
Foto: Tristan Dzikowski
Der UNO-Welttag gegen Armut wurde in Bern mit Veranstaltungen  begangen. Dazu gesellte sich mittags eine ad-hoc-Demonstration vor einer  UBS-Filiale. 
„Die Menschenrechte haben uns  noch nicht erreicht“, sagt eine schweizerische Armutsbetroffene. Zum Uno-Welttag  am 17. Oktober 2008 gegen Armut veranstalteten die beiden Bewegungen Amnesty  International und ATD Vierte Welt ein Treffen in der Heiliggeistkirche in Bern.  Hans-Peter Furrer, Präsident der Armutsbewegung ATD Vierte Welt, zeichnete die  Zusammenhänge auf: „Armut, wenn sie nicht gewählt ist, sondern einen Menschen  überfällt und bezwingt, verletzt Menschenrechte, und grosse Armut verletzt sie  kumulativ: Sie schliesst den Menschen aus und wird zum Gefängnis.“ Furrer äusserte sich zufrieden darüber,  dass Amnesty International auch diese Gefängnis nennt.
Im Mikrokosmos
Armut hat sehr viel mit sozialer  Distanz zu tun. Die Gefahr besteht, nur die Armut in der Ferne, in der Dritten  Welt näher anzuschauen. Soziale Distanz wird so von geografischer Distanz  überlagert. Die ganze Welt als Makrokosmos der sozialen Ungerechtigkeit? Wieviel  mehr Verbindlichkeit braucht es jedoch, die Armut in unserer Nähe aufzudecken,  anzugehen und zu bekämpfen. Dies bedingt konkrete Politik – und den Willen zur  Veränderung von Machtstrukturen.
Edith Olibet, Gemeinderätin der  Stadt Bern und Direktorin für Bildung, Soziales und Sport meinte am Treffen in  der Heiliggeistkirche Bern, dass es keine Armut in der Schweiz gäbe, wenn  ebensoviel Kraft, politischer Willen und Ressourcen in die Armutsbekämpfung  gesteckt würden, wie dies heute zum Beispiel für die Rettung einer Grossbank  oder zur Debatte über Missbräuche im Sozialwesen geschieht. Sie erinnerte an die  Tatsache, dass im Kanton Bern jeder/e dritte BezügerIn von Sozialhilfe  erwerbstätig ist, davon 42% in einem 100%-Job. Das Lohndumping für die working  poor erzwingt von der Öffentlichkeit Sozialleistungen, über deren  Missbräuchlichkeit kaum debattiert wird, weil sie eine versteckte Form der  Wirtschaftsförderung darstellt.
Familienarmut
Rund ein  Drittel der Sozialhilfebeziehenden in der Stadt Bern sind zwischen 0 und 17  Jahren jung. Zu dieser Zahl gesellt sich eine grosse Dunkelziffer. Olibet:  „Viele Menschen leben weit unter der Armutsgrenze und melden ihre Not nicht an.  Sie wollen sich und ihre Kinder nicht dem öffentlichen Blick aussetzen.“ Es  ergibt sich die Gefahr der Vererbung von Armut durch fehlende oder ungenügende  Ausbildung von Kindern in armen Familien. Olibet stellte Forderungen zur  Ursachenbekämpfung von Armut vor: Existenzsichernde Löhne, Förderung sozial  benachteiligter Kinder im Vorschulalter, Beseitigung von Kinder-, Jugendlichen-  und Elternarmut, Förderung des Überganges nach der obligatorischen Schule und  Beendigung der Ausbildung, Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit und  Beseitigung der steuerlich bedingten Armutsfalle beim Austritt aus der  Sozialhilfe.
Als allein erziehende  Familienmutter meldete sich sodann Sarah Moser sehr eindrücklich zu Wort. Sie  stellte den Wunsch nach Ferien am Meer – zusammen mit ihren drei Kindern – der  harten Wirklichkeit entgegen. Wie findet sie sich in einer von Prospekten  verklärten Welt zurecht, ohne für Ferien Ressourcen einsetzen zu können? Dazu  stellen sich nicht nur Fragen nach der Finanzierung von Reise und Aufenthalt,  sondern von Ausrüstung, Kleidung, Statussymbolik und gesellschaftlichem Habitus.  Die Ausgrenzung wird greifbar. Kommt noch dazu, dass bestenfalls für Kinder  Ferienlager bezahlt werden, aber kaum für die ganze Familie Ferien am Meer.  Gemäss einem weit verbreiteten gesellschaftlichen Vorurteil, dass  Armutsbetroffene keinen Alltagsstress haben und darum auch nicht Ferien  bräuchten.
Kundgebung 
Gleichentags fand gegen Abend auf  dem Münsterplatz in Bern eine Kundgebung gegen Armut und Ausgrenzung statt,  welche vom Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen (KABBA) in Bern und  der IG Sozialhilfe in Zürich organisiert worden war.
Der Soziologe Kurt Wyss stellte  die Frage, wer heute die Welt unsicher mache, die diskriminierten  Armutsbetroffenen oder die Exzesse des neoliberalen Kapitalismus? Während Banken  im maroden Finanzsystem global eine Party auf Kosten der Steuerzahlenden feiern,  gibt es kein Geld für die Armutsbetroffenen. Beat Ringger vom Denknetz Schweiz  erinnerte an die Grundlügen in unserer Gesellschaft und an die Verwirrung der  Finanzleute, die zusehen müssen, wie ihr System zusammenbricht. Die beiden  Schweizer Grossbanken haben mehr als 10 Milliarden Franken an Boni ausbezahlt.  Nun stopft der Staat die Löcher. Ringger skizzierte die Idee einer  Erwerbsversicherung: Keine zeitliche Begrenzung der Taggelder, kein Zwang zu  prekären Arbeitsverhältnissen und gesellschaftliche Anerkennung der  Betreuungsarbeit für Kinder.
Für Thomas Näf vom KABBA steht  die Missbrauchsdebatte im Zusammenhang mit den bevorstehenden Gemeindewahlen in  Bern. Das Misstrauen und der Generalverdacht gegenüber den untersten Schichten  werden mit politischer Absicht geschürt. Doch Armut wird vom kapitalistischen  System erzeugt. Die Lebenssituation der Armutsbetroffenen erinnert Branka  Goldstein von der IG Sozialhilfe an eine Apartheid. Die Gesellschaft wird in  zwei Teile getrennt. Auch wies Goldstein an der Kundgebung auf die Folgen der  Kinderarmut und der irreparablen Schäden für die Gesellschaft hin. Aus Basel war  Avji Sirmoglu von der Liste 13 gegen Armut und Ausgrenzung zugegen. Sie  kritisierte die neuen Asyl- und Ausländergesetze, wonach Menschen B- und  C-Ausweise und somit das Recht auf Verbleiben in der Schweiz verwirken können,  wenn sie der Sozialhilfe zu sehr zu Last fallen.
In einer Resolution forderten die  KundgebungsteilnehmerInnen von Bundespräsident Couchepin und von der Kommission  für soziale Sicherheit der eidgenössischen Räte: Einklagbare soziale Rechte in  der Bundesverfassung, Erhöhung des Existenzminimums, Demokratisierung des  Sozialwesens, Abschaffung der Verwandtenunterstützungs- und Rückzahlungspflicht  und einen vollständigen Datenschutz auch für  SozialhilfebezügerInnen.