Wir haben gegen den Despoten Ben Ali revoltiert

Interview mit Sami Aouadi,  Mitglied der Nationalleitung der UGTT (Union Générale Tunesienne du Travail – Allgemeiner Tunesischer Arbeiterbund)

Welchen Anteil haben die Gewerkschafter der UGTT an der Erhebung gegen Ben Ali?

Die soziale Erhebung ist nicht von den Strukturen der UGTT ausgelöst worden, aber diese haben schnell reagiert; eine Vielzahl von regionalen und sektoralen Strukturen haben sie flankiert, indem sie ihr ihre Lokale und Aktivisten zur Verfügung stellten. Die Gewerkschafter waren vor Ort, überall und jederzeit. Ohne diese logistische Unterstützung hätten viele Dinge nicht stattfinden können. Es ist wahr, dass die Gewerkschaftszentrale ein wenig gezögert hat. Die Führung hat nicht den Streik ausgerufen, aber sie hat ihre Gliederungen nicht gehindert, es zu tun und sich dem sozialen Kampf in unserem Land zur Verfügung zu stellen. Diese Haltung muss im Kontext der tunesischen Diktatur gesehen werden. Es war nicht leicht, einem solchen Regime gegenüberzutreten.

Bei den letzten Präsidentenwahlen hatte die UGTT-Führung ihre offizielle Unterstützung für Ben Ali erklärt…

Das ist richtig. Die Führung der UGTT war von der Macht sehr stark bedrängt worden, sie zu unterstützen. Wir haben alle das Gewicht des ausgeübten Drucks auf die Gewerkschaftszentrale begriffen. Immerhin konnten aber innerhalb der Nationalen Administrativen Kommission (Führungsgremium der UGTT, Anm. d. Red.) einige Gewerkschafen ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Die Gewerkschaften der Kader (Fachkräfte), der Mediziner, der Oberschul- und Hochschullehrer haben sich immer gegen die Unterstützung der Gewerkschaftsführung für den Despoten Ben Ali ausgesprochen. Darüberhinaus war diese Unterstützung nur formal, ein Lippenbekenntnis. Das war ein Kompromiss unter Druck, weil andernfalls die Staatsmacht drohte, die UGTT in die Knie zu zwingen.

Ihre Genugtuung heute kann man sich vorstellen…

Was sich in unserem Land abspielt, ist aussergewöhnlich, wunderbar. Das ist eine soziale Revolte, ohne Ideologie, ohne eine politische Partei an der Spitze der Bewegung. Das ist die Aktion von aktiven Gewerkschaftern, Aktivisten der Zivilgesellschaft, die den Polizeikräften die Stirn boten. Und in erster Linie die Aktion der Jugend, sowohl der Jugend der verarmten Stadtviertel wie der wohlhabenden Viertel, alle waren dabei. Wir haben mindestens 200 000 diplomierte Hochschulabsolventen, die auf der Strasse liegen, ohne Arbeit; sie machen 27 Prozent der tunesischen Arbeitslosen aus. Die meisten sind unter sehr schwierigen Bedingungen ausgebildet worden, ohne Stipendien oder Unterkunft zu bekommen. Und danach waren sie arbeitslos. Wie sollten die denn reagieren…?

Was sind ihre dringendsten Erwartungen hinsichtlich einer Veränderung?

Vorrang hat, eine echte Demokratie zu installieren. Wir verlangen eine Regierung der nationalen Versöhnung, eine allgemeine Amnestie aller Verurteilten wegen eines Meinungsdelikts, die Aufhebung jeder Beschränkung der politischen Aktivität.

Meinen Sie, Gehör zu finden?

Wir werden unserer Stimme Gehör verschaffen, dafür kämpfen, uns mit anderen Komponenten der Zivilgesellschaft koordinieren. Ich bin zugleich sowohl optimistisch wie skeptisch. Optimistisch aufgrund der Tatsache, dass diese soziale Bewegung aussergewöhnlich, immens, eigenständig, jung ist, ohne ausländische Einmischung – wir sind von niemandem manipuliert. Wir sind Gewerkschafter, Aktivisten, Universitätsangehörige, Mediziner, Anwälte, Staatsbedienstete, Arbeiter; wir haben gegen den Despoten Ben Ali revoltiert, wir haben ihn davongejagt… Zur gleichen Zeit bin ich mir klar über die Möglichkeiten der Fehlleitung, der Irreführung unserer Revolte durch die Kräfte, die gegen die Veränderung noch Widerstand leisten, die Präsidentengarde, die Milizien der Ben-Ali-Partei.

Welches sind in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht die Perspektiven, die Sie zu bestärken wünschen?

Wir haben hundert Forderungen! Wir werden eine neue Runde von sozialen Verhandlungen beginnen, bei der wir eine Aufwertung unserer Löhne und unserer Kaufkraft, eine Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen und die Respektierung der gewerkschaftilchen Freiheiten verlangen werden. Wir fordern die Infragestellung des von Tunesien übernommenen Modells der Wirtschaftsentwicklung. Ich beziehe mich auf den Konsens von Washington mit liberaler Orientierung, der empfahl, dass die Staaten sich zurückziehen und die Märkte der ausländischen Konkurrenz öffnen. Wir haben als Konsequenz einen doppelten Rückzug gehabt, sowohl aus dem öffentlichen und staatlichen Sektor infolge der Wirkung der neoliberalen Ideen wie aus dem Privatsektor infolge der Bedrohung durch die internationale Konkurrenz.

 

Interview mit Fathi Chamkhi, Präsident von Attac Tunesien

Welches waren die tiefen sozialen und wirtschaftlichen Auslöser, die zur Erhebung der Jugendlichen und zur Revolution des 14. Januar geführt haben?

Das von Ben Ali 1987 eingeführte Wirtschaftsregime war sehr liberal orientiert. Für die internationalen Institutionen, ob dies die Welthandelsorganisation, der Weltwährungsfonds oder die Europäische Union über ihre euro-mediterrane Partnerschaft war, ist Ben Ali der Musterschüler der liberalen Globalisierung geworden. Indessen haben sich die Zerstörung der öffentlichen Dienste sowie die Privatisierungswellen in Tunesien in totalster Intransparenz unter dem Zugriff von mafiosen Clans vollzogen. Unternehmen wurden zum Beispiel von ihren neuen Eigentümern ausgeplündert und verkauft zum Zweck der Immobilienspekulation. Landwirtschaftliche Flächen wurden von der Familie Ben Ali über ausländische Gesellschaften zusammengehamstert. Schritt für Schritt hat die Entwicklung dieses mafiosen Sektors die gesamte Wirtschaftstätigkeit kontaminiert.

Parallel dazu hat das Regime ein Null-Steuer-System für die ausländischen Unternehmen geschaffen. Die französischen Unternehmen wurden der zweitgrösste Arbeitgeber in Tunesien nach dem Staat. Dieses System ergab ein durchschnittliches Wachstum von fünf Prozent pro Jahr, aber das war Augenwischerei. Von 1984 bis zur Mitte der Jahre 2000 haben sich die Kapitaleinkünfte um 90 Prozent vergrössert, während gleichzeitig der durchschnittliche Reallohn unverändert blieb. Der aus der Epoche Bourgiba geerbte hohe Stand der Arbeitslosigkeit blieb bestehen, trotz der Verbesserung des Bildungsniveaus. Die ausgebildeten jungen Hochschulabsolventen waren am meisten von der Arbeitslosigkeit betroffen, da Tunesien seine Wirtschaftsstrategie auf Sektoren mit der Verwendung von gering qualifizierten Arbeitskräften gründete wie Textilindustrie, Bekleidungs-Konfektion oder Tourismus. Schlimmer noch: die von Ben Ali betriebene Politik hat eine Explosion der Unterbeschäftigung hervorgebracht. Zwei von drei Erwerbstätigen sind unterbeschäftigt. Eine Massenverarmung trat zutage. Die Weltwirtschaftskrise von 2008 hat die soziale Not verschärft. Aber der Staat hat darauf reagiert, indem er die Zahlen schönte, bis zur Ankündigung eines Sinkens der Arbeitslosigkeit. Die Reichtümer der Familien Ben Ali und Trabelsi (Frau des Ex-Diktators, Anm. d. Red.) wurden auf unverschämte und beleidigende Weise der Bevölkerung zur Schau gestellt. Die Bedingungen waren gegeben, dass das Pulverfass explodiert.

Welche Veränderungen können sich auch dieser Revolution ergeben?

Ich bin davon überzeugt, dass Tunesien über zahlreiche Vorzüge verfügt: die Bedingungen für die Frau, qualifizierte Arbeitskräfte, zahlreiche Reichtümer. Sie müssen von diesem politischen Druck befreit werden, der glaubt, unsere Interessen besser zu kennen als wir selbst. Die Revolution beginnt, einen Prozess auf der demokratischen Ebene einzuleiten. Auf wirtschaftlichem Gebiet ist das aber noch nicht gewonnen. Die neue Regierung der nationalen Einheit glaubt, dass der wirtschaftliche Liberalismus funktioniert. Ihre einzige Sorge ist, das Geschäftsklima zu verbessern, die Korruption zu bekämpfen und vor allem die ausländischen Investoren zu beruhigen, damit sie die Tunesier noch mehr ausbeuten. Während es darum geht, ein System sozialer Gerechtigkeit und ein Wachstum einzuführen, das die Grundbedürfnisse befriedigt. Man muss wachsam bleiben: selbst geschwächt, versucht das Regime, sich auf seinem Platz zu halten.

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