Erzähl mir deinen Traum – Psychodrama in Rojava

Nikol Uçar. Die Ärztin Maja Hess von medico international schweiz war im Herbst 2020 in Rojava. Sie wollte an diesem einmaligen emanzipatorischen Projekt teilnehmen und hat im Auftrag vom kurdischen Roten Halbmond Heyva Sor Frauengruppen mit psychosozialem Fokus geleitet.

Maja Hess war schon mehrmals in Nordostsyrien mit Delegationen, unter anderem 2019 als die Türkei und ihre jihadistischen Söldner Serê Kaniyê angegriffen haben. Letzten Herbst reiste sie erneut nach Qasmislo, diesmal für vier Monaten in Zusammenarbeit mit Heyva Sor a Kurd. Der Kurdische Rote Halbmond, eine lokale NGO, wurde 2012 gegründet, da sich das syrische Regime aus Rojava zurückgezogen und alle Gesundheitseinrichtungen funktionsunfähig zurückgelassen hatte. Heyva Sor hat vorerst die ganze Notversorgung in den Konfliktzonen und den Flüchtlingslagern übernommen. Für die Menschen sind die roten Westen mit dem Halbmond ein Garant für Nothilfe und bedingungslose Unterstützung. Ausserdem baut Heyva Sor Gesundheitseinrichtungen auf, wo keine vorhanden sind, ist mit mobilen Kliniken in abgelegenen Dörfern unterwegs, um die Gesundheitsversorgung zu dezentralisieren. Auch für Kriegsversehrte baut Heyva Sor ein neues Zentrum zur Herstellung von Prothesen und zur integralen Betreuung der verwundeten Kämpfer*innen. Ziel von Heyva Sor ist es, möglichst bald die Gesundheitseinrichtungen, die nicht nur eine Notversorgung anbieten, an die Selbstverwaltung zu übergeben.

Viele haben Alpträume
Maja Hess ist Präsidentin von medico international schweiz, Ärztin, Psychiaterin und langjährige Psychodramatikerin. Viele Menschen in Rojava wünschten sich eine psychologische Unterstützung, bekamen jedoch sofort kalte Füsse, wenn es ernst zu werden schien mit der Psychologie. «Psycho was? Bin ich etwa verrückt?» war häufig eine provozierende und gleichzeitig bange Reaktion auf ein konkretes Angebot. Krank sein ist etwas Körperliches, und: «mir geht es gut, ich lebe!» Die Menschen sind voller Hoffnung und Träume – und gleichzeitig voller Schmerz und Trauer. Jede Familie hat jemanden, der oder die im Kampf gegen den Islamischen Staat oder während der türkischen Angriffskriege gefallen ist. Sie haben Verwandte, die vom Assad-Regime gefangen und gefoltert wurden, Freund*innen, die nach Europa geflüchtet sind. Viele haben Alpträume, die sie in der Nacht aufschrecken lassen. Es gibt nur wenige Einrichtungen, die den Menschen eine psychologische Betreuung anbieten – und noch weniger, die diese aufsuchen. Psychotherapie ist den Leuten fremd, genauso wie die Diagnose PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung. Ein gebrochener Arm wird operiert, eine Kugel entfernt und die Wunde verbunden. Der seelische Schmerz wird unterdrückt.
Doch Maja Hess lässt sich von der vermeidenden Haltung nicht irritieren und improvisiert. Eine klassische Psychotherapie, ein verbindliches Setting sind schwer umsetzbar – aber Wissensvermittlung, das Erkennen von Ressourcen und Stärken, das genaue Betrachten von Gefühlen und ihre Verbindungen mit dem Körper und auch mit der politischen Situation schon. Bald finden verschiedene Gruppensitzungen statt mit Mitarbeiterinnen vom Frauenhaus, von Heyva Sor, vom Waisenhaus.

Selbstfürsorge
Das Psychodrama ermöglicht die Verarbeitung einer Situation durch verschiedene Formen des Nachspielens in einer Gruppe – eine Verbindung zwischen den Emotionen, dem Körper, dem Raum und der sozialen und politischen Realität wird so hergestellt. Getragen wird diese Erfahrung durch die Gruppe. Durch Inszenierung von Erlebnissen oder Wünschen wird das Handeln hinterfragt, alternative Strategien ausprobiert und neue Perspektiven eröffnet. Mit den Mitarbeiterinnen des Waisenhauses sind es zum Beispiel Situationen, die herausfordernd sind, wie ein Kind, das partout nicht zur Schule will. Üblicherweise wird wiederholt auf das Kind eingeredet – aber ist dies wirklich zielführend? Wie fühlt es sich denn in der Rolle als Kind an, wenn jemand so auf mich einredet? Nachfragen, Verstehen und Empathie sind angesagt und können durch einen Rollenwechsel trainiert werden.
Ein anderes Mal möchte Maja Hess, dass die Frauen schöne Kindheitserinnerungen wachrufen, die in der Gruppe geteilt und darauf in Rollenspielen dargestellt werden. Die Frauen fühlen sich sofort in die emotionale Wirklichkeit ihrer Kindheit zurückversetzt, lachen befreit und geniessen es sichtlich. Es soll ihre Ressourcen stärken und sie in Beziehung zu ihrer Kindheit und zum eigenen inneren Kind setzen. Diese Erinnerungen sind ein Schatz, der ihnen niemand wegnehmen kann. Dies macht den Betreuerinnen bewusst, wie wichtig es ist, den Waisenkindern nebst deren belasteten Vergangenheit auch schöne Erinnerungen zu ermöglichen und sie damit zu stärken. Auch wenn es den Frauen zu Beginn der Gruppensitzungen schwer fiel, Worte für ihre Gefühle zu finden oder in eine Rolle zu schlüpfen, so fühlen die Betreuerinnen nun deutlicher, dass ihre Arbeit mit und für die Kinder sehr belastend ist und die Gruppensitzungen eine grosse Erleichterung bringen.
Ähnlich geht es den Mitarbeiterinnen des Frauenhauses. Sie sind sehr engagiert und versuchen die Frauen, die zu ihnen kommen, so gut es geht zu unterstützen. Sie hören zu, nehmen die Frauen und ihre Probleme ernst, suchen nach Lösungen. Sie sind immer für die anderen da, doch wer kümmert sich um sie? Maja Hess ermutigt sie dazu, gut auf sich selbst zu achten und sich auch im Team gegenseitig zu stärken und zu loben.

Ein sicherer Ort gegen die Einsamkeit
Eine Professorin der Universität von Rojava in Qamislo machte Maja Hess auf die Studentinnen aufmerksam, die aus Afrin vertrieben wurden, und bat um psychologische Unterstützung. Die Zeit reichte leider nur für zwei Gruppensitzungen, eine dritte wurde abgesagt. Als die Studentinnen kommen, wirken sie interessiert, aber zurückhaltend. Am liebsten hätten sie eine Vorlesung, einen theoretischen Vortrag. Ja nicht über die eigenen Gefühle reden – wer macht das schon gerne? Diesen Schutzmechanismus abzulegen fällt umso schwerer, wenn man im Krieg lebt, denn weiter machen, irgendwie funktionieren ist überlebenswichtig.
Dennoch lassen sich die jungen Frauen auf die Gruppe ein, machen bei der Einstiegsübung mit: Mit einem Knäuel, der von einer zur anderen Teilnehmerin geworfen wird, entsteht ein Netz an Beziehungen und Verbindungen, das dann im zweiten Teil der Übung durch Bewegungen beeinflusst und verändert wird. Ein erstes Herantastenan die Frage, warum sie glauben, Unterstützung zu brauchen. Viele fühlen sich einsam, verängstigt, weit weg von zu Hause, Afrin ist durch die Türkei besetzt, die Familie vertrieben oder den Besatzer ausgeliefert. Einige sind Zeuginnen von Ermordungen geworden. Fast alle beklagen Nervosität, Schlafstörungen und das Gefühl, dünnhäutig zu sein. Maja Hess bittet sie, ein soziales Atom zu zeichnen. Dabei sollen sie auf ein Blatt Papier sich selber mit einem Punkt in die Mitte setzen und die Namen der Menschen, die ihnen wichtig sind, in einer von ihnen gewählten Distanz aufschreiben oder mit Zeichen symbolisieren. Eine Studentin zeichnet eine lange Spirale, mit Familie, Freund*innen und dann die Universität und schliesslich die Bibliothek, die ihr viel bedeutet. Eine andere schreibt auch die Namen ihren zwei Freundinnen, die vor ihren Augen getötet wurden. Die Blätter füllen sich, die Einsamkeit weicht für einen Moment.
«In so kurzer Zeit ist es vor allem wichtig, die Frauen zu stärken, ihnen ihre Ressourcen bewusst zu machen», erklärt Maja Hess. «Wir haben auch geübt, in der Imagination an einen schönen Ort zu gehen, ein sicherer Ort, der Kraft gibt.» Solche Traumreisen kamen auch bei den anderen Gruppen sehr gut an, auch wenn einige sagen, dass sie die Augen nicht schliessen können, weil sie gleich Schreckliches sehen. «Die Übung geht auch mit offenen Augen», ermutigt sie Maja Hess. Sie wird später den Fachausdruck für diese unwillkommenen Bilder den Studentinnen erklären (Flashback) und auch weitere Symptome benennen. Ihr Ziel ist es, dass sie ihre Gefühle einordnen, ihr Befinden verstehen und ihre Ressourcen besser mobilisieren können.

Zerrissenheit und Neuanfang
Maja Hess fragt sie später nach ihren Träumen. Die Menschen in Rojava erzählen gerne ihre Träume und messen ihnen grosse Bedeutung zu. Sie sehen Träume als Botschaften von aussen, die ihnen einen kleinen Einblick in das eigene Schicksal geben, wie ein Geheimnis, das kurz gelüftet wird – während die Psychodramatikerin darin eine Eigenproduktion sieht, die Ausdruck eines inneren, ungelösten Konflikts ist. So erzählt eine Studentin, wie sie in ihrem Traum ein Film am Drehen ist als sie hört, dass ihre Familie aus einer anderen Stadt allenfalls von Kriegshandlungen betroffen ist. Im Traum gerät die Studentin in einen Konflikt, entscheidet sich jedoch, nicht die Familie in fürsorglicher Weise aufzusuchen, sondern am Drehort zu bleiben. Maja Hess ist begeistert: Es geht um den Entscheid zu studieren, aus der traditionellen Rolle auszubrechen und nicht deren Ruf zur Rückkehr «an den Herd» zu folgen. Darin zeigt sich die Zerrissenheit, nahestehende Menschen zu verlassen, aber auch der Wille selbstbestimmt etwas Neues anzufangen. Dadurch entstehen Risse im Patriachat.

Neue Räume
Vieles erinnert Maja Hess auch an ihre eigene Geschichte und die emanzipatorische Kämpfe in der Schweiz: «Ich war auch die erste Frau in meiner Familie, die studiert hat. Meiner Mutter wurde keine Bildung zugestanden, es hiess, Frauen brauchen sowas nicht.» Die Kraft, die es braucht, um gegen den Strom zu schwimmen, um die vorgegebene Rolle zu verlassen – darüber können Frauen überall auf der Welt ein Lied singen. Aber die Frauen in Rojava können bei ihrem Ausbruch auf eine kostbare Unterstützung zählen: Die revolutionäre Bewegung steht aktiv an ihrer Seite. Die Befreiung der Frau ist keine leere Floskel, sondern ein zentraler Aspekt des demokratischen Konföderalismus. Maja Hess beschreibt es in ihren Blog: «Frauen eröffnen sich neue soziale und persönliche Räume und in den Gesetzen der Selbstverwaltung wird ihnen deutlich mehr Schutz und Sicherheit zugeschrieben. Ihr Einsatz gegen das Unrecht wird nicht mehr als unwesentlich abgetan und ihr Kampf gegen die geschlechterspezifische Gewalt nicht mehr als bürgerliche Eskapade entwertet.»
Trotz allen Schwierigkeiten und Unsicherheiten, trotz den Verlusten und Traumatisierungen fühlen die Frauen Stolz und Zuversicht, weil sie von ihren Genossinnen, von der Bewegung und der Gesellschaft getragen werden. Dieses kollektive Gefühl stärkt sie auch individuell und hilft ihnen, Schritt für Schritt weiter zu kommen, die Träume zum Greifen nah.

Share

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Zur Sicherheit untenstehende Aufgabe lösen * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.