«Ein gefährlicher Irrer!»

Wer war Hector Berlioz? Er ist einer der Wegbereiter der so genannten sinfonischen  «Programmmusik». Wirkte etwa unter Beethoven Musik absolut, so verlief die Entwicklung der Musikgeschichte im 19. Jahrhundert dahin, dass Musik ein «Programm» zugrunde zu legen ist. Vielleicht ein Stück Literatur? Nur mal so am Rande erwähnt: die «Sinfonischen Dichtungen» von Franz Liszt klingen wunderschön. Und bei Modest Mussorgski etwa geht es in «Bilder einer Ausstellung» um genau dies: Bilder einer Ausstellung. Bilder als Programm für die Musik. Programmmusik.


Berlioz und Mussorgski

Der Unterschied zwischen Mussorgskis Werk und Berlioz «Sinfonie dramatique» ist auffallend. Klar, beides lässt sich so ohne weiteres nicht vergleichen, gleichwohl beides als Programmmusik gilt, letzteres jedoch als sinfonische Programmmusik. Und Berlioz ist nicht Mussorgski. Aber: Berlioz «Sinfonie dramatique» obliegt, wie schon angedeutet, der sinfonischen Form, während «Bilder einer Ausstellung» ursprünglich für Klaviersolo komponiert wurde – ein extrem schöner Klavierzyklus übrigens, mit Klangfarben, die überwältigen. Der entscheidende Unterschied aber – die nicht minder schöne Orchestrierung des russischen Werkes von Maurice Ravel berücksichtigend – ist die vollkommen verschiedene Tonsprache beider Werke.

Was soll man sagen? Berlioz war Franzose, Mussorgski ein Russe? Ja, das mag schon sein – und trotzdem nein! Beides waren Musiker, beides Komponisten. Beide beherrschten ihr Handwerk. Doch Hector Berlioz ist anders, vollkommen anders. Wer schon kann eine Melodie von Chopin nachpfeifen? Wer eine von Mussorgski? Letzteren kann man pfeifen – kein Problem. Bei Chopin ist das schon schwieriger. Und bei Hector Berlioz? Das ist schwer, sehr schwer. «Kunst ist Kommunikation», so Mussorgski. Und was ist die Musik von Berlioz? «Mein Leben ist ein Roman, der mich sehr interessiert». So schrieb er es in seine Memoiren. Berlioz war wie Chopin und Liszt ein Romantiker, gleichwohl dieser sich eher als Klassiker verstand. Der virtuose Violinist Niccolò Paganini sah dies wie er. In Hector Berlioz erkannte Paganini den Erben Beethovens. Zurück zu den stilistischen Schubladen: Mussorgski war einer, der sich gar nicht erst einordnen lassen wollte. Was «Bilder einer Ausstellung» angeht, zu Recht. Denn dort geht es zwar auch um wichtige Merkmale romantischer Musik, etwa die Betonung des gefühlvollen Ausdrucks, die Auflösung klassischer Formen, und natürlich die Verbindung der Musik mit aussermusikalischen Ideen – hier die Bilder der Kunstausstellung.

Konservenmusik

Doch der Russe bringt das simpel klingende Hauptthema so oft, inklusive Variation über Variation, bis jedes Kind diese Melodie nachpfeifen kann. Das ist nicht typisch für die Romantik. Wenn man so will, ist der geniale Mussorgski einer der sicher ungewollten Vorläufer der heutigen Konservenmusik. So simpel, so einfach, so eingängig klingend. So lange so einfach, bis Musik in unseren Tagen zum immer kürzeren Stück Ware deformiert wird, auf dessen Konserve der Supermarkt unserer Begehrlichkeiten namens «Kapitalismus» nur noch das Etikett aufdrucken muss – den Befehl: «Kauf mich!».

Und genau auf so was pfiff ganz offensichtlich Berlioz, jedenfalls, was seine «Sinfonie dramatique» oder auch sein berühmtestes Werk, die «Sinfonie fantastique» angehen. Berlioz klingt poetisch, Mussorgski melodiös. Das ist der Unterschied – ohne Wertung. Berlioz klingt klar und fliessend, erzählend, sich mitteilend. Stürmisch, ruhig, aufwühlend und erhaben. Immer wieder wird der Zuhörer aus dem Strom der Musik gerissen – und das fasziniert, weil es anders ist. Und das tut gut. Berlioz Musik ist stark im Ausdruck, frei von Effekten, sparsam mit Wiederholungen, abwechslungsreich im Einsatz zwischen Streichern und Bläsern. Kraftvoll die Pauken, souverän das gesamte Orchester. Seine Musik ist einfallsreich, wenn – wie hier – auch Solostimmen singen: Bass, Tenor und Mezzosopran. Berlioz drückt Gefühle aus. Er findet neue Klangwelten, indem er in seine «Sinfonie dramatique» einen Chor integriert.

Elysium

Gut, Beethoven tat das auch, siehe seine Neunte. Doch bei Berlioz klingt dies anders, fast erinnernd an Chöre in einer russisch-orthodoxen Kirche, dann wieder in Nuancen fast so wie aus dem arabischen Raum. Bei Beethoven wiederum klingt der Chor absolut, nach höheren Idealen strebend. Zwar frei von «Gotteshäuslichkeit», doch zugleich ebensowenig frei von Spiritualität. Denn in Friedrich Schillers eingebauter «Ode an die Freude» im letzten Satz von Beethovens Neunter, dem Chorfinale, finden sich als poetische Figuren die Töchter Elysiums. Elysium war in der griechischen Mythologie «jene Insel der Seligen, auf die jene Helden entrückt werden, die von den Göttern geliebt wurden oder denen diese Unsterblichkeit schenkten» (Wikipedia). Alle drei Künstler-Geister – Schiller, Beethoven und Berlioz waren offenkundig von höheren Mächten inspiriert. Was uns wiederum zu Gute kommt – wer in unendlichen Dimensionen denkt, kann persönlich wachsen. Und nein: dies ist keine Aufforderung, religiös zu werden. Eher eine, Berlioz zu hören!

Aus dem vorwärts vom 28. Mai 2010