Die «liberale» Dimension des Faschismus

Neoliberalismus und Faschismus: Gut für die selbst ernannte «Elite», schlecht für alle anderen. Bild: zVg

Alexander Eniline. Neoliberalismus und Faschismus können nicht gleichgesetzt werden. Doch gibt es Übereinstimmungen in den Grundlagen. So kann der Schluss gezogen werden, dass zwischen den beiden Doktrinen zumindest kein Widerspruch besteht. Ein Essay.

Der gewählte Titel für diesen Artikel wird einigen Leser*innen sicherlich paradox erscheinen. Ist der Faschismus nicht ein Gegenpol zum Liberalismus? Friedrich von Hayek behauptete sogar, der Liberalismus sei die Ideologie, die vom Faschismus am weitesten entfernt sei. Dies werde dadurch bewiesen, dass Hitler sagen konnte, der Nationalsozialismus sei der wahre Sozialismus, der wahre Nationalismus und so weiter. Das Einzige, was Hitler aus gutem Grund nie gesagt hätte, so Hayek weiter, ist, dass der Nationalsozialismus der wahre Liberalismus sei. Zur Erinnerung: Friedrich August von Hayek (1899 – 1992) war ein österreichischer Ökonom. Er zählt zu den wichtigsten Denker*innen des Neoliberalismus im 20.Jahrhundert. Aber, der Schein trügt, und Hayek lügt bekanntlich wie gedruckt. Der Faschismus – und das zeigt sich im italienischen Faschismus, im Nationalsozialismus in Deutschland und im spanischen Falangismus – versteht sich in erster Linie als Antimarxismus.

Gegen die Interessen der Masse
Der Faschismus ist keine eigenständige Ideologie, sondern wird aus Teilen früherer Ideologien aufgebaut, die radikalisiert und bis zu extremistischen Konsequenzen getrieben werden. Hauptsächlich aus reaktionären Ideologien, aber auch liberale Ideen gehören zu den Fundamenten des Faschismus. Der Faschismus ist ein zusammengesetztes doktrinäres Gebäude. Seine verschiedenen Elemente liegen daher nicht auf derselben Ebene. Die Anlehnung an den Sozialismus befindet sich auf der oberflächlichsten Ebene, der Ebene des Anstandes, der Nomenklatur (Namen- und Fachbezeichnungen), einer gewissen Ausdrucksweise, die nicht bindend ist. Anlehnungen an reformistischen Strömungen können sich in vagen sozialen Forderungen im Faschismus wiederfinden. Sie sind nicht wörtlich zu nehmen und verschwinden immer wieder, sobald die Macht ergriffen wird. Dies liegt an dem hetzerischen, nicht aufrichtigen Charakter der faschistischen Ideologie. Deren Ziel es ist, die Massen für ein Projekt einzuspannen, das gegen ihre Interessen gerichtet ist.

Nur eine scheinbare Gemeinschaft
Die aus reaktionären Ideologie übernommenen Elemente finden sich hingegen in den Grundprinzipien des Faschismus wieder. Eine solche Aussage wird sicherlich überraschen, denn: Was könnte gegensätzlicher sein als der Liberalismus und der Faschismus? Der Liberalismus, der die Freiheit des Individuums zum höchsten Wert erklärt. Und der Faschismus, der das Individuum und seine Freiheit leugnet und es einem Kollektiv unterordnet, das es zerquetscht und dem es blinde Unterwerfung gewähren muss? Doch: Der Faschismus behauptet auch – und darin sind sich alle Faschismen widerspruchslos einig –, die Individualität und die Freiheit der menschlichen Person zu verteidigen. «Die Anerkennung der menschlichen Individualität ist eine der ideologischen Grundlagen», schreibt J.-A. Primo de Rivera, der Gründer der Falange. Und das ist nicht nur Heuchelei oder antisozialistische Demagogie, auch wenn die Faschist*innen die Freiheit des Individuums auf eine sehr eigenwillige Weise anerkennen.
Zwar besteht der Faschismus darauf, dass das von ihm konzipierte Individuum nicht das isolierte und egoistische Individuum des Liberalismus ist. Sein Individuum kann nur innerhalb einer Gemeinschaft und in ihrem Dienst existieren und frei sein, namentlich der Nation, der Familie. Doch die faschistische Nation ist nur eine scheinbare Gemeinschaft. Denn das Individuum ist noch isolierter als im ungezügelten Kapitalismus des klassischen Liberalismus. Es ist einem gnadenlosen Wettbewerb mit seinen Mitmenschen ausgesetzt. Der Faschismus hat die liberale Idee des Wettbewerbs zwischen freien Individuen, bei dem die Besten aufsteigen und die Schlechtesten untergehen, aufgegriffen und radikalisiert.

Ungleichheiten verstärken
Von einer trügerisch biologistischen Auffassung des «Kampfes ums Überleben» wendet der Faschismus ohne Rücksicht einen ungeschminkten Sozialdarwinismus an. Und dies nicht nur zwischen Nationen und Rassen, sondern auch innerhalb des Herrenvolkes, der Arier*innen selbst. Konkret: Menschen sind von Natur aus ungleich. Es ist natürlich, dass auch innerhalb der Arier*innen die Besten triumphiere und dafür ist die Ausgangslage zu schaffen. Nichts darf den Spielraum der überlegenen Individuen einschränken, um ihre Mitmenschen zu beherrschen. Denn letztlich ist es für die Gesellschaft als Ganzes gut, wenn eine Elite der stärksten, besten und energischsten Männer (der Faschismus ist strukturell sexistisch) die Gesellschaft anführt. Die Masse der Mittelmässigen verdient ihr Scheitern und muss sich schweigend beugen. Die Ungleichheiten sind nicht nur gerechtfertigt, sondern sollten noch weiter vertieft werden. Hier liegt der Kern der Lehre, also weit entfernt von der trügerisch sozialisierenden Rhetorik der Demagogie, die sich an die Massen richtet.
Am deutlichsten drückt diese elitäre Idee Adolf Hitler in «Mein Kampf» aus: «Nicht die Masse schafft, nicht die Mehrheit organisiert oder denkt, sondern immer und überall das isolierte Individuum. Eine Gemeinschaft von Menschen erscheint nur dann als gut organisiert, wenn sie die Arbeit dieser schöpferischen Kräfte so weit wie möglich erleichtert (…) und sie im besten Interesse der Gemeinschaft einsetzt. Das Wertvollste an einer Erfindung (…), ist in erster Linie die Person des Erfinders. (…) Die Organisation der Gesellschaft muss selbst die Tendenz verkörpern, die Köpfe über die Masse zu stellen und umgekehrt die Masse unter ihre Befehle zu stellen.»

Der Streik der Elite
Hitlers Prosa ist im höchsten Masse unsympathisch. Kein Wunder, schliesslich ist er Hitler. Aber die gleiche Idee wird in noch abscheulicheren Worten als die des Gründers des Dritten Reiches ausgedrückt, und zwar aus der Feder der US-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand. Sie ist normalerweise nicht der extremen Rechten zuzurechnen. Aber Ayn Rand schreibt: «Es ist der Mann an der Spitze der intellektuellen Pyramide, der allen, die sich unter ihm befinden, am meisten bringen kann. Er erhält keinen intellektuellen Bonus und braucht von niemandem eine Art Lektion. Der Mensch von unten würde mit Sicherheit in einen verzweifelten Kretinismus verfallen, wenn er sich selbst überlassen würde. Er kann demjenigen, der über ihm steht, in keiner Weise einen Beitrag leisten. Aber er erhält sehr wohl den Bonus, der von der Intelligenz des Mannes an der Spitze geliefert wird. Das ist die Natur des Wettbewerbs zwischen den Überlegenen und den Geistesschwachen».
Diese Passage stammt aus «Der Streik», einem sogenannten «philosophischen» Roman von Ayn Rand. Angeblich ist es nach der Bibel das einflussreichste Buch der USA. Der Streik, um den es hier geht, ist der Streik der Eliten, der Unternehmer und Führungskräfte. Sie haben es satt, Steuern zu zahlen, zum Gemeinwohl beizutragen und die Regeln zu befolgen, die von den demokratisch gewählten Institutionen beschlossen wurden.
Sie spalten sich also ab und ziehen sich in ein Tal in Kalifornien zurück – das Sillicon Valley? Dort sprechen sie mit völliger Offenheit miteinander. Sie sind überlegen und sollten daher frei sein, nach eigenem Gutdünken zu handeln und nur ihrem eigenen Egoismus zu folgen, ohne jemandem Rechenschaft schuldig zu sein.
Die Masse der minderwertigen Wesen hat keine bessere Wahl, als sich der Führung dieser erleuchteten Elite zu unterwerfen. Ohne ihre Elite versinkt die Gesellschaft im Chaos, der steuernde Staat bricht jämmerlich zusammen und die neoliberale Utopie kann sich frei entfalten und herrschen.

Die Rolle des faschistischen Terrors
Ayn Rand ist eine extremistische, groteske Liberale, die man kaum ernst nehmen kann. Alles, was an ihr «überlegen» ist, ist die überlegene Langweiligkeit ihrer Prosa. Aus der Feder des angesehenen Ludwig von Mises, ein Theoretiker der Österreichischen Schule, der Mainstream-Strömung des Neoliberalismus, stammen jedoch folgende Worte aus einem fiktiven Brief an Ayn Rand: «Du hast den Mut, den Massen zu sagen, was kein Politiker wagt, ihnen zu sagen: Ihr seid minderwertig und jeder Fortschritt in eurem Leben, den ihr für normal haltet, verdankt ihr den Anstrengungen von Menschen, die viel besser sind als ihr.»
Aus diesen Aussagen soll keineswegs abgeleitet werden, dass der Neoliberalismus mit dem Faschismus gleichgesetzt werden kann. Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen diesen beiden Doktrinen. Aber die Übereinstimmung auf der Ebene der Grundlagen existiert – es ist unmöglich, sie zu übersehen. Daher muss man zu dem Schluss kommen, dass die in mancher Hinsicht gemeinsame Denkweise mit dem Faschismus zumindest nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen des Liberalismus steht. Diese doktrinäre Übereinstimmung kann übrigens in eine politische Konvergenz umschlagen. Die Mehrheit ist selten damit einverstanden, vor einer selbsternannten überlegenen Elite in die Knie zu gehen. Da kann der faschistische Terror hilfreich sein. Ludwig von Mises lobte Benito Mussolini im Übrigen dafür, dass er «die Zivilisation gerettet» habe. Und Friedrich von Hayek und Milton Friedman unterstützten und berieten die Diktatur von Augusto Pinochet, dem ersten Regime, das den Neoliberalismus in die Tat umsetzte.

Nachfragen ist gesund für die Demokratie
Natürlich traut sich hierzulande keine liberale Politikerin*, kein liberaler Politiker* das zu sagen, was Ayn Rand in ihrem Buch schreibt und von Ludwig von Mises im fiktiven Brief so quasi als «Wahrheit» definiert wird. Schliesslich ist es nicht üblich, potenzielle Wähler*innen als minderwertige Wesen zu beleidigen. Doch, liegt es daran, dass sie in Wahrheit die Ideen von Mises teilen und es aus Kalkül nicht sagen? Oder daran, dass sie sie wirklich missbilligen? Viele liberale Politiker*innen in unserem Land würden schwören, dass ihr Liberalismus für die Freiheit aller Menschen steht, nicht nur für die der Elite. Doch auch Mitglieder der FDP berufen sich notorisch auf Vordenker*innen der Österreichischen Schule. Die systematische Befürwortung der «Trickle-Down-Politik», also die «Elite» zum Wohle aller machen zu lassen, deutet darauf hin, dass die Liberalen in unserem Land zumindest eine abgeschwächte Form der Ideen von Rand und von Mises akzeptieren. Auch ist die fast irrationale Bewunderung für Tech-Milliardär*innen, die sich selbstverständlich über das allgemeine Gesetz erhaben fühlen, ein weiterer Hinweis dafür. Es wäre demokratisch gesund, die Liberalen systematisch nach ihren Ansichten zu diesem Thema zu befragen.

Alexander Eniline ist Co-Präsident der Partei der Arbeit der Schweiz.

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