Alexis Tsípras hatte persönlich seine Unterstützung für die Fabrik in Arbeiterhand zugesagt. Weder Syriza noch Tsípras wollen jetzt, nach ihrer Wiederwahl im September, noch etwas davon wissen. Während das Wirtschaftsministerium eisern schweigt, verweist Tsípras inzwischen lapidar auf die «Unabhängigkeit der Justiz». Dabei sei jedes Urteil und jede mögliche Lösung des Konflikts «eine klare politische Entscheidung», so die Vio.Me-ArbeiterInnen in einer Presseerklärung. Laut den Veröffentlichungen des Gerichts handelt es sich um insgesamt 14 Grundstücke der insolventen Philkeram & Johnson, die versteigert werden sollen. Die Fläche der Tochtergesellschaft, die besetzte Fabrik Vio.Me, «macht nur ca. 1/7 der Fläche aus, die unkompliziert vom Rest des Betriebsgeländes abtrennbar» sei. Dass die Anspannung auf Seiten der ArbeiterInnen und ihrer Familien immer mehr ansteigt, ist klar, «da es sich nach vier Jahren des Kampfes inzwischen um eine Frage des Überlebens» handelt. Den AlteigentümerInnen der Familie Filíppou wurden im Übrigen vom Staat in der Vergangenheit Teile der Betriebsflächen umsonst übertragen; «als staatliche Anerkennung für die soziale Leistung durch die Schaffung von Arbeitsplätzen».

Generalstreik am 3. Dezember –Syriza streikt mit

Zum zweiten Mal in nur drei Wochen wurde Griechenland am 3. Dezember durch einen Generalstreik lahmgelegt. Wie beim ersten Generalstreik am 12. November ging insbesondere im öffentlichen Sektor nichts mehr. Behörden, Schulen und Universitäten blieben geschlossen, der öffentliche Nahverkehr stand über Stunden still, Züge und Schiffe fuhren den ganzen Tag nicht und etliche Flüge fielen aus. Um berichten zu können, hatten die Mediengewerkschaften ihren Ausstand einen Tag vorverlegt. Im öffentlichen Gesundheitswesen wurde sogar zwei Tage lang in Notdiensten gearbeitet. ÄrztInnen und PflegerInnen der staatlichen Krankenhäuser hatten die Arbeit schon am Mittwoch niedergelegt. Hier fehlen nach offiziellen Angaben rund 20 000 PflegerInnen und mehr als 6000 ÄrztInnen. Ging es beim letzten Generalstreik am 12. November gegen die inzwischen von der Syriza-Anel-Regierungskoalition verabschiedete Freigabe von Zwangsversteigerungen von Wohnungen ihrer überschuldeten BesitzerInnen, so wurde am 3. Dezember vor allem gegen die anstehenden Verschlechterungen im Rentensystem gestreikt. Zwar sind die Details mit den Gläubigern von EZB, IWF und  EU-Kommission noch nicht ausgehandelt, die zentralen Achsen jedoch stehen bereits fest. Eine allgemeinverbindliche Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, die erneute Senkung der Mindestrente auf dann 365 Euro und die Zusammenlegung aller Rentenkassen in eine zentrale Kasse, bei Angleichung der Renten auf niedrigstem Niveau, scheinen beschlossene Sache zu sein. Die Regierungspartei Syriza hatte, wie schon im November, auch dieses Mal zur Teilnahme am Streik aufgerufen. «Regierung und Partei sind verschiedene Dinge», ausserdem dürfe man nicht vergessen, dass «die Verhandlungen mit den Gläubigern um die Details» fortgesetzt würden, so Syriza-Parlamentarier Chrístos Mántas. «Schämt euch!», waren die Rufe der Streikenden, die diese Syriza-Taktik als Versuch der Vereinnahmung werteten.

 

Aus dem vorwärts vom 18. Dezember 2015. Unterstütze uns mit einem Abo!

Nicht ohne unsere FreundInnen!

cropped-logo_nichtohneSolidarität im Härtefall – Aufforderung zur liberalen Auslegung der Härtefallregelung im Kanton Basel-Stadt

Art. 30 Abs. 1 Bst. b im Ausländergesetz sieht vor, dass Sans-Papiers in „schwerwiegenden persönlichen Härtefällen“ eine Bewilligung erteilt wird. Mit Ana, Bojan, Isabelle, Cristina, Sarah/Timur, Beto, Raquel und Maria haben seit langer Zeit wieder einmal einige Sans-Papiers den Mut gefasst, ein sogenanntes Härtefallgesuch beim Kanton Basel-Stadt einzureichen. So unterschiedlich ihre Geschichten sind, finden sich doch grundlegende Ähnlichkeiten. Sie alle hatten in ihrem Herkunftsland keine Zukunft und mussten unter schwierigsten Bedingungen ihre Heimat und ihre Liebsten verlassen. Alle hat das Schicksal nach Basel gebracht und für alle ist diese Stadt zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden. Wir haben sie für uns arbeiten lassen. Jetzt müssen wir auch dazu stehen und ihnen die Anerkennung geben, die sie sich verdient haben!

Trotzdem hat das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt die zur Vorprüfung eingereichten anonymen Gesuche mit negativen Einschätzungen beantwortet. Wenn man sich ihre Lebenssituationen vor Augen führt, ist eine solche Beurteilung nicht nachvollziehbar.

Wir wollen dies nicht akzeptieren und fordern daher das Justiz- und Sicherheitsdepartement sowie das Migrationsamt des Kantons Basel-Stadt auf:

  • die Härtefallgesuche dieser Sans-Papiers ans Staatssekretariat für Migration zur Zustimmung weiter zu leiten und sich dort dafür einzusetzen, dass die Gesuche auch letztinstanzlich gutgeheissen werden.

  • ihren Spielraum bei der Beurteilung von Härtefallgesuchen in Zukunft wohlwollend zu nutzen und Gesuche von Sans-Papiers grundsätzlich ans Staatssekretariat für Migration zur Zustimmung weiter zu leiten.

Unterzeichnen können alle, die sich für den Kanton Basel-Stadt einen liberaleren Umgang mit Sans-Papiers wünschen – unabhängig von Herkunft, Aussehen oder Alter.

Petition hier unterschreiben

Zur Wahl von Guy Parmelin als neuer Bundesrat

Was ist vom neuen Bundesrat Guy Parmelin politisch zu erwarten? Nichts Gutes, wie praktisch immer bei den VerterterInnen der SVP. Wie er selber in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erklärt, hält er «hart an den Grundsätzen der Partei» fest. Parmelin begrüsst die Tatsache, dass die SVP in Sachen «Ausländer- und Europapolitik» so rechts wie der französische Front National politisiert. Auch in Sachen Sozialpolitik lässt der Weinbauer aus dem Kanton Waadt keine Zweifel offen. So sagt er zur laufenden Reform der Altersvorsorge: «Die wichtigste Frage lautet: Können wir sie uns leisten? Die Antwort ist nein. Alle Zusatzleistungen müssen gestrichen werden – auch die vom Ständerat vorgesehene Erhöhung der Neurenten um 70 Franken monatlich. Und wir müssen uns darauf gefasst machen, mittelfristig das Rentenalter zu erhöhen.» Offensichtlich nimmt es Parmelin mit der Verfassung, auf die er ein Eid abgelegt hat, nicht so genau. Diese regelt nämlich im Art. 112 Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, Abs. b, dass die Renten «den Existenzbedarf angemessen zu decken» haben. Sinn und Zweck dieses Verfassungsartikels ist, den Menschen im Alter ein würdiges Leben und nicht nur ein Überleben am Rande der Armut zu garantieren. So ist die Frage nicht, ob die Renten finanzierbar sind, sondern einzig und allein wie die nötige Finanzierung sichergestellt werden kann. Diesbezüglich weist die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) den neuen Bundesrat gerne darauf hin, dass die Besteuerung von gerade mal einem Prozent der 15 Umsatz stärksten Unternehmen dem Bund Einnahmen von rund 10 Milliarden Franken bringen würde. Zum Vergleich: Der Bund hat im Jahr 2013 den Betrag von 63.7 Milliarden Franken eingenommen. So hält die PdAS in ihrem Wahlprogramm 2015 fest: «Die Verteilung des vorhandenen Reichtums ist eine rein politische Frage» und weist auf die Tatsache hin, dass «Renten und Sozialversicherungen keine Almosen» sondern eben «von der Verfassung garantierte Rechte» sind. Die PdAS fordert daher unter anderem:

– Die Integration der zweiten Säule (Pensionskassen) in die erste Säule (AHV) und somit die Einführung der Volkspension, sowie die Erleichterung der Frühpensionierung in Berufen mit schwerer körperlicher Arbeit

– Den sofortigen Stopp sämtlicher Verschlechterungen der Sozialversicherungen und die Vergesellschaftung der gesamten sozialen Vorsorge, um sie der demokratischen Kontrolle zu unterstellen.

Partei der Arbeit der Schweiz

10.Dezember 2015

Das Vipernnest

image_dazoomingIm soeben erschienenen Buch des vorwärts-Mitarbeiters Hans Peter Gansner wird ein Teil verschwiegener Schweizer Geschichte aus der Versenkung ans Tageslicht gehoben.

Es ist eine knallharte historische Epoche: die Besetzung Frankreichs durch Nazideutschland. Wichtiges über die Schweizer Freiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg ist schon bekannt geworden. Sozusagen nichts aber über die SchweizerInnen, die sich unter der Drohung der Todesstrafe, die während Kriegszeiten auf Desertion steht, im antifaschistischen Widerstand engagierten. Frédéric Amsler, Eliteschütze in der Schweizer Armee, der im August 1944 auf der Place-de-Crête in Thonon am Genfersee, vor dem damaligen Nonnenkloster Sacré-Coeur unter dem «nom de guerre» Marc Dujonc, im Kampfe heroisch fiel, war einer von ihnen. In Thonon-les-Bains erinnert eine kleine konische Stele an ihn; auf der Fassade über dem Haupteingang der Mairie steht sein Name an erster Stelle auf der Erinnerungstafel an die Gefallenen der Libération, gefolgt vom Geburts- und Todesdatum sowie dem Herkunftsort in der Schweiz. Im Register des Friedhofs, wo er eine Zeitlang in einem Massengrab beerdigt war, erfährt man noch, dass er Wirtschaftsstudent an der Uni Zürich war. Viel mehr ist über ihn nicht bekannt. Doch die wenigen Informationen, die der Autor hatte, inspirierten ihn zur Romanfigur des Frédéric Lauber. Die SchweizerInnen, die freiwillig in die französische Résistance eintraten und den Krieg überlebten, wurden nach Kriegsende gemäss Schweizer Kriegsrecht wegen Desertion oder/und wegen Eintritts in fremde Kriegsdienste verfolgt und bestraft. Erst 2011 wurden sie, zusammen mit den freiwilligen SpanienkämpferInnen, amnestiert. Es waren leider nicht mehr viele, welche diese verspätete Anerkennung noch erleben konnten.

Reaktionen auf den Roman

«Der Roman ‹Das Vipernnest› von H. P. Gansner ist ein grossartiger, faszinierender Roman. Der Autor versteht es meisterhaft, die Zeitgeschichte – präzis, kritisch, unbarmherzig, aber auch leuchtend (die Résistance!) – mit Tanners so turbulentem Schicksal, seiner starken, aber auch zerrissenen Persönlichkeit zu verbinden. Ein wahrhaft gelungenes Buch», schrieb Jean Ziegler. Und Helmut Vogel kommentierte: «Der Roman ist ein wichtiger Beitrag zur Schweizer Geschichte. Die Edition Signathur hat den Roman graphisch gut begleitet und die Viper erinnert an ein Hakenkreuz.» Prof. Dr. Karl Pestalozzi, emeritierter Professor für neue deutsche Literatur an der Alma Mater Basiliensis, lobte das Werk mit folgenden Worten: «Mit seinem Buch hat der Autor dank seiner langjährigen Vertrautheit mit Genf und seiner französischen Nachbarschaft eine Wissenslücke in der Deutschschweiz gefüllt. Mit grosser Spannung folgt man der Erzählung und ebenso Gegenwärtiges und Vergangenes, was das Buch davor bewahrt, ausschliesslich ein historischer Roman zu sein.» Und auch Georges Vuillomenet, langjähriges Mitglied der Werkstatt Arbeiterkultur Basel, hielt mit seinem Lob nicht hinter dem Berg: «Der Autor hat mit dem Buch einen Teil verschwiegener CH-Geschichte aus der Versenkung ans Tageslicht gehoben.» Zu hoffen ist, dass dem Autor die verdiente Anerkennung, zumindest in linken Kreisen (die Bürgerlichen foutieren sich um diesen Aspekt der Schweizer Geschichte), zuteil wird.

«Das Vipernnest» von Hans Peter Gansner,
Edition Signathur, ISBN: 3906273024

MuslimInnen unter Generalverdacht

Kein-Mensch-ist-illegal (1)In Bern demonstrierten am 20. November rund 200 Personen durch die Innenstadt. Die Kritik richtete sich zum einen gegen den antimuslimischen Rassismus. Zum andern wurde dagegen demonstriert, dass derzeit Ähnliches geschieht wie nach dem 11. September 2001. Kein Tag vergeht, ohne dass MuslimInnen, Geflüchtete und Terror in einem Atemzug genannt werden. Das ist eine herabsetzende Gleichung. Der Sicherheitswahn nimmt zu, Geheimdienste erhalten uneingeschränkte Kompetenzen, Grundrechte werden ausgehebelt. Die Demonstration führte vom Bahnhofplatz zum Bundesplatz, wo kurz vor dem Lichtspiel die untenstehende Rede gehalten wurde. Danach marschierte der Protestzug zum Casinoplatz. Über den Bärenplatz ging es zurück zum Bahnhofplatz.

Grundrechte ausgehebelt

Antimuslimischer Rassismus funktioniert wie jeder Rassismus. Menschen werden gespalten in ein sogenannt zivilisiertes «Wir» und einen minderwertigen Rest. So wird MuslimInnen nachgesagt, sie seien fundamentalistisch, sexistisch, kaum aufgeklärt oder eine Gefahr für die sogenannte abendländische Kultur. Im Wir, von dem seit den Anschlägen in der Öffentlichkeit die Rede ist, erkennen wir uns nicht. Unser Wir ist ein anderes. Eines, das Kapitalismus, Rassismus und Sexismus nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen will. Unser Wir will Freiheit, aber keine, die sich mit Maschinengewehren verteidigt.

Terroristische Anschläge sind tragisch, wir betrauern die Toten in Kano, Paris, Ankara, Beirut und Kobane. Europas etablierte Politik reagiert mit Solidarität, aber auch mit Rassismus und Spaltung zwischen «Europa» und «dem Rest der Welt», zwischen MuslimInnen und Nicht-Muslimen.

Zum Beispiel werden MuslimInnen auf der Strasse angegriffen oder beschimpft. Öffentlich wird Islam mit Terror in einem Atemzug genannt. Unter diesem Vorwand wurden die totale Überwachung verstärkt und Grundrechte ausgehebelt. Die Antiterrorwelle trifft in der Schweiz alle Geflüchteten und MuslimInnen. Unter dem Vorwand, es könnten sich unter ihnen potenzielle TerroristInnen verstecken, wird die Militarisierung der Grenze und gar ein Ausgehverbot für MuslimInnen gefordert. Parallel dazu geben die Migrationsbehörden bekannt, dass sie Asylgesuche von Personen aus muslimischen Staaten unter Generalverdacht stellen und diese zur Prüfung jeweils dem Nachrichtendienst weiterreichen.

«Wir werden unsere Freiheit mit allen Mitteln verteidigen», das waren Sommarugas Worte als sie am Mittwochnachmittag bekanntgab, dass sich die Sicherheitslage in der Schweiz verschlechtert habe und über ein Notstandsrecht nachgedacht werden müsse. Was meint sie mit «unsere Freiheit»? Die Freiheit der MuslimInnen, die in diesem Land und weltweit unterdrückt, stigmatisiert und ausgebeutet werden? Wohl kaum! Sommaruga treibt einen Keil zwischen ChristInnen und MuslimInnen, zwischen SchweizerInnen und MigrantInnen.

Der Rassismus braucht diese Spaltung. Er lebt von einer Spaltung in der Gesellschaft in einen «muslimischen» Kulturkreis, welcher als rückständig, fundamentalistisch, barbarisch, unzivilisiert beschrieben wird und «unserer abendländischen Kultur», welche im Gegensatz dazu aufgeklärt, zivilisiert und demokratisch sei. Wo früher mit «Rasse» argumentiert wurde, muss heute «Kultur» als Erklärung herhalten. Das Prinzip bleibt aber das gleiche: Menschen werden aufgrund von Eigenschaften eingeteilt und entsprechend privilegiert oder herabgesetzt.

Rede auf dem Bundesplatz

Die Attentate von Paris, die mehr als 120 Frauen und Männern das Leben kosteten, machen fassungslos und traurig. Wir sagen Nein zu Terror, der das Leben von Menschen zerstört. Wir sagen Nein zu Gewalt, der Menschen zum Opfer fallen. Nichts kann diese Zerstörung rechtfertigen. Letzte Woche traf es Paris. An vielen anderen Tagen trifft es Menschen in Syrien, im Libanon, in der Türkei und anderswo.

Wir sagen aber ebenso heftig Nein zur Instrumentalisierung islamistischer Gewaltakte, um Menschen muslimischer Zugehörigkeit zu diskriminieren. Wir sagen Nein zu einer Asylpolitik, die nach Religion, Herkunft oder Kultur unterscheidet. Wir sagen Nein zu einer Flüchtlingspolitik, die zwischen ChristInnen und MuslimInnen unterscheidet. Wir sagen Nein zu einer Sicherheitspolitik, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Namen der Verteidigung der Demokratie abschafft. Wir sagen Nein zu einer sogenannten Kulturdebatte, die MuslimInnen und andere Menschen als unaufgeklärt, mittelalterlich, demokratiefeindlich abwertet. Wir sagen Nein zu einer sogenannten Wertediskussion, die MuslimInnen den Wunsch nach Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit abspricht. Wir sagen Nein zu einer Integrationspolitik, die MuslimInnen und andere sogenannte MigrantInnen unter Generalverdacht stellt, demokratieschwach und gewaltbereit zu sein. Wir sagen Nein zu einer Spaltung der Gesellschaft in sogenannte SchweizerInnen und Nicht-SchweizerInnen. Wir sagen Nein zu zu einer Spaltung zwischen sogenannten Religiösen und Nichtreligiösen. Wir sagen Nein zu einer Spaltung zwischen Menschen in relativer Sicherheit und Menschen auf der Flucht. Terror und Gewalt kennen keine Religion, keine Kultur und keine Hautfarbe.

Demokratie ist kein kulturelles Gut, das nur Schweizerinnen, Europäern zusteht. Menschenrechte sind kein kulturelles Gut, das nur Schweizerinnen und Europäer schützt. Grundrechte sind kein exklusives Gut, das Menschen auf der Flucht vorenthalten werden kann. Grundrechte sind kein exklusives Gut, das Menschen mit anderer Hautfarbe vorenthalten werden kann. Grundrechte sind kein exklusives Gut, das Menschen mit anderer Nationalität abgesprochen werden kann.

Wir fordern Grundrechte für Menschen auf der Flucht. Wir fordern gleichberechtigte soziale Teilhabe für Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Wir fordern Solidarität mit allen Opfern von Terror. Egal wo dieser stattfindet. Wir fordern ein klares Bekenntnis zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Menschen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unterscheidet nicht zwischen Religion, Kultur und Hautfarbe.

 

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Lohngleichheit, jetzt!

lohngleichheitFrauen verdienen in der Schweiz durchschnittlich 20 Prozent weniger als Männer. Der Bundesrat hat nun als Massnahme gegen diese Lohndiskriminierung interne Lohnkontrollen für grössere Unternehmen vorgeschlagen. Die Unia lehnt diese Selbstkontrollen ab und fordert, dass Sanktionen gegen fehlbare Unternehmen eingeführt werden.

Der Bundesrat hat am 18. November seinen Vorschlag für die Revision des Gleichstellungsgesetzes veröffentlicht. Er musste dabei eingestehen, dass das bisherige Vorgehen mittels freiwilligem Lohngleichheitsdialog «hinsichtlich der Eliminierung oder zumindest einer wesentlichen Verringerung der Lohndiskriminierung nicht zum Ziel» geführt hat. Daher sollen zusätzliche verpflichtende Massnahmen eingeführt werden; «allerdings soll der Staat bei den Unternehmen nicht selber intervenieren».

Die Gewerkschaften nennen die Massnahmen «zahnlos». Die bürgerliche Zeitschrift «Finanz und Wirtschaft» bringt aber den Kern der Vorlage auf den Punkt: Bei den vorgeschlagenen Massnahmen handelt es sich um «neue administrative Belastungen» für die Unternehmen. Und mehr steckt tatsächlich nicht dahinter.

Lohnanalyse ohne Konsequenzen

Der Bundesrat schlägt vor, dass die ArbeitgeberInnen gesetzlich verpflichtet werden, alle vier Jahre eine «betriebsinterne Lohnanalyse» durchzuführen. Betroffen sind jedoch nur Unternehmen mit fünfzig oder mehr Beschäftigten, das heisst, nur mittlere und grosse Unternehmen. Das sind bloss 1,8 Prozent aller Unternehmen. Die Arbeiterinnen, die in kleineren Unternehmen schuften, kämen somit nicht einmal in den Genuss dieser internen Lohnkontrollen. Das Ergebnis der Lohnanalysen, die von unabhängigen Kontrollstellen durchgeführt werden sollen, müssen nicht veröffentlicht werden; bloss den ArbeiterInnen im Unternehmen soll Bescheid gegeben werden, «ob die Lohnanalyse korrekt durchgeführt worden ist». Im Klartext: 1,8 Prozent der Schweizer Unternehmen erhält die Verpflichtung, ab und zu eine interne Lohnanalyse durchzuführen, die keinerlei Konsequenzen hat. Mehr als eine «administrative Belastung» für diese Unternehmen ist es nicht; den Arbeiterinnen nützt es eher wenig.

Seit 1981 ist der Grundsatz der Lohngleichheit in der Bundesverfassung verankert und seit 1995 gibt es das Gleichstellungsgesetz. Doch immer noch verdienen Frauen bei gleicher Arbeit durchschnittlich 20 Prozent weniger als Männer. 60 Prozent dieser Differenz lassen sich mit Alter, Berufserfahrung oder unterschiedlichem Ausbildungsniveau erklären. Für die restlichen 40 Prozent gibt es keine objektive Begründung. Es handelt sich um reine Diskriminierung. Die IG Frauen der Unia sagt es deutlich: «Tatsache ist, dass es für die ungleichen Löhne keine Begründung gibt. Einzig die Tatsache, dass Frauen Frauen sind, führt dazu, dass sie weniger verdienen.»

Schon beim Berufseinstieg verdienen Frauen weniger: Nach der gleichen Ausbildung verdienen junge Frauen durchschnittlich acht Prozent weniger als ihre Kollegen. Bei einem Jahreslohn von 40?000 Franken, die ein junger Arbeiter verdient, sind das für die Arbeiterin mit gleicher Ausbildung 3200 Stutz, fast ein ganzer Monatslohn, weniger.

Diskriminierung: Nid bös gmeint?

Den Bossen ist diese Situation natürlich ganz recht. Sie sparen Lohnkosten. Jeder Fortschritt hin zur Lohngleichheit ist ihnen und ihren politischen VertreterInnen, den Bürgerlichen, ein Schritt zu viel. Eine Studie nach der anderen wurde von ihnen im Vorfeld zur Revision in Auftrag gegeben, die dagegen Argumente liefern sollte. Zuletzt erschien sicher nicht zufällig am gleichen Tag, als der Bundesrat seine Vorlage veröffentlichte, eine Studie des rechten Thinktanks Avenir Suisse. Darin wird behauptet, dass die Frauen an der Lohnungleichheit selber Schuld seien. Die ArbeitgeberInnen hingegen werden als die reinsten Unschuldslämmer dargestellt: Sie seien weder frauenfeindlich noch wollten sie Frauen schlechter bezahlen. Also gäbe es keine Diskriminierung. Es bestünde zwar schon eine «Diskriminierungsneigung», diese sei aber unbeabsichtigt und «durch die Arbeitgeber realistischerweise kaum zu vermeiden». Dies stelle aber kein grosses Problem dar, immerhin finden solche Schubladisierungen «bei jeder Anstellung fast notwendigerweise statt». Regula Bühlmann, SGB-Sekretärin für Gleichstellung, fasst die Studie folgendermassen zusammen: «Ist es Absicht, handelt es sich um Diskriminierung; fehlt die Absicht, ist es unternehmerische Freiheit, ein Kollateralschaden, jedenfalls nid bös gmeint…»

Sparen auf Kosten der Frauen

Die Vorlage des Bundesrats ist Sand in die Augen der Frauenorganisationen. Denn gleichzeitig forciert er ein gewaltiges Sparprogramm auf dem Rücken der Frauen. Im Rahmen der Rentenreform 2020, ein Projekt des SP-Bundesrats Alain Berset, soll das Frauenrentenalter auf 65 Jahre erhöht werden.

Bereits 1997 wurde das Frauenrentenalter von 62 auf 64 Jahre angehoben. Damit bezahlen die Frauen schon heute zusätzlich 800 Millionen Franken pro Jahr an die Stabilisierung der AHV. Mit der geplanten Erhöhung des Rentenalters würden erneut 1,3 Milliarden Franken pro Jahr auf Kosten der Frauen gespart. Zusammen mit der Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge ist die kleine generelle Rentenerhöhung von 70 Franken (übrigens nur für NeurentnerInnen) ein Witz dagegen.

Für die Gewerkschaft Unia reichen die Massnahmen, die der Bundesrat vorgeschlagen hat, nicht, um die Lohngleichheit der Frauen herzustellen. Sie fordert Lohnkontrollen, an denen zwingend auch die ArbeiterInnenorganisationen beteiligt sind: «Selbstkontrollen allein reichen nicht.» Ferner braucht es Sanktionsmöglichkeiten für die Unternehmen, die das Gesetz nicht einhalten. Die Unia verlangt Nulltoleranz gegenüber der Lohndiskriminierung. Sie fordert Lohngleichheit, jetzt!

 

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Freie Fahrt für Dumpinglöhne

postDie Post stellt ihre LKW-Flotte ein und streicht so 187 Arbeitsstellen. Die Fahrten sollen neu von Subunternehmen durchgeführt werden, mit weitaus schlechteren Arbeitsbedingungen.

Die betroffenen ChauffeurInnen der Post nehmen die Auslagerung nicht kampflos hin. Gemeinsam mit der Gewerkschaft syndicom wurden landesweit mehrere Protestaktionen durchgeführt.

Diese Geschichte ist ein Musterbeispiel für vieles: Erstens ist sie die konkrete Umsetzung neoliberaler Politik und zwar so, wie sie in den Lehrbüchern der kapitalistischen Barbarei seht. Zweitens wird einmal mehr klar, dass die sogenannte Sozialpartnerschaft schon lange auf der Müllhalde der Geschichte gelandet ist. Und drittens beweist sie, dass ein Streik, der so richtig weh tut, für den Sieg in einem Arbeitskampf eine Notwendigkeit ist.

Es ist die Geschichte der ChauffeurInnen der «gelben LKW-Flotte» der Post AG, die aus den Fahrzeugen von über 3,5 Tonnen besteht. Ab 2017 wird dieser Teilbereich eingestellt. 187 ChauffeurInnen verlieren dadurch ihren Job. Dies, obwohl der betroffene Transportbereich nicht defizitär ist und die Post auch keine roten Zahlen schreibt, sondern Millionengewinne verbucht. Es muss aber mehr und noch mehr Profit sein, denn das ist Sinn und Zweck des Systems. Und so wird auf dem Grabstein des Kapitalismus dann einmal stehen: Zuviel war nicht genug!

Den Abbau hat die ehemalige PTT am 4.September angekündigt und eröffnete gleichzeitig das Konsultationsverfahren mit den Sozialpartnern. Die Gewerkschaft syndicom hat verschiedene Vorschläge eingereicht, wie der Stellenabbau vermieden oder zumindest reduziert werden könnte. Am 5. November kam die Antwort der Post: «Auch nach Abschluss des Konsultationsverfahrens sieht die Post keine vertretbare Alternative zur Auslagerung der internen LKW-Transporte. Die Post hat deshalb definitiv entschieden, ihre internen Fahrten künftig im Wettbewerb auszuschreiben und bei externen Transportfirmen einzukaufen.» Das war’s. Und tschüss!

Entschlossenheit wird notwendig sein

Bereits am 2. November begannen die Protestaktionen der LKW-ChauffeurInnen zusammen mit der Gewerkschaft syndicom. Der Start erfolgte in Genf bei der Poststelle Montbrillant (Cornavin Dépôt). Hier wurde die Arbeit für vier Stunden niedergelegt. An einer Pressekonferenz zeigte die syndicom die Folgen der Auslagerung auf, indem sie eine Reihe von krassen Dumping-Fällen aufdeckte. «Diese Fälle zeigen exemplarisch, dass die Post nicht in der Lage ist, die Arbeitsbedingungen bei den rund 250 Subunternehmen, welche für die Post unterwegs sind, zu kontrollieren», schreibt die Gewerkschaft. So erhalten zum Beispiel die ChauffeurInnen eines Subunternehmens in Meyrin einen Stundenlohn von 17.80 Franken. Dieser Lohn ist im Vergleich zu den Salären der WagenführerInnen der Post extrem tief und entspricht nicht den branchenüblichen, verbindlichen Mindestlöhnen im Kanton Genf. Hinzu kommt, dass die ChauffeurInnen dieser Firma nur für einen Teil der Arbeitszeit fix angestellt sind. Während der übrigen Zeit werden sie auf Abruf eingesetzt und wissen deshalb nie, wie gross ihr Lohn am Monatsende sein wird.

Die syndicom hält weiter fest: «Die Post schafft mit ihrer Auslagerungspolitik Hunderte von prekarisierten Arbeitsplätzen und rechtfertigt mit Hungerlöhnen, dass so die ‹langfristige Wettbewerbsfähigkeit› gestärkt werde. Das ist in keiner Weise nachhaltig und geht voll auf Kosten der ChauffeurInnen bei den externen Transportunternehmen!» Und zurecht zweifeln die betroffenen WagenführerInnen, dass ihnen die Post eine «zumutbare Weiterbeschäftigung» anbieten wird. Das Konsultationsverfahren lässt grüssen.

Nach dem gelungenen Auftakt folgten Protestaktionen in Härkingen, Daillens, Bern/Ostermundig, Cadenazzo, Biel, Zürich und Rothenburg. Aber wie weiter? Für die syndicom ist das Vorgehen der Post «inakzeptabel» und sie verlangt, dass «mindestens 30 Prozent der Transportdienstleistungen intern erbracht werden». Die Proteste sind ein deutliches Zeichen dafür, dass die WagenführerInnen «zur Durchsetzung ihrer Forderungen entschlossen sind». Entschlossenheit wird in der Tat nötig sein, denn der Arbeitskampf steht erst am Anfang und somit ist der Ausgang ungewiss. Doch auch ohne magische Kristallkugel kann heute schon gesagt werden, dass er nur mit einem Streik, der auch wirklich weh tut, gewonnen werden kann.

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Kampfzone Bau

FRONT LMV 1Tausende BauarbeiterInnen im Ausstand: Mit «Protesttagen» ging der Kampf um den Landesmantelvertrag (LMV) in die nächste Runde. Hauptforderung ist der Erhalt des Rentenalters 60. Der Baumeisterverband blockiert weiter.

Die BauarbeiterInnen sind wütend. Und zwar gehörig. Nach wie vor verweigert sich der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) jeder Diskussion um eine Anpassung des Landesmantelvertrags (LMV), des Gesamtarbeitsvertrags für die Baubranche, der Ende Jahr ausläuft.

Deshalb riefen die Gewerkschaften in der zweiten Novemberwoche zum Protest. Hunderte Baustellen in der ganzen Schweiz standen still. Insgesamt 10 000 ArbeiterInnen nahmen gemäss der Unia an den dreitägigen Aktionen im Tessin, in der Deutschschweiz und in der Westschweiz teil, bei denen in erster Linie mehr Sicherheit gefordert wurde. So verlangen die ArbeiterInnen etwa, dass im LMV griffige Massnahmen gegen Lohndumping festgehalten werden. Weiter brauche es Regelungen zum Gesundheitsschutz, so die Unia. Jährlich würde jede fünfte BauarbeiterIn verunfallen; hundert ArbeiterInnen hätten in den vergangenen fünf Jahren auf der Baustelle ihr Leben verloren. Für den SBV ist dies indes kein Grund, um zu verhandeln.

Angriff aufs Rentenalter 60

Geht es nach den UnternehmerInnen, soll der LMV verlängert werden, wie er ist. So wäre auch die Regelung zur Frühpensionierung auf dem Bau, die sich die ArbeiterInnen im Jahr 2002 erkämpft haben, weiterhin in einer gesonderten Vereinbarung festgehalten. Und damit angreifbar. Darauf, so scheint es, zielen die Baumeister ab. «Sie wollen das Rentenalter erhöhen und die Renten senken», sagte Nico Lutz, Sektorleiter Bau bei der Unia, am «Protesttag» in Zürich.

Tatsächlich hatte der SBV eine Woche zuvor, ei einer Gesprächsrunde zwischen den «Sozialpartnern» das Ansinnen geäussert, entweder die bestehende Frührente um bis zu 18 Prozent zu senken oder das Rentenalter auf 61 bis 62 Jahre zu erhöhen, wie der «Tagesanzeiger» schreibt. Der Plan des SBV steht damit im offensichtlichen Widerspruch mit seinem Gelöbnis, die Beibehaltung der Frührente sei «oberstes Ziel». Noch im Oktober hatte er auch auf Baustellen für sich geworben und unter dem Slogan «Rente ab 60! Wir stehen dazu!» glauben machen wollen, dass die Frühpensionierung nicht in Gefahr sei.

Jetzt, kaum einen Monat später, ist es mit dem vermeintlichen Renten-Eid allerdings schon wieder vorbei. An Pensionsalter sowie Rentenleistung soll tüchtig geschraubt werden. Denn schliesslich steht es nicht gut um die «Finanzierung des frühzeitigen Altersrücktritts» (FAR), findet seit kurzem auch der SBV, obwohl Vizedirektor Martin Senn noch im Juni gegenüber dem «Blick» meinte, die Stiftung, die es BauarbeiterInnen ermöglicht, frühzeitig in Rente zu gehen, verfüge über eine «gute Deckung». Die Unia hingegen machte bereits damals darauf aufmerksam, dass bei der Finanzierung der Frühpension mittelfristig eine Lücke droht. «In den nächsten zehn Jahren werden wir vorübergehend mehr BauarbeiterInnen haben, die in Pension gehen. Für diese Phase braucht es mehr Mittel, um die Rente mit 60 sichern zu können», erklärte Unia-Funktionär Lutz gegenüber dem Schweizer Fernsehen.

Von einer Rentenkürzung will man bei der Unia jedoch nichts wissen. Denn eine Senkung um 18 Prozent würde auf einer durchschnittlichen BauarbeiterInnenrente von 4400 Franken rund 800 Franken ausmachen. Damit könne sich kaum jemand mehr leisten, mit 60 in Pension zu gehen, argumentiert die Unia. Stattdessen soll die Deckung der Stiftung FAR durch höhere Lohnbeiträge gewährleistet werden. Die Rede ist von 1,5 bis 2 Prozent, die ArbeiterInnen und Baumeister gemeinsam stemmen sollen. Allerdings begrenzt auf die nächsten zehn Jahre, in denen vorübergehend mehr ArbeiterInnen in Rente gehen als bisher, und unter der Bedingung, dass das Rentenalter 60 im LMV geregelt wird.

Ein «Angebot», auf das der SBV bisher nicht eingestiegen ist. Zu Wort meldete sich stattdessen die Implenia, die grössten Baufirma der Schweiz. Zu Beginn der «Protesttage» am 9. November rief sie die «Sozialpartner» öffentlich zu «konstruktiven Gesprächen» auf. Bereits in der Woche zuvor hatte die Unia-Zeitung «work» Auszüge aus einem internen Implenia-Dokument veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass Verhandlungen «dringend aufgenommen werden» sollen, weil «Stabilität und sozialer Frieden», wie sie der LMV garantiere, ein entschiedener «Standortvorteil der Schweiz» seien.

Streiks in Aussicht

Die Implenia möchte den Burgfrieden zwischen den Sozialpartnern gewahrt sehen. In Gefahr war er, seit im Jahr 2002 mit 15 000 beteiligten ArbeiterInnen der grösste Streik der jüngsten Geschichte stattfand und das Rentenalter 60 durchgesetzt wurde, nur noch einmal. Nämlich 2013 bei den letzten LMV-Verhandlungen. Damals forderten die Gewerkschaften, dass der Gesundheitsschutz, der auch heute wieder Thema ist, in den Vertrag Eingang findet. Als sich die Baumeister dagegen stellten, drohte die Unia mit Ausständen. Die BauarbeiterInnen standen bereits zum Streik bereit, als die beiden Gewerkschaften Unia und Syna kurzerhand doch noch nachgaben und einen LMV nach dem Gusto der BaumeisterInnen unterschrieben.

Doch dieses Mal, so scheint es zumindest, will man von Gewerkschaftsseite keine derartigen Zugeständnisse mehr machen. Einem LMV werde nicht zugestimmt, solange die Rente mit 60 nicht gesichert sei, bekräftigte Nico Lutz jüngst. Und die ArbeiterInnen seien bereit zu kämpfen. Komme es bis Ende Jahr zu keiner Einigung, sei mit Streiks zu rechnen.

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Der Finanzplatz Schweiz und die Atombombe

börseAnlässlich des neusten «Don’t Bank on the Bomb»-Reports der internationalen Kampagne zur Abrüstung von Atomwaffen fand am 12. November auf dem Zürcher Paradeplatz eine Mahnwache der GSoA, BHRC und ICAN Switzerland statt. Der gleichentags publizierte Report zeigt auf, dass Schweizer Banken auch 2015 ihre Investitionen in Atomwaffen weiter erhöht haben.

Im August jährten sich die Atombombenabwürfe auf die beiden japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki zum 70. Mal. Die humanitären Folgen und ökologischen Konsequenzen sind bis heute kaum fassbar. Trotzdem lagern in den Waffenarsenalen von neun Staaten immer noch schätzungsweise 16 000 nukleare Sprengköpfe. Alleine die USA und Russland halten davon fast 2000 in stetiger Abschussbereitschaft, einsatzbereit in wenigen Minuten.

Dabei gab es vor ein paar Jahren durchaus Anzeichen, dass der nukleare Wahnsinn durch intensiv geführte Verhandlungen zu stoppen sein könnte. So erfolgten gegen Ende des Kalten Krieges mit der Ratifizierung der START-1- und 2-Abkommen konkrete Massnahmen zur Abrüstung von strategischen Atombomben. Damals ein kleiner Lichtblick in Zeiten, die von nuklearem Wettrüsten gekennzeichnet waren. Heute ist von diesem geopolitischen Frühlingserwachen wenig geblieben und die Theorie der atomaren Abschreckung hat als sicherheitspolitischer Fetisch in den Köpfen konservativer PolitikerInnen überlebt.

Eine neue Dringlichkeit nötig

Parallel zu dieser Entwicklung ist die Frage der nuklearen Abrüstung seit 2012 bei verschiedenen internationalen Abrüstungsforen von zivilgesellschaftlichen Kräften vermehrt in den Fokus gerückt worden, um so der Debatte eine neue Dringlichkeit zu verleihen. So hat etwa das niederländische Rechercheinstitut Profundo von 2011 bis 2015 die Geschäftsbeziehungen von 411 Finanzinstitutionen zu 28 Unternehmen untersucht, die Atomsprengköpfe sowie deren Trägersysteme (Raketen, Bomber, atomwaffenfähige U-Boote) entwickeln, produzieren oder warten. Das Ergebnis wird jährlich im Report «Don’t Bank on the Bomb» publiziert. Diese Studie zeigt, dass Schweizer Banken seit 2012 insgesamt 6,4 Milliarden Franken in Firmen investierten, die direkt oder indirekt Atomwaffen produzieren. Die UBS hält Beteiligungen an Atomwaffen produzierenden Konzernen in der Höhe von 5150 Millionen Franken, die Credit Suisse in der Höhe von 1420 Millionen Franken. Gemäss dem Vorjahresbericht war die UBS 2014 noch mit 3720 Millionen Franken involviert und hat damit ihre Beteiligungen im aktuellen Jahr massiv ausgebaut. Und dies, obwohl eigentlich gemäss dem Schweizer Kriegsmaterialgesetz (KMG) ein Finanzierungsverbot von Atomwaffen besteht. Bei genauer Analysen der gesetzlichen Rahmenbedingungen zeigt sich aber, dass es sich dabei um einen äusserst zahnlosen Papiertiger handelt, da praktisch alle in die Atomwaffenherstellung involvierten Firmen sogenannte Mischbetriebe sind, so etwa die Airbus Group, BAE Systems oder Boeing.

Investieren trotz Verbot

Für die GSoA, BHRC und ICAN Switzerland ist es nicht nachvollziehbar, dass die beiden Schweizer Grossbanken auch in diesem Jahr über eine Milliarde Franken in Nuklearwaffenproduzenten investieren. Die Banken nutzen dabei Regelungslücken im Finanzierungsverbot von Atomwaffen im KMG gezielt aus. «Die schweizerische Diplomatie arbeitet mit über 100 anderen Ländern auf eine internationale atomare Abrüstung hin, während unser Finanzplatz diese Bemühungen sabotiert. Dies ist inakzeptabel», kritisiert GSoA-Sekretärin Meret Schneider. Die GSoA fordert deshalb ein Ende der Beteiligung von Schweizer Banken an der Produktion von Atomwaffen. Dominique Jaussi, Co-Präsident von BHRC, ergänzt: «Es braucht endlich ein effektives Finanzierungsverbot im Kriegsmaterialgesetz. Nun ist das neue Parlament gefordert! Niemand kann ernsthaft daran interessiert sein, dass die globale Unsicherheit und Instabilität zunimmt – wie es beim atomaren Wettrüsten der Fall ist. Wir erwarten deshalb, dass das Parlament die Motion der Berner SP-Nationalrätin Evi Allemann unterstützt, welche diese Investitionen in Massenvernichtungswaffen endgültig verhindern würde.» Tatsächlich dürften die Chancen für eine Nachbesserung des KMG gering sein. So werden wohl auch künftig Pensionskassengelder und private Ersparnisse ohne unser Wissen für die Finanzierung von verbotenen und geächteten Massenvernichtungswaffen herhalten müssen.

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Feed the Rich!

67197181Der neue «Global Wealth Report» zeigt aktuelle Tendenzen der weltweiten und nationalen -Vermögensverteilung. Linke Aufklärung, die sich auf die publizierten Daten bezieht, hat in der Schweiz einen schweren Stand.

Anfang Oktober jeden Jahres publiziert die Grossbank Credit Suisse ihren «Global Wealth Report» und liefert damit objektiv Zündstoff für linke Anliegen. Die Resultate der Studie sind brisant, wenn auch wenig überraschend. Das reichste Prozent der Welt besitzt rund die Hälfte des Weltvermögens. Allerdings reichen bereits 759’900 Dollar, um zu jenem noch von der Occupy-Bewegung zur Parole erhobenen einen Prozent zu gehören.

Aus der Studie geht auch hervor, dass den reichsten 10 Prozent der Schweizer EinwohnerInnen über 71 Prozent des gesamten Vermögens gehören. Die Schweiz gehört damit zu den entwickelten Ländern, in denen das Geld am ungleichsten verteilt ist. Und die Ungleichheit nimmt zu. Der sogenannte Gini-Koeffizient hat sich im letzten Jahr um rund 3 Punkte auf 61,2 Zähler erhöht. Wäre der Wert bei 100 würde eine Person das ganze Vermögen besitzen, wäre er bei null, hätten alle gleich viel. Die SchweizerInnen scheint das alles nicht sonderlich zu interessieren. Offensichtlich gilt im helvetischen Gärtchen die Losung: Was den Reichen nützt, das nützt der Schweiz. Wohl auch deswegen dürften linke Vorhaben wie der Mindestlohn, die Erbschaftssteuer oder die 1:12-Initiative vor dem Stimmvolk in jüngerer Vergangenheit keine Chance gehabt haben.

Schlüsse der Studie

Für ihren Report haben die ÖkonomInnen der Credit Suisse Daten aus 52 Ländern erhoben, die zusammen 66 Prozent der Weltbevölkerung und rund 96 Prozent des globalen Vermögens abdecken. Die Messungen wurden durch ökonometrische Techniken ergänzt, die indirekte Schlüsse über den Reichtum jener 160 Länder zulassen, für die ein oder mehrere Jahre keine Daten zur Verfügung standen. Erhoben wurden dabei die Bruttovermögen. Es wurden also den Vermögenswerten keine allfälligen Schulden abgezogen. Das ist für die Schweiz besonders wichtig: In keinem anderen der untersuchten Länder haben sich pro Kopf mehr Schulden angesammelt.

Die Rangliste der reichsten Länder wird von der Schweiz angeführt. Rund 567’000 Dollar soll hier der durchschnittliche Besitz betragen; wovon allerdings noch jeweils 145’000 Dollar Schulden abgezogen werden müssten. Die Handelszeitung – ganz Kind ihrer Zunft – war sich dann auch nicht zu blöd, die SchweizerInnen als «das reichste Volk der Welt» zu bezeichnen. Davon können die rund 750’000 Armutsbetroffenen in der Schweiz bestimmt ein Volkslied singen. Global sieht es trotz des offiziell erreichten UN-Milleniumsziels, die weltweite Armut bis 2015 zu halbieren, erst recht katastrophal aus: Mehr als eine Milliarde Menschen müssen mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag leben.

Die richtigen Fragen stellen

Ein guter Teil des von der Studie konstatierten globalen Vermögenszuwachses, ist auf Gewinne an den Aktienmärkten zurückzuführen. Diese Buchgewinne stehen aber auf ziemlich wackeligen Füssen und ihre Vernichtung durch einbrechende Kurse oder platzende Blasen ist immer mal wieder zu erwarten. Aber mit dieser Feststellung deutet der Report auch eine Sackgasse der gängigen linken Diskussion an: Es sind eben nicht primär die auseinandertreibenden Löhne, die unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit wichtig sind, wie das etwa die Gewerkschaften immer mal wieder betonen. Zwar geht die Lohnschere auch auf: Von 1994 bis 2012 stiegen die obersten 10 Prozent der Saläre um 41 Prozent, während sich die LohnbezieherInnen im mittleren und untersten Segment mit 18 Prozent Zuwachs begnügen mussten. Doch entscheidend für die klaffende Lücke dürften vor allem die Kapitaleinkommen sein: Profite und Zinsen. Und hier kennt die Schweiz im Gegensatz zu den meisten Nachbarländern keine Steuerpflicht. Die Kapitalgewinnsteuer musste erst im Frühling aus der geplanten Steuerreform gestrichen werden; ausser den Grünen und der SP hatten sich alle grösseren Parteien dagegen gewehrt. 2001 noch hatte das brave Schweizer Stimmvolk eine solche Steuer mit wuchtigen zwei Dritteln an der Urne abgelehnt.

Die linke Debatte

RealpolitikerInnen von linksaussen haben es also nicht leicht in einem Land, das von kleingeistiger Konformität und vorauseilendem Gehorsam für den nationalen Standort geprägt ist. Dennoch müssten sie offensiv die Frage nach Kapitalbesitz und -verfügungsgewalt stellen, statt sich in Diskussionen über die Lohnschere zu üben. Das hat den Vorteil, dass man damit nicht innerhalb der Proletarisierten unnötige Gräben aufmacht (wobei klar ist, dass die Bezüge des obersten Segments kaum als Lohn durchgehen und ihre BezieherInnen nicht zum Proletariat gezählt werden können; zumal sie nach wenigen Jährchen allerhand liquides Kapitals besitzen dürften). Das Wichtigste an der Fokussierung auf den Kapitalgewinnen ist aber, dass damit die innere Struktur der kapitalistischen Ökonomie thematisiert würde – das Verhältnis der betreffenden Menschen zum Kapital – und damit objektiv die Funktionsweise unsere Gesellschaft zur Debatte gestellt würde.

Das Geschäft mit dem Krieg

f6ce7_dts_image_2081_socpofqndd_140_600_392.30769230769Die Schweizer Rüstungsindustrie hat im dritten Quartal vermeintlich weniger exportiert. Das tödliche Geschäft floriert dennoch.

Neues aus dem Kriegsgeschäft: Um 30 Millionen Franken seien die Schweizer Rüstungsexporte im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen, meldet das Schweizer Fernsehen SRF. Der Bericht stützt sich auf eine kürzlich publizierte Statistik der Eidgenössischen Zollverwaltung (EVZ). Erhoben wurden dabei die Exporte für den Zeitraum zwischen Januar und September des laufenden Jahres. Der Wert der Ausfuhren beläuft sich momentan auf 314 Millionen Franken.

Generell ist es bisher jedoch ein gutes Jahr für die heimischen Kriegsgüterproduzenten gewesen. Noch bis Juni hatten sie gegenüber dem Vorjahr ein Plus von 30 Millionen Schweizer Franken eingestrichen. Ausschlaggebend werden demnach die Entwicklungen im letzten Quartal des Jahres sein. Daran, dass die Schweiz zu den Spitzenreitern der Waffenlieferanten zählt, dürfte sich allerdings wenig ändern. Momentan figuriert die Alpenrepublik, gemäss dem Stockholm Peace Research Institute, auf Rang 13 der grössten Kriegsmaterialexporteure.

Ähnlich wie im Vorjahr sieht indes die Liste der grössten Waffenabnehmer aus. Wie aus der aktuellen EVZ-Statistik hervorgeht, entfällt nach wie vor der grösste Anteil an Schweizer Rüstungsexporten auf Deutschland. Unter den Top 5 bewegt sich auch die USA. Beide Staaten streben momentan Militäreinsätze an. So könnten Schweizer Waffen demnächst wieder durch deutsche Einheiten im Irak und amerikanische Bodentruppen in Syrien zum Einsatz kommen. Dies obwohl man sich hierzulande rühmt, dass dank kontrollierter Waffenausfuhren keine Rüstungsgüter in Kriegsregionen gelangen würden.

Kontrollen greifen nicht

Der Realität entspricht das allerdings nicht. So wurde etwa im Jahr 2012 durch Bilder der «Freien Syrischen Armee» unversehens publik, dass im Kampf gegen Assad Granaten des Typs «Offensive OHG92 SM 6-03 1» zum Einsatz kamen. Waffen aus dem Hause Ruag. Der staatliche Rüstungsbetrieb bestätigte die Meldung, wies jedoch darauf hin, dass die Ruag seit ihrer Gründung im Jahr 1999 nie an Syrien geliefert habe. Recherchen der Sonntagszeitung zeigten später, dass die Waffen ursprünglich an die Arabischen Emirate geliefert und von dort aus nach Syrien verkauft worden waren. Dies, obwohl das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) von sogenannten «Drittstaaten» wie denjenigen im Nahen Osten die Unterzeichnung einer «Nichtwiederausfuhr-Erklärung» verlangt, um zu verhindern, dass Rüstungsgüter weiterveräussert werden. Augenscheinlich halten sich die Abnehmer des Schweizer Kriegsguts jedoch kaum daran. Eine Absicherung bietet die unterzeichnete Erklärung demnach nicht.

Nebst dem «Wiederausfuhrverbot» haben sich auch weitere rechtliche Erlasse zur «Kontrolle» von Waffenexporten als zahnlos erwiesen, wie die aktuellen Zahlen zeigen. So gehört Saudi Arabien weiterhin zur besten Kundschaft der heimischen Rüstungsindustrie, obwohl der Bundesrat im Mai 2015 nach saudischen Angriffen gegen die Huthi-Rebellen im Jemen ein Ausfuhrverbot beschlossen hat. Dass bis im September dennoch neue Lieferungen an den Wüstenstaat im Wert von 2,5 Millionen Franken verzeichnet wurden, liege daran, dass Ersatzteile für «bereits gelieferte Fliegerabwehrsysteme mit defensivem Charakter» aufgrund «langjähriger Verträge» weiterhin ausgeführt werden dürften, heisst es seitens Seco.

Verbote über den Gesetzes- und Verordnungsweg sind demnach grobmaschig und können im Übrigen jederzeit abgeändert werden. So geschehen im vergangenen Jahr. Damals beschlossen Bundesrat und Parlament, dass die heimische Rüstungsindustrie ihre Waffen künftig auch in Länder verkaufen darf, in denen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Mit diesem Entscheid leisteten die PolitikerInnen dem Ruf der Rüstungsindustrie Folge, die sich über Einbussen und Benachteiligung gegenüber der EU beschwert hatte. Das, obwohl die Ausfuhreinschränkung, die seit 2008 in Kraft war, das Geschäft mit dem Krieg kaum beeinträchtigt hatte. Bis 2011 waren die Exporterträge nicht etwa gesunken, sondern zu einem Rekordwert von 873 Mio. Franken angestiegen.

Ohne Bedeutung für den Wohlstand

Selbst als die Industrie diesen Wert nicht halten konnte und im Jahr 2013 rund 239 Millionen Franken Mindereinnahmen verbuchte, war das für sie wenig schmerzlich. So wies etwa die Ruag für das Geschäftsjahr 2013 einen Reingewinn von 94 Millionen Franken aus. Ein Plus von 16 Millionen Franken. Kompensiert hatte sie die verminderten Rüstungsausfuhren unter anderem durch Mehrerträge aus dem zivilen Geschäft, das sie von 50 auf 56 Prozent ausbaute.

Nichtsdestotrotz lockerte das Parlament am 6. März 2014 die Ausfuhrbestimmungen. Mit dem Argument, dass die Exporte für die Rüstungsindustrie «überlebenswichtig» seien, wie etwa CVP-Sicherheitspolitiker Jakob Büchler sagte. Argumentiert wurde damals auch mit der «Gesamtwirtschaft». Für die ist das Kriegsgeschäft hingegen alles andere als überlebenswichtig. Die Rüstungsgüter machten selbst im Rekordjahr 2011 lediglich 0,42 Prozent des gesamten Exportertrags der Schweiz aus. Damit beträgt der Anteil des Kriegsmaterialexports am Bruttoinlandsprodukt gerade einmal einen Tausendstel – und ist, wenn man denn wirtschaftlich argumentieren will, für den heimischen Wohlstand irrelevant. Sollte das Schweizer Geschäft mit dem Krieg, der Hunderttausende zum Tode verurteilt oder zur Flucht zwingt, in diesem Jahr tatsächlich zurückgehen, dann ist das vor allem eines: immer noch viel zu wenig.

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Klassenkrieg von oben

Bundeshaus-Aussenansicht-Stellenabbau und Sparprogramme: Nachdem die Bürgerlichen gestärkt aus den Wahlen hervorgetreten sind, haben sie auf politischer Ebene freie Hand, um ihr neoliberales Diktat durchzusetzen. Auf betrieblicher Ebene beginnen sie nun vermehrt unter dem Vorwand «Frankenschock» Stellen abzubauen.

Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf tritt zurück. Eben noch hat die Wochenzeitung WoZ ein rührseliges Porträt auf die abtretende Frau geliefert, wird in der folgenden Ausgabe das Schwanenlied auf den Traum von «Mitte-Links» gesungen. «Widmer-Schlumpf ist weg – Blocher ist immer noch da», titelt das SRF. Besser hätte man es nicht auf den Punkt bringen können: Blocher führt die SVP nach wie vor von Wahlsieg zu Wahlsieg, während die «anständige» BDP dahinschwindet. Das Spiel der IntrigantInnen und WahltaktikerInnen von 2007 – tatkräftig unterstützt von der SP – ist in letzter Instanz nicht aufgegangen. Aber war eine Widmer-Schlumpf im Bundesrat überhaupt so viel besser als ein Blocher? Eine Frau, die uns mit Lügen die Unternehmenssteuerreform II verkaufte? Gesprochen wurde von 933 Mil-lio-nen Franken Steuerausfällen, 2011 musste sich die Bundesrätin korrigieren: 7 Milliarden Franken werden es sein. Und bereits hat die «Musterschülerin» das nächste Steuergeschenk für Grossunternehmen parat mit der Unternehmenssteuerreform III. Diesmal sollen sich die Steuerausfälle auf 2,2 Mil-liar-den Franken belaufen. Müssen wir die Zahl schon vorsorglich mit Sieben multiplizieren? Zahlen seien Widmer-Schlumpfs Geheimwaffe, schreibt die WoZ. Geschönte, gefälschte Zahlen sind im Klassenkrieg von oben vermutlich einfacher in der Handhabung. Ein letztes Ei hat die scheidende Finanzministerin der Schweizer Bevölkerung allerdings noch gelegt: Das «Stabilisierungsprogramm 2017–2019»; aus dem eidgenössischen Neusprech übersetzt ein gewaltiges Sparprogramm für die kommenden Jahre.

Sozialwesen und Bildung ausbluten

Die Summe der Einsparungen, der sogenannten «Entlastungen», soll sich auf rund eine Milliarde Franken belaufen – und zwar jedes Jahr! Ein Drittel muss der Bund bei sich selber berappen, deshalb sind «namhafte Kürzungen im Personalbereich vorgesehen». Verwaltungsangestellte beim Bund dürfen sich also auf etwas gefasst machen.

Der Rotstift wird dort angesetzt, wo es der ArbeiterInnenklasse besonders weh tut: Im Sozialwesen sollen etwa 150 Millionen pro Jahr gespart werden (allerdings erst ab 2018, weil dort die Ausgaben gesetzlich festgelegt seien, lamentiert das Finanzdepartement), in der Bildung und Forschung sind es 250 Millionen, in der Entwicklungshilfe ebenfalls rund 250 Millionen, im Verkehr 100 Millionen und in der Landwirtschaft durchschnittlich 90 Millionen, jeweils pro Jahr. Selbst in der trockensten Medienmitteilung der Bundesbürokratie werden übrigens die Asylsuchenden zum Sündenbock gemacht: Die finanziellen Aussichten des Bundes seien «wegen der steigenden Zahl der Asylgesuche» schlechter geworden.

Die Armee soll hingegen geschont werden, damit ihre «Weiterentwicklung» umgesetzt werden könne. Die Einsparungen sind ab 2018 hier sehr moderat. Nachdrücklich wird darauf hingewiesen, dass noch immer ein Armeebudget von 5 Milliarden Franken angestrebt wird. Die Partei der Arbeit hat bereits angekündigt, gegen diese «neoliberale, kapitalistische Barbarei» anzukämpfen. Und die Partei hat gleich eine Lösung für allfällige Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Staatshaushaltes präsentiert: Die fünfzehn grössten Unternehmen der Schweiz erzielten laut dem Ranking der Handelszeitung im Jahr 2014 über 1000 Milliarden Franken Umsatz. «Die Besteuerung von einem Prozent der Umsätze dieser Unternehmen würden dem Bund Einnahmen von rund 10 Milliarden Franken bringen.»

Jobs vernichten

Die Mitteparteien mögen bei den Wahlen verloren haben, die Klasse der KapitalistInnen insgesamt hat im Schweizer Parlament ihre Mehrheit weiter ausbauen können. Mit dieser politischer Rückendeckung hat die Bourgeoisie nun freie Hand, ihr neoliberales Diktat auf dem Rücken der Arbeitenden durchzusetzen. Geschickt wurde von den Konzernen das Ende der Wahlen abgewartet, um grössere Entlassungen durchzuführen. Für Unia-Industriechef Corrado Pardini kein Zufall: «Wäre der Abbau während des Wahlkampfs bekannt geworden, dann hätte das den bürgerlichen Parteien geschadet.»

Seit den Wahlen ist nun bereits die Vernichtung von über 2000 Jobs angekündigt worden. Durchgehend werden dabei die Entlassungen mit der Frankenstärke und der schlechten Wirtschaftslage begründet.

Die grössten Schlagzeilen machte der neue Chef der Credit Suisse Tidjane Thiam mit der Ankündigung, in der Schweiz 1600 Stellen zu streichen. Ein weiterer grosser Jobvernichter ist der Spinnmaschinen-Hersteller Rieter in Winterthur, der mit 209 Stellen weniger einen Viertel seiner Belegschaft vor die Türe stellt. Bis Redaktionsschluss sind noch folgende Fälle bekannt geworden: Die ABB will eine Milliarde Dollar beim Personal sparen. Der Baselbieter Pastillenhersteller Doetsch Grether streicht bis zu 70 Jobs in der Produktion. Der Tierpharma-Konzern Elanco schliesst sein Forschungszentrum mit 80 Angestellten im Kanton Freiburg. Das Westschweizer Elektronikunternehmen Cicor verlagert seine Produktionsstätten und konzentriert den Kundendienst, was eine unbekannte Zahl von Kündigungen zur Folge haben wird. Der Pharmazulieferer Rondo baut am Basler Standort 45 Stellen ab. Die Emmentaler Verpackungsfirma Mopac hat entschieden, im Oktober 33 MitarbeiterInnen zu kündigen. Geplant ist der Abbau von insgesamt 80 Stellen. Der Neuenburger Uhrenzulieferer Gilbert Petit-Jean SA streicht 72 Stellen.

Kurz nachdem die Nationalbank im Januar den Mindestkurs von 1.20 Franken pro Euro aufgehoben hat, zeichnete SGB-Präsident Paul Rechsteiner ein düsteres Bild der Zukunft: Die derzeitige Situation würde die Schweiz in eine «gewaltige Krise» führen. Zehntausende Arbeitsplätze seien in Gefahr, Lohnsenkungen stünden bevor und ganzen Industriezweigen drohe der Untergang. Bis jetzt deutet nichts auf eine Verbesserung der Situation hin. Im Gegenteil. Der Wahlkampf ist vorüber. Die Konzerne und die Bosse werden jetzt erst ihr wahres Gesicht zeigen.

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Sozialstreik – Waffe des Prekariats

social-strikeDer neoliberale Boom der 80er Jahre hat die Zusammensetzung der europäischen ArbeiterInnenklasse radikal verändert. Industrieverlagerung, Individualisierung und Prekarisierung sind Tendenzen, die von der aktuellen Krise abermals begünstigt werden. Doch der Klasse fehlt bislang ein wirksames Gegenmittel. Nun loten immer mehr Basisgewerkschaften und autonome Gruppen die Möglichkeiten eines transnationalen «Sozialstreiks» aus. Zuletzt an einer Konferenz in Polen.

 

Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie angereist und hörten auf so klingende Namen wie «Rome Social Strike Laboratory», «Berlin Migrant Strikers» oder «Grupo de Acción Sindical». Die westpolnische Stadt Poznan war am ersten Oktoberwochenende Austragungsort einer internationalen Konferenz von Basisgewerkschaften und autonomen ArbeiterInnenkollektiven. Etwas holpriger als die Gruppennamen las sich der Zweck der Zusammenkunft: «Transnationaler Sozialstreik» – Eine neue Form des Massenstreiks also, die nicht bloss auf die traditionellen, gewerkschaftlich eingebundenen Industrien zielt, sondern der Vielfältigkeit der Klassensegmente und ihrer verschiedenen Kämpfe gerecht werden will. Nichts geringeres nämlich beabsichtigen die versammelten Kollektive langfristig auf die Beine zu stellen. In Poznan beschränkte man sich allerdings zunächst auf Vernetzung, Erfahrungsaustausch und Analyse. Gefragt wurde nach den Schwächen und Stärken vergangener Mobilisierungen, Arbeitskämpfe und Generalstreiks, nach dem Charakter gegenwärtiger Arbeitsverhältnisse und schliesslich nach der Bedeutung von Migration, Care-Arbeit, Prekarität und transnationaler Arbeitsorganisation für den Klassenkampf.

Einen derartigen Fragenkatalog abzuarbeiten, verlangte den TeilnehmerInnen einiges an Sitzleder ab. Aber im prunkvollen ehemaligen Festsaal der Strassenbahnerunion, welcher die  anarchosyndikalistische Gewerkschaft «Inicjatywa Pracownicza» (dt. Arbeiterinitiative) vermittelt hatte, liess es sich ganz vorzüglich aushalten.

 

Prekäre neue Welt

Was hinter der Idee des Sozialstreiks steckt, hob am treffendsten die britische Gruppe «Plan C» in ihrem Beitrag «The strike is dead. Long live the strike» hervor. Das Zeitalter der mächtigen und gut organisierten ArbeiterInnenklasse sei vorbei – zumindest in unseren Breitengraden. Aus den Fabriken der alten Industrienationen wurden Shoppingcenter und die Lofts der sogenannten «Dienstleistungsgesellschaft». Mit der Verlagerung der Arbeitsplätze der traditionellen Industrien sind auch die Kulturen und Institutionen der ArbeiterInnen untergegangen. Diese Neuordnung der globalen Arbeitsteilung war jedoch nie bloss eine «natürliche» Folge von neuen und günstigeren Produktionsstandorten, sondern immer auch ein Mittel, um widerständige proletarische Gemeinschaften zu zerschlagen. Auch wenn die Deindustrialisierung nicht total ist, so ist der Alltag der meisten Lohnabhängigen doch ein post-industrieller. Und die Tricks zur Profitmaximierung und ArbeiterInnenkontrolle in der post-industriellen Gesellschaft erleben wir tagtäglich: Individualisierte Arbeitsverträge, flexible Bezahlung in Honoraren statt regelmässigen Löhnen, Homeoffice statt Fabrik, Anstellungen ohne Arbeitsgarantien, Arbeit auf Abruf, Vermischung von Frei- und Arbeitszeit oder Temporär- statt Festanstellung. Solche Veränderungen in der Produktion und Arbeitsorganisation schufen eine neue ArbeiterInnenklasse. Und diese entwickelt allmählich neue Organisierungs- und Kampfformen.

Fest steht nämlich, dass es einen Weg zurück zu den Arbeitermassen, die im Blaumann die Industrieareale verlassen und als «Speerspitze der Klasse» den Generalstreik verkünden, nicht geben kann. Mehr denn je ist dies ein romantischer linker Traum. Die ökonomische Grundlage zu seiner Verwirklichung ist schlicht nicht mehr vorhanden. Dennoch ist die Verweigerung und Verhinderung der Arbeit nach wie vor das vielleicht wirksamste Mittel gegen die Besitzenden und Herrschenden. Wie aber kann das Heer der Vereinzelten und prekär oder gar nicht Beschäftigten zusammen in Streik treten? Und wie kann ein sektorenübergreifender Streik organisiert werden, wenn die grossen Gewerkschaften sich in systemkonformer Passivität üben und die prekären Massen kaum beachten?

 

Erster «sciopero sociale» in Italien

Mögliche Antworten kommen aus Italien, wo der sogenannte «EuroMayDay» am meisten fruchtete. Europaweit demonstrieren unter diesem Namen seit 2001 unterschiedlichste Initiativen vereint am 1. Mai. Migrantinnen, Arbeitslose, Studierende, Feministinnen, Künstler, Gewerkschafterinnen, Umweltschützer, LGBT-Gruppen, Recht auf Stadt- und  MieterInnen-Initiativen – so verschieden deren Hintergründe auch sein mögen, ihr vereinendes Moment ist der Kampf gegen ausbeuterische und unterdrückerische Zustände im Kapitalismus. Ausserdem befinden sich die meisten der Protestierenden in einer prekären ökonomischen Lage. «San Precario» heisst denn auch der ironische Schutzheilige der Bewegung.

Am 14. November 2014 hob diese besonders von jungen Menschen getragene Bewegung das Experiment auf eine neue Stufe. Das gemeinsame Demonstrieren sollte ergänzt werden – mit einem Massenstreik! Zum allerersten Mal wurde zu einem Sozialstreik, zum «sciopero sociale» aufgerufen. Davon ausgehend, dass das «kapitalistische Kommando» nicht bloss in den Fabriken hallt, sondern alle Bereiche des Sozialen durchdringt, versuchte der Sozialstreik verschiedene Sozialkategorien anzusprechen. Ergänzend mobilisierten kämpferische Basisgewerkschaften für einen klassischen Generalstreik, dem sich sehr zögerlich auch etablierte Grossgewerkschaften anschlossen. Schliesslich fanden in über 30 Städten Streiks, Demonstrationen und Blockaden statt.

In der Bilanz waren sich die Basisgewerkschaften und Sozialstreik-InitiantInnen einig: Dieser gemeinsame Protesttag zeigte erfolgreich Möglichkeiten auf, Kämpfe, Strukturen und Generationen zusammenzubringen. Die Beteiligung prekärer ArbeiterInnen müsse aber noch erleichtert werden. Der vielleicht prekärste Teil der italienischen ArbeiterInnenklasse, die illegal arbeitenden Flüchtlinge, war jedenfalls stark präsent.

 

Voraussetzungen schaffen!

Auch in Poznan war man sich einig: Mit Demonstrationen alleine seien die Zumutungen der Austeritätsprogramme nicht zu bodigen. Ebensowenig könne auf die Grossgewerkschaften gesetzt werden, die kaum Interesse zeigten, neben ihren alten Klientel auch Flüchtlinge oder andere Prekäre anzusprechen. Zudem sei im Zeitalter globalisierter und flexibler Arbeitsprozesse eine internationale Koordination absolut notwendig. So erzählten anwesende Arbeiter des Internetversandhandels Amazon, wie massiv ihre Aufträge in Polen zunahmen, als bei Amazon Deutschland gestreikt wurde. Infrastrukturen der Logistik wurden denn auch als zentrale Orte der Intervention verstanden. Dies auch deshalb, weil heute viele gar keine Möglichkeit haben, ein Unternehmen im klassischen Stil zu bestreiken. Im Sozialstreik solle die Warenzirkulation durch Blockaden unterbrochen werden. Bereits wandte Occupy Oakland diese Taktik mit der Hafenblockade 2011 an.

Damit aber alle sozial kämpfenden Sektoren zusammenfinden und sich gemeinsam nicht nur die Strasse nehmen, sondern auch die Wirtschaft lahmlegen, braucht es ein wenig Vorbereitung. Anfangen könnte jedeR bei sich selbst – mit der Anerkennung der eigenen Lage als LohnabhängigeR und mit der entsprechenden Organisierung mit den KollegInnen. Auch braucht es eine Kommunikation zwischen den verschiedenen kämpfenden Sektoren. Nur so kann gelingen, was die italienischen GenossInnen bereits forderten: «Verschränken wir unsere Arme und unsere Kämpfe!»

Die PdA ist im Nationalrat!

denis-de-la-reusille-Mit Denis de la Reusille hat die Partei der Arbeit (PdA) den 2011 verlorenen Nationalratssitz zurückgewonnen. Auch in der restlichen Schweiz ist die PdA im Aufwind. Im Übrigen hat sich die bürgerliche Mehrheit im Parlament vergrössert.

Die SVP und die FDP haben zusammen mit den kleinen rechtsextremen Parteien eine Mehrheit im schweizerischen Nationalrat. Die parlamentarische Linke hat vor diesem Szenario gezittert und versucht, ihre Wählerschaft zu mobilisieren. Mit mässigem Erfolg. Für SP und Grüne mag es vielleicht angenehmer sein, sich von den netten Bürgerlichen à la BDP und CVP in die sozialpolitische Suppe spucken zu lassen. Bürgerliche bleiben aber Bürgerliche; im Zweifelsfall werden sie stets die Interessen der Klasse der Reichen verteidigen, ob mit Klauen oder Kompromissen.

Umso erfreulicher ist es, dass die radikale Linke, die konsequent die Interessen der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung vertritt, wieder einen Sitz im Schweizer Parlament errungen hat: Mit einem Glanzresultat von fast 11 000 Stimmen konnte Denis de la Reusille von der PdA einen der vier Neuenburger Nationalratssitze gewinnen. De la Reussille konnte damit weit mehr Stimmen auf sich vereinen als der Spitzenkandidat der Grünen und sogar ein gutes Stück mehr als der gewählte SVP-Vertreter. Im Kanton Neuchâtel erreichte die PdA einen WählerInnenanteil von fantastischen 12,2 Prozent und überholte so die grüne Listenpartnerin, die 9,3 Prozent der Stimmen erhielt.

Amanda Ioset, Sekretärin der PdA Schweiz und Aktivistin in Neuchâtel, freut sich über das Ergebnis und macht deutlich, dass «eine Stimme links der SP im Nationalrat so notwendig ist wie nie». Und weiter: «Die Bevölkerung in Neuchâtel hat gezeigt, dass sie die neoliberalen Diktate nicht mehr akzeptiert, die den ArbeiterInnen im Kanton und in der ganzen Schweiz aufgezwungen werden.»

Stark in der Westschweiz

Der Wahlkampf der Neuenburger GenossInnen fand unter dem Motto «Wir brauchen einen radikalen Wandel» statt. Und sie waren tatsächlich mit radikalen Forderungen aufgetreten: In ihrem Wahlprogramm fordern sie klar Mindestlöhne, aber auch eine Obergrenze für Löhne, «um die Konkurrenz untereinander, die von den Bossen verursacht wird, einzuschränken». Ein besonderer Schwerpunkt des Wahlkampfs bildete die Altersvorsorge. Hierbei forderte die PdA Neuchâtel die Überführung der zweiten Säule in die erste, um so die AHV zu stärken. Dies stellt einen völligen Gegensatz dar zu den Reformplänen von SP-Bundesrat Alain Berset, die in der Zwischenzeit zwar etwas abgemildert wurden, trotzdem noch auf dem Rücken der Arbeiterschaft, besonders den Arbeiterinnen, durchgesetzt werden sollen. Ferner trat die PdA Neuchâtel für einen kostenlosen ÖV sowie eine gratis Bildung «von der Krippe bis zur Hochschule» ein.

Im Jura ist die PdA zum ersten Mal angetreten und hat prompt 3,8 Prozent der Stimmen geholt. SP und Grüne verlieren stark (7,1 bzw. 3,7 Prozent weniger), die SP kann ihren Sitz jedoch halten.

Im Kanton Waadt erreicht die Listenverbindung von PdA und solidaritéS 2,9 Prozent, was eine Verschlechterung darstellt im Vergleich zu den Wahlen 2011, als die beiden Parteien getrennt angetreten sind. Damals erreichte die PdA 2,1 Prozent und solidaritéS 1,8 Prozent. Der Partei entgeht hier der Sitz im eidgenössischen Parlament einigermassen knapp.

Auch in Genf trat die PdA in einer Listenverbindung mit der in diesem Kanton stärkeren solidaritéS an. Unter dem Namen «Ensemble à Gauche» haben sie 6,1 Prozent der Stimmen erhalten und sind ebenfalls leer ausgegangen.

Achtungserfolg im Rest

Im Tessin steht die PdA durch die Abspaltung des Partito Communista (PC) etwas geschwächt da. Konnte sie vor vier Jahren noch 1,2 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, sind es diesmal nur 0,5 Prozent. Zusammen mit dem PC liegt der WählerInnenanteil aber etwas über dem Ergebnis der letzten eidgenössischen Wahlen.

Die Berner GenossInnen verbesserten ihren WählerInnenanteil auf 0,5 Prozent. Besonders erfolgreich waren sie im Verwaltungskreis Jura bernois, wo sie auf 2,1 Prozent der Stimmen kamen.

Im Kanton Zürich ist die PdA eine Unterlistenverbindung mit der Alternativen Liste (AL) eingegangen, auch weil der AL gute Chancen auf einen Sitz im Parlament vorausgesagt wurden. Die PdA Zürich konnte ihre 0,24 Prozent mit einen leichten Zugewinn wacker halten. Die AL hat ihrerseits ihren WählerInnenanteil um 0,7 auf 1,7 Prozent steigern können, was nicht für einen Nationalratssitz reichte. Marcel Bosonnet, Spitzenkandidat der PdA, zeigte sich gegenüber dem vorwärts nicht überrascht: «Die AL hat in letzter Zeit zunehmend gezeigt, dass sie keine wirkliche Alternative ist, dass sie immer mehr zu einer sozialdemokratischen Partei wird. Das haben die Wählerinnen und Wähler gemerkt, auch durch die Arbeit der AL in der Exekutive der Stadt Zürich.»

Im Hinblick auf das Ergebnis der PdA sagte Bosonnet, diese sei auch «weiterhin gefordert und verpflichtet, mehr zu tun, um die Wähler zu überzeugen, dass sie eine Alternative aufzeigt zu den gängigen Parteien». Er konstatiert, dass dies nicht gelungen sei, fasst es allerdings auf als «eine Aufforderung an uns, mehr daran zu arbeiten, sich mehr um die Bevölkerung zu kümmern». Und konkretisiert: «Nicht nur um die, die wählen können, sondern auch um die, die von den Wahlen ausgeschlossen sind.»

 

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