Sozialstreik – Waffe des Prekariats

social-strikeDer neoliberale Boom der 80er Jahre hat die Zusammensetzung der europäischen ArbeiterInnenklasse radikal verändert. Industrieverlagerung, Individualisierung und Prekarisierung sind Tendenzen, die von der aktuellen Krise abermals begünstigt werden. Doch der Klasse fehlt bislang ein wirksames Gegenmittel. Nun loten immer mehr Basisgewerkschaften und autonome Gruppen die Möglichkeiten eines transnationalen «Sozialstreiks» aus. Zuletzt an einer Konferenz in Polen.

 

Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie angereist und hörten auf so klingende Namen wie «Rome Social Strike Laboratory», «Berlin Migrant Strikers» oder «Grupo de Acción Sindical». Die westpolnische Stadt Poznan war am ersten Oktoberwochenende Austragungsort einer internationalen Konferenz von Basisgewerkschaften und autonomen ArbeiterInnenkollektiven. Etwas holpriger als die Gruppennamen las sich der Zweck der Zusammenkunft: «Transnationaler Sozialstreik» – Eine neue Form des Massenstreiks also, die nicht bloss auf die traditionellen, gewerkschaftlich eingebundenen Industrien zielt, sondern der Vielfältigkeit der Klassensegmente und ihrer verschiedenen Kämpfe gerecht werden will. Nichts geringeres nämlich beabsichtigen die versammelten Kollektive langfristig auf die Beine zu stellen. In Poznan beschränkte man sich allerdings zunächst auf Vernetzung, Erfahrungsaustausch und Analyse. Gefragt wurde nach den Schwächen und Stärken vergangener Mobilisierungen, Arbeitskämpfe und Generalstreiks, nach dem Charakter gegenwärtiger Arbeitsverhältnisse und schliesslich nach der Bedeutung von Migration, Care-Arbeit, Prekarität und transnationaler Arbeitsorganisation für den Klassenkampf.

Einen derartigen Fragenkatalog abzuarbeiten, verlangte den TeilnehmerInnen einiges an Sitzleder ab. Aber im prunkvollen ehemaligen Festsaal der Strassenbahnerunion, welcher die  anarchosyndikalistische Gewerkschaft «Inicjatywa Pracownicza» (dt. Arbeiterinitiative) vermittelt hatte, liess es sich ganz vorzüglich aushalten.

 

Prekäre neue Welt

Was hinter der Idee des Sozialstreiks steckt, hob am treffendsten die britische Gruppe «Plan C» in ihrem Beitrag «The strike is dead. Long live the strike» hervor. Das Zeitalter der mächtigen und gut organisierten ArbeiterInnenklasse sei vorbei – zumindest in unseren Breitengraden. Aus den Fabriken der alten Industrienationen wurden Shoppingcenter und die Lofts der sogenannten «Dienstleistungsgesellschaft». Mit der Verlagerung der Arbeitsplätze der traditionellen Industrien sind auch die Kulturen und Institutionen der ArbeiterInnen untergegangen. Diese Neuordnung der globalen Arbeitsteilung war jedoch nie bloss eine «natürliche» Folge von neuen und günstigeren Produktionsstandorten, sondern immer auch ein Mittel, um widerständige proletarische Gemeinschaften zu zerschlagen. Auch wenn die Deindustrialisierung nicht total ist, so ist der Alltag der meisten Lohnabhängigen doch ein post-industrieller. Und die Tricks zur Profitmaximierung und ArbeiterInnenkontrolle in der post-industriellen Gesellschaft erleben wir tagtäglich: Individualisierte Arbeitsverträge, flexible Bezahlung in Honoraren statt regelmässigen Löhnen, Homeoffice statt Fabrik, Anstellungen ohne Arbeitsgarantien, Arbeit auf Abruf, Vermischung von Frei- und Arbeitszeit oder Temporär- statt Festanstellung. Solche Veränderungen in der Produktion und Arbeitsorganisation schufen eine neue ArbeiterInnenklasse. Und diese entwickelt allmählich neue Organisierungs- und Kampfformen.

Fest steht nämlich, dass es einen Weg zurück zu den Arbeitermassen, die im Blaumann die Industrieareale verlassen und als «Speerspitze der Klasse» den Generalstreik verkünden, nicht geben kann. Mehr denn je ist dies ein romantischer linker Traum. Die ökonomische Grundlage zu seiner Verwirklichung ist schlicht nicht mehr vorhanden. Dennoch ist die Verweigerung und Verhinderung der Arbeit nach wie vor das vielleicht wirksamste Mittel gegen die Besitzenden und Herrschenden. Wie aber kann das Heer der Vereinzelten und prekär oder gar nicht Beschäftigten zusammen in Streik treten? Und wie kann ein sektorenübergreifender Streik organisiert werden, wenn die grossen Gewerkschaften sich in systemkonformer Passivität üben und die prekären Massen kaum beachten?

 

Erster «sciopero sociale» in Italien

Mögliche Antworten kommen aus Italien, wo der sogenannte «EuroMayDay» am meisten fruchtete. Europaweit demonstrieren unter diesem Namen seit 2001 unterschiedlichste Initiativen vereint am 1. Mai. Migrantinnen, Arbeitslose, Studierende, Feministinnen, Künstler, Gewerkschafterinnen, Umweltschützer, LGBT-Gruppen, Recht auf Stadt- und  MieterInnen-Initiativen – so verschieden deren Hintergründe auch sein mögen, ihr vereinendes Moment ist der Kampf gegen ausbeuterische und unterdrückerische Zustände im Kapitalismus. Ausserdem befinden sich die meisten der Protestierenden in einer prekären ökonomischen Lage. «San Precario» heisst denn auch der ironische Schutzheilige der Bewegung.

Am 14. November 2014 hob diese besonders von jungen Menschen getragene Bewegung das Experiment auf eine neue Stufe. Das gemeinsame Demonstrieren sollte ergänzt werden – mit einem Massenstreik! Zum allerersten Mal wurde zu einem Sozialstreik, zum «sciopero sociale» aufgerufen. Davon ausgehend, dass das «kapitalistische Kommando» nicht bloss in den Fabriken hallt, sondern alle Bereiche des Sozialen durchdringt, versuchte der Sozialstreik verschiedene Sozialkategorien anzusprechen. Ergänzend mobilisierten kämpferische Basisgewerkschaften für einen klassischen Generalstreik, dem sich sehr zögerlich auch etablierte Grossgewerkschaften anschlossen. Schliesslich fanden in über 30 Städten Streiks, Demonstrationen und Blockaden statt.

In der Bilanz waren sich die Basisgewerkschaften und Sozialstreik-InitiantInnen einig: Dieser gemeinsame Protesttag zeigte erfolgreich Möglichkeiten auf, Kämpfe, Strukturen und Generationen zusammenzubringen. Die Beteiligung prekärer ArbeiterInnen müsse aber noch erleichtert werden. Der vielleicht prekärste Teil der italienischen ArbeiterInnenklasse, die illegal arbeitenden Flüchtlinge, war jedenfalls stark präsent.

 

Voraussetzungen schaffen!

Auch in Poznan war man sich einig: Mit Demonstrationen alleine seien die Zumutungen der Austeritätsprogramme nicht zu bodigen. Ebensowenig könne auf die Grossgewerkschaften gesetzt werden, die kaum Interesse zeigten, neben ihren alten Klientel auch Flüchtlinge oder andere Prekäre anzusprechen. Zudem sei im Zeitalter globalisierter und flexibler Arbeitsprozesse eine internationale Koordination absolut notwendig. So erzählten anwesende Arbeiter des Internetversandhandels Amazon, wie massiv ihre Aufträge in Polen zunahmen, als bei Amazon Deutschland gestreikt wurde. Infrastrukturen der Logistik wurden denn auch als zentrale Orte der Intervention verstanden. Dies auch deshalb, weil heute viele gar keine Möglichkeit haben, ein Unternehmen im klassischen Stil zu bestreiken. Im Sozialstreik solle die Warenzirkulation durch Blockaden unterbrochen werden. Bereits wandte Occupy Oakland diese Taktik mit der Hafenblockade 2011 an.

Damit aber alle sozial kämpfenden Sektoren zusammenfinden und sich gemeinsam nicht nur die Strasse nehmen, sondern auch die Wirtschaft lahmlegen, braucht es ein wenig Vorbereitung. Anfangen könnte jedeR bei sich selbst – mit der Anerkennung der eigenen Lage als LohnabhängigeR und mit der entsprechenden Organisierung mit den KollegInnen. Auch braucht es eine Kommunikation zwischen den verschiedenen kämpfenden Sektoren. Nur so kann gelingen, was die italienischen GenossInnen bereits forderten: «Verschränken wir unsere Arme und unsere Kämpfe!»

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