Klassenjustiz und «Moskau einfach»

Für das Kleistern dieser Plakate in Winterthur forderte die Staatsanwaltschaft ein Jahr Haft. Bild: zVg

Edgar Grylewicz. Im sogenannten «Kleisterprozess» rund um die Plakatkampagne des Revolutionären Jugendbündnis Winterthur (RJBW) zeigt der bürgerliche Staat, welche Längen er bereit zu gehen ist, um linken Aktivismus zu kriminalisieren. Aber das Vorhaben, junge Aktivist:innen abzuschrecken und zu entmutigen, misslang.

Januar 2021, wir befinden uns im zweiten (was die Massnahmen angeht, sehr milden) Lockdown in der Corona-Pandemie. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten wir schon einiges schlucken: Tage, an denen in den Intensivpflegestationen bis zu 120 Personen sterben, Hunderttausende, die in einer ökonomischen Schieflage geraten sind und von der Politik schlicht vergessen werden.
Millionen Vulnerable, Pflegekräfte, Verkäufer:innen und sonstige essential workers, die vom bürgerlichen Staat de facto vor den Bus gestossen und verheizt werden, um auch ja keine Massnahmen beschliessen zu müssen, die die Wirtschaftsspitzen noch doof finden könnten.

20 Stunden in Haft
Die lauteste Kritik an der Pandemiepolitik des Bundes kommt in diesen Tagen von rechts. Die parlamentarische Linke trägt die gescheiterte Gesundheitspolitik ihres inzwischen auch in Schieflage geratenen Bundesrats Alain Berset derweil widerspruchslos mit. In diesen Tagen tauchten in Winterthur plötzlich Dutzende Plakate auf, die eben jene fatale Pandemiepolitik von links anprangerten. Die Polizei brauchte nicht lange, um die vermeintlichen Verantwortlichen auszumachen. In einer Aktion in einer Nacht immer noch im Januar werden sechs junge Genoss:innen und Freund:innen verhaftet. 20 Stunden werden sie in Haft gehalten. Die Verhafteten berichteten gegenüber der Wochenzeitung (WoZ) von «kafkaesken» Szenen. Man habe sie wie Schwerverbrecher:innen behandelt. Mehrere Stunden seien sie an einer Eisenstange im Gang angekettet worden, weil in der Winterthurer Polizeiwache nicht genug Einzelzellen zur Verfügung gestanden seien. Und als man sie endlich freilässt, werden sie in Zürich mit den pantoffelartigen Crocs, Trainerhosen und ohne ihre Jacken bei drei Grad Celsius auf die Strasse gestellt.

Fremde Vögte
Für die jungen Engagierten ist die Verhaftung nur die erste Station auf einem langen Weg, der zu ihrer Verurteilung am 1.Februar 2023 führen sollte. Eine Verurteilung, die nach einem langwierigen Gerichtsstandverfahren – noch mehr Kafka – in Basel verhandelt wurde. Der Grund ist, dass gegen eine der Angeklagten bereits in anderer Sache in Basel Anklage erhoben worden war. Doch eigentlich wollte auch Basel den Fall nicht verhandeln, wie Recherchen der Woz zeigten. Das Bundesstrafgericht musste ein Machtwort sprechen, der Fall kam letztlich ans Rheinknie. Dass die Angeklagten aus Winterthur kamen, die Plakate in Winterthur geklebt worden waren, spielte alles keine Rolle. Die mit Pathos vorgetragene schweizerische Nationalerzählung vom Kampf gegen fremde Vögte bekommt rasch einen Knick, wenn es um die eigene Strafverfolgung linkspolitischer Aktivist:innen geht. Angesichts der besonders repressiven Linie der Basler Behörden gegenüber Linken, die man schon während des Prozesses zu Basel Nazifrei beobachten konnte, ein Nachteil für die Angeklagten. Diesen Eindruck bestätigt auch Arthur aus dem Solikomitee für die Angeklagten des Kleisterprozesses: «Der Prozess war eine Farce – es handelte sich um eine Anklage ohne Beweisführung.» Richter und Staatsanwaltschaft hät-ten auf Basis von politischen Einschätzungen argumentiert. «Die Unschuldsvermutung wurde de facto ausgehebelt!», führt Arthur weiter aus. Und tatsächlich: Die Staatsanwaltschaft versuchte Artikel und politische Dokumente als Beweismittel in den Prozess einzubringen, sprich die politische Feindschaft des RJBW gegenüber dem bürgerlichen Staat zu nutzen, um die Angeklagten zu belasten. Solidarische Beobachter:innen des Prozesses berichten gar davon, dass die Staatsanwältin gegenüber den Angeklagten meinte, dass «sie ja gehen können», wenn sie solche Mühe mit der bürgerlichen Ordnung hätten. Eine Angeklagte quittierte diese Phrasendrescherei nach schlechtester Manier des Kalten Krieges vonseiten der Staatsanwaltschaft mit einem T-Shirt, das sie am letzten Prozesstag trug, auf dem «Moskau einfach» zu lesen war.

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