«Wir wollen Gerechtigkeit»

sit. Von den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen war in den offiziellen Reden bei der Eröffnung des Ceneri-Tunnels nichts zu hören. Und während die Arbei-ter*innen auf Gerechtigkeit warten, bekommt das Bauunternehmen weiterhin fette Aufträge von der öffentlichen Hand. Ein Skandal.

«Während der Einweihungszeremonie des Ceneri-Basistunnels am 4.September werden sich die Behörden unseres Landes dieses Werkes rühmen. Sie werden jedoch vergessen zu sagen, was der Bau in menschlicher Hinsicht gekostet hat. Und sie werden nichts über die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse erzählen», schrieb der Partito Operaio e Popolare (POP), die Tessiner Sektion der Partei der Arbeit, in ihrem Aufruf zur Demonstration. Und genau wie vor-ausgesagt, kam es dann auch.

Wie Sklav*innen behandelt
«Es lebe die Bahn. Es lebe das Tessin. Es lebe die Schweiz!» Mit diesen Worten, strahlend wie ein Marienkäfer durchschnitt Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga – mit rotem Kleid und Schuhe und einem blauen Sommermantel ganz in den Farben des Kantons Tessin gekleidet – das rote Band bei der Eröffnungsfeier des Ceneri-Basistunnels. Es sei zusammen mit Gotthard und Lötschberg «das Herzstück des wichtigsten Bahnkorridors zwischen Nordsee und Mittelmeer», erklärte Sommaruga. Mit dem Tunnel durch den Monte Ceneri vollendet die Schweiz die neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat).
Die SP-Bundesrätin bedankte sich «bei allen», die am Werk beteiligt waren. Sie erinnerte daran, dass zwei Menschen bei den Arbeiten ihre Leben verloren haben: «Wir gedenken ihnen heute. Der Bundesrat steht ihren Familien nahe», sagte sie knapp. Nicht mal die Namen der beiden Arbeiter wurden genannt. Dafür bedankte sie sich «insbesondere bei meinen drei Vorgängern». Sie hielt es nicht für nötig, speziell den Tunnelarbeiter*innen zu danken, die täglich tief im Berg drinnen ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben.
Keinen Kilometer neben der Bundesrätin spricht Fouad Zerroudi an der Demo des POP, die von der gesamten Tessiner Linke unterstützt wurde. «Ich bin stolz, an diesem Bauwerk gearbeitet zu haben. Sie haben uns aber wie Sklaven arbeiten lassen. Und als die Arbeiten beendet waren, haben sie von uns Geld zurückverlangt, weil wir angeblich zu viel verdient hatten. Wir fordern einen fairen Prozess, an dem wir unsere Beweise vorlegen können. Wir wollen Gerechtigkeit», sagt Zerroudi entschlossen.
Beim Ceneri-Tunnel ist der Bund mit seiner SBB-Tochterfirma Alptransit AG (ATG) der Bauherr. Zuschlag für die Durchführung der Arbeiten bekam die Firma Generali Costruzioni Ferroviarie (GCF) aus Italien. Fouad Zerroudi war der erste Arbeiter der GCF, der vor zwei Jahren den Mut aufbrachte, sich gegen die unhaltbaren Arbeitsbedingungen zu wehren. Er reichte Klage gegen die Firma ein. «Schichten von 12 Stunden waren die Regel», erklärt Zerroudi dem vorwärts, «oft mussten wir auch zwei Schichten lang durcharbeiten, also 16 Stunden am Tag». Zeit für Pause gab es kaum: «Sie brachten uns ein Sandwich, das wir dann im Stehen essen konnten», berichtet Fouad weiter. Gearbeitet wurde auch an Feiertagen, an denen die Leit- und Kontrollstelle nicht besetzt war.

Träge Staatsanwaltschaft
Unter den rund 90 Arbeiter*innen waren viele in Italien lebende Migrant*innen aus Albanien. Einige von ihnen sagten aus, dass sie einen Teil ihres ohnehin schon geringen Lohnes dem Arbeitgeber zurückzahlen mussten. Konkret: Wenige Tage nach Auszahlung des Gehalts stand der von der Firma GCF geschickte Geldeintreiber vor der Türe und die Arbeiter*innen mussten cash einen Teil des Lohns wieder abdrücken. Ist kaum zu glauben, aber wahr.
Auf die Klage von Fouad Zerroudi folgten Weitere von gut einem Dutzend Arbeiter*innen, die sich mit der ersten deckten. Trotzdem geschah lange nichts. Sieben Monate dauerte es, bis die Staatsanwaltschaft die ersten Zeug*innen befragte. Und dies geschah erst, nachdem das Tessiner Staatsfernsehen RTSI in einer Dokumentation die skandalösen Arbeitsbedingungen öffentlich gemacht hatte und die Presse in der ganzen Schweiz nachzog. Es dauerte dann weitere zwei Monate, bis der zuständige Staatsanwalt Untersuchungen vor Ort durchführte. Das äusserst zögerliche Vorgehen der Staatsanwaltschaft wirft Fragen auf, auch weil die Machenschaften der GCF bekannt waren. So musste die weltweit tätige Firma in Dänemark nach einem Seilziehen mit den Gewerkschaften eine Abfindung von zwei Millionen Euro für die Arbeiter*innen bezahlen. Auch in der Schweiz ist von mehreren Millionen Franken auszugehen, um welche die GCF ihre Arbeiter*innen betrogen hat, wie der vorwärts von verschiedenen gut informierten Quellen erfahren hat.

Es gibt nichts zu verhandeln
«Wir wollen mit unserer Demonstration vor Ort die Tessiner Justizbehörden dazu zu bewegen, die Untersuchung mit Entschlossenheit fortzusetzen», erklärt Leonard Schmid, POP-Genosse und Funktionär bei der Gewerkschaft Unia, dem vorwärts. Schmid begleitete die Arbeiter*innen seit Beginn ihres Kampfes. «Wir sind wütend und enttäuscht, dass zwei Jahre nach dem Einreichen der Klagen noch keine Gerichtsverhandlungen stattgefunden haben.» Und er fügt hinzu: «Langsam, aber sicher habe ich das Gefühl, dass die Staatsanwaltschaft die Arbeiter*innen zu Verhandlungen mit der GCF drängen will, um eine Abfindung auszuhandeln und so die ganze Sache abzuschliessen. Aber da gibt es nichts zu verhandeln!»
Und so ist der aktuelle Stand der Dinge Folgender: Während die Arbeiter*innen nach wie vor auf Gerechtigkeit warten, erhält die GCF weiterhin fette Aufträge der öffentlichen Hand: In Lausanne den Bau des Tunnels der U-Bahn-Linie Lausanne–Echallens–Bercher und mit der SBB hat die GCF einen Vertrag für Wartungsarbeiten für die Dauer von zehn Jahren im Wert von 20 Millionen Franken. Vielleicht sollte sich die SP-Bundesrätin Sommaruga dazu mal Gedanken machen, anstatt sich darüber zu freuen, dass man jetzt von Bellinzona nach Lugano mit dem Zug nur noch 15 Minuten braucht.

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