Fussball und Solidarität – ein Widerspruch?

12_bukanerosPraktisch immer bleibt der Fussballclub Rayo Vallecano im Schatten von Real und Atlético, den beiden grossen Clubs der spanischen Hauptstadt. Doch nun steht der fest im ArbeiterInnenstadtteil Vallecas verankerte Club weltweit im Rampenlicht, denn er schaut den Zwangsräumungen von Wohnungen in seinem Quartier nicht mehr tatenlos zu. Solidarität und -sozialen Verantwortung gehören zum Erbgut des Clubs.

 

Es war kein speziell schönes oder komisches Tor, es war auch kein Sieg im Derby gegen Real oder Atlético, das den spanischen Erstliga-Club Rayo Vallecano aus dem Arbeiterviertel Madrids weltweit aus dem Schatten der beiden grossen und reichen Clubs der Hauptstadt führte. Viel mehr war es etwas, das man mit Geld nicht kaufen kann: Die Solidarität! «Es war die grösste Pressekonferenz in der neueren Geschichte des Clubs», sagte der Trainer Paco Jémez. Am Anlass nahmen 15 TV-Sender teil, darunter auch solche aus Deutschland, Italien und Mexiko. Ein Sender übertrug sogar live. Hinzu kamen viele Radiostationen, Zeitungen und Fotografen. Eigentlich wollte der Club keinen Medienrummel auslösen, doch musste er zwei Tage nach der Pressekonferenz zugeben, dass er von den Reaktionen fast überfordert wurde. Der Grund dafür ist beeindruckend und zwar nicht nur für die Fussballwelt: Trainer, Spieler und Verein wollen nicht länger tatenlos zuschauen, wenn Menschen aus ihrer Wohnung geschmissen werden. Vor allem dann nicht mehr, wenn eine 85jährige Anhängerin im Stadtteil Vallecas auf die Strasse gesetzt wird. Stadtteil, dem der Club seinen Namen verdankt und zutiefst mit ihm verbunden ist. Carmen Martínez Ayuso wurde trotz massiven Protesten der Bevölkerung Ende November von der Polizei auf die Strasse gesetzt. Eine Ersatzwohnung wurde der alten Frau nicht angeboten. 50 Jahre lang hatte sie in ihrer Wohnung gelebt. Diese wurde geräumt, da sie für einen Kredit ihres Sohns über 40’000 Euro gebürgt hatte. Das hatte sie nicht verstanden. «Ich kann weder lesen noch schreiben und habe die Unterlagen einfach unterzeichnet, um meinem Sohn zu helfen», erklärte die verzweifelte Frau. Mit überhöhten Zinsen eines «Kredithais» und den Verfahrungskosten stiegen die Schulden des Sohns auf über 77 000 Euro an.

Klassenstolz und die Stimme des Bewusstseins

Die unmenschliche Behandlung konnte den Club nicht kalt lassen. Der Rayo sprang sofort dafür ein, wozu eigentlich der Staat verantwortlich sein sollte. «Wir werden nicht zuschauen und der Frau helfen», sagte der Trainer an der Pressekonferenz. Und er versprach: «Nicht ich alleine, sondern der gesamte Trainerstab, die Spieler, der Verein werden dafür sorgen, dass Carmen bis zu ihr Lebensende eine Miete zahlen, ein würdiges Leben führen kann und sich nicht einsam fühlen wird.» Zwangsräumungen gehören in Spanien mittlerweile zur täglichen «Normalität». Dies obwohl die Verfassung im Artikel 47 «das Recht auf eine menschenwürdige und angemessene Wohnung» garantiert. Manuel San Pastor, der Anwalt der «Plattform der Hypothekengeschädigten» (PAH), spricht von einer «Politik des Sozialterrorismus», denn die Stadt versilbere ihre Sozialwohnungen an «Geierfonds». Ein Drittel stünde leer, «während tausende geräumte Familien kein Angebot erhalten», erklärt San Pastor. Nach dem Eingreifen des Clubs hat die Stadt der alten Rayo-Anhängerin eine Sozialwohnung angeboten. Angebot, das laut Verfassung vor der Zwangsräumung hätte kommen müssen und wohl nie gekommen wäre, hätte der Verein durch seine Aktion nicht für weltweiten Wirbel gesorgt. Der Club hat nun ein Spendenkonto eingerichtet, das von Trainern, Spielern und privaten Spenden aus der Bevölkerung gefüllt wird. Hinzu kamen fünf Euro pro Eintrittskarte, die für das Heimspiel gegen Sevilla vom 7. Dezember verkauft wurden. Jémez erklärte an der Pressekonferenz: «Als bescheidener Verein sind wir einen Schritt vorwärts gegangen, weil Solidarität und soziale Verantwortung zu unserem Erbgut gehören. Wenn die Institutionen nun Carmen eine würdige Wohnung geben, werden wir mit dem gespendeten Geld anderen bedürftigen Menschen im Stadtteil helfen.»

Der Verein, seine Fans und das im Süden Madrids gelegene ArbeiterInnenviertel mit gut 300 000 EinwohnerInnen bilden eine Symbiose. «Rayo ist nicht einfach ein Fussballclub, sondern der Klassenstolz und die Stimme des Bewusstseins», meint Pedro Roiz. Sein Vater war von 1965 bis 1972 Präsident des Clubs. Roiz erklärt den Stadtteil so: «Vallecas ist die Erde der einfachen und engagierten Leute». Es sind ZuzüglerInnen aus allen Teilen Spaniens und EinwanderInnen, die sich mit «grosser Mühe ihr Brot verdienen und KämpferInnen sind. » Der Verein wurde 1924 gegründet. Er steht in der antifaschistischen und klassenkämpferischen Tradition, genauso wie seine Fans, allen voran die Ultras-Gruppe «Bukaneros». Als im November 2012 in ganz Spanien gemeinsam mit Griechenland und Portugal gegen die Kürzungspolitik und die tiefen Einschnitte in die Sozialsysteme gestreikt wurde, schlossen sich der Club und seine AnhängerInnen ganz selbstverständlich dem Kampf an. Ganz im Gegensatz dazu der Manager der königlichen von Real Madrid, Pedro Duarte. Er verbreitete per Twitter die Meinung, dass «Gewerkschaftler einer nach dem anderen an die Wand gestellt werden sollten».

Solidarität mit verhaftetem Fan

Während dem Streiktag im November 2012 wurde in ganz Spanien nur eine einzige Person verhaftet. Und es ist wohl kaum ein Zufall, dass diese Person ein Mitglied der «Bukaneros» ist. Der 21jährige Alfonso Fernández Ortega (Alfon) verhaftet, bevor er am Streikposten eintraf. Mit schwammigen Anschuldigungen wurde er fast zwei Monate in Untersuchungshaft gesteckt. «Es ist eine Inszenierung der Polizei, um ein Exempel zu statuieren», erklärte seine Mutter Elena Ortega kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin. Alfon wird der Besitz eines Rücksackes vorgeworfen, der mit Utensilien zum Bau von Molotow-Cocktails im Stadtteil gefunden wurde. Ihm drohen nun wegen «Besitz von Explosivstoffen» fünfeinhalb Jahre Knast. Beweise dafür gibt es wohl nicht. Weder wurden seine Fingerabdrücke, noch wurde bei Hausdurchsuchungen belastendes Material gefunden. Im Prozess vom 18. November erklärte Alfon, von der Polizei erpresst zu werden. Sie habe ihm mit dieser Anklage gedroht, wenn er nicht andere «Bukaneros» und Mitglieder der «Antifaschistischen Brigaden» identifiziere. Der Club, seine AnhängerInnen und das ganze Quartier haben Alfon ihre Unterstützung und Solidarität zugesichert.

Den Protest auf die (Berg-) Strassen tragen

sciopero-generaleAm 7. und 8. Juni 2015 treffen sich auf Schloss Elmau in den bayerischen Alpen die -Staats- und RegierungschefInnen Deutschlands, der USA, Japans, Grossbritanniens, Frankreichs, Italiens und Kanadas. Sie werden über Aussen- und Sicherheitspolitik, Weltwirtschaft, Klima und «Entwicklung» beratschlagen. Die G7 stehen für neoliberale Wirtschaftspolitik, für Militarisierung und Kriege, Ausbeutung, Hunger und für Abschottung gegenüber Flüchtenden. Wir betrachten die Mobilisierung gegen den G7-Gipfel als Teil vielfältiger Protestbewegungen für soziale Gerechtigkeit, für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, für Frieden und für ungeteilte Menschenrechte.

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«An die Linken Europas und der Welt»

linerarecibehonoriscausaencuyu_infodiezMuy buenas tardes a todos ustedes. Lasst mich bei dieser besonderen Begegnung der Europäischen Linken zunächst im Namen unseres Präsidenten Evo Morales, im Namen meines Landes und meines Volkes für die Einladung danken, um auf diesem so bedeutenden Kongress der Europäischen Linken eine Reihe von Gedanken und Überlegungen vorzubringen. Lasst mich offen und ehrlich sein .?.?. aber auch konstruktiv.

Was sehen wir Aussenstehenden von Europa? Wir sehen ein Europa, das dahinsiecht, ein niedergeschlagenes Europa, ein selbstversunkenes und selbstzufriedenes Europa, das bis zu einem gewissen Grad apathisch und müde ist. Ich weiss, es sind sehr hässliche und sehr harte Worte, aber so sehen wir es. Das Europa der Aufklärung, der Revolten, der Revolutionen ist Vergangenheit. Weit, sehr weit zurück liegt das Europa der grossen Universalismen, die die Welt bewegten, die die Welt bereicherten und welche die Völker in vielen Teilen der Welt anspornten, Zuversicht zu schöpfen und sich von dieser Zuversicht tragen zu lassen.

Vorbei sind die grossen intellektuellen Herausforderungen. Hinter dem, was von den Postmodernisten als das Ende der grossen Erzählungen gedeutet wurde und gedeutet wird, scheint sich angesichts der jüngsten Ereignisse nichts weiter als der gross angelegte Klüngel der Konzerne und des Finanzsystems zu verbergen.

Es ist nicht das europäische Volk, das seine Tugend, das seine Hoffnung aufgegeben hat, denn das Europa, das ich meine, das müde, das erschöpfte Europa, das selbstversunkene Europa, ist nicht das Europa der Völker – dieses wurde lediglich zum Schweigen gebracht, eingesperrt, erstickt. Das einzige Europa, das wir in der Welt sehen, ist das Europa der grossen Wirtschaftskonzerne, das neoliberale Europa, das Europa der Märkte – und nicht das Europa der Arbeit.

In Ermangelung grosser Dilemmas, grosser Perspektiven und grosser Erwartungen hört man lediglich – um es frei nach Montesquieu zu sagen – den bedauerlichen Lärm der kleinen Ambitionen und des grossen Appetits.

 

Das Wesensmerkmal

des modernen Kapitalismus

Demokratien ohne Hoffnung und ohne Glauben sind gescheiterte Demokratien. Demokratien ohne Hoffnung und ohne Glauben sind verknöcherte Demokratien. Genau genommen sind es keine Demokratien. Es gibt keine echte Demokratie, die nichts weiter als langweiliges Beiwerk verknöcherter Institutionen ist, mit denen alle drei, alle vier oder alle fünf Jahre Rituale wiederholt werden, um diejenigen zu wählen, die künftig mehr schlecht als recht über unser Schicksal entscheiden werden. Wir alle wissen, und in der Linken sind wir uns einigermassen einig darüber, wie es zu einer solchen Situation gekommen ist. Die Fachleute, Gelehrten und die politischen Debatten liefern uns eine ganze Reihe von Deutungsansätzen, warum es uns schlecht geht und wie es soweit kommen konnte. Ein erstes gemeinsames Urteil zu der Frage, wie es zu dieser Situation kommen konnte, lautet, dass nach unserem Verständnis der Kapitalismus zweifelsohne eine weltumspannende, geopolitische Dimension erreicht hat, die absolut ist. Die Welt ist nun im wahrsten Sinne eine runde Sache. Und die ganze Welt wird zu einer grossen globalen Werkstatt. Ein Radio, ein Fernseher, ein Telefon hat keinen Entstehungsort mehr, vielmehr ist die Welt als Ganzes zu seinem Entstehungsort geworden. Ein Chip wird in Mexiko hergestellt, das Design in Deutschland entworfen, der Rohstoff stammt aus Lateinamerika, die Arbeitskräfte sind Asiaten, die Verpackung kommt aus Nordamerika und der Verkauf findet global statt. Dies ist ein Wesensmerkmal des modernen Kapitalismus – daran besteht kein Zweifel – und genau hier muss man mit entsprechenden Massnahmen ansetzen.

Ein zweites Charakteristikum der letzten zwanzig Jahre ist eine Art Rückkehr zur fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation. Die Texte von Karl Marx, der den Ursprung des Kapitalismus im 16. und 17. Jahrhundert beschrieb, sind heute wieder aktuell, ja gehören ins 21. Jahrhundert. Wir erleben eine permanente ursprüngliche Akkumulation, bei der sich die Mechanismen der Sklaverei, die Mechanismen der Unterordnung, der Verunsicherung, der Fragmentierung, die auf so aussergewöhnliche Weise von Karl Marx dargestellt wurden, wiederholen. Nur dass der moderne Kapitalismus die ursprüngliche Akkumulation aktualisiert. Er aktualisiert sie, erweitert sie und dehnt sie auf neue Bereiche aus, um mehr Ressourcen und mehr Geld herauszuholen. Doch neben dieser fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation – die für die gegenwärtigen sozialen Klassen sowohl in unseren Ländern als auch weltweit kennzeichnend sein wird, weil durch sie die örtliche, das heisst die territoriale Arbeitsteilung und die globale Arbeitsteilung neu organisiert werden – erleben wir eine Art Neoakkumulation durch Enteignung. Wir erleben einen Raubtierkapitalismus, der akkumuliert, indem er oftmals auf strategischen Gebieten produziert: Wissen, Telekommunikation, Biotechnologie, Automobilindustrie. Doch in vielen unserer Länder akkumuliert er durch Enteignung, indem er nämlich die gemeinschaftlichen Sphären in Beschlag nimmt, wie etwa Artenvielfalt, Wasser, überliefertes Wissen, Wälder, natürliche Ressourcen… Hierbei handelt es sich um eine Akkumulation durch Enteignung, und zwar nicht durch Schaffung von Reichtum, sondern durch Enteignung des gemeinsamen Reichtums, der in privaten Reichtum überführt wird. Das ist die neoliberale Logik. Wenn wir den Neoliberalismus so sehr kritisieren, dann wegen seiner Verdrängungslogik und seines parasitären Charakters. Anstatt Reichtum zu schaffen, anstatt die Produktivkräfte zu entwickeln, enteignet der Neoliberalismus die kapitalistischen und nicht-kapitalistischen, kollektiven, örtlichen, ja gesellschaftlichen Produktivkräfte.

Doch auch das dritte Merkmal der modernen Wirtschaft ist nicht nur eine fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation, eine Akkumulation durch Enteignung, sondern auch durch Unterordnung: Marx würde es die reelle Unterordnung des Wissens und der Wissenschaft unter die kapitalistische Akkumulation nennen. Einige Soziologen nennen dies Wissensgesellschaft. Es besteht kein Zweifel, dass es sich hierbei um die Bereiche handelt, die für die Produktionskapazitäten der modernen Gesellschaft am mächtigsten sind und die grösste Tragweite -besitzen.

Das vierte Merkmal wiederum, das immer mehr Konflikt-? und Risikopotenzial birgt, ist der Prozess der reellen Unterordnung des Lebenssystems Erde als Ganzes, das heisst der Wechselwirkungsprozesse zwischen Mensch und Natur.

 

Was tun?? – die alte Frage Lenins

Diese vier Merkmale des modernen Kapitalismus sorgen für eine Neubestimmung der Geopolitik des Kapitals auf globaler Ebene, eine Neubestimmung der Klassenstruktur der Gesellschaften; eine Neubestimmung der Klassenstruktur und der sozialen Klassen weltweit. Da ist sicher die Verlagerung der traditionellen Arbeiterklasse, die wir im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstehen sahen, in periphere Gebiete wie Brasilien, Mexiko, China, Indien oder die Philippinen zu nennen. Aber nicht nur! Es entsteht auch in den am weitesten entwickelten Gesellschaften eine neue Art des Proletariats. Eine neue Art der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse der Höherqualifizierten: Lehrer, Forscher, Wissenschaftler, Analysten, die sich selbst nicht als Arbeiterklasse sehen, sondern sich wahrscheinlich als Kleinunternehmer begreifen, die aber im Grunde die neue soziale Struktur der Arbeiterklasse des beginnenden 21. Jahrhunderts ausmachen. Doch zugleich entsteht auf der Welt etwas, was wir als «diffuses Proletariat» bezeichnen könnten: nicht?kapitalistische Gesellschaften und Nationen, die der kapitalistischen Akkumulation förmlich untergeordnet werden. Lateinamerika, Afrika, Asien: Wir reden hier von Gesellschaften und Nationen, die im engeren Sinne nicht kapitalistisch sind, insgesamt aber in Erscheinung treten, als seien sie untergeordnet und als Formen der diffusen Proletarisierung ausgestaltet. Dies nicht allein wegen ihrer wirtschaftlichen Eigenschaften, sondern auch wegen ihres fragmentierten Charakters selbst beziehungsweise wegen der oftmals schwierigen Fragmentierung und aufgrund ihrer geographischen Streuung.

Wir haben es also nicht nur mit einer neuen Art und Weise zu tun, wie sich die kapitalistische Akkumulation ausbreitet, sondern auch mit einer Neuordnung der Klassen und des Proletariats und der nichtproletarischen Klassen auf der Welt. Die Welt von heute ist konfliktgeladener. Die Welt von heute ist stärker proletarisiert, nur dass sich die Formen der Proletarisierung von denen, die wir im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts kennenlernten, unterscheiden. Und die Proletarisierung dieses diffusen Proletariats, dieses Proletariats der Höherqualifizierten, nimmt nicht unbedingt die Gestalt von Gewerkschaften an. Das Modell Gewerkschaft hat in einigen Ländern seine zentrale Stellung verloren. Es entstehen andere Formen von Zusammenschlüssen für die Belange der Bevölkerung, der Beschäftigten und der Arbeiter. Was tun? – die alte Frage Lenins – Was sollen wir tun? Wir sind uns einig bei der Erklärung, was nicht stimmt, wir sind uns einig bei der Erklärung, was sich in der Welt verändert, doch können wir auf diese Veränderungen nicht reagieren, oder besser: Die Antworten, die wir früher hatten, sind unzureichend, denn sonst würde hier in Europa nicht die Rechte regieren. Irgendetwas fehlte in unseren Antworten und tut es auch heute noch. Irgendetwas fehlt in unseren Vorschlägen. Erlaubt mir, fünf bescheidene Anregungen vorzubringen, wie sich die Aufgaben, vor der die europäische Linke steht, gemeinsam gestalten liessen.

 

Ein neuer, gesunder

Menschenverstand

Die europäische Linke kann sich nicht damit begnügen, einen Befund zu erstellen und sich zu beklagen. Befund und Klage dienen zwar dazu, moralische Empörung zu erzeugen, und die Verbreitung der moralischen Empörung ist wichtig, aber sie erzeugen keinen Willen zur Macht. Die Klage ist kein Wille zur Macht. Sie kann die Vorstufe zum Willen zur Macht sein, aber sie ist kein Wille zur Macht. Die europäische Linke, die Linke weltweit muss angesichts dieses zerstörerischen, räuberischen, Natur und Mensch mitreissenden Strudels, der vom zeitgenössischen Kapitalismus angetriebenen wird, mit Vorschlägen oder Initiativen aufwarten. Die europäische Linke, ja die Linke in allen Teilen der Welt, muss einen neuen gesunden Menschenverstand entwickeln. Im Grunde genommen ist der politische Kampf ein Kampf um den gesunden Menschenverstand. Um die Gesamtheit von Urteilen und von Vorurteilen. Um die Frage, wie die Leute – der junge Student, die Fachkraft, die Verkäuferin, der Angestellte, der Arbeiter – auf einfache Weise die Welt ordnen. Genau das ist gesunder Menschenverstand. Die grundlegende Weltauffassung, mit der wir unser tägliches Leben ordnen. Die Art und Weise, wie wir das Gerechte und das Ungerechte, das Wünschenswerte und das Mögliche, das Unmögliche und das Wahrscheinliche bewerten. Die Linke weltweit und die europäische Linke müssen deshalb für einen neuen gesunden Menschenverstand kämpfen, der progressiv, revolutionär, universalistisch ist, der in jedem Fall aber einen neuen gesunden Menschenverstand darstellt.

 

Demokratie ist Handeln,

gemeinsames Handeln

Zweitens müssen wir uns den Begriff der Demokratie wieder ins Gedächtnis rufen. Die Linke hat immer die Fahne der Demokratie hochgehalten. Es ist unsere Fahne. Es ist die Fahne der Gerechtigkeit, der Gleichberechtigung, der Partizipation. Doch dafür müssen wir uns von der Vorstellung lösen, Demokratie sei eine rein institutionelle Tatsache. Demokratie – sind das Institutionen? Ja, das sind Institutionen, aber sie ist viel mehr als nur Institutionen. Bedeutet Demokratie, alle vier oder fünf Jahre zu wählen? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Bedeutet es, ein Parlament zu wählen? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Bedeutet es, das Prinzip des Machtwechsels einzuhalten? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Das ist das liberale, verknöcherte Verständnis von Demokratie, in dem wir manchmal stecken bleiben. Demokratie – sind das Werte? Es sind Werte, Organisationsprinzipien für die Verständigung der Welt: Toleranz, Vielfältigkeit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Es sind also Prinzipien, es sind Werte, aber es sind nicht nur Prinzipien und Werte. Es sind Institutionen, aber es sind nicht nur Institutionen. Die Demokratie ist praktisch. Demokratie ist Handeln, gemeinsames Handeln. Demokratie ist im Grunde genommen wachsende Teilhabe an der Bewirtschaftung der gemeinschaftlichen Güter, die eine Gesellschaft besitzt. Demokratie herrscht dann, wenn wir an dem, was wir Bürgerinnen gemeinsam besitzen, teilhaben. Wenn wir als Gemeingut Wasser besitzen, dann bedeutet Demokratie, an der Bewirtschaftung des Wassers teilzuhaben. Wenn wir als Gemeingut die Sprache haben, dann bedeutet Demokratie die gemeinsame Pflege der Sprache. Wenn wir als Gemeingut die Wälder, den Boden, das Wissen haben, dann bedeutet Demokratie, dass die Bewirtschaftung, die Pflege gemeinsam stattfindet. Eine wachsende gemeinsame Teilhabe an der Bewirtschaftung des Waldes, des Wassers, der Luft, der natürlichen Ressourcen. Es bedarf einer Demokratie – und es gibt sie – im lebendigen und nicht im verknöcherten Sinn des Begriffs, und dies gelingt, wenn die Bevölkerung und die Linke die gemeinsame Bewirtschaftung der gemeinsamen Ressourcen, Institutionen, Rechte und Güter unterstützen und sich an ihr beteiligen.

Die alten Sozialisten der 70er Jahre sprachen davon, dass die Demokratie an die Tore der Fabriken klopfen müsse. Das ist eine gute Idee, aber es reicht nicht aus. Sie muss an die Tore der Fabriken, die Tore der Banken, die Tore der Unternehmen, die Tore der Institutionen, die Tore zu den Ressourcen, die Tore zu all dem klopfen, was den Menschen gemeinsam gehört. Unser Delegierter aus Griechenland fragte mich zum Thema Wasser, wie wir es in Bolivien angegangen seien, diese Grundfrage, diese Überlebensfrage, Wasser! Nun, was das Wasser betrifft, ein Gemeingut, das enteignet worden war, begab sich das Volk in einen «Krieg», um so das Wasser für die Bevölkerung zurückzugewinnen, und danach gewannen wir nicht nur das Wasser zurück, sondern führten einen weiteren sozialen «Krieg» und gewannen das Gas und das Öl und die Minen und den Telekommunikationssektor zurück, wobei noch viel mehr zurückzugewinnen ist. Doch in jedem Fall war dies der Ausgangspunkt, die wachsende Beteiligung der BürgerInnen an den gemeinschaftlichen Gütern, dem Allgemeingut, das eine Gesellschaft, eine Region besitzt.

 

Das ist doch verkehrte Welt?!

An dritter Stelle muss die Linke auch wieder ihre Forderungen nach dem Universellen, den universellen Leitbildern, den gemeinschaftlichen Gütern in den Vordergrund stellen. Die Politik als Gemeingut, die Partizipation als eine Beteiligung an der Bewirtschaftung der gemeinsamen Güter. Die Wiedererlangung des Gemeinschaftlichen als Recht: das Recht auf Arbeit, das Recht auf Ruhestand, das Recht auf kostenlose Bildung, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf saubere Luft, das Recht auf den Schutz von Mutter Erde, das Recht auf den Schutz der Natur. Es sind Rechte. Aber es sind universelle Gemeingüter, angesichts derer sich die Linke, die revolutionäre Linke, überlegen muss, welche konkreten objektiven Massnahmen sie ergreift und wie sie die Menschen mobilisiert. Ich las in der Zeitung, wie in Europa öffentliche Mittel eingesetzt wurden, um private Güter zu retten. Das ist absurd. Da wurde das Geld europäischer Sparer verwendet, um den Konkurs der Banken abzuwenden. Da wurde das Gemeinschaftliche verwendet, um das Private zu retten. Das ist doch verkehrte Welt! Es muss umgekehrt sein: die privaten Güter verwenden, um das Allgemeingut zu retten und zu fördern, und nicht das Allgemeingut, um die privaten Güter zu retten. Bei den Banken muss ein Prozess der Demokratisierung und der Vergesellschaftung ihrer Verwaltung stattfinden. Denn sonst werden die Banken Euch am Schluss nicht nur die Arbeit nehmen, sondern auch Eure Wohnung, Euer Leben, Eure Hoffnung, alles .?.?., und das darf nicht zugelassen werden.

 

Wieder Hoffnung aufbauen

Dabei müssen wir aber auch – in unserem Konzept als Linke – eine neue Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und der Natur einfordern. In Bolivien nennen wir dies aufgrund unseres indigenen Erbes «neue Beziehung zwischen Mensch und Natur». Präsident Morales sagt, die Natur kann ohne den Menschen existieren, der Mensch jedoch nicht ohne die Natur. Dabei darf man jedoch nicht der Logik der «Green Economy» verfallen, die eine scheinheilige Form des Umweltschutzes darstellt. Es gibt Unternehmen, die bei Euch EuropäerInnen als Naturschützer auftreten und für saubere Luft sorgen, doch dieselben Unternehmen liefern uns, dem Amazonasgebiet, Lateinamerika oder Afrika, die ganzen Abfälle, die hier erzeugt werden. Hier sind sie UmweltschützerInnen, dort werden sie zu UmwelträuberInnenn. Die Natur haben sie in einen weiteren Geschäftszweig verwandelt. Dabei ist ein kompromissloser Schutz der Umwelt weder ein neuer Geschäftszweig noch ein neues Unternehmenskonzept. Es muss wieder ein neues Verhältnis aufgebaut werden, das zwangläufig gespannt ist. Denn für einen Reichtum, der Bedürfnisse befriedigen soll, muss die Natur verändert werden, und bei der Veränderung der Natur verändern wir ihre Existenz, verändern wir ihr BIOS. Doch mit der Veränderung des BIOS zerstören wir oftmals im Gegenzug den Menschen und auch die Natur. Den Kapitalismus stört das nicht, denn für ihn ist es ein Geschäft. Uns aber, die Linke, die Menschheit, ja die Menschheitsgeschichte stört es sehr wohl. Wir müssen uns für eine neue Art der Beziehung stark machen, die vielleicht nicht unbedingt harmonisch, aber die doch wechselseitig ist und von der beide Seiten profitieren, der natürliche Lebensraum und der Mensch, seine Arbeit, seine Bedürfnisse.

Und schliesslich müssen wir ohne Frage die heroische Dimension der Politik einfordern. Hegel sah die Politik in ihrer heroischen Dimension. Und wohl in Anlehnung an Hegel sagte Gramsci, dass in den modernen Gesellschaften die Philosophie und ein neuer Lebenshorizont sich in einen Glauben in die Gesellschaft verwandeln müssten, beziehungsweise nur als Glaube im Innern der Gesellschaft existieren könnten. Dies bedeutet, dass wir wieder Hoffnung aufbauen müssen. Dass die Linke eine flexible, immer stärker geeintere Organisationsstruktur bildet, die in der Lage ist, bei den Menschen die Hoffnung neu zu beleben. Ein neuer gesunder Menschenverstand, ein neuer Glaube – nicht im religiösen Sinne des Wortes, sondern eine neue allgemeine Zuversicht, aus der heraus die Menschen heroisch ihre Zeit, ihre Energie, ihr eigenes Reich aufs Spiel setzen und sich engagieren.

 

Vereinigen, ausgestalten, fördern

Ich begrüsse, was meine Genossin vorhin ansprach, als sie sagte, dass wir hier 30 politische Organisationen zusammengebracht haben. Das ist toll! Es ist also möglich, zusammenzufinden. Es ist also möglich, den Stillstand zu überwinden. So geschwächt wie die Linke heute in Europa ist, kann sie sich den Luxus nicht leisten, zu ihren Gefährten auf Distanz zu gehen. Vielleicht gibt es Differenzen in 10 oder 20 Punkten, dafür aber Einigkeit in 100. An diesen 100 Punkten, in denen Übereinstimmung oder eine Berührung herrscht, sollte gearbeitet werden. Heben wir uns die restlichen 20 Punkte für später auf. Wir sind zu sehr geschwächt und können uns nicht den Luxus leisten, uns weiter Scharmützel zu liefern, zu streiten und uns dabei voneinander zu distanzieren. Wir sollten auch hier wieder einer Logik Gramscis folgen: vereinigen, ausgestalten, fördern.

Man muss die Macht im Staat übernehmen, man muss für den Staat kämpfen, doch vergessen wir niemals, dass der Staat weniger eine Maschine, sondern eher eine Beziehung ist. Weniger Materie, sondern eher Idee. Der Staat ist in erster Linie Idee. Ein Teil von ihm ist Materie. Materie ist er, wenn es um soziale Beziehungen, um Stärke, um Druck, um den Haushalt, um Abkommen, um Vorschriften, um Gesetze geht. Doch in erster Linie ist er Idee im Sinne des Glaubens an eine gemeinsame Ordnung, an einen Gemeinschaftssinn. Im Grunde ist der Kampf um den Staat ein Kampf um eine neue Art und Weise, uns zu vereinen, um eine neue Universalität. Um eine Art Universalismus, der die Menschen freiwillig vereint.

Doch hierfür müssen wir zuvor Überzeugungen gewinnen. Hierfür müssen wir zuvor die GegnerInnen mit Worten, mit gesundem Menschenverstand bezwungen haben. Hierfür müssen wir zuvor die herrschenden Auffassungen der Rechten mit unseren Argumenten, unserer Weltsicht, unseren moralischen Einstellungen zu den Dingen bezwingen. Und hierfür wiederum ist sehr harte Arbeit nötig. Politik ist nicht allein eine Frage des Kräftemessens oder der Mobilisierungsfähigkeit – der Zeitpunkt dafür kommt später. Politik ist zuerst Überzeugung, Gestaltung, gesunder Menschenverstand, Glauben, eine gemeinsame Idee und gemeinsame Urteile und Vorurteile hinsichtlich der Weltordnung. Und hier kann sich die Linke nicht allein mit der Einheit der linksgerichteten Organisationen begnügen. Sie muss sich in den Bereich der Gewerkschaften ausdehnen, welche die Stütze der Arbeiterklasse und die organische Form ihres Zusammenschlusses bilden. Wir sollten jedoch auch, liebe Genossinnen und Genossen, die völlig neuen Formen der gesellschaftlichen Organisation genau im Auge behalten. Die Neuordnung der sozialen Klassen in Europa und weltweit wird zu anderen Formen von Zusammenschlüssen führen, flexibleren und weniger organischen Formen, die sich vielleicht stärker auf das Gebiet und weniger auf die Arbeitsstätte beziehen. Notwendig ist dabei alles: Zusammenschlüsse an den Arbeitsstätten, gebietsbezogene Zusammenschlüsse, Zusammenschlüsse je nach Thematik, je nach Ideologie und so weiter. Es ist eine Reihe flexibler Strukturen, denen gegenüber die Linke in der Lage sein muss, sich gestalterisch einzubringen, Vorschläge zu unterbreiten, einend zu wirken und schliesslich voranzukommen.

Lasst mich im Namen des Präsidenten und in meinem eigenen Namen Euch zu dieser besonderen Begegnung gratulieren und mit allem Respekt und in aller Freundschaft den Aufruf an Euch richten: kämpft, kämpft, kämpft! Lasst uns, die anderen Völker, die an manchen Orten wie in Syrien, teils in Spanien, in Venezuela, in Ecuador, in Bolivien, auf sich gestellt kämpfen, nicht allein. Lasst uns nicht allein, wir brauchen Euch, und erst recht ein Europa, das nicht nur aus der Ferne sieht, was in anderen Teilen der Welt vor sich geht, sondern ein Europa, das wieder von Neuem beginnt, die Geschicke des Kontinents und die Geschicke der Welt mitzubestimmen.

Meine Glückwünsche und herzlichen Dank!

 

Kein Kurswechsel nach der EU-Wahl

meine_wahl2014Das Gesamtergebnis der EU-Wahl 2014 lässt sich nach den Anfang dieser Woche vom EU?Parlament bekanntgegebenen Zahlen in drei Haupttrends zusammenfassen:

  1. Die etablierten Parteien, die bisher den EU-Kurs des neoliberalen Sparzwangs und des Sozialabbaus durchgesetzt haben, verlieren zwar an Stimmen, aber die Absage der WählerInnen an diese Parteien reicht nicht aus, um eine spürbare Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse zu erreichen. Sowohl die Rechtskonservativen wie die Sozialdemokraten, aber auch Liberale und Grüne haben weniger Stimmen und Mandate als 2009. Die «Europäische Volkspartei» (EVP) und die sozialdemokratische Fraktion S&D («Sozialisten und Demokraten») stellen aber dennoch weiterhin die stärksten Fraktionen im EU?Parlament.
  2. Der vorhergesagte und in den vorherrschenden Medien oft geradezu herbeigeredete «Durchbruch» rechtsextremistischer, ausländerfeindlicher und rassistischer Parteien ist in der Tat besorgniserregend. Nicht nur in Frankreich und Grossbritannien, sondern auch in mindestens neun weiteren EU?Staaten.
  3. Die Wahlergebnisse der linken Parteien und Bündnisse, linkssozialistischer wie kommunistischer Prägung, weisen in mehreren Ländern erfreuliche Verbesserungen auf, was sich auch in einer vergrösserten Linksfraktion im EU?Parlament niederschlägt. Aber die Tendenz ist uneinheitlich. In einigen Ländern sind auch Stimmenrückgänge zu verzeichnen. Insgesamt bleibt das Ergebnis der Linken hinter den Erwartungen und Vorhersagen, vor allem aber hinter dem für die Durchsetzung eines anderen politischen Kurses notwendigen Gewicht zurück.

Linksparteien mit verbesserten, aber insgesamt unbefriedigenden Ergebnissen

Die Fraktion der «Vereinigen Linken» im künftigen EU-Parlament wuchs von 35 (2009) auf 42 Abgeordnete. So erfreulich dies ist, verbergen sich dahinter doch ganz unterschiedliche Ergebnisse in den einzelnen Ländern.

Der grösste Zuwachs ergab sich in Griechenland, wo das Linksbündnis «Syriza» von 4,7 auf 26,6 Prozent anwuchs und damit stärkste Partei im Land wurde. Sie erreichte 6 Mandate im EU?Parlament (statt bisher 1). Die in scharfer Konkurrenz zu Syriza kandidierende KKE errang mit knapp 6,1 Prozent zwei weitere EU-Mandate (wie bisher, bei der EU-Wahl 2009 hatte die KKE allerdings 8,35 Prozent erreicht).

Stimmen- und Mandatszuwächse für Linke ergaben sich auch in Irland (Sinn Fein 17 Prozent, 3 Mandate, 2 mehr als bisher), Portugal (12,7 Prozent, 3 Mandate für das von der PCE initiierte Bündnis CDU, und gleichzeitig bei deutlichem Stimmenverlust 4,6 Prozent für den konkurrierenden «Linksblock» (BE) – 1 Mandat statt bisher 3) und Spanien (Vereinigte Linke 9,99 Prozent, 5 Mandate, 4 mehr als bisher).

In Frankreich erreichte die «Linksfront» nur einen Stimmenzuwachs von 0,34 Prozent (von 6,0 auf 6,34 Prozent, was einen Rückgang der Mandatszahl von 5 auf 4 zur Folge hatte.) In den Niederlanden konnte die linkssozialistische «Sozialistische Partei» (SP) von 7,1 auf 9,6 Prozent zulegen und erreichte damit 2 Mandate. Stimmenzuwächse für linke Parteien gab es auch in Finnland (von 5,9 auf 9,3 Prozent, 1 Mandat), Dänemark (von 7 auf 8 Prozent, 1 Mandat), und Italien (von 3,4 auf 4 Prozent, 3 Mandat). In Belgien steigerte die «Partei der Arbeit» (PTB) bei der EU-Wahl ihr Ergebnis von 1 auf 3,6 Prozent, was aber für einen Mandatsgewinn nicht ausreichte. Immerhin konnte die PTB aber bei den gleichzeitig stattfindenden nationalen Parlamentswahlen und Regionalwahlen erstmals zwei Mandate im gesamtbelgischen föderativen Parlament und 2 oder 3 Sitze im Regionalparlament von Brüssel erreichen.

Den Zugewinnen stehen jedoch auch Stimmenverluste gegenüber. So ging die Stimmenzahl für AKEL auf Zypern von 34,9 auf 26,9 Prozent zurück, was sich allerdings in der Zahl der EU?Abgeordneten (2 wie bisher) nicht auswirkte. In Tschechien ging die Stimmenzahl der KS?M von 14,2 auf knapp 11 Prozent zurück (nur 3 statt bisher 4 Mandate im EU-Parlament).

Insgesamt ist es den linken Parteien offenbar nicht in dem wünschenswerten und vor allem für die Durchsetzung einer anderen Politik notwendigen Ausmass gelungen, sich den von der bisherigen EU?Politik enttäuschten und von den etablierten Parteien abwendenden WählerInnen als sinnvolle und glaubwürdige Alternative darzustellen. Es wird sicher noch gründlich untersucht und diskutiert werden müssen, wo dafür die objektiven und subjektiven Ursachen liegen und was dafür verantwortlich ist, dass sich die unzufriedenen Menschen nicht in weit stärkerem Mass den Linken zuwenden.

Absage an den bisherigen EU?Kurs

Die rechtskonservative EVP kam zwar auf 213 Mandate (bei insgesamt 751 Abgeordneten), verlor aber 61 Sitze. Die Sozialdemokraten erreichten 190 Mandate, verloren 6 Sitze. Die Liberalen (ALDE) erhielten 64 Sitze, 19 weniger als 2009. Das Wahlergebnis der Grünen ist wechselhaft; beachtlichen Gewinnen in einigen Ländern (Österreich) stehen grosse Verluste in anderen (Frankreich) gegenüber. Insgesamt kommen die Grünen auf 53 Sitze, 4 weniger als 2009.

Auch die in manchen EU-Staaten leicht gestiegene Wahlbeteiligung kann nicht als Zustimmung zum bisherigen EU?Kurs gewertet werden. Auf EU-Gesamtebene stagnierte die Beteiligung bei 43 Prozent. Das heisst, mehr als jeder zweite Wahlberechtige brachte seinen Missmut über die etablierte Politik dadurch zum Ausdruck, dass er nicht hinging. In der Slowakei fiel die Wahlbeteiligung auf das Rekordtief von 13 Prozent, in Tschechien, Slowenien, Polen, Kroatien und Ungarn lag sie gleichfalls noch unter 30 Prozent.

Das Hauptergebnis dieser Wahlen ist also unbestreitbar eine drastisch schwindende Zustimmung zu den bisher in der EU-Politik tonangebenden Parteien.

Dessen ungeachtet hat hinter den Kulissen nun bereits ein heftiger Posten- und Koalitionsschacher begonnen, da weder Juncker noch Schulz mit ihren Parteiformationen allein im EU-Parlament über die erforderliche Mehrheit verfügen, um zum künftigen EU?Kommissionschef gewählt zu werden. Kanzlerin Merkel hat sich für eine Vereinbarung mit den Sozialdemokraten über ein «Personalpaket» ausgesprochen, das mehrere EU?Spitzenposten einbezieht. Es dürfte also mit grösster Wahrscheinlichkeit zur Fortsetzung der «grossen Koalition» in der EU kommen, die auch bisher schon in der EU?Kommission bestanden hat.

Eigentlich ist es ziemlich unwichtig, wie dieser «Kompromiss» am Ende aussehen. Denn sowohl die EVP wie die Sozialdemokraten stehen für die im Wesentlichen unveränderte Fortsetzung des bisherigen neoliberalen Zwangsparkurses, die Deregulierung der Arbeitsmärkte und des Tarifvertragssystems und die Ausweitung des Niedriglohnsektors, für den Ausbau der Macht der EU-Zentralen über die Mitgliedsstaaten und für den Ausbau der EU zu einer global agierenden und in Kriege verwickelten EU?Militärmacht.

Es wird somit weiterhin entscheidend auf die Entwicklung des ausserparlamentarischen Widerstands gegen diese Politik ankommen.

 

Der gefährliche Vormarsch der Rechtsextremisten

Die alarmierenden Ergebnisse der rechtsextremistischen Parteien können dazu führen, dass sie im künftigen EU?Parlament mit mehr als hundert Abgeordneten den drittstärksten Block darstellen, auch wenn sich bezeichnet, dass sie sich infolge verschiedenartiger Differenzen wahrscheinlich nicht zu einer einzigen Fraktion zusammenschliessen, sondern möglicherweise mit zwei Fraktionen auftreten werden, zusätzlich zu einer ganzen Reihe von «fraktionslosen» Abgeordneten, die sich keiner der bestehenden Fraktionen anschliessen.

Die grössten Erfolge verzeichneten die Rechtsextremisten in Grossbritannien mit der «Unabhängigkeitspartei» (UKIP 26,8 Prozent), in Dänemark mit der «Dänischen Volkspartei» (DF 26,6 Prozent), in Frankreich mit dem «Front National» (FN) unter Marine Le Pen (24,95 Prozent) und in Belgien mit der «Neuen Flämischen Allianz» (N-VA 16,35 Prozent), die alle vier bei dieser Wahl in ihrem Land jeweils stärkste Partei wurden. Die antisemitische «Jobbik» in Ungarn erreichte 14,7 Prozent, und dies neben der gleichfalls rechtsextremen FISESZ-Partei von Regierungschef Orban, die 51,5 Prozent für sich gewinnen konnte. Die österreichische FPÖ kam auf 19,7  Prozent, ebenso wie die «wahren Finnen» (19,7 Prozent). Die «Freiheitspartei» (PVV) des niederländischen Rechtsextremist Bill Wilders kam auf 13,2 Prozent, trotz eines gewaltigen Stimmenverlusts gegenüber vorhergehenden Wahlen. Die «Schwedendemokraten» (SD) erreichten 9,7 Prozent und die griechische «Goldene Morgenröte» als drittstärkste Partei des Landes 9,4 Prozent.

Zweifellos sind diese Ergebnisse auf dem Boden des Unmuts und der Unzufriedenheit mit der bisherigen EU?Politik gewachsen. Es gelang den Rechtsextremisten offensichtlich, sich in erheblichen Teilen der Wählerschaft mit ihrer sozialen und nationalistischen Demagogie als die wahren Volks- und Arbeitervertreter gegen «die da oben» darzustellen und Enttäuschte und Empörte mit falschen Feindbildern, ausländer- und immigrationsfeindlichen Parolen von den wahren Verursachern ihrer Nöte abzulenken. In einer Stellungnahme der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) wurde sicher nicht zu Unrecht erklärt: «Wenn die Rechte und die Rechtsextremen vorn liegen, ist damit vor allem die Regierungsmehrheit (unter dem sozialdemokratischen Staatschef Hollande wegen ihrer nicht eingehaltenen linken Wahlversprechen, GP) sanktioniert worden».

Ukraine und der 8.Mai

AachenerNachrichten588

 

Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus! Stellungnahme der Partei der Arbeit der Schweiz.

In der Ukraine machen die faschistischen Banden des «Rechten Sektors» vor nichts halt: Am Freitag, 3. Mai, brannten die Neonazis  in Odessa zuerst ein Camp von RegierungsgegnerInnen nieder und dann wurde ein Gewerkschaftshaus abgefackelt. Mehr als 40 Menschen kamen in den Flammen ums Leben.Die meisten Toten sind Mitglieder von Organisationen der Linken, der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) und «Borotba». «Borotba» ist im Mai 2011 von verschiedenen politischen Gruppen unter anderem der Organisation der MarxistInnen der Ukraine, einem Teil der Kommunistischen Jugend der Ukraine, der Bewegung der Jugend gegen den Kapitalismus, der Jugendvereinigung Che Guevara gegründet worden. Die Partei der Arbeit der Schweiz spricht den Familien und Organisationen der Opfer ihr Beileid und ihre Solidarität aus.

Die ukrainische Polizei machte nicht einmal den Versuch, die Rechtsradikalen aufzuhalten und den Massenmord zu verhindern. Der von der Kiewer Junta eingesetzte Gouverneur lobt die Brandstifter: «Sie haben Terroristen neutralisiert.» Die Zunahme faschistischer Gewalt in der Ukraine droht das Land direkt in den Bürgerkrieg zu führen. Faschistische Gewalt, die von der Regierung in Kiew offensichtlich unterstützt wird. Regierung, welche die volle Unterstützung der EU und der USA geniesst.

Am 8. Mai 1945 endete in Europa der Horror des Zweiten Weltkriegs. Dieser Tag wird daher in vielen Ländern  traditionell als Tag der Befreiung vom Faschismus begangen. Der 8.Mai ermahnt auch uns in der Schweiz, nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus zuzulassen. In dieser felsenfesten Überzeugung und in diesem Sinne fordern wir den Bundesrat und alle demokratischen Parteien in der Schweiz auf, den faschistischen Terroranschlag in Odessa zu verurteilen – so wie es die Partei der Arbeit hiermit tut.

Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus!

Partei der Arbeit der Schweiz

 

Wer regiert die Welt?

Freihandelsabkommen_webSeit Mitte 2013 laufen hinter verschlossenen Türen Verhandlungen, die ein konkretes Ziel haben?: Die Wirtschafts-NATO soll entstehen. Ein Monster, das die ganze Welt regieren und beeinflussen soll. Kräftig vorangetrieben wird das Vorhaben von Banken und Grosskonzernen, um sämtliche Bereiche der ­Wirtschaft rund um den Globus zu liberalisieren und privatisieren. Doch ­Widerstand formiert sich – auch in der Schweiz?!

Wer regiert die Welt? Die Antwort ist einfacher, als sie auf den ersten Augenblick erscheinen mag. Karl Marx schrieb vor über hundert Jahren: «Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet.» Ein Ausdruck dieser kosmopolitischen Gestaltung, heute Globalisierung genannt, ist das «Transatlantic Trade and Investment Partnership» (TTIP). Dieses transatlantische Handels- und Investitionsabkommen soll die Privilegien von Konzernen und Investoren absichern und sogar noch ausweiten. Die Verhandlungen begannen im Juli 2013 in Washington mit der erklärten Absicht, in zwei Jahren ein Abkommen zu unterzeichnen, das eine transatlantische Freihandelszone «Transatlantic Free Trade Area» (Tafta) besiegelt, eine Art Wirtschafts-NATO. Eine neue Weltmacht, die von Lori Wallach, der Chefin der grössten Verbraucher-Schutzorganisation der Welt «Public Citizen», als «die grosse Unterwerfung unter die Interessen von Grosskonzernen» und als «Staatsstreich in Zeitlupe» bezeichnet wurde.

Geheime Verhandlungen

Es sind die Grosskonzerne und Banken, welche, selbstverständlich in ihren Interessen, die TTIP-Verhandlungen kräftig vorantreiben. Konkret sieht dies so aus: Die «Bank of America» und die «CitiGroup» zahlten Millionen-Boni an die von Mr. Yes-we-can Obama eingesetzten Unterhändler zum TTIP, Stefan M. Selig und Michael Froman. Eine zentrale Rolle spielt zudem das Büro des «Handelsvertreters der Vereinigten Staaten» (USTR). Daniel Mullaney, ein Diplomat des USTR, leitet die TTIP-Gespräche. Islam Siddiqui, der «Chefunterhändler für Landwirtschaft», war einst Lobbyist für «Croplife», den Verband der Saatgut-Konzerne. Melissa Agustin, ehemalige Direktorin für Landwirtschaft des USTR, ist heute registrierte Lobbyistin für «Monsanto», den weltgrössten Genmanipulierer. Sean Darragh arbeitet für den Verband der Lebensmittelproduzenten «GMA», in der die Agrarkonzerne «Monsanto» oder «Bayer CropScience» Mitglieder sind. Braucht es weitere Beispiele um zu verstehen, welche Interessen da im Vordergrund stehen? Die Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt. Kein einziges Parlament dieser Welt hat je etwas Offizielles über den Inhalt gesehen. Zugang zu den Dokumenten und ganz direkt zu den EntscheidungsträgerInnen haben nur 600 offizielle BeraterInnen der Grosskonzerne, in dessen Auftrag die Verträge ausgehandelt werden. Warum die Öffentlichkeit wie das Weihwasser vom Teufel gemieden wird, erklärte in einem Anfall von Ehrlichkeit der im Juni 2013 zurückgetretene US-Handelsminister Ron Kirk: «In einem früheren Fall ist der Entwurf für ein umfassendes Handelsabkommen publiziert worden, und deshalb sei es am Ende gescheitert.» Kirk bezog sich auf den ersten Anlauf zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta, dessen Text 2001 auf die Website der Regierung gestellt worden war und so eine Welle an Proteste und Widerstand auslöste.

Bei jeder Schweinerei ist die Schweiz mit dabei

Und die Schweiz? Sie ist an vorderste Front mit dabei – wie könnte es anders sein! Bestes Beispiel dafür sind die Verhandlungen – selbstverständlich auch diese unter dem Sigel «Top Secret» – für das TiSA. Diese Abkürzung steht für «Trade in Services Agreement» und ist nichts anderes als «Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen», an dem neben der EU, die ihrerseits 28 Länder umfasst, 20 Länder unter der Führung der USA und der EU beteiligt sind. Ziel ist die völlige Liberalisierung in möglichst vielen Sektoren wie Bildung, Wasser, Energiebereitstellung, Finanzdienstleistungen, Bau und Einzelhandel. Wie von «Public Services International» (PSI), einem Gewerkschaftsdachverband in mehr als 140 Ländern, zu erfahren ist, könnten «90 Prozent aller existierenden Dienstleistungen in das Abkommen aufgenommen werden». Das würde bedeuten, dass sämtliche Wirtschaftsaspekte einer Gesellschaft dereguliert und für den internationalen Wettbewerb geöffnet würden. Besonders im Fokus stehen jedoch die Bereiche Bildung und Gesundheit. In der Schweiz sind in den beiden Sektoren um die 500?000 Arbeitsplätze betroffen.

Wir haben die Wahl

Doch – und das ist die gute Nachricht – formiert sich weltweit Widerstand gegen die neue Weltmacht. In Vertretung von Hunderten Millionen von Mitgliedern haben rund 350 internationale zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief die Länder, die über das TiSA verhandeln, zur Aufgabe ihres Vorhabens aufgefordert. Im Schreiben wird festgehalten, dass die Verhandlungen einer weitgehend kommerziellen Agenda folgen, um «Konzernen grössere Profite zu Lasten von Arbeitnehmern, Bauern, Verbrauchern, Umwelt und vielen anderen zu beschaffen». Europaweit wurde eine Kampagne lanciert, die bis zu den europäischen Parlamentswahlen vom 25. Mai dauern wird. Und in der Schweiz hat sich Mitte März das Komitee «Stopp TiSA» gegründet. Als erste Aktion wurde eine Petition lanciert (Siehe dazu Seite 10). Ziel ist ein möglichst breiter Widerstand gegen das TiSA und somit auch das Aufzeigen der Gefahren, die sich hinter TiSA und all den anderen geplanten Abkommen verbergen. Wir haben die Wahl: Gemeinsamer Widerstand zu leisten oder beherrscht zu werden von einem Wirtschafts-Monster.

Die Lektion der kubanischen ÄrztInnen

arzte_kuba«Die kubanischen Ärztinnen sehen wie Hausmädchen aus.» Mit dieser Aussage gab eine rechte brasilianische Journalistin der gegenwärtigen Welle von Intoleranz und rassistischer Diskriminierung Ausdruck und sprach, unbemerkt, Kuba damit ein bedeutungsvolles Lob aus.

Angesichts der prekären medizinischen Versorgung schloss die brasilianische Regierung, nachdem sie vergeblich die brasilianischen ÄrztInnen zu motivieren versucht hatte, Stellen in unterversorgten Regionen anzunehmen, mit Kuba ein Abkommen. Damit will sie Ärztinnen und Ärzte dieses Landes, welches unbestrittenermassen eines der besten, wenn nicht das beste sozialmedizinische System hat, nach Brasilien holen. Diese Einschätzung stützt sich auf die guten Gesundheitsindikatoren, von der Säuglingssterblichkeit bis zur Lebenserwartung, welche im Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung einzigartig sind. Dieses Abkommen, welches einfach als eines mehr in der Reihe der zahlreichen anderen zwischen Brasilien und Kuba unterzeichneten hätte betrachtet werden können, rief eine Welle von Reaktionen hervor, welche auf unerwartete und erhellende Weise eine soziale Diagnostik dieser beiden Gesellschaften ermöglicht. Fangen wir bei den brasilianischen ÄrztInnen an, welche zwar in ihrer Mehrheit an den öffentlichen Universitäten – die als die besten gelten – ausgebildet werden, aber praktisch nichts der Gesellschaft zurückgeben, welche sie gratis ausgebildet hat. In der Regel eröffnen sie nach dem Abschluss ihrer Ausbildung in den bestsituierten Grossstädten ihre Praxen, um eine Kundschaft mit grosser Kaufkraft zu versorgen. Aus diesem Grund kommt die Verteilung der Krankheiten und der ÄrztInnen auf unserer Landkarte nicht zur Deckung, ja ist geradezu verkehrt: wo die Krankheiten sind, fehlen die ÄrztInnen, wo die ÄrztInnen sind, hat es nicht viele Krankheiten.

Lob für Kuba, Kritik für Brasilien

Trotz der Weigerung, die bedürftigsten Regionen des Landes zu versorgen, versuchte die Rechte zu verhindern, dass die Regierung ÄrztInnen aus anderen Ländern – nicht nur Kuba – ruft. Die Ärzteschaft kündigte an, eine Kampagne gegen die Wiederwahl der Präsidentin Dilma Roussef zu starten, im Glauben, über politische Autorität gegenüber den PatientInnen zu verfügen. Die eingangs erwähnte Aussage über die kubanischen ÄrztInnen reiht sich in dieses Szenarium ein und zeugt vom Elitarismus und der mangelnden sozialen Sensibilität vieler brasilianischer ÄrztIn­nen. Der Versuch, die kubanischen ÄrztInnen zu disqualifizieren, weil sie nicht dem Bild des männlichen und weissen Arztes aus den Hollywood-­Filmen entsprechen, sondern ganz gewöhnliche Frauen aus dem Volk sind, entpuppt sich als enormes Lob der kubanischen Gesellschaft und als Kritik der bra­si­lianischen. In Kuba ist es für Frauen einfacher Herkunft, die in Brasilien Hausmädchen wären, normal, dass sie sich zu Ärztinnen ausbilden können und ihre Solidarität mit anderen Ländern bekunden.

Eine Lektion von grosser Tragweite

Den umgedrehten Sinn der zitierten Aussage begriffen offenbar auch breite Bevölkerungskreise, welche, zu Beginn noch verunsichert, bald sehr positiv reagierten und zu 80 Prozent die Arbeit der kubanischen ÄrztInnen in Brasilien unterstützten. Denn erstmals erreichte die medizinische Versorgung breite Sektoren der Bevölkerung, vor allem aber auch Gebiete, wo sie bisher fehlte oder äusserst prekär war. Städte, wo es nie ÄrztInnen gab, wo die Menschen grosse Distanzen zurücklegen mussten, um sporadisch medizinisch versorgt zu werden, erfuhren, was das grundlegende Recht auf direkte und permanente medizinische Versorgung bedeutet. Es handelt sich hier um ein Programm des Gesundheitswesens, beinhaltet aber gleichzeitig eine politische Lektion von grosser Tragweite – was die brasilianische Rechte am meisten stört. Fachkräfte, die an öffentlichen Universitäten ausgebildet sind – in Kuba sind dies alle – müssten prioritär die Bedürfnisse der breiten Bevölkerung befriedigen, welche ja schliesslich die Steuern für die Finanzierung der öffentlichen Universitäten bezahlt und welche im allgemeinen ihre Kinder nicht an die Fakultät schicken kann, an die medizinische am seltensten.

An den realen Bedürfnissen orientieren

Brasilien macht grosse Fortschritte wie nie in seiner Geschichte im Kampf gegen Ungleichheit, Armut und Elend, ohne dass sich dies bisher in den medizinischen Ausbildungsstrukturen nieder­geschla­gen hätte. Von daher die Bedeutung der kubanischen Unterstützung, für die sich Dilma Roussef anlässlich dem Treffen der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) in Havanna bedankte. Bei dieser Gelegenheit weihte sie den ersten Teil des Tiefseehafens Mariel ein, welcher Brasilien baut und so die US-Blockade durchbricht. Die kubanischen ÄrztInnen sind besser als ein grosser Teil der brasilianischen heutzutage, dies – abgesehen von ihrer vorzüglichen Ausbildung – als Bürger (cidadãos), welche in einer Gesellschaft ausgebildet wurden, die sich nicht an einer merkantilistischen Medizin, sondern an den realen Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren. Die Anwesenheit der kubanischen ÄrztInnen erlaubt, wie kaum ein Manual politischer Erziehung, die Prinzipien kapitalistischer Gesellschaften – die Orientierung am Tauschwert und an der Nachfrage des Marktes – und diejenigen sozialistischer – die Orientierung am Gebrauchswert und an den Bedürfnissen der Menschen – zu erhellen.

Arbeitsmarktreform gegen die ArbeiterInnen

07_jobact2Der neue, junge Ministerpräsident Italiens Matteo Renzi von der Demokratischen Partei (PD) hat nach dem «Mini-Putsch» gegen seinen Vorgänger Enrico Letta keinen Moment gezögert und die ersten Reformen eingeleitet. Schon nach wenigen Wochen zeigt sich, wen die Regierung Renzi tatsächlich vertritt.

Zwei Begriffe haben die letzten Monate die politische Diskussion in Italien geprägt: «spending review» und «jobs act». Diese Begriffe sind Anglizismen, die bewusst eingesetzt werden, um die Arbeitsmarkt- und Institutionenreformen den Proletarisierten unverständlich zu machen. Gleichzeitig stellen sie auch massive Ab- und Umbaupläne dar, welche direkte Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse der ArbeiterInnen zeigen werden. In dieser Hinsicht spricht Renzi eine klare Sprache, dies muss man ihm lassen. Die Regierung Renzi schreibt sich in eine politische Kontinuität ein, die mit der ersten Wahl Berlusconis in den 1990er Jahren begonnen hat und über die TechnokratInnen-Regierung von Mario Monti (November 2011 bis April 2013) bis zur «Regierung ohne Wahlen» von Enrico Letta (April 2013 bis Februar 2014) geht. Diese vermochten es nicht, diejenigen «Reformen» einzuleiten, welche für den italienischen Kapitalismus notwendig sind, um wieder Profite zu generieren und aus der Krise zu kommen. Zu gross waren die internen Widersprüche innerhalb der Bourgeoisie und innerhalb der politischen Parteien, die sie vertreten. So konnte sich Renzi – der sich selber «il rottamatore» (der Verschrotter) nennt – als etwas «Neues» präsentieren, das die alte politische Garde ersetzt und endlich mal «handelt» und seine Ideen «durchzieht». Mit 39 Jahren ist er der jüngste Premierminister in der Geschichte Italiens, der erneut ohne Wahlen und somit im bürgerlichen Verständnis «undemokratisch» eingesetzt wurde.

«Jobs act»: Der neue Arbeitsplan

Die herrschenden Klassen Italiens haben sich auf diese «neue» Figur gestützt, um aus der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Sackgasse zu kommen und einen qualitativen Sprung zu machen. Das erste Ziel besteht darin, den Arbeitsmarkt zu restrukturieren. Die «renzianische» Arbeitsmarktreform bestehen darin, durch neue Formen von Verträgen den Zugang und den Abgang bei einer Stelle zu flexibilisieren. So werden befristete Verträge komplett liberalisiert. Diese können den ArbeiterInnen ohne Erklärung auferlegt und während drei Jahren verlängert werden. Somit haben die UnternehmerInnen die nötigen gesetzlichen Instrumente, um die Proletarisierten nach ihren kurzfristig ausgerichteten Profitbedürfnissen einzustellen oder zu entlassen. Dieser neue Status kann bis auf 20 Prozent der Belegschaft eines Unternehmens angewendet werden. Eine weitere Vertragsform, die komplett liberalisiert und der Willkür der Unternehmen überlassen wird, sind die Lehrlingsverträge. Im Prinzip ist die Idee hinter den Lehrlingsverträgen, Jugendlichen eine Berufsausbildung und anschliessend eine feste Anstellung zu garantieren. Mit der Arbeitsmarktreform von Renzi besteht nun keine Pflicht mehr für die UnternehmerInnen, zu einem bestimmten Zeitpunkt den Lehrlingsvertrag in eine unbefristete Anstellung umzuwandeln. Im Gegenteil, mit dem Argument des «lebenslangen Lernens» können die Löhne gar nach unten angepasst und die Lehrlingsverträge immer wieder erneuert werden. Vor zwanzig Jahren wurden die ersten «prekären Verträge» eingeführt und die haben – entgegen allen Versprechen der Politik – weder als Sprungbrett in besser bezahlte Jobs, noch als Einstieg in einen stabilen Arbeitsmarkt gedient. Vielmehr ist in Italien feststellbar, dass Löhne und Arbeitsbedingungen stark unter Druck stehen – und neue Stellen wurden auch kaum geschaffen. Der renzianische «jobs act» garantiert nun der italienischen Bourgeoisie eine noch prekärere und flexiblere Arbeitskraft mit immer weniger sozialen Rechten.

«Spending review»: Die öffentlichen Ausgaben reduzieren

Renzi hat zeitgleich eine Steuererleichterung von zehn Milliarden Euro angekündigt. Dies mit dem Ziel, die jährlichen Einkommen unter 15?000 Euro zu entlasten. Sein Propagandaspruch: «10 Milliarden Euro für 10 Millionen Italiener». Auch hat der französische Präsident François Holland nach dem Besuch von Matteo Renzi am 15. März 2014 erklärt: «In den Ankündigungen von Präsident Renzi und in den Entscheidungen, die ich für Frankreich getroffen habe – vor allem mit dem Pakt der Verantwortung – hat es viele Übereinstimmungen. Wir haben beide erkannt, dass wir den Arbeitsmarkt modernisieren müssen, aber auch, dass unsere Beschäftigungspolitik von allen wirtschaftlichen Akteuren getragen werden muss.» Und tatsächlich hat Renzi eine allgemeine monatliche Lohnerhöhung von 80 Euro versprochen, die über die angekündigten Steuererleichterungen generiert werden sollen. Steuererleichterungen bedeuten aber auch eine Reduktion der öffentlichen Ausgaben. Und hier setzt das «spending review» an. Das eigentliche Ziel ist die Einführung einer Schuldenbremse für die öffentlichen Ausgaben, in erster Linie für die Sozial­ausgaben. Vor allem im Gesundheitsbereich, im öffentlichen Transport, in der Bildung und in der Sozialhilfe werden Schritt für Schritt solche Mechanismen eingeführt – alles Sektoren, in denen private Unternehmen eine immer wichtigere Rolle spielen, was zu einer Preiserhöhung der Basisleistungen führt. Parallel dazu ist die Regierung Renzi daran, eine grosse Zahl (85?000) an öffentlichen Stellen zu streichen. Was Renzi also mit einer Hand den ArbeiterInnen zu geben scheint, nimmt er ihnen mit der anderen Hand wieder weg.

Am 12. April gegen den «jobs act»

Matteo Renzi lässt so die Wünsche der italienischen Bourgeoisie in Erfüllung gehen, nämlich ein von jeglicher Autonomie und Interessenvertretung beraubtes Proletariat, das noch weiter ausgebeutet werden kann. Ob in Italien oder in anderen krisengeprägten Ländern der EU, die herrschenden Klassen wollen möglichst schnell den Arbeitsmarkt herstellen, der ihren Profiten zu Gute kommt. Diese Politik löst Kämpfe aus, die oft isoliert und auf sich bezogen bleiben. Doch gerade in Italien werden vermehrt Momente geschaffen, an denen die kämpfenden Proletarisierten zusammenkommen. Am 19. Oktober 2013 gingen in Rom fast 100’000 Menschen auf die Strasse, um für Einkommen, Wohnraum und Würde zu protestieren. Am 12. April findet erneut eine landesweiter Mobilisierungstag unter dem Motto «Geschlossen und unflexibel gegen den jobs act» statt. Bleibt zu hoffen, dass diese Mobilisierung einen ersten Schritt raus aus der Defensive und eine Vorbereitung der Offensive darstellt.

Protestwelle in Bosnien-Herzegowina

Bosnien

Protestwelle in Bosnien-Herzegowina: Die Regierung erhält die Quittung für ihre neoliberale, korrupte Politik.

Monatelang ohne Lohn und dann die Schliessung des Betriebs, nachdem dieser vor wenigen Jahren privatisiert wurde! So geschehen in der Industriestadt Tuzla. Die mit rund 120 000 EinwohnerInnen drittgrösste Stadt in Bosnien und Herzegowina war in den vergangenen Jahren nach der Privatisierung von Unternehmen besonders stark von Fabrikschliessungen und Arbeitslosigkeit betroffen. Ein Beispiel: Die ArbeiterInnen des Chemiebetriebs «DITA» haben seit 14 Monaten keinen Lohn mehr bekommen! Zudem droht jetzt der Betrieb mit der Insolvenz. Bereits Ende 2012 kam es zu ersten Protesten und Streiks. Es folgten Versprechungen seitens der Regierung, der Parteien und der Gewerkschaften. Auf die schönen Worte folgten jedoch keine Taten.

Genug ist genug, sagten sich Tausende von ArbeiterInnen am Dienstag, 4. Februar, und demonstrierten in Tuzla für ihre Rechte. Sie lösten mit ihrem berechtigten Kampf eine landesweite Protestwelle gegen die korrupte Regierung aus. Die verständliche Wut in der Bevölkerung richtet sich gegen die Privatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe, Arbeitslosigkeit, Armut und die mangelnden Zukunftsperspektiven in dem früheren Bürgerkriegsland. Offiziellen Statistiken zufolge sind in Bosnien-Herzegowina 45 Prozent ohne Job. Das sind über 550 000 Menschen. Ein Fünftel der rund 3,7 Millionen EinwohnerInnen lebt unter der Armutsgrenze.

Die Partei der Arbeit Jugoslawiens ist im Moment die einzige Gruppierung, die sich über alle ehemaligen Teilrepubliken erstreckt. Sie schreibt in ihrer Stellungnahme: «Die Ereignisse in Tuzla und in den anderen Teilen von Bosnien und Herzegowina zeigen uns, dass die Zeit vorbei ist, in der die Mächtigen in der Lage waren, das Volk zu manipulieren. Dies mit Hilfe der nationalistischen Rhetorik, um die eigenen Interessen zu erfüllen.»

Der Aufstand ist nun die logische Konsequenz aus der neoliberalen und nationalistischen Politik der zwei Teilrepubliken des Landes, die sich stets im Interesse des Kapitals gehandelt haben. Ganz dem Credo des Neoliberalismus folgend und gehorchend, wurden auftragsstarke Fabriken zu minimalen Preisen veräussert und Privatschulden verstaatlicht. Ganz nach dem Motto: Die Gewinne privatisieren, die Verluste verstaatlichen. Dafür erhält die Regierung nun die Quittung.

Die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) solidarisiert sich mit den kämpfenden ArbeiterInnen und mit allen Menschen in Bosnien und Herzegowina, die gegen die neoliberale, korrupte Politik protestieren und für ihre Rechte auf die Strasse gehen. Die PdAS wünscht dem Volk in Bosnien und Herzegowina eine rasche und vor allem friedliche Lösung des Konflikts, der einzig und alleine von der aktuellen Regierung zu verantworten ist. Der einzige Weg dazu ist, dass die Regierung endlich die Interessen der breiten Bevölkerung ins Zentrum setzt und nicht mehr jene des Kapitals mit seinen neoliberalen Raubzügen.

Es lebe die internationale Solidarität!

Partei der Arbeit der Schweiz

 

Dieudonnés Irrungen und Wirrungen

Dieudonne Mbala MbalaAnfangs Februar gastiert der französische «Komiker» Dieudonné M‘bala M‘bala mit seiner Show in Nyon. Mit dem Versprechen, sich an die hiesigen Gesetze zu halten und antisemitische Äusserungen zu unterlassen, wurden ihm die Auftritte durch die Stadtverwaltung gewährt. Doch genau hinschauen lohnt sich, denn hinter Dieudonné steckt weit mehr als dessen antisemitische Tiraden vermuten lassen.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich der französisch-kamerunische «Komiker» Dieudonné M›bala M›bala aufgrund seiner Show Vorwürfe bezüglich Rassismus und Antisemitismus anhören muss. Gegen ihn erhobene Anschuldigungen wusste Dieudonné stets mit einer «man wird ja wohl noch sagen dürfen»-Mentalität entgegenzutreten und fand dabei freudigen Anklang in der vereinigten Wutbürgerschaft. Nachdem Dieudonné jedoch einem jüdischen Journalisten nachrief, es sei schade, dass dieser nicht in den Gaskammern umgekommen sei, setzte die französische Regierung dem Spuck vorübergehend ein Ende und verbot kurzfristig weitere Aufritte des «Komikers».

Dieudonné näherte sich seit der Jahrtausendwende immer mehr der politischen Rechten an. Dadurch wandelten sich auch dessen Auftritte. Einst für die Rechte der MigrantInnen eintretend, richten sich die Stücke heute, wenn es für einmal nicht um Juden oder Geschichtsrevisionismus geht, hauptsächlich gegen die als ungerecht empfundenen Taten der Pariser Zentralregierung. Dieudonné vermag mit solchen klaren politischen Ansagen gemixt mit debilem Sandkastenhumor sowohl die politisch unzufriedene BürgerIn, wie auch den gestandenen Fussballprofi hinter sich zu scharen.

Vom «Komiker» zum Politiker

Nachdem seine eigene Präsidentschaftskandidatur 2007 aufgrund interner Probleme scheiterte, rief Dieudonné für die Europaratswahlen 2009 eine «antizionistische Liste» ins Leben. Darauf kandidierten sowohl VertreterInnen der extremen Rechten und bekannte HolocaustleugnerInnen als auch Personen aus der schiitischen Fundamentalistengruppe «Centre Zahra». Natürlich ist Antizionismus nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen und kann in Kombination mit progressiven Ideen durchaus ein legitimer Ausdruck eines regionalen Kampfes gegen die nationalstaatliche Ideologie Israels darstellen. Wer aber im Herzen Europas den Zionismus als einen nebulösen Hauptfeind ausmacht, der leidet im besten Fall unter paranoiden Wahnvorstellungen, eher aber unter einem klassischen Antisemitismus.

Dieudonnés neuster politischer Streich ist der «Quenelle-Gruss». Die eine Hand auf die Schulter, den anderen Arm stramm zum Boden gestreckt, gilt die Begrüssung sowohl als Ausdruck einer diffusen Protestbewegung als auch als verdeckter Hitlergruss. Wie schon die Querfront der «antizionistischen Liste» vermag auch der «Quenelle-Gruss» neue Brücken zu schlagen. Dieudonnés Hasstiraden richten sich gegen «die da oben», der Chor der politisch Unzufriedenen steigt gerne mit ein und mit dem erfundenen Gruss haben beide ein gemeinsames Protestsymbol. Wird Dieudonné nun vom französischen Rechtsstaat angegangen, dann erscheint dies auch als politischer Angriff des Pariser Establishments auf die neue Protestkultur. Die diffuse Abneigung gegen das politische System und die anhaltende wirtschaftliche Krise verbrüdern unterschiedliche soziale Kräfte. Dieudonné wird so, ob gewollt oder nicht, kultureller und politischer Ausdruck einer solchen Protestbewegung.

Kontakte zur extremen Rechten

Dieudonné selbst vermochte nach seinem politischen Wandel innerhalb kurzer Zeit mit unzähligen VertreterInnen des französischen Neorassismus in Kontakt zu treten. So liest sich dessen Bekanntenliste wie ein Who is Who des französischen Rechtsextremismus. Eine enge Freundschaft besteht mit Alain Soral, der wohl auch der wichtigste politische Kopf hinter Dieudonné ist. Dieser verlies 2009 das Zentralkomitee des Front National, weil ihm die Partei zu «angepasst» erschien, und kandidierte daraufhin auf der Liste von Dieudonné. 2008 liess Dieudonné den bekannten Holocaustleugner Robert Faurisson auf der Bühne auftreten. Jean-Marie Le Pen, Gründer des Front National, ist Taufpate seines dritten Kindes. Die Zeremonie wurde vom selben Kleriker durchgeführt, der auch schon die Totenmesse für den Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher Paul Touvier hielt. Auch mit weiteren Rechtsextremen Splittergrüppchen steht Dieudonné auf Tuchfühlung. So veröffentlichte er am 30. Juli dieses Jahres ein Interview mit Serge Ayoub auf YouTube. Ayoub gilt als Anführer der neofaschistischen Gruppierungen «Jeunesses nationalistes révolutionnaires» und «Troisième Voie», die beide mit dem Mord am jungen Antifaschisten Clément Méric am 5. Juni in Paris in Verbindung gebracht und mittlerweile gerichtlich verboten wurden. Ayoub und Dieudonné gehen in dem 30-minütigen Interview einig darin, dass eigentlich ein jedes Volk seinen Platz auf der Erde habe. Die völkische Tradition verbindet, so dass die Liaison der beiden Provokateure schliesslich mit einem fröhlichen Handschlag gefestigt werden kann.

Schweizerische Problembewältigung

Vom 3. bis zum 5. Februar und vom 3. bis zum 4. März lädt Dieudonné nun zu insgesamt zehn Shows in Nyon. Die Stadtverwaltung kam nach längerem Hin und Her zum Entschluss das zu tun, was die Schweiz in solchen Fällen stets zu tun pflegt: das ganze zu einer rechtlichen Frage zu degradieren. Solange die Show nicht explizit gegen die hiesigen Gesetze verstösst, darf sie stattfinden. Dieudonné eifrig darum bemüht, wenigstens einige Aufführungen seiner aktuellen Tour durchführen zu können, akzeptiert diese Entscheidung. Er lässt aus Wohlwollen darüber geschichtsrevisionistische Showelemente aus und verspricht dafür, den Akzent auf die Verballhornung des afrikanischen Kontinentes zu legen. Dass das Problem Dieudonné nicht nur an den geäusserten Worten, sondern an dessen Person und Handeln selbst festzumachen ist, negiert eine solche Scheinlösung. Dieudonné ist auch dann noch ein Rassist, wenn er für einige Auftritte seine Tiraden unterlässt.

Natürlich kann es hierbei nicht darum gehen, den Staat zum Handeln aufzufordern. Die gesellschaftliche Diskussion über Rassismus muss von unten kommen. Es kann dabei aber auch nicht, wie der Rapper Stress kürzlich auf Facebook als Werbung für Dieudonnés Veranstaltung schrieb, um die Verteidigung der freien Meinungsäusserung gehen. So platt die Parole «Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen» nach unzähliger Verwendung schon erscheinen mag, so wahr ist sie dennoch. Dieudonné hat in Nyon nichts zu suchen und zwar nicht weil er gegen allfällige Gesetze verstösst, sondern weil Rassisten jeglicher politischer Farbe das Leben schwer gemacht werden sollte.

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Sportstadien statt Panzer

geldwaschenAm 7. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi. In den neu errichteten Sportpalästen am Schwarzen Meer wird zwar auch Sport betrieben, sie weisen aber schnell auf die augenfälligen politischen Hintergründe des Grossereignisses hin: auf eine schonungslose Ausbeutung und Russlands Herrschaftsansprüche in der Region.

 

Wenn Wladimir Putin Englisch spricht, dann meint er es ernst. So auch im Jahr 2007 bei einer Rede in Guatemala, als er für die Olympischen Winterspiele in seiner Heimat geworben hat. Seine schwülstigen Sätze scheinen Wirkung gezeigt zu haben, bald findet in Sotschi die grösste Veranstaltung im postsowjetischen Russland statt. «Millionen russischer Bürger sind vereint durch den olympischen Traum», sagte Putin damals. Das Gegenteil ist der Fall, weiss man heute.

Was auf der derzeit grössten Baustelle der Welt passiert, ist ein Paradebeispiel für den Raubtierkapitalismus russischer Art. In Sotschi basiert dieser auf der massiven Bereicherung einer kleinen, privat verbandelten Elite, die sich die Staatsmacht zunutze macht, und einer grenzenlosen Ausbeutung, vor allem ausländischer GastarbeiterInnen. Das wachsende Olympiagelände am Schwarzen Meer bietet ein riesiges Profitvolumen. Fast die gesamte Infrastruktur musste neu aufgebaut werden. Nach den Spielen soll daraus eine Tourismus-Maschinerie werden, die das ganze Jahr über rattert. Am Strand unter den Palmen liegen und einen warmen Frühlingstag geniessen, dann in den nahen Bergen Skifahren: So kündete Putin das süsse Leben von Sotschi an.

Der Rest für die Freunde von früher

Doch die Pläne haben ihren Preis: Aus den von Putin anfangs veranschlagten Kosten von 12 Milliarden Franken sind mittlerweile über 50 geworden. Sotschi ist damit teurer als alle früheren Winterspiele zusammen. Der russische Oppositionelle Boris Nemzow stellt in einem Bericht die Vermutung an, dass davon 25 bis 30 Milliarden Franken in der Korruption versandet sind. Seine Berechnungen, die auf Vergleichen zu früheren Austragungen basieren, ergeben, dass die Bauarbeiten in Sotschi im Schnitt zweieinhalb Mal teurer sind als in anderen Ländern.

Die im russischen Staat gebündelte Macht erlaubt die Ausschüttung dieser Überschüsse innerhalb der Elite. Die zwei grössten Profiteure sind enge Vertraute Putins: Arkady Rotenberg ist ein Jugendfreund und Judopartner des Präsidenten. Seine Firmen haben in Sotschi Aufträge über fast 7 Milliarden Franken erhalten. Laut Forbes wuchs sein Vermögen in den letzten Jahren um zwei Milliarden Franken an. Wladimir Jakunin ist ehemaliger KGB-Offizier, Sowjetfunktionär und Putins Datscha-Nachbar. Er ist auch Präsident der russischen Eisenbahn, die für gut 8 Milliarden Franken eine Schnellstrasse und eine Eisenbahn von der Stadt Sotschi ins 50 Kilometer entfernte Skigebiet bauen lässt.

Die andere Seite der Medaille ist die Lage der ArbeiterInnen, die die Geldflüsse aus Moskau in strahlende Sportpaläste verwandeln. Die russische Ausländerbehörde gibt an, dass von den 74000 ArbeiterInnen, welche die zur Durchführung der Winterspiele ins Leben gerufene Staatsholding Olympstroi derzeit beschäftigt, 16000 aus dem Ausland stammen. Unabhängige ExpertInnen schätzen jedoch, dass es bis zu 50000 sein könnten. Egal wie viele es sind, sie arbeiten unter Bedingungen, die mit denjenigen vergleichbar sind, die Marx persönlich für die englische Arbeiterklasse beschrieben hat. Nachlesen lässt sich das in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), der auf Befragungen der ArbeiterInnen vor Ort basiert. Die Befragten stammen meist aus den nahe gelegenen ehemaligen Sowjetrepubliken in Osteuropa und Zentralasien.

Arbeitsbedingungen in Sotschi

Die meisten ArbeiterInnen arbeiten für einen Lohn von 1,8 bis 2,6 Dollar pro Stunde. Das ist viel weniger als ihnen ursprünglich versprochen wurde. Meist wird die Auszahlung der Löhne jedoch monatelang verzögert. Die meisten verfügen über keine Papiere, die ihre Anstellung belegen. Persönliche Papiere werden oft entwendet. Es wird in Schichten von zwölf Stunden gearbeitet, einen Freitag gibt es alle zwei Wochen. Geschlafen wird in Unterkünften, in die bis zu 200 ArbeiterInnen gepfercht werden –Unterkunft und Essen werden vom Lohn abgezogen.

Gesetze, die all das theoretisch verbieten würden, gibt es in Russland. Eine Normalschicht dürfte etwa nicht länger als acht Stunden dauern, eine Woche nicht mehr als 40 Arbeitsstunden enthalten. Ein freier Tag pro Woche wäre Pflicht. Doch hier muss es eben etwas schneller gehen.

Die staatsnahen russischen Gewerkschaften sind wohl nicht dazu in der Lage, dieser grenzenlosen Ausbeutung etwas entgegensetzen. Vielmehr droht den Spielen eine andere Gefahr, die sich kürzlich in Wolgograd zu Wort gemeldet hat. Auch aus Angst vor TerroristInnen wird Russland 40 000 Sicherheitskräfte bereitstellen. Dass die Winterspiele ausgerechnet im kriegsversehrten und noch immer politisch spannungsreichen Nordkaukasus abgehalten werden, wird von manchen Beobachtern als Machtdemonstration interpretiert. Es wirkt, als strebe Russland den Triumph an, das Grossereignis gerade in dieser Region durchzuführen.

Auch für Putin selbst ist das eine Prüfung, denn vor seiner Präsidentschaft hat ihn Boris Jelzin beauftragt, in der Region die TschetschenInnen zu befrieden. 1999, kurz bevor Putin die Macht von Jelzin übernehmen sollte, begann der zweite Tschetschenienkrieg. Weil Putin fürchtete, Russland könnte das gleiche Schicksal ereilen wie Jugoslawien – dass es nach dem Niedergang des Realsozialismus in seine Teile zerlegt wird – griff er in Tschetschenien mit aller Härte ein und schlug die separatistischen Bestrebungen nieder. Blutige Geiselnahmen und Terroranschläge haben seither immer wieder bewiesen, dass die Repression die Probleme nicht beseitigt hat.

Die spektakulären Olympiaparks können also auch als Mahnmal des territorialen Anspruchs Russlands in einer Region gesehen werden, in der ethnische Russen, für die Putin in seinem Land die Führungsrolle beansprucht, oft in der Minderheit sind. Da passt es ganz gut, dass sie von denjenigen Ex-SowjetbürgerInnen – vor allem aus Zentralasien – erbaut werden, die in Russland immer wieder heftigstem Rassismus ausgesetzt sind.

Aus der Printausgabe vom 17. Januar 2014. Unterstütze uns mit einem Abo.

Viva el EZLN

EZLN_XLAm 1. Januar 2014 jährt sich der zapatistische Aufstand in Chiapas, Mexiko zum 20. Mal. Die Soli-Party in Zürich steigt am 1. Januar 2014. Infos dazu hier

Auch in Chiapas war der bewaffnete Aufstand das letzte Mittel, um die Lösung zugespitzter sozialer Probleme zu erzwingen. Der Aufstand der Zapatistas brachte die Misere der indigenen Bevölkerung auf die politische Tagesordnung Mexikos und verlieh „denen, die keine Stimme haben“ eine Stimme. Die Rebellion gegen die quasi-feudalen Zustände in Chiapas, einer Region, and der die mexikanische Revolution (1914-17) spurlos vorüberging, war zugleich ein Aufstand gegen den neoliberalen Kurs der Regierung zu einem Zeitpunkt, als die Anti-Globalisierungsbewegung noch nicht existierte – der Beginn am 1.1.1994 war durchaus symbolisch gewählt: es war der Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA).

Nach 12tägigen Gefechten (die Zapatistas hatten 6 Städte besetzt), zog die EZLN zurück in die Berge und die mexikanische Zivilbevölkerung auf die Strasse. Unter dem Druck von Massenprotesten erklärte die Regierung den Waffenstillstand, der – von der Aufstandsbekämpfung der Regierung („Krieg niedriger Intensität“) abgesehen – bis heute gehalten hat. Dass die Aufstandsbekämpfung nicht so brutale Formen annahm wie in anderen Regionen der Welt, lag einerseits an erfolgreichen Deeskalationstechniken der EZLN (berühmt sind die zapatistischen Frauen, die oft die mexikanische Armee am Vorrücken hinderte) und andererseits an einer permanenten internationalen Präsenz in Form von Menschenrechtsbeobachtern in Chiapas.

Die ELZN erwies sich als „Medienguerillas“ und mobilisierte mit Hilfe des Internets und zahlreicher Kommuniqués die Solidaritätsbewegung. Nach rund zweijährigen Verhandlungen gab es – scheinbar – einen ersten Erfolg: Das Abkommen über „Indigene Rechte und Kultur“ wurde am 16.02.1996 von Regierung und EZLN unterschrieben. Dieses Abkommen würde der indigenen Bevölkerung (in ganz Mexiko !) ein gerüttelt Mass an politischer, kultureller und wirtschaftlicher Autonomie zubilligen. Bei den weiteren Verhandlungen zeigte sich, dass die mexikanische Regierung weder die Absicht hatte, dem unterschriebenen Abkommen Geltung zu verschaffen, noch bei anderen Verhandlungsthemen greifbare Ergebnisse zu erzielen. Von diesen Scheinverhandlungen verabschiedete sich die EZLN im August 1996 und widmete sich der Mobilisierung der Öffentlichkeit, um die Umsetzung des o.g. Abkommens zu erzwingen. Dazu zählt u.a. die Durchführung von zwei landesweiten Volksabstimmungen und schliesslich – im Frühjahr 2001 die Reise der kompletten EZLN-Kommandantur in die Hauptstadt – begeleitet und beschützt von Tausenden Vertretern der Zivilgesellschaft.

Parallel zu diesen Bemühungen arbeiteten die Zapatistas seit Jahren der praktischen Umsetzung ihres Autonomiekonzepts. Sie schufen (bereits Ende 1994) mit der Ausrufung der Autonomen Municipios (Kreise) eine eigene Verwaltungsstruktur, wobei – mit vielen Unzulänglichkeiten behaftet – Schritt für Schritt ein eigenes Schulsystem, eine eigene Gesundheitsversorgung und eine eigene ökonomische Basis aufgebaut wird. Neben der subsistenzwirtschaftlichen Versorgung mit Lebensmitteln ist das vielleicht bekannteste Beispiel der in Deutschland vertriebene „Cafe Libertad“, der von der zapatistischen Kooperative „Mut Vitz“ produziert wird. Im Sommer 2003 zogen die Zapatistas Bilanz, analysierten die Vergangenheit, bekannten öffentlich Fehler und reorganisierten ihre Struktur, indem sie „Räte der guten Regierung“ schufen – fünf basisdemokratisch organisierte Lokalregierungen, die für Regionen von jeweils Tausenden zapatistischen Bewohnern verantwortlich sind.

Auch wenn sie nur noch gelegentlich die von der Presse in Europa beachtet werden – die Zapatistas „gehen fragend“ ihren Weg – so wie sie es in der Zeit, wo linke Projekte Anfang der 90er Jahre totgesagt wurden, immer getan haben, und sie sind auch weiterhin eine Inspiration für die „unorthodoxe“ Linke.

Quelle: chiapas.at

 

Rede der EZLN am 18. August 2013

An die Bevölkerung von Mexiko

An die Bevölkerung der Welt

An die alternativen Medien, die anwesend sind

An den Nationalen Indigenen Kongress

An die Compañeros und Compañeras der Anderen [Kampagne] und der Sechsten [Erklärung aus dem Lakandonischen Regenwald] National und International

Als Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung betrachten wir all das, was in sämtlichen Gegenden unseres mexikanischen Heimatlandes passiert, als unser Anliegen, denn es sind dieselben Probleme, unter denen wir alle leiden, weil uns unsere Mutter Erde, die Luft, das Wasser und die Naturreichtümer geraubt werden.

Aber die schlechten neoliberalen Regierungen und die transnationalen Konzerne herrschen mit ihrem Geld und zwingen uns ihre Projekte des Todes in unseren Territorien auf. Wir als originäre Bevölkerungsgruppen und Eigentümer_innen der natürlichen Ressourcen müssen diese jedoch so gut wie möglich verteidigen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, da es um unsere Mutter Erde geht; durch sie leben wir, durch sie atmen wir.

Die schlechte Regierung und die neoliberalen Unternehmen wollen sich aneignen, was unser ist, und wenn wir es verteidigen, verfolgt sie uns, sperrt uns ein, ermordet uns und klagt uns als Gesetzesbrecher an und verurteilt uns zu vielen Jahren Gefängnis, als wären wir Kriminelle. Im Gegenteil sind sie die tatsächlichen Mörder, Verbrecher und Vaterlandsverräter.

Sie sind frei, als wäre das, was sie uns angetan haben, kein Verbrechen. Sie schützen sich mit ihren Gesetzen. Aus diesem Grunde wollen wir den schlechten Regierenden sagen, dass sie sehr klar verstehen sollen, dass wir als originäre Bevölkerungsgruppen nicht mehr zulassen werden, dass sie uns unsere Mutter Erde und unsere Naturreichtümer wegnehmen.

Wir als Zapatistas kämpfen für unsere 13 Forderungen [1] für die Bevölkerung in Mexiko und wir kämpfen ebenso für eine Autonomie, in der die Bevölkerung bestimmt und die Regierung.

Um all das zu erreichen, ist es notwendig, Bewusstsein, Willenskraft und Opferbereitschaft zu haben und gegen jedwede Aggression Widerstand zu leisten.

Compañeros und Compañeras, Brüder und Schwestern, um die Pläne des Todes abzuwehren, die uns die Neoliberalen aufzwingen, ist es notwendig, sich zu organisieren, unsere Kräfte, unseren Schmerz und unsere Rebellion zu vereinen und für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Aus dem CIDECI [2], San Cristóbal de las Casas, Chiapas, Mexiko.

Das sind unsere Worte. Danke.

Übersetzung: Gruppe B.A.S.T.A. – http://www.gruppe-basta.de

1.] Die ursprünglichen elf Forderungen lauten Arbeit, Land, Unterkunft, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden und wurden später noch um die Forderungen nach freier Information und Kultur erweitert.

2.] CENTRO INDÍGENA DE CAPACITACI«N INTEGRAL »FRAY BARTOLOMÉ DE LAS CASAS« A.C. – http://seminarioscideci.org/

VIDEO-AUFZEICHNUNG: (copyleft, realisiert von Gruppe B.A.S.T.A. & Zwischenzeit e.V.)

 

Quelle: www.chiapas.eu

«Die Schweiz ist bis heute den Beweis schuldig geblieben»

11 nestleAm 11. September 2005 wird der kolumbianische Gewerkschaftsaktivist Luciano Romero ermordet. Sieben Jahre -später, am 5. März 2012, hat das «European Center for Constitutional and Human Rights» (ECCHR) zusammen mit der kolumbianischen Gewerkschaft «Sinaltrainal» bei der Staatsanwaltschaft Zug Strafanzeige gegen Nestlé und fünf ihrer Führungsmitglieder eingereicht. Der vorwärts sprach mit Rechtsanwalt Marcel Bosonnet, der in diesem Fall die Witwe des ermordeten Romero vertritt. 

Aus der Printausgabe vom 20.Dezember. Unterstütze uns mit einem Abo. 

Marcel, wie ist der aktuelle Stand der Dinge?

Vor dem Mord an Luciano Romero gab es gefährdende Diffamierungen gegen ihn, die von den lokalen Nestlé-VertreterInnen in Kolumbien ausgingen. Den führenden Mitgliedern von Nestlé wird daher vorgeworfen, nichts zur Unterbindung oder zur -Entschärfung der Drohungen unternommen zu haben. Die Beschuldigten waren unter anderem aufgrund von Schutzübernahmeerklärungen verpflichtet, für die Sicherheit von Luciano Romero zu garantieren. Sollte die strafrechtliche Verantwortung einzelner Unternehmensangehöriger aufgrund mangelnder interner Organisation, Überwachung und Dokumentation innerhalb des Unternehmens nicht nachweisbar sein, so kommt der nach dem Gesetz nachrangige Strafanspruch gegen das Unternehmen selbst gemäss Art. 102 Abs. 1 StGB zum Tragen. Denn die mangelnde individuelle Zurechenbarkeit der strafrechtlichen Verantwortung deutet auf schwere Organisationsmängel innerhalb des Unternehmens hin. Aus diesen Gründen haben wir entschieden, gegen die fünf Führungsmitglieder und gegen Nestlé AG als juristische Person Strafanzeige einzureichen. Nach mehr als einem Jahr, in dem die Staatsanwaltschaft in Zug und dann in Renens keine einzige Untersuchungshandlung vornahmen, verfügte die Staatsanwaltschaft Renens am 1. Mai 2013 – das Datum wurde wohl kaum zufällig gewählt –, eine Nichtanhandnahme der Strafuntersuchung, da beide eingeklagten Delikte inzwischen verjährt seien. Gegen diese Verfügung reichten wir beim Kantonsgericht Waadt eine Beschwerde ein. Wir versuchten darin darzulegen, dass es Pflicht einer Staatsanwaltschaft ist, angezeigte Delikte zu verfolgen und nicht einfach zu warten, bis allenfalls das Delikt verjährt ist. Zudem wiesen wir darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft bei der Klage gegen die Nestlé AG von einem falschen Verständnis der Verjährungsfrist ausging, da ein Organisationsmangel in einem Unternehmen gar nicht verjähren kann solange der Mangel, wie im vorliegenden Fall nachgewiesen, weiterhin anhält. Das Kantonsgericht Waadt hat diese Klage vor kurzer Zeit abgewiesen und mehr oder weniger die Argumentation der Staatsanwaltschaft übernommen. Doch ein negatives Urteil allein ergibt noch keinen verlorenen Prozess. Gegen diesen Entscheid werden wir in den kommenden Tagen beim Bundesgericht Beschwerde einreichen.

Was waren die Beweggründe gegen Nestlé AG zu klagen?

Es gibt verschiedene Gründe gegen die Verantwortlichen bei Nestlé und gegen Nestlé AG als juristische Person eine Strafanzeige einzureichen. Der Fall von Luciano Romero bot sich speziell an, da die Unterlassungen der Nestlé-Verantwortlichen sehr gut und detailliert dokumentiert wurden. Zudem ist auf Folgendes hinzuweisen: Der kolumbianische Richter José Nirio Sanchez hat am 26. November 2007 die unmittelbaren Täter Contreras Puello und Ustariz Acuña – beide aus dem Kreise der Paramilitärs – wegen des Mordes an Romero mit Urteil des 2. Strafgerichts des Bezirks Bogotáu zu  Haftstrafen von bis zu vierzig Jahren verurteilt. Im selben Urteil fordert der Richter die kolum-bianische Staatsanwaltschaft auf, weitere Ermittlungen gegen die Auftraggeber der Mörder zu führen und dabei insbesondere auch die Rolle des Unternehmens Nestlé zu untersuchen. Im Urteil lesen wir dazu: «Es wird angeordnet, beglaubigte Kopien zur Verifizierung der Direktoren der Nestlé-Cicolac zu beschaffen zu dem Zweck, ihre mutmassliche Beteiligung oder Bestimmung der Tötung des Gewerkschaftsführers Luciano Enrique Romero Molina zu untersuchen.»Entgegen dieser klaren Anweisung an die kolumbianische Staatsanwaltschaft sind jedoch seitdem keine entsprechenden Untersuchungen eingeleitet worden. Stattdessen wurde der Richter entlassen. In Kolumbien ist zurzeit offensichtlich eine Strafuntersuchung gegen die Verantwortlichen der Nestlé AG aus politischen Gründen nicht möglich. Dies spiegelt den Zustand andauernder Straflosigkeit von schweren Menschenrechtsver-letzungen in Kolumbien wieder, der von in- und ausländischen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen seit vielen Jahren und bis heute scharf kritisiert wird.

Was sind die Hintergründe der Tat?

Am Nestlé-Standort Valledupar, wo Luciano Romero arbeitete, standen hartnäckige Auseinandersetzungen um eine Kollektivvereinbarung und um Entlassungen von ArbeiterInnen im Vordergrund der Gewerkschaftsarbeit. Diese Auseinandersetzungen gehen einher mit einem Klima der Existenzbedrohung für die Gewerkschaft. Bereits wenige Jahre nach der Gründung der Gewerkschaft «Sinaltrainal» begann eine Serie von Gewalttaten gegen Gewerkschaftsmitglieder in den Nestlé-Fabriken in Valledupar, Bugalagrande und Dosquebradas. Seit 1986 wurden 15 bei Nestlé beschäftigte ArbeiterInnen und Gewerkschaftsmitglieder getötet, zwei überlebten Attentate, fünf weitere mussten ins Exil oder sind innerhalb Kolumbiens vertrieben worden. In keinem dieser Fälle – mit Ausnahme von der Ermordung Luciano Romeros – sind die strafrechtlich Verantwortlichen ermittelt und verurteilt worden. In keinem Fall wurde die Rolle Nestlés ermittelt. Die Tätigkeit der Nestlé in Kolumbien und am Standort Valledupar kann zudem nicht isoliert vom Kontext des bewaffneten Konfliktes in der Region betrachtet werden. Denn die Region Cesar, die sich Nestlé für ihre Ansiedlungen ausgesucht hat, gehört zu den konfliktreichsten Regionen Kolumbiens. Landeigentum ist auf einige wenige GrossgrundbesitzerInnen und ViehzüchterInnen – darunter auch Milchlieferanten für Nestlé – konzentriert. Dies hat zu grossen sozialen Ungleichheiten und Konflikten geführt. Die paramilitärischen Gruppen finanzieren sich in dieser Region durch illegale Geschäfte, illegale Steuern und Schutzgelder, die sie bei den Unternehmern der Region eintreiben. Darüber hinaus sind zahlreiche paramilitärische Führungsfiguren gleichzeitig auch Mitglieder der wirtschaftlichen und politischen Elite des Landes. Daher gibt es traditionell enge Verbindungen zwischen GrossgrundbesitzerInnen und Paramilitärs. Auch im Department Cesar gehörten mehrere Führungsmitglieder der Paramilitärs zu den Geschäftspartnern von Nestlé-Cicolac. Der Paramilitarismus in Kolumbien ist aber nicht nur mit der Privatwirtschaft verflochten, sondern arbeitet auch mit staatlichen Institutionen, insbesondere den Sicherheitskräften und dem Geheimdienst «Departamento Administrativo de Seguridad» (DAS), systematisch zusammen. Ehemalige leitende Angestellte der Nestlé-Cicolac sind zudem heute in der kolumbianischen Regierung tätig.

Welche Schwierigkeiten trefft ihr an? 

Wir waren uns immer bewusst, dass es nicht einfach sein wird, die Verantwortlichen der Nestlé AG strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Dass die Staatsanwaltschaften jedoch nicht einmal eine Strafuntersuchung anordneten, keine einzige Untersuchungshandlung tätigten, obwohl die Straftaten damals selbst nach Ansicht der Staatsanwaltschaften nicht verjährt waren, überrascht gleichwohl. Offensichtlich soll eine strafrechtliche Aufarbeitung mit einer scheinheiligen Argumentation unter allen Umständen verhindert werden. Obwohl wir die juristische Situation in der Schweiz nicht mit derjenigen in Kolumbien vergleichen können, ist in diesem Fall die Schweiz den Beweis bis heute schuldig geblieben, dass es nicht auch hier eine «impunidat» (Straffreiheit) für Nestlé gibt.

Wie muss man sich den juristischen Widerstand von Nestlé vorstellen? Sitzen dir da jeweils die drei bestbezahlten Topanwälte der Welt gegenüber?

Nestlé musste seine Anwälte bisher gar nicht ins Spiel bringen, da die Staatsanwaltschaft gar keine Strafuntersuchung eröffnete und keine Untersuchungshandlungen tätigte. So sahen wir einzelne Vertreter der Anwaltschaft bisher leider erst als schweigsame, aber doch als aufmerksame «incognito-Zuhörer» bei unseren diversen Veranstaltungen in der Schweiz.

Viele werden sich sagen: Gegen Néstle zu klagen, bringt nichts. Die sind zu mächtig!

Wir arbeiten eng mit der kolumbianischen Gewerkschaft «Sinaltrainal» zusammen, für die auch Luciano Romero tätig war. Seit Jahren versucht diese Gewerkschaft fundamentale Rechte der Ar-bei-terIn-nen durchzusetzen. Mit der umfangreichen und detailgenauen Strafanzeige ist es uns gelungen, in einer umfangreichen Strafanzeige die strafrechtliche Verantwortung von einzelnen Nestlé-MitarbeiterInnen aufzuzeigen. Dabei betraten wir auch bewusst strafrechtliches Neuland, indem wir neben den natürlichen Personen auch die Nestlé AG selbst direkt wegen Organisationsmangels einklagten. Zweifellos ist das Strafrecht nicht die einzige Möglichkeit gegen Verbrechen von Multis anzugehen. So sind zum Bespiel in Kolumbien Gewerkschafter in einen -Hungerstreik getreten. Wir sind jedoch ebenfalls der Ansicht, dass die Forderung aufrecht erhalten bleiben muss, dass das Strafrecht auch gegen Verantwortliche von multinationalen Konzernen durchgesetzt werden muss.

Die verlorene Unschuld der Revolution

AegyptenDie ägyptische Revolution zeigt sich von ihrer hässlichen Seite. Seit der Räumung der beiden Camps vor der Kairoer Universität und der Rabaa al-Adawiya-Moschee ist ein blutiger Machtkampf um die Zukunft des Landes entbrannt. Alle vereint im Kampf gegen den islamistischen Terror heisst die Parole. 

Übergangspräsident Mahmoud Adil dankt den Sicherheitskräften für das «besonnene und zurückhaltende Vorgehen» bei der Räumung der beiden Camps. Vielleicht meint er es wirklich so, wenn man bedenkt, dass für die Räumung 3000 bis 5000 Tote «einkalkuliert» waren, wie das Innenministerium Tage zuvor stoisch verkündete. Gemäss offiziellen Angaben des ägyptischen Gesundheitsministeriums sind alleine am «Blutigen Mittwoch» bei der Erstürmung der beiden Protestcamps 630 Menschen gestorben, die Muslimbrüder sprechen gar von über 2000 Toten. Die Wahrheit wird, wie so oft dieser Tage, irgendwo in der Mitte liegen. Es ist ein düsteres Kapitel der ägyptischen Revolution. Auch Tage nach dem Massaker ruft die Tamarod-Bewegung (Rebellion) die Sicherheitskräfte dazu auf, jeden Widerstand der IslamistInnen im Keim zu ersticken und fordert das ägyptische Volk dazu auf, «das heroische Militär in ihrem Kampf gegen den Terrorismus» tatkräftig zu unterstützen.

Die Büchse der Pandora

Es regiert der Hass. Ein Land in der nationalistischen Ektase. Der politische Islam und der Terrorismus soll nun für immer «ausgemerzt» und «ausgelöscht» werden. Mahnende Stimmen gibt es dieser Tage wenige. Es ist vom «Sieg über den Faschismus» die Rede, die AnhängerInnen von Mursi werden unisono als TerroristInnen gebrandmarkt und zum Abschuss freigegeben. Hartnäckig berichten die ägyptischen Medien von eingesickerten Kräften der Al Kaida, von verhafteten Pakistanern, Afghanen und tausenden Hamas-Kämpfern, welche schon vor Monaten zur Unterstützung der Muslimbrüder nach Ägypten eingeschleust worden seien. Die Lage für palästinensische und syrische Flüchtlinge ist entsprechend unangenehm. Selbst die vielen unabhängigen Menschenrechtsgruppen berichtet lieber über brennende Kirchen und geköpfte Polizisten, selbst von dort schlägt den Muslimbrüdern nur noch Hass entgegen. Es sind nicht die dunklen Wolken eines kommenden Bürgerkrieges. Die Wolken sind schwärzer. Es sind die Wolken des Pogroms. Und es ist nicht nur der Hass gegen den politischen Islam, dahinter verbirgt sich auch eine gute Portion Verachtung der gebildeten, urbanen Schichten gegen die Armen.

Kühle Köpfe sind in Ägypten dieser Tage rar. Und doch gibt es sie. Es sind einmal mehr die revolutionären Kräfte der ersten Stunde. So gründeten anfangs August anlässlich eines Treffens in der ArbeiterInnen-Hochburg Malhalla die Jugendbewegung des 6. April, die Revolutionären SozialistInnen, die Gruppe «Ägpyten ohne Folter» sowie die islamische Partei «Starkes Ägypten» von Futuh – vor drei Jahren noch wichtige Figur bei den Muslimbrüdern – die Plattform «Revolutionäre Alternative». Mit dem Ziel, zu verhindern, dass Elemente des alten Regimes nach der Übergangsperiode wieder die Macht übernehmen. Und das ist bitter nötig, denn losgelassenen Kettenhunde kehren nicht freiwillig in ihre Zwinger zurück.

Neue Töne aus Kairo

Die Opposition und das ägyptische Volk haben sich vom unsanften Sturz Präsident Mursis Ruhe und Ordnung, Stabilität sowie wirtschaftlichen Aufschwung erhofft. Nun tritt das pure Gegenteil ein. Das erste Mal seit dem Beginn der Revolution wird für ganz Ägypten eine Reisewarnung ausgegeben, der Tourismus kommt praktisch vollständig zum Erliegen, internationale Firmen schliessen ihre Fabriken, Entwicklungsgelder werden eingefroren und Ägypten geht seinen eigenen Weg. Obama schlägt von allen Seiten blanker Hass entgegen, Premier Netanjahu erteilt dem israelischen Parlament zu Ägypten ein generelles Sprechverbot, der saudische König Abdullah hat einer seiner äusserst seltenen TV-Auftritt, um zu verkünden, dass das ägyptische Volk seine volle Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus habe.

Bei den mit dem Golfstaat verbündeten SalafistInnen wird er sich damit keine Freunde machen. Die Maske ist gefallen, die Golfstaaten spielen ein gefährliches Spiel und erhöhen ihren Einsatz. Und dem Westen bleibt nur die Rolle des ohnmächtigen Statisten. Die Tamarod-Bewegung lanciert derweil die Kampagne «Für die Wiederherstellung der Souveränität». Diese zweite Petition hat das Ziel, keine US-Entwicklungshilfe mehr anzunehmen und das Camp-David Friedensabkommen mit Israel zu annullieren. Es sind martialische Töne, welcher derzeit in die Welt hinausposaunt werden. Und vielleicht sind solche dramatische Momente, wie wir sie derzeit in Ägypten erleben, unweigerlicher Teil eines schmerzlichen Prozesses. Die ägyptische Revolution hat sich mit Blut befleckt. Ihre eigenen Kinder gefressen. Nur dieses Mal hat es die Bärtigen erwischt. Ein neues Kapitel öffnet sich. Es wird nicht das letzte sein.

 

«Erkenne deinen Feind»

Die Revolutionären SozialistInnen vor dem Obersten GerichtDie Lage in Ägypten hat sich nach der Massenmobilisierung vom 30. Juni und der darauffolgenden Verhaftung des Präsidenten Mursi dramatisch zugespitzt. Eine Analyse dieser instabilen Phase der ägyptischen Revolution gibt Sameh Naguib, führendes Mitglied der «Revolutionären Sozialisten». Das Interview wurde von Rosemary Bechler geführt.

Gerade wurde eine neue Regierungsmannschaft in Ägypten ernannt. Kannst du uns etwas über ihre Zusammensetzung sagen? Und auch, ob sie breite Unterstützung hat und sie auf eine Art den Aufstieg liberal-demokratischer Ideen repräsentiert?

Nein, tut sie nicht. Sie besteht vorwiegend aus liberalen Technokraten mit Verbindungen zu einigen der neu entstandenen liberalen Parteien, darunter «Ad-Dustur» – die von el-Baradei vor etwa 18 Monaten gegründete Verfassungspartei – und die so genannte «Ägyptische Sozialdemokratische Partei». Aber auch sie ist nicht sozialdemokratisch, sie ist eine liberale, eine neoliberale Partei. Diese beiden Parteien sind nach dem revolutionären Umsturz entstanden und haben kaum Massenbasis, weil sie so neu sind. Sie stellen aber vier Minister. Der Premierminister und sein Vertreter für die Wirtschaft sind beide aus der «Sozialdemokratischen Partei». Und ich glaube, sie stellen zwei weitere Minister, die direkt von der Armee in die Posten hochgedrückt wurden. Es gibt auch einige Technokraten aus der Mubarak-Ära. Sie agieren jetzt wieder ganz offen.

Wurden sie deswegen ausgesucht, weil sie eine nicht so schlimme politische Vergangenheit haben?

Überhaupt nicht. Ich gebe dir ein Beispiel: Der Verkehrsminister stand bereits in der Verantwortung, als Ägypten den schlimmsten Eisenbahnunfall seiner ganzen Geschichte erlebte. Und General as-Sisi, ist stellvertretender Premierminister, Verteidigungsminister und zugleich Armeechef. Er ist bei fast allen Ministerrunden dabei.

Aber haben wir es nicht mit einer Armee zu tun, die sich bald von der politischen Bühne verabschieden will?
Sie steht sehr im Vordergrund. Formell will sie sich zurückziehen. Es wurde ein Prozess beschlossen, es gibt einen Präsidenten, einen Verfassungsrichter und so weiter. Aber in Wirklichkeit ist sie sehr präsent. Wir haben es nur mit einer zivilen Fassade zu tun, dahinter verbirgt sich die Macht des Militärs. Nichts geschieht ohne Sisis Einverständnis. Er hält alle Zügel in der Hand, genau so wie damals Feldmarschall Tantawi, als er und der Oberste Militärrat (SCAF) das Land regierten nach dem Sturz Mubaraks bis zur Wahl Mursis im Sommer 2012.

Würdest du der Ansicht zustimmen, dass der 30. Juni im weitesten Sinne den Aufstieg liberaler Ideen steht?

Der 30. Juni war ein höchst komplexer Tag. Sein Verlauf verwirrt die Menschen überall, sowohl in Ägypten als auch ausserhalb, weil er zwei parallele Prozesse beinhaltete. Auf der einen Seite hatten wir eindeutig eine revolutionäre Welle von Abermillionen Ägyptern. Auf der anderen Seite haben die Armee und das alte Regime diese noch nie dagewesene Mobilisierung genutzt, um sich wieder in den Sattel zu hieven und sich der Muslimbruderschaft zu entledigen. Formell betrachtet haben wir es daher eindeutig mit einem Putsch zu tun. Das ist offensichtlich. Das Militär hat den Präsidenten entfernt, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Er war der gewählte, demokratisch gewählte Präsident, somit handelt es sich um einen Putsch. Aber gleichzeitig gab diese enorme Eruption, grösser noch als der Aufstand von 2011. Das hat es noch nie gegeben. Sie war dehnte sich geographisch viel weiter aus und fand auf dem Höhepunkt der bisher grössten Streikwelle überhaupt statt. In den Monaten vor dem 30. Juni – das weisst du vielleicht nicht – hatte Ägypten das höchste Niveau an Streikaktivitäten, nicht nur in der Geschichte Ägyptens, sondern der ganzen Welt, mit etwa 500 Streiks pro Woche, im Durchschnitt! Aber um nochmals auf deine Frage zurückzukommen: Um sich sowohl im Inneren als auch nach aussen – vor allem gegenüber dem Westen ist das wichtig – zu legitimieren, hat sich der Putsch ein gewisses liberales Image gegeben. Daher wurden all diese Leute mit einem gutem demokratischem Ruf wie el-Baradei an die Spitze gesetzt, ganz so, als ob wir es mit einem echten demokratischen Prozess zu tun hätten. Zudem kontrollieren diese Leute und ihre Finanziers die ägyptischen Medien. Sie haben die grössten Privatmedien zu ihren Diensten, die von den Milliardären kontrolliert werden, die diese beiden Parteien unterstützen.

Und es sind die gleichen Medien, die die Landschaft ziemlich einseitig dominiert haben und sich explizit gegen Mursi aufgestellt haben?

Extrem Anti-Mursi, es war nichts weniger als eine Art Hysterie, die sich gegen die Muslimbruderschaft richtet. Das heisst nicht, dass die Muslimbruderschaft diese Kritik nicht verdienen würde: Ihre Regierung war wirklich schlimm. Erst neulich haben sie bestehende Vorbehalte zwischen den Religionen angefacht und auch aggressive, frauenfeindliche Parolen ausgegeben. Und es blieb nicht nur bei der Verbreitung dieser schrecklichen Ideen. Insbesondere haben sie kein einziges der langen Liste an Problemen gelöst, obgleich sie genau dafür ihren Regierungsauftrag erhalten hatten. Doch das Bild, das die privaten Medien so eifrig propagieren, ist: « Wir wollen mit ihnen allen nichts zu tun haben», mit der Muslimbruderschaft überhaupt, weil sie «Faschisten und Reaktionäre» sind.

Wenn ich richtig liege, werden sie derzeit als «Terroristen» beschrieben?
Ja, jeder, der sie unterstützt oder verteidigt, wird als «Terrorist» bezeichnet. Und den Medien gelingt es, die Feindseligkeit gegen die Muslimbruderschaft bis zur Hysterie zu treiben. Das ist extrem gefährlich, weil wir in Ägypten eine grosse christliche Minderheit von mindestens zehn Prozent der Bevölkerung haben. Wenn diese Art Hass gegen die Muslimbruderschaft geschürt wird und daraus tatsächlich physische Übergriffe erwachsen, gegen Männer mit Bart oder Frauen, die den Niqab tragen – und das passiert tagtäglich, rund um die Uhr – und jemand dabei stirbt, dann wird man sagen, es war die Muslimbruderschaft, die ihn umgebracht hat. Es ist immer ihre Schuld.

Und welche Position beziehen die Tamarod-Rebellen oder andere führende Persönlichkeiten angesichts dieser Eskalation der Gewalt?

Tamarod begann als eine einfache demokratische Initiative, die sich sehr schnell verbreitete. Es sind aber die Armee, die Geheimdienste und das alte Regime, die das Geld und die Macht haben. Und nachdem die wichtigsten Anführer von Tamarod im Fernsehen neben dem General auftraten, der die Absetzung Mursis verkündete, waren die revolutionären Kräfte auf einmal isoliert. Heute ist man entweder Unterstützer der Armee oder man wird zu der Muslimbruderschaft gezählt. Es ist derzeit sehr schwierig, in Ägypten irgendeine unabhängige Position zu vertreten.

Vergleichen wir das mit der Situation in der Türkei, wo wir eine sehr interessante horizontale Bewegung erleben, die von Taksim und anderen öffentlichen Plätzen aus in die Gesellschaft greift, dabei allerdings jene 50 Prozent der Wählerschaft, auf die Erdogan so stolz ist, nicht erreicht. Es entsteht diese tragische Spaltung, die wir auch während der Ereignisse in Tunesien erlebten. Welche Kräfte sind deiner Ansicht an der Aufrechterhaltung dieser Spaltung in Ägypten beteiligt?

Die Armee, die Geheimdienste und die Medien, und sie setzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein. Sie bezahlen beispielsweise Schergen, um Frauen anzugreifen, und schieben das dann den Muslimbrüdern in die Schuhe, nur um diesen Hass zu schüren. Nicht, dass die Muslimbruderschaft solche Handlungen nicht beginge. Sie tun auch solche Dinge, weil sie in einer Spirale von Racheakten verfangen sind. Das ist nachvollziehbar. Sie wurden rausgeworfen und in eine Ecke gedrängt. Sie waren der Überzeugung, an einem demokratischen Prozess beteiligt zu sein. Sie verzichteten auf jegliche Gewalt, stellten sich zur Wahl und gewannen. Und jetzt sind sie wieder auf den Strassen, ganz so, als ob das alles nicht stattgefunden hätte. Daher kannst du dir gut vorstellen, dass die Abenteurer in ihren Reihen immer mehr zur Gewalt neigen. Es ist wie Algerien, wo in den 90er Jahren ein blutiger Bürgerkrieg tobte. Auch dort wurden die Islamisten der Islamischen Heilsfront FIS in eine Ecke gedrängt. Sie hatten sich im Dezember 1991 an den Wahlen beteiligt und sich so demokratisch wie nur möglich gegeben. Und dann wurden die Wahlergebnisse einfach nicht anerkannt.

Gibt es seitens irgendwelcher unabhängiger Medien Versuche, Gewaltakte zu untersuchen?

Nicht wirklich. Wir haben keine unabhängigen Medien. So was gibt es nicht. Alle sind gegen die Muslimbruderschaft gerichtet. Eins muss ich hier noch einmal hervorheben, denn wenn ich das nicht tue, kann das zu einem späteren Zeitpunkt gegen mich verwendet werden: Ich verteidige nicht die Muslimbruderschaft.

Das verstehe ich. Aber wenn es keine unabhängigen Medien gibt, was sagen dann die Menschen auf den Strassen über diese Gewalt? Gibt es da Versuche, die Ereignisse objektiv zu erfassen? Oder sind sie in diesen Feindbildern restlos verfangen?

Es gab ernsthafte Diskussionen über das Massaker, das vor ein paar Wochen stattgefunden hat, als siebzig Mitglieder der Muslimbruderschaft vor der Präsidentengarde, dem Offiziersklub, in dem Mursi vermutlich festgehalten wird, niedergemetzelt wurden. Die Medien behaupteten einfach, die Muslimbruderschaft habe einen gewalttätigen Angriff gestartet. Aber die Präsidentengarde ist hochgesichert. Es ist eine mit Panzern gesicherte Festung. Es ergibt doch keinen Sinn für Anhänger der Muslimbruderschaft, sie erstürmen zu wollen. Und selbst wenn, ist das noch keine Rechtfertigung, Menschen auf offener Strasse zu erschiessen. Die jüngsten unabhängigen Berichte von Ärzten, die die Leichenhäuser aufgesucht haben, bezeugen, dass diese Menschen inmitten des Gebets erschossen wurden. Es ist ein schreckliches, absolut schreckliches Massaker. Es wird aber von den ägyptischen Medien durch die Bank weg geleugnet, von der sogenannten liberalen Presse Ägyptens. Das sind Liberale einer ganz besonderen Art. Und die Ärzte, die als Zeuge aussagten, müssen nun einen hohen Preis dafür zahlen.

War das der Zeitpunkt, an dem die lokalen Medien begannen, die Muslimbruderschaft als «Terroristen» zu bezeichnen?

Ja, genau. Nachdem man ihnen in den Kopf geschossen hatte. Wir meinen, dass wir konsequent alle Formen von Diskriminierung und Unterdrückung bekämpfen müssen, denen die Islamisten ausgesetzt sind, ganz gleich ob sie umgebracht oder verhaftet oder ihre Satellitenkanäle und Zeitungen geschlossen werden. Denn was den Islamisten heute widerfährt, kann morgen ohne Weiteres den Arbeitern und den Linken widerfahren. Es kann daher nicht überraschen, wenn die Muslimbruderschaft die Beteiligung an einer Interimsregierung nach dem 30. Juni ablehnte – falls man sie überhaupt gefragt hat.

Meinst du nach dem Putsch? Wie hätten sie sich beteiligen können? Sie hätten doch unmöglich vor ihre Anhänger treten können und sagen, «wir finden uns damit ab, dass euer gewählter Präsident nicht mehr Präsident ist. Und wir sind bereit, weiter mitzumachen».

Es gab einen Punkt während der Verhandlungen nach dem 30. Juni, als es danach aussah, dass die salafistische Partei an-Nur möglicherweise als Brücke zwischen beiden Seiten dienen würde.

Kannst du uns mehr zu ihrer derzeitigen Positionierung sagen?

Die salafistischen Parteien unterhalten historisch enge Beziehungen mit Saudi-Arabien, dem saudischen König und dem saudischen Regime. Das ist bis heute der Fall. Das saudische Regime hasst die Muslimbruderschaft regelrecht. Aus einem einfachen Grund: es sieht in Mubarak einen gestürzten Monarchen, der ins Gefängnis geworfen wurde … und genau davor haben sie Angst. Sie unterstützen daher vorrangig die Salafisten, an erster Stelle die Nur-Partei. Die Salafisten konnten mit der finanziellen Unterstützung der Saudis ab 2006 mehrere Fernsehkanäle betreiben. Und Mubarak gab ihnen auch die erforderlichen Lizenzen, weil er mit ihrer Hilfe den Einfluss der Muslimbruderschaft zurückdrängen wollte. Diese Regierungskoalition war also von vornherein keine Liebesbeziehung, und das erklärt, warum die Salafisten zunächst auf die Liberalen und die Armee zugingen. Während der Zeit ihrer Regierungsbeteiligung waren sie Mursis Verbündete, aber schon damals gab es viele Spannungen. Die MB gab ihnen keine wichtigen Ministerposten. Die Salafisten wollten die Scharia in der Verfassung festschreiben, aber Mursi unternahm keinerlei Schritte in diese Richtung. Daher verbrachten sie ihre Zeit mit solchen Fragen wie: Warum wird Alkohol nicht verboten? Warum gibt es keine Kleidervorschriften für Frauen? All diese einfachen Dinge, für die sich auch die Muslimbruderschaft vor ihrem Machtantritt aussprach. Als der 30. Juni kam, da brauchten die Armee und Sisi eine Art islamisches Feigenblatt, also einen oder zwei Minister in untergeordneten Ressorts. Gerade genug, um zu zeigen, dass es sich nicht um einen Putsch gegen den Islam handele. Das Massaker an den Muslimbrudern machte eine solche Beteiligung für die Nur-Führung natürlich vollkommen unmöglich, da sie ihre jungen Anhänger nicht vor den Kopf stossen konnten. Die hätten niemals akzeptiert, dass man betende Menschen auf der Straße einfach hinmetzeln liess. Die Partei wird aber auch weiter hin und her schwanken. Sie ist sehr opportunistisch. Sie behauptet mittlerweile, Mursi hätte den Putsch abwenden können, wenn er mit der Armee und dem Geheimdienst besser zusammengearbeitet hätte. In Wirklichkeit hat Mursi alles getan, um die Armee versöhnlich zu stimmen. Die unter seiner Koalitionsregierung verabschiedete Verfassung war schlimmer noch als die Mubaraks hinsichtlich der weitgehenden Machtbefugnisse der Armee, daher auch die Ankündigung der Armee gleich nach dem 30. Juni, sie wolle gar keine neue Verfassung, lediglich einige Korrekturen der Mursi-Verfassung. Warum? Weil sie die Artikel über die Armee nicht antasten wollen. Darin steht klipp und klar, dass das Armeebudget allein von der Armee bestimmt wird ist und niemand anderes sich darin einzumischen hat. Sie sieht die Aufrechterhaltung der Militärgerichtsbarkeit gegen Zivilisten vor. Darin wird ein nationaler Sicherheitsrat aus insgesamt 14 Mitgliedern festgeschrieben, in dem das Militär die Mehrheit haben muss: 8 Militärs gegen 6 Zivilisten. All diese Grundsätze wurden zu Artikeln der Verfassung, die nicht geändert werden können. Das wollen sie so beibehalten.

Kannst du mir dann sagen, warum Mursis Präsidentschaft so katastrophal erfolglos verlief? Ich habe gehört, dass die Probleme mit den Benzinverknappungen und Unterbrechungen in der Wasser- und Stromversorgung zu Zeit Amtszeit Mursis nach seiner Absetzung geringer geworden sind. Glauben die Leute, dass womöglich Sabotage im Spiel gewesen ist?

Ja, es sah danach aus. Natürlich haben die Menschen Mursi, dem Präsidenten, die Schuld für diese Probleme gegeben. Er hatte doch die Macht, solch einfache Dinge zu regeln. Und jetzt bessert sich die Lage wieder. Das legt nahe, dass die Geschäftsleute und die Bürokratie des alten Regimes immer noch über genug Einfluss verfügten, um Sand ins Getriebe zu streuen und Mursi zu sabotieren. Die Energieversorgungskrise ist ganz real – das steht ausser Frage – aber sie hatte noch nie solche Ausmaße wie zuletzt während der extremen Hitzeperiode. So etwas haben wir noch nie erlebt. Es gab fast überhaupt kein Benzin mehr. Die Stromausfälle waren im ganzen Land allgegenwärtig, was dazu führte, dass Lebensmittel verdarben – mit schrecklichen Folgen vor allem für arme Menschen. Das Problem mit dem Benzin und dem Diesel betraf nicht nur den Verkehr. Beispielsweise hatten auch Bauern keinen Zugang zu Diesel, um ihre Wasserpumpen zu betreiben. Es war einfach zum verrückt werden -Tag für Tag diese ständigen Plagen für die Menschen im ganzen Land.

Von möglicher Sabotage abgesehen, wieso sank Mursis Stern so rapide?

Erstens versuchte die Muslimbruderschaft die Überreste des alten Regimes und die Armee zu besänftigen, so dass sie nicht einmal für jene selbstverständliche Gerechtigkeit einer Übergangszeit sorgen konnte, um all jene Offiziere und Beamten zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschen umgebracht und sich mit Blut besudelt hatten. Sie unternahm nichts gegen sie. Und das war doch eine der zentralen Forderungen des Aufstands: Wir müssen diese Leute, die so viele junge Menschen umgebracht haben, zur Verantwortung ziehen. Sie unternahm nichts in der Richtung. Sie hofften, einen Deal mit den Sicherheitskräften zu schliessen, um sie der Muslimbruderschaft gegenüber weniger feindlich einzustimmen. Genau darum ging es, und sie liessen sie ungeschoren davonkommen. Zweitens setzten sie Mubaraks Wirtschaftskurs einfach fort. In mancherlei Hinsicht befand sie sich sogar rechts von Mubarak, mit Blick auf den Wirtschaftsliberalismus. Die Privatisierungen gingen zügig voran. Sie sagten, es ginge nur darum, Auslandsinvestitionen zu sichern, und dafür müsse man die Bedingungen des IWF akzeptieren. Den versprochenen Kredit haben sie nie erhalten. Aber das war, was sie vorhatten. Nach einem solch gewaltigen revolutionären Aufschwung kann man Kürzungsmassnahmen nicht einfach verabschieden und hoffen, damit durchzukommen. Nach all dem, was die Menschen durchgemacht haben, um Änderungen zu erreichen, nach all den Opfern werden sie solche eine Austeritätspolitik nicht einfach hinnehmen. So konnte die Muslimbruderschaft während ihrer Regierungszeit keines ihrer Ziele umsetzen. Hätte die Mehrheit den Eindruck bekommen, sie würde sich in Richtung der revolutionären Forderungen bewegen, hätte sie sicher an der Macht halten können. Doch wegen des angestrebten Kompromisses konnte sie nicht einmal die prominentesten Leute des alten Regimes, jene mit Blut an den Händen, vor Gericht stellen. Die Armeegeneräle etwa, Tantawi und all die anderen – Mursi und seine Regierung empfingen sie stattdessen mit offenen Armen. Eine der zentralen Forderungen während der Herrschaft des Obersten Militärrats( SCAF) war, dass diesen Leuten wegen der vielen Hundert Toten auf den Strassen der Prozess gemacht wird.

Doch nur ein Jahr später scheinen Millionen Ägypter auf den Strassen die wiederaufgekommene alte Parole «Die Armee und das Volk sind eine Hand» zu teilen. Wie erklärst du dir das?

Viele der Menschen, die am 30. Juni auf die Strassen gingen, waren zum ersten Mal in ihrem Leben politisch aktiv. Sie haben die Erfahrung der direkten Konfrontation mit der Armee noch nicht gemacht, und die Armeeführung handelte sehr klug und griff auf alle möglichen Tricks zurück. Erstens behauptete sie von sich, sie habe mit Tantawi nichts zu tun. Bei ihr handele es sich um eine neue Armeeführung. Es sei eine jüngere Führung, die keine Korruption in den eigenen Reihen dulde und in keiner Verbindung mit dem alten Regime stünde, obwohl Sisi selbst noch von Mubarak ernannt wurde und einer seiner Generäle war. Dann führte die ägyptische Armee diese Flugschauposse über Kairo auf, die die Nationalflagge in den Himmel Kairos malte und Herzen in die Luft zeichnete! Für ihre Charmeoffensive gaben sie wirklich alles. Es wäre allerdings meiner Meinung nach falsch anzunehmen, dass die Flitterwochen von Volk und Armee von Dauer sein werden. Erstens sind nicht alle beteiligt. Es gibt etliche Schichten junger Menschen, die vom ersten Tag an der Revolution beteiligt waren und sehr wohl von der Rolle der Armee wissen. Zweitens lernen die Menschen in Ägypten aus ihren Erfahrungen. Sie sagten das erste Mal, die Armee sei grossartig, als diese Mubarak des Amtes enthob und sich weigerte, in die Menge zu schiessen. Es brauchte damals mehrere Monate, damit Leute ihre Meinung zu ändern begannen und die neue Parole «Nieder mit der Armee, nieder mit den Generäle» aufgriffen. Ich glaube, das wird wieder passieren. Der Grund dafür liegt in dem Wesen der neu eingesetzten Regierung. Auch hier keine Kursänderung, überhaupt keine Aussicht auf Verbesserung.

Du schreibst, dass die Muslimbruderschaft nicht eine einzige der Forderungen der Revolution umgesetzt hat. Aber was auch immer seine Versprechungen, kannst du ernsthaft schon nach 100 Tagen an der Regierung entscheidende Schritte in Richtung soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde erwarten? Die findest du nirgendwo auf der Welt …

Ein einfaches Beispiel. Mursi hatte es in der Hand, ein Gesetz zur progressiven Besteuerung einzuführen, aber er tat es nicht. Er hätte die Vermögen von Mubaraks Geschäftsfreunden und Handlangern verstaatlichen können. Er lieaa sie unberührt. Nimm Ahmed Ezz, ein Mubarak nahe stehender Milliardär, einer aus dem Klan, der seine Fabriken, die grössten Stahlbetriebe nicht nur Ägyptens, sondern in ganz Nahost, immer noch besitzt, obwohl er eine siebenjährige Gefängnisstrafe wegen Geldwäsche absitzt. Natürlich umfasst die Muslimbruderschaft viele Strömungen. Mit der Zeit entstand in der Jugendorganisation eine klare Spaltung zwischen zwei Flügeln – einer konservativen Strömung, die nach immer strengerer islamischer Gesetzgebung ruft, und einer anderen, die eine Interpretation der Scharia mit Betonung auf Gerechtigkeit legt, die eine Umverteilung des Reichtums verlangt. Jetzt, nach dem 30. Juni sind all diese Debatten spurlos von der Bildfläche verschwunden und die Muslimbruderschaft steht zusammen wie ein Mann. Wenn deine Führer ins Gefängnis geworfen und deine Leute auf der Strasse niedergeschossen werden, dann überwiegt das Gefühl der Loyalität und verdrängt alle anderen Gesichtspunkte.

Damit deutest du an, dass ein breiter Teil der Anhängerschaft der Muslimbruderschaft, der potenziell für viele der revolutionären Forderungen hätte gewonnen werden können, nunmehr von den Mursi-Kritikern abgeschnitten ist?

Ja. Es ist der Versuch, zu teilen um zu herrschen. Aber das wird, so denke ich, nicht lange währen. Die Menschen werden sehr schnell lernen, genauso wie sie in der Vergangenheit gelernt haben, dass diese Regierung nichts ändern wird. Und sie werden lernen, dass die Repression, die sich zunächst gegen die Muslimbruderschaft richtet, bald gegen Arbeiter, gegen die Linke, gegen jeden, der seinen Mund aufmacht, richten wird. Wenn du diese Sicherheitskräfte einmal losgelassen hast, werden sie nicht bei der Bruderschaft Halt machen – ganz bestimmt nicht. Und es tun sich innerhalb der Opposition erste Differenzen auf zwischen jenen, die sich voll auf die Seite der Armee und des alten Regimes stellen mit dem Argument, die Muslimbruderschaft sei eine faschistische, reaktionäre Kraft, gegen die wir uns mit jedem verbünden müssen, der diesen Feind niederwerfen will – und einem kleineren Gegenpol von Organisationen, Gruppierungen und Jugendbewegungen, die vom ersten Tag an eine zentrale Rolle in der Revolution gespielt haben und argumentieren, dass unser Hauptfeind der Staat ist und das Mubarak-Regime der Hauptfeind bleibt. Wir werden uns nicht auf die Seite der Überreste des Mubarak-Regimes oder der Armee schlagen, ungeachtet der Tatsache, dass wir auch zur Muslimbruderschaft in Opposition standen. Wir waren an zentraler Stelle an der Bewegung für die Absetzung Mursis beteiligt, aber wir wollten, dass die Menschen Mursi absetzen, nicht die Armee. Wir haben all das nicht durchgestanden, damit die Armee wieder an die Macht kommt und Mubaraks Schergen erneut Ministerposten bekleiden.

Aber auf der anderen Seite haben sie die Herzen und die Fahnen des ägyptischen Nationalismus, nicht wahr?

Ja, sie beziehen sich auf Nassers Erbe, das stimmt – denn auch Nasser war an einem Putsch beteiligt. Einem, aus dem allerdings schnell in eine ganze Kette von wichtigen Reformen erwuchsen, reale Reformen, die auch den Bauern enorme Erleichterungen brachten.

Das war eine nationale Befreiung … und die Armee war heldenhaft.

Im Jahr 1956 war es eine nationale Befreiung, und wenn du heute den Fernseher einschaltest, wirst du von nasseristischen Liedern über die Armee nur so überschwemmt! «Die Armee des Volkes, dies ist die Volksarmee!» Das ist zentral. Das ist die Art, wie sie reden. Der andere Teil ist das drohende terroristische Chaos. Wenn wir nicht die Lage fest in den Griff bekommen, wenn wir die Muslimbruderschaft nicht entscheidend schlagen, werden wir am Ende den gleichen Terror wie in Algerien haben, wir werden syrische Verhältnisse bekommen.

Es gab doch eine Zeit, da schien die Mehrheit der Menschen in Ägypten die ständige Unruhe einfach satt zu haben. Hat die Periode der vermehrten Streiks im Vorfeld des 30. Juni nicht dieses Gefühl von Chaos verstärkt?

Nein, nein. Der 30. Juni hat das Niveau der Mobilisierung erhöht, vor allem in Hinsicht auf soziale und wirtschaftliche Forderungen. Jetzt haben wir eine neue Regierung, und die Menschen sagen, «das ist die Regierung der Revolution, erfüllt unsere Forderungen!» Die städtischen Mittelschichten haben natürlich das Chaos satt, die Strassenblockaden und so weiter. Nun geht die Armee dazu über, dieses Chaos als Ausgangspunkt für eine verallgemeinerte Strategie zu nutzen. Es geht nicht mehr nur darum, die Besetzungen öffentlicher Plätze durch die Muslimbruderschaft aufzulösen, sondern streikende Arbeiter oder Bauern, die eine Hauptstrasse oder Eisenbahnlinie blockieren, mit Gewalt zu entfernen. Daher ist es so wichtig, konsequent all das zurückzuweisen, was der Muslimbruderschaft angetan wird. Wenn wir in dieser Frage nicht konsequent sind, dann wird es später umso schwerer sein, hinterher andere Gruppen zu verteidigen. Es ist in der gegenwärtigen Lage allerdings sehr schwierig, konsequent zu sein.

Und was ist mit dem scharfen Vorgehen auf der Sinai-Halbinsel?

Das Mubarak-Regime hatte den Sinai praktisch aufgegeben. Selbst der Erwerb der ägyptischen Staatsbürgerschaft war für junge Menschen im Sinai extrem schwierig. Es handelt sich dabei um eines der grössten Touristengebiete Ägyptens, vor allem der südliche Sinai. Die Bewohner Sinais dürfen aber dort nicht arbeiten, und sie dürfen auch kein Land besitzen. Sie wurden ernsthaft unterdrückt. Nachdem du so Jahre erlebt hast, trittst du plötzlich in eine revolutionäre Ära ein. Da denken sich die Menschen im Sinai, auch sie haben ein Anrecht, davon zu profitieren. Vielleicht erhalten sie die Staatsbürgerschaft, oder sie können Land erwerben. Aber nichts dergleichen geschah. In der Anfangszeit der Revolution begannen Waffen in den Sinai einzusickern. Die Grenzen waren nicht gut bewacht, so dass viele der Beduinenstämme schwer bewaffnet sind. Dass manche im Verlauf ihres Aufstands zu radikalisierten Islamisten wurden, überrascht nicht. Was wir jetzt erleben ist, dass die Armee mit dem Einverständnis Israels ihre Kräfte in ganz Sinai aufmarschieren liess, um diese angeblich «terroristische» Bewegung niederzuschlagen. Diese Menschen werden mittlerweile in den Medien als Teil einer terroristischen Verschwörung porträtiert, die das Ziel verfolgt, Mursi wieder an die Macht zu verhelfen.

Es scheint, als ob diese terroristische Bedrohung in ganz Nahost zugange ist, immer da, wo die Gefahr einer echten Veränderung droht?

Absolut. Und dann explodieren Bomben an irgendwelchen Orten. Erst neulich wurden Polizisten durch eine Bombe in Mansura getötet. Es wurde behauptet, die Muslimbruderschaft habe die Bombe gelegt. Wir wissen es nicht. Das algerische Szenario ist eine reale Gefahr … in Algerien wusste man nie, wer die Haupttäter waren. War es die islamistische Bewegung? Waren es die radikalisierten Elemente der Salafisten? War es die Armee? Waren es die Geheimdienste? Alle hatten ihre Finger im Spiel, aber genau wusste es niemand. Daher konnte jede Militäroperation in Algerien als Antwort auf die Islamisten dargestellt werden. Diese Gefahr droht uns auch in Ägypten. Genau so wie in Syrien kann die Lage vollkommen ausarten.

Kann sich die Revolution davor schützen?

Ja, das glaube ich schon. Erstens hat sich das Bewusstseinsniveau in Ägypten dank der enormen Beteiligung an den Massendemonstrationen und Streiks unglaublich rasch entwickelt. Wir haben ein hohes Niveau an politischem Bewusstsein. Lassen sie sich durch die von der Armee initiierte Medienpropaganda beeinflussen? Sicher. Aber nicht für lang. Das haben wir gelernt aus diesen ersten zweieinhalb Revolutionsjahren: Die Menschen lernen sehr wohl aus ihren Erfahrungen.

Genau, lass uns etwas näher eingehen auf die Art des politischen Bewusstseins, von dem du sprachst. Welche Lehren zog die Arbeiterbewegung aus den Kämpfen im Vorfeld der Revolution von 2011, und dann in der Zeit danach, in diesem ungeheuren Auf und Ab der Erhebung?

Das Erste, was man bei solchen Massenbewegung dieses Ausmasses beobachten kann, ist die Entwicklung von Ideen direkter Demokratie bei den Menschen. Sie geben sich nicht mehr damit zufrieden, alle vier Jahre zwischen verschiedenen Teilen der Elite wählen zu dürfen.

Meinst du mit direkter Demokratie einfach die schieren Zahlen, die draussen auf den Plätzen waren?

Die grossen Ansammlungen auf den öffentlichen Plätzen sind ein Teil davon. Aber viele glauben, es würde sich dabei um einen führungslosen Prozess handeln. In allen Revolutionen gibt es Führung. Entscheidungen werden nach einem abgesprochenen Prinzip gefällt. Es ist ausserordentlich demokratisch, und die beteiligten Menschen lernen, was direkte Demokratie ist, was es bedeutet, persönlich an den Entscheidungen mitzuwirken. Wohin soll die Demonstration gehen? Wollen wir Gewalt einsetzen oder nicht? Wie werden wir unsere Demonstration schützen? All diese Fragen sind Gegenstand einer demokratischen Debatte und Entscheidungsfindung. Das Gleiche gilt für die Streikbewegung. Was sollen wir tun, wenn der Besitzer den Betrieb schliesst? Sollen wir die Fabrik besetzen? Sollen wir die Fabrik selbst leiten? Es gibt allerlei Entscheidungen, die die Menschen lernen zu fällen. Dabei entwickeln sie eine Art demokratisches Engagement, das weit über den begrenzten demokratischen Rahmen hinausgeht, den wir sonst überall kennen. Noch eins: Die Menschen haben nicht vier Jahre gewartet, bis Mursi seine Amtszeit beendet hatte, um dann den nächsten zu wählen. Sie entschieden sich kollektiv dafür, ihn nach einem Jahr abzusetzen. Dieser Bruch mit demokratischen Gepflogenheiten ist ein Nährboden für Ideen von direkter Demokratie. «Wir können uns etwas anderes vorstellen – das beinhaltet Entscheidungen, die auf den Strassen, in den Betrieben, auf Massenversammlungen gefällt werden, und nicht innerhalb dieses engmaschigen Überwachungssystems.»

Von weitem hat es den Anschein, als ob diese direkte Demokratie nur ein Wort kennt: «Nein» – Nein zu zwei aufeinanderfolgenden Präsidenten beispielsweise. Aber was du beschreibst, ist doch etwas ganz anderes.

Ja, denn die Menschen sagen nicht bloss: «Okay, den sind wir nun los …» Nein, sie debattieren: «Okay, was folgt nun? Was wollen wir jetzt tun? Wie wollen wir das gestalten? Welche Haltung nehmen wir der Armee gegenüber ein? Die Armee geniesst im Augenblick hohe Popularität. Aber was hat sie wirklich vor? Welche Art Regierung wird aus dem Ganzen entstehen? Wer bestimmt überhaupt, wer Minister wird und wer nicht? Wie kommt es, dass die Leute aus der Mubarak-Zeit jetzt wieder in der Regierung sitzen? All diese Debatten finden in Kaffeehäusern, in den Betrieben, auf den Strassen statt … das ganze Volk ist daran beteiligt.

Als ich mich mit der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung näher auseinandersetzte, die diesen Entwicklungen in Ägypten vorausging, wurde mir diese nicht als eine sich allmählich entwickelnde kohärente Dachorganisation beschrieben. Sondern eher als von einer «interaktiven Dynamik» gekennzeichnete Bewegung – was mich an die Occupy-Bewegung erinnerte.

Diese Occupy-Bewegungen müssen als Lernprozess aufgefasst werden. Menschen, die an einer grossen Besetzungsbewegung teilgenommen haben, sind nicht mehr die gleichen wie vorher. Sie nehmen die ganzen Erfahrungen und die Inspiration wieder mit nach Hause. Das wird dann auf andere Formen von Aktivismus und direkter Demokratie übertragen. Es geht nicht nur um das Besetzen von Plätzen. Die Menschen werden weiterhin politisch aktiv bleiben. Und wenn sie wütend sind, werden sie wieder demonstrieren, weil sie das Gefühl für die eigene Macht gewonnen haben, das durch die Beteiligung an einer grossen Bewegung entsteht. Und wenn das für «Occupy Wall Street» gilt, überlege dir, was es für die Situation in ganz Ägypten bedeutet, hundert- und tausendfach potenziert. Jeder kennt irgendjemand, der an den Protesten teilgenommen hat. Alle, auch die Wehrpflichtigen, was in meinen Augen ein entscheidender Faktor in der zukünftigen revolutionären Entwicklung sein wird.

Ich habe viele Presseberichte über die Rolle der Arbeiterbewegung im gesamten revolutionären Prozess gelesen. Es sind akademische Studien – andererseits, wann bekommt man die Ansichten eines Gewerkschaftssekretärs in den britischen Medien serviert? Es hat mich daher überrascht zu lesen, dass die Tamarod-Organisatoren die Gewerkschaftsführer aufgefordert haben, auf den Demonstrationen am 30. Juni keine sichtbare Präsenz in Form von Gewerkschaftsfahnen zu zeigen.


Ich glaube, das hängt mit dem auf die Armee orientierten Teil der Bewegung zusammen. Die Armee wollte der Arbeiterklasse keine sichtbare Rolle einräumen. Sie wollte, dass dies ein Moment nationaler Einheit wird. Die ägyptische Fahne, das war es dann. Alle stehen zusammen – die Überbleibsel des alten Regimes, Revolutionäre, Linke, Großunternehmer – alle zusammen und sonst nichts. Es gab Einschränkungen, nicht nur für die Gewerkschaften, sondern für alle Gruppierungen. Wir hatten das gleiche Problem, so dass die «Revolutionären Sozialisten» sich für eine riesige rote Fahne wie auf türkischen Demonstrationen entschieden, mit Bildern der Märtyrer darauf gemalt, so dass niemand dagegen was sagen konnte. Und wir hatten auch unsere roten Fahnen. Aber die unabhängige Gewerkschaftsbewegung, an der wir seit Jahren engstens beteiligt sind, nahm im Jahr 2006 und 2007 ihren Anlauf. Auf unserer Website wirst du ausführliche Berichte über alles, was sie erlebt hat, finden. Wir haben mehrere Broschüren herausgebracht, mit Streikstatistiken, Auflistungen von Forderungen, welche davon politischer Natur und welche wirtschaftlicher, und in welchem Zusammenhang sie mit den revolutionären Wellen stehen. Denn wir erleben, dass jede politische Protestwelle anschliessend in einen Aufschwung von wirtschaftlichen Forderungen und Arbeiterstreiks übergeht. In der Frühphase, als nur sehr wenige daran glauben konnten, dass da etwas Konkretes herauskommen kann, müssen solche wirtschaftlichen und sozialen Forderungen als mutige Akte des Widerstands erschienen sein.

 Ich habe hier das Zitat eines der Anführer des Mahalla-Streiks, Kamal al-Fayoumi, der sagt: «Der Mahalla-Streik im Jahr 2006 war wie eine Kerze, die den Arbeiter im ganzen Land den Weg zeigte, und dass ein friedlicher Streik möglich war, dass wir der Ungerechtigkeit und der Korruption trotzen können». Für wie bedeutsam hältst du diese Funken in der Geschichte des Aufstands?

Sie waren ganz zentral. Vorranging ging es um den Aufbau von Selbstvertrauen, dass friedliche Demonstrationen möglich sind. Und kollektive Aktion: ein neues Gefühl, dass wir die Dinge durch kollektives Handeln verändern können. Die Revolution von 2011 hätte ohne den ersten Schritt der Mahalla-Arbeiterinnen im Jahr 2006 und 2007 mit ihren massiven, hundert Prozent friedlichen Betriebsbesetzungen nicht stattgefunden. Männer und Frauen gemeinsam. Christen und Muslime gemeinsam. Sie haben mit allerlei Tabus gebrochen. In der Folge liessen sich viele Frauen scheiden, weil sie sich weigerten, wieder nach Hause zu gehen! Der erste grosse Streik in Mahalla im Dezember 2006 wurde von Frauen angeführt. Die Mahalla-Textilfabrik ist die grösste in Nahost und ganz Afrika und war sogar einmal die grösste der Welt. Das war natürlich bevor die Chinesen auf die Bühne traten. Die Konzentration von Arbeitskräften erinnert an jene Englands im 19. Jahrhundert. Es waren mal 40 000 Beschäftigte, heute sind es immerhin noch 27 000. Es ist ein Riesenbetrieb, der seit den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts stets im Mittelpunkt der Arbeiterbewegung stand. Als sie dann streikten und tatsächlich gewannen und nicht nur ihre rein gewerkschaftlichen Forderungen durchsetzten, sondern auch die Entfernung des korrupten Managements, da ging eine Welle durch die gesamte ägyptische Arbeiterklasse. Mit dem Effekt, dass eine Industrie nach der anderen sich dieser Bewegung anschloss. Daraus entstand die grösste Streikwelle der ägyptischen Geschichte während der Jahre 2007 und 2008. Das Ergebnis war die Herausbildung neuer, unabhängiger Gewerkschaften. Übrigens: Kamal al-Fayoumi ist Mitglied unserer Partei, ein sehr guter Kerl. Es gibt zwei unabhängige Gewerkschaftsverbände. Der erste entstand nach dem riesigen Streik der Steuerbeamten – einem grossen, unterbezahlen Teil der Arbeiterklasse, die etwa 300 ägyptische Pfund (rund 45 Euro) im Monat verdienten. Dieser Streik wurde angeführt von, dem Mann, der jüngst zum Minister für Arbeit im neuen Kabinett ernannt wurde (Kamal Abu Eita). Die Bewegung breitete sich vor der Revolution noch langsam aus, hob aber nach der Revolution richtig ab, so dass die unabhängigen Gewerkschaften mittlerweile über zwei Millionen Mitglieder zählen.

Was hältst du von seiner Ernennung – ist doch Grund für Genugtuung?

Klar, ein Teil der Arbeiter sagt: «Okay, jetzt haben wir unseren Mann im Ministerium, also, gib uns, was wir fordern: Wir wollen einen Mindestlohn, wir wollen einen Maximallohn. Und so weiter». Aber in Wirklichkeit sind seine Hände gebunden, denn es ist eine neoliberale Regierung, der es um die Durchsetzung einer Austeritätspolitik geht und diesen Forderungen nicht nachgeben wird. Andere Minister haben ihn bereits gewarnt: «Wenn wir die Löhne zu stark anheben, bekommen wir Inflation. Und wenn die Inflation zunimmt…». Und sie sind es, die über die Wirtschaft entscheiden, nicht er. Daher glaube ich, dass er einen grossen Fehler gemacht hat, als er diesen Job annahm. Die Arbeiter sollten ihn unter Druck setzen, wo nur möglich. Und ich hoffe, er tritt bald zurück. Ich kenne ihn sehr gut, ich habe mit ihm sehr eng zusammengearbeitet.

Warum glaubst du hat er den Posten angenommen?

Er ist Nasserist, und Nasseristen haben allerlei konfuse Vorstellungen über die Armee. Sie glauben tatsächlich, dass die Armee eine Kraft für das Gute werden kann.

Welcher Unterschied besteht zwischen den beiden unabhängigen Gewerkschaftsverbänden? Ist die Arbeiterbewegung in der Frage von Mursis Präsidentschaft gespalten?

Überhaupt nicht. Es sind zwei Organisationen entstanden infolge trivialer Auseinandersetzungen um die Führung. Beide sind selbstverständlich Anti-Mursi. Mursi hat die unabhängigen Gewerkschaften stark bekämpft. Auch hier gab seine Regierung ihr Bestes, um die Gewerkschaftsbürokratie des alten Regimes zufrieden zu stellen, und wiegelte sie gegen die neuen Gewerkschaften auf. In der Verfassung von 2012 ist das Recht zur Gründung von Gewerkschaften allerdings verankert. Entscheidender waren aber die Gerichtsurteile über Fragen der Privatisierung. Es ging um Firmen, die korrupt geführt wurden und die Gerichte die Wiederverstaatlichung verfügten. Aber Mursi hat diese Urteile nie umgesetzt. Zugleich entstand eine neue Gewerkschaftsbürokratie, die sich gegen Streiks aussprach und ein einvernehmliches Verhältnis zwischen Kapitalisten auf der einen und Arbeitern auf der anderen Seiten kultivieren wollten. Diese Bürokratie entwickelte sich schnell im gleichen Dachverband der unabhängigen Gewerkschaften. Diese Bürokratie findet ihre adäquate Vertretung im neuen Minister für Arbeit. Das ist die Logik, die hinter seiner Bereitschaft stand, den Job anzunehmen.

Im März 2011 gab es die Erklärung der Gewerkschaftsrechte, in der Organisations- und Versammlungsfreiheit, sowie ein Tarifrecht gefordert wurde. Welche Forderungen wurden aufgestellt?

Es gab die Forderung, dass die von den Eigentümern geschlossenen Betriebe von den Arbeitern übernommen werden sollten. Es hat auch mehrere entsprechende Versuche in verschiedenen Industriezweigen gegeben. Es ist aber nicht leicht. Die Streiks im Gesundheitswesen sind ein gutes Beispiel dafür, worum es geht, nämlich um die Entfernung von Hierarchien, vor allem zwischen den Berufsständen. Wir reden hier nicht von Klassenspaltung, denn Ärzte verdienen nicht viel in Ägypten. Aber es gibt diese Hierarchie. Die alte Hierarchie im Gesundheitswesen wurde geschleift, so dass Ärzte, Krankenschwestern, Techniker und die Reinigungskräfte alle Teil einer Gewerkschaft sind und die klassischen Methoden der Arbeiterbewegung einsetzen: Streiks, Demonstrationen, Besetzungen. Die gleichen Ansätze sehen wir auch im Bildungswesen und bei Rechtsanwälten. Sie alle werden gewissermassen zu einem Teil der Arbeiterbewegung. Besonders interessant in dieser Hinsicht war übrigens die Forderung der Ärzte, das Gesundheitsbudget von derzeit 4 Prozent des Inlandsprodukts auf 15 Prozent zu erhöhen. Sie fordern also nicht einfach höhere Gehälter. Es ist eine Forderung, die eine Verbesserung der Lebensumstände für alle Menschen bedeutet, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen und ordentliche Leistungen wollen. Somit weitet sich der Kampf aus. Auf der einen Seite hast du eine Regierung, die den Ärzte vorwirft, mit ihren Streiks Menschen umzubringen: «So viele Menschen werden sterben …» Ich glaube, ihr kennt diese Litanei ganz gut. Und dann hast du die Antwort der Ärzte und Krankenschwestern, die sagen: «Nein, wir tun das für diese Menschen. Diese Menschen sterben jeden Tag, weil nicht genügend Geld vorhanden ist, um die nötige Medizin und das Material zu kaufen. Wir haben nicht genügend Betten , es fehlt an Personal im Gesundheitswesen». Es gab auch mehrere Versuche, Krankenhäuser ganz gebührenfrei zu managen, ausserhalb der Kontrolle durch das alte System. Das hat auch mancherorts für eine Weile funktioniert. Und jedes Mal sammeln die Menschen neue praktische Erfahrungen.

Aber Anfang 2012 wurde doch auch ein Gesetz verabschiedet, das Streiks verbietet?

Das war das Militär. Das Gesetz blieb aber vollkommen wirkungslos, weil sie es inmitten einer grossen Streikwelle verkündeten und die Streiks einfach fortgesetzt wurden. Sie konnten nicht Arbeiter verhaften oder erschiessen zu einem Zeitpunkt, als das Vertrauen in die Revolution so gross war. Das wäre zu gefährlich für sie gewesen.

Das ist eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft des revolutionären Prozesses.

Allerdings. Es ist sehr schwierig für das Militär, jetzt auf den Stand von früher zurückzukehren. Arbeiter beteiligten sich aktiv an der Tamarod-Kampagne, wobei sie nicht nur Hunderte und Tausende Unterschriften sammelten, sondern auch Kampagnenbüros eröffneten und in direkter Zusammenarbeit mit der Tamarod-Zentrale ihre Aktivitäten koordinierten. Sie bereiteten Akte des zivilen Ungehorsams vor, um notfalls Regierungseinrichtungen schliessen zu können. Wenn die Armee nicht interveniert und durch einen Putsch Mursi selbst entfernt hätte, hätte sich daraus sehr schnell ein Generalstreik entwickeln können. Das ist der Grund, warum sie jetzt diese Angst vor Terrorismus und ein falsches Nationalismusgefühl schüren müssen, um allerlei Ängste zu schaffen, die sich gegen die Arbeiter wenden lassen.

Das «ägyptische Zentrum für Wirtschaftliche und Soziale Rechte» berichtete in diesem Jahr in einem für die Vereinten Nationen verfassten Bericht, dass Arbeiterforderungen auf zunehmende Gewalt stossen würden. Inwieweit stimmt das?

Es ist in der Tat so, dass die Polizei nach dem 30. Juni wieder verstärkt in Aktion tritt. Aber auch in der langen Phase, da sie sich zurückhielten, griffen die Eigentümer von Privatbetrieben und die Regierung ebenfalls zur Gewalt gegenüber Arbeitern. Fabrikbesitzer heuerten oft Schläger an. Hass gegen andere Religionen und Konfessionen ist ebenfalls eine nützliche Waffe, um Gewalt zu erzeugen. Die Muslimbruderschaft setzte dieses Mittel ein. Auch die Armee. Historisch betrachtet benutzte das Mubarak-Regime die konfessionelle Spaltung besonders effektiv. Einer der positivsten Aspekte der jüngsten revolutionären Mobilisierung war der bewusste Bruch mit solchen Traditionen. Einer der Beweggründe für die Menschen, am 30. Juni auf die Strassen zu gehen, war Mursis idiotischer Versuch, gerade diesen Weg in seiner Rede über Syrien zu gehen. Er liess einige besonders reaktionäre Prediger zu Wort kommen, die den schlimmsten Blödsinn erzählten, wonach die Schiiten keine Muslime seien und getötet werden sollten, weil sie nicht Teil unserer Gemeinschaft sein können und so weiter. Und dann folgte daraus das Massaker einer Gruppe von Schiiten in Gizeh. Der Schuss ging allerdings nach hinten los. Die Menschen wollten damit nichts zu tun haben, sie hassten es. Ich sah Frauen am 30. Juni, die die Vollverschleierung des Niqab trugen. Als sie einen koptischen Priester erblickten, der nicht einmal an der Demonstration beteiligt war, hoben sie ihn hoch und trugen ihn auf ihren Schultern!

Zu diesem Text: Zuerst veröffentlicht auf www.opendemocracy.net erschienen am 24. Juli 2013. Übersetzung aus dem Englischen: David Paenson

Zur Person: Sameh Naguib ist führendes Mitglied der ägyptischen Organisation «Revolutionäre SozialistInnen».

Türkei: Die Revolution ist endlich da!

türkeiMaria lebt in Istanbul und hat dem vorwärts folgenden Augenzeugenbericht zugestellt.

Wir sind seit gestern Abend (2.Juni) wieder hier auf der europäischen Seite. Gestern gab es wieder eine «Schlacht» in Besiktas, neben Erdogans Amtssitz. Es war wieder eine sehr brutale Angelegenheit und die Polizei hat sogar mit Gaspistolen in Wohnungen und in die Bahcesehir Universität geschossen. Ständig gab es Nachrichten auf facebook und Twitter, dass Erste Hilfe benötigt wird.

Wir waren im Gezi Park und dort hätte die Stimmung nicht friedlicher sein können. Alle sitzen dort, lassen Ballons steigen, singen, tanzen, reden. Es gibt eigentlich nur ein Thema. Der Protest. Wer war wo an welchem Tag. Wer nimmt was wie wahr, wie fühlt man sich mit all dem?

Ein Freund meines Mannes, mit dem ich mich vor einer Woche darüber unterhalten hatte, dass Leute auf die Strasse gehen müssten, statt ihr ein Leben im Ausland zu planen, rief: «Maria, you told me last week that this is possible! I didn’t believe it and now it happened!» Er ist übrigens einer derer, die seit zwei Tagen an vorderster Front standen und von dem Wasserstrahl umgeworfen wurde, auch diverse Stiefeltritte hat er abbekommen. Aber sein ganzes Gesicht strahlte, als er mir gestern sagte, dass er glücklich ist, dass «die Revolution nun endlich da ist.»

Gegen 1.30 Uhr ging langsam das Gerücht rum, dass die Polizei auf dem Weg zum Park ist. Ein Mann ging rum, um jedem seine Blutgruppe mit Edding auf den Arm zu schreiben, damit die Ärzte schneller Bescheid wissen, falls was passiert. Es gab Aufrufe, die Barrikaden noch ein bisschen höher oder breiter zu bauen und viele Leute sammelten alles was nicht niet und nagelfest ist von der Baustelle und brachten es zu den Barrikaden. Ich stellte mich dann an den Ausgang zum Park, der in Richtung der Wohnung meiner Freundin führt, nur für den Fall, dass man schnell raus muss.

Einer sagte: «Leute, es ist zu gefährlich, hier neben der Baustelle zu stehen. Lasst uns in den Park gehen, damit wir andere Fluchtwege haben und nicht in die Baustelle fallen.» Also zogen sich alle in den Park zurück. Doch nichts passierte. Eine Stunde war Warten angesagt. Dann entspannte sich die Situation wieder und viele kamen zurück auf die Strasse. Die Barrikaden haben gehalten! Es gibt keine Möglichkeit mehr für die Polizei, mit ihren Wasserwerfern in den Park zu gelangen! Was für ein Erfolg!

Allerdings gibt es heut auch schlechte Nachrichten. Die Verhafteten werden scheinbar dazu gezwungen ein Formular zu unterschreiben, das besagt, sie werden von ihrem Recht jemanden anzurufen nicht Gebrauch machen. Erdogan spricht davon, dass jene 50 Prozent der BürgerInnen, die ihn gewählt haben, gegen die DemonstrantInnen kämpfen wollen und er sie nicht mehr lange zurückhalten kann… Und vorsichtshalber, bevor es hier richtig brenzlig werden könnte, ist er für vier Tage nach Afrika abgereist…

3.Juni

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wundervoll es ist, diese grenzenlose Solidarität hier zu erleben. Dies ist eine Protestbewegung, die sich durch wirklich ALLE sozialen Schichten zieht. Ich habe ja schon erzählt, dass alle jeden mit Milch und Zitronen versorgen. Aber das ist wirklich nicht alles. Zum Beispiel gab es eine Situation, als mein Mann, zusammen mit vielen anderen vorgestern vom Taksim Platz in eine Seitenstrasse stürmte, um einer Gasattacke zu entgehen und wirklich jede Tür summte, die gesamte ssentlang, weil Menschen in den Häusern die Türöffner drückten, um die Flüchtenden hereinzulassen. Und nicht nur die Haustüren waren offen, auch alle Wohnungstüren waren offen. Die Menschen gaben Wasser, ihre Sofas, ihre Badezimmer. Was immer gerade gebraucht wurde. Yalin sagt, in diesem Moment war ihm klar, dass die Bewegung gewinnen wird. Denn wie soll ein bisschen Gas oder die vermeintlichen 50  Prozent gegen all diese Menschen gewinnen, die auf diese Weise ihre Solidarität ausdrücken?

Gestern Abend ging ein Mann von etwa 65-70 Jahren durch die Gaswolke und verteilte Wasser an alle.  Die Verkäufer im Bakkal (Späti), Taxifahrer, StudentInnen, AnwältInnen… Alle sind auf einmal füreinander da. Es scheint keine Unterschiede mehr zu geben. Und das hier, in Istanbul, wo die sozialen Unterschiede eigentlich sehr deutlich waren. Wo die reicheren, den «kleinen» VerkäuferInnen nicht mal richtig in die Augen geschaut haben.

Heute sahen wir sogar zwei Jungs nebeneinander hergehen. Einer im Besiktas-Trikot, der andere im Fenerbahce-Trikot. Das mag euch jetzt nicht so wichtig vorkommen… Aber zwei Fans der beiden sonst bis aufs Blut verfeindeten Rivalen, in ihren Clubfarben, nebeneinander, friedlich im Gespräch … ein zuvor undenkbares Bild! Heute sprachen wir mit einer Mutter und ihrer Tochter. Die Tochter kam gerade aus Ankara zurück. Sie erzählte, sie habe gestern Abend gesehen, dass eine junger Mann am Arm verletzt worden war und blutete. Eine Frau mit Kopftuch sagte: «Was machen sie nur mit uns?», nahm ihr Kopftuch ab (!) und gab es ihm, um seinen Arm zu verbinden. Was auch unglaublich überwältigend ist, sind die «Topf-mit-Löffel-Konzerte» jeden Abend um 9.00 Uhr. Es begann vor ein paar Tagen, dass Leute von zuhause aus ihre Solidarität zeigen wollten. Sie standen an ihren Fenstern und schlugen mit Löffeln auf Töpfe, Siebe, Kannen, was immer Lärm macht. Nun wurde dazu aufgerufen, jeden Abend um 21 Uhr das gleiche zu tun. Vorgestern klopften Freundinnen von mir wie wild, gemeinsam mit einigen Nachbarn, mit denen man sonst nie viele Worte wechselt. Sie riefen sich danach zu:“Yarin ayni zaman görüsürüz!“ Morgen um die gleiche Zeit sehen wir uns wieder! Und heute, ich bin gerade wieder zuhause, weil ich morgen eine Klausur schreiben muss, stand ich mit meiner Schwiegermutter auf dem Balkon und wir klopften wie wild. Aber nicht nur wir. Die gesamte Nachbarschaft. An fast jedem Fenster stehen Menschen mit ihrer Kücheneinrichtung! Dazu schalten die Menschen ihre Lichter immer an und aus. Es sieht wundervoll aus und klingt phantastisch! Autofahrer, die nun mal eben gerade keine Töpfe zur Hand haben, hupen, Fußgänger pfeifen. Gänsehaut, 15 Minuten lang! Und es wurde bisher jeden Abend lauter.

Was auch sehr schön ist, sind die Sprüche, die auf Schildern stehen, an Wände gesprayt werden oder gepostet. Ein Schild sagte: «Thanks Tayyip, for making me feel at home! A Syrien refugee.»

An einer Wand stand: „Liebe Polizei, warum habt ihr uns zum Weinen gebracht? Wir waren auch vorher schon emotional genug.“ Oder (Das Tränengas heisst auf Türkisch Biber Gazi) «Just in Biber»

Was auch wunderbar war, wurde auf Twitter gepostet. Erdogan behauptet ja ständig, dass es lediglich eine Randgruppe ist, die auf der Strasse demonstriert. Und jemand hat gepostet: «Ich laufe mit einer Gasmaske durch die Strasse und trage eine Schwimmbrille. Oh mein Gott, ich bin eine Randgruppe!»

Nun ja, all diese schönen Momente und diese grenzübergreifende Solidarität sind es, die alle immer wieder auf die Strasse bringen. Es sind wieder Tausende im Park und auf dem Platz. Leider wurde in der Nähe wieder Gas geworfen und die Auswirkungen sind bis dorthin zu spüren. Zum ersten Mal seit zwei Nächten muss man nun auch im Park wieder Masken und Schwimmbrillen tragen, nicht nur in Besiktas, wo es übrigens auch gerade jetzt wieder kracht. Ich weiss auch nicht warum ich wieder mal gerade nicht dort bin, sondern zuhause, anstatt im Park wie gestern die halbe Nacht… Vielleicht ist es doch das Nazar Boncugu, das Yalin mir schenkte bevor ich nach Palästina gereist bin, das mich immer wieder vor den gefährlichsten Situationen bewahrt…

Ausbeutung und Widerstand in China

foxcomNach «Dagongmei» und «Aufbruch der zweiten Generation», Bücher über die WanderarbeiterInnen Chinas, ist nun ein weiteres Buch in deutscher Sprache über die Klassenzusammensetzung und den Widerstand in China erschienen. In «iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken?» geben -ArbeiterInnen und WissenschaftlerInnen Einblick in das Fabriksystem des tai-wanesischen Konzerns Foxconn.

Ende Mai erhielten wir wieder einmal traurige Nachrichten aus China: Zwei Arbeiter und eine Arbeiterin des wichtigsten Apple-Zulieferers Foxconn haben sich in den Tod gestürzt. Die Gründe seien noch unklar, doch auch die bürgerlichen Medien konnten einen Zusammenhang mit der Suizidserie im Jahre 2010 nicht bestreiten. AktivistInnen von Solidaritätsgruppen in China, Hongkong und anderen Ländern wiesen auf die miesen Arbeitsbedingungen und die militärische Unternehmensführung als Ursachen der Selbstmorde hin. Sie prangerten die gezielte Spaltung und Vereinzelung der ArbeiterInnen in den Werkhallen und Wohnheimen an, mit der Foxconn Arbeiterwiderstand verhindern will.

Um mehr über die konkreten Bedingungen zu erfahren, startete eine Forschungsgruppe im Frühjahr 2010 ein Untersuchungsprojekt. Die Ergebnisse sind nun auch in deutscher Sprache erschienen und sie setzen an zwei Erzählweisen an: «Zum einen analysieren Mitglieder des Untersuchungsteams wichtige Aspekte des Foxconn Modells, zum anderen erzählen einzelne ArbeiterInnen ihre Geschichte des Alltags und der Ausbeutung in den Fabriken Foxconns.» (S. 9)

Die verborgene Stätte der Produktion

«Diese aller Augen zugängliche Sphäre (Markt und Zirkulation) verlassen wir, zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgene Stätte der Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business (Eintritt nur in Geschäftsangelegenheiten). Hier wird sich zeigen […] wie das Kapital produziert wird […] Das Geheimnis der Plusmacherei muss sich endlich enthüllen.» (S. 189) So beschreibt Marx im ersten Band des Kapitals die Notwendigkeit, innerhalb der Produktionssphäre – also in den Betrieben selbst – Ausbeutung und Widerstand genau zu analysieren, um Klassen- und Kapitalverhältnisse zu verstehen. Der Zugang zur Produktionssphäre ist jedoch alles andere als leicht. Das haben auch die ForscherInnen erlebt, die die Foxconn-Fabriken analysiert haben. «Das Untersuchungsteam wandte sich bereits im Mai 2010 schriftlich an die Foxconn-Zentrale, um mit ihrem Einverständnis die Lage in den Fabriken untersuchen zu können, aber von Seiten Foxconns kam keine Reaktion.» (S. 30) Auch die sozialwissenschaftliche Arbeit ist also keine neutrale Tätigkeit, sondern stets ein umkämpftes Feld, in dem sich unterschiedliche gesellschaftliche Interessen gegenüberstehen.

Foxconns Produktionsregime

Bei Foxconn, dem weltgrössten Elektronikhersteller und Chinas Weltfabrik Nummer eins, stellt sich das ökonomische Entwicklungsmodell Chinas fast idealtypisch dar. Die Betriebsführung basiert auf einem repressiven Überwachungs- und Bestrafungssystem. Eine Fliessbandarbeiterin sagt: «Wir sind wie Staubkörner. Die Linienführerin sagt oft, dass es egal ist, ob diese oder jene am Band steht. Wenn du gehst, kommt halt eine andere und macht deine Arbeit. In dieser Fabrik zählen wir ProduktionsarbeiterInnen nicht. Wir sind nur ein Arbeitsgerät.» (S. 58/59)

Die despotische Fabrikorganisation zeigt sich in der materiellen Situation der ArbeiterInnen. Aufgrund der Suizidserie Anfang 2010 hatte Foxconn angekündigt, die Löhne um 30 Prozent zu erhöhen. Doch real tendieren die Grundlöhne immer weiter nach unten und die ArbeiterInnen erreichen nur dann einen Lohn, der zum Überleben reicht, wenn sie Überstunden leisten. Über 40 Prozent der Einkommen besteht aus Überstundenlohn. Arbeitsschutz, Pausen, Respekt gewerkschaftlicher Rechte sind Fremdwörter bei Foxconn.

Andererseits wendet Foxconn zur Disziplinierung der ArbeiterInnen Formen der «ideologischen Um-erziehung an» (S. 61), um einen Unternehmensgeist zu schaffen und den ArbeiterInnen klarzumachen, dass das Unternehmen an erster Stelle zu stehen hat. «Mühsal ist die Grundlage von Reichtum, praktische Umsetzung ist der Weg zum Erfolg» – mit solchen Diskursen garantiert Foxconn eine «Kultur des Gehorsams».

Arbeitskämpfe bei Foxconn

ArbeiterInnen machen die Produktionshallen jedoch auch zum Schlachtfeld. Die Länge des Arbeitstages, die Arbeitsintensität, die Arbeitsgeschwindigkeit und die Organisation des Arbeitsprozesses stehen im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzung. Streiks, Ausschreitungen, Strassenblockaden, Dachbesetzungen und Selbstmorddrohungen haben das Management herausgefordert, doch an der Produktionsorganisation hat sich bisher wenig verändert. Die Kommunikation zwischen den ArbeiterInnen hat sich aber dadurch auch weiterentwickelt, und die Erfahrung kollektiver Mobilisierungen in Fabrikhallen und Wohnheimen war wichtig (vgl. Kap. 7).

Klassenkampf als Subjekt der Geschichte

«Die AutorInnen des Buches fokussieren auf die Darstellung des Ausbeutungsregimes – Drill, Wohnheime, Verlagerung – als Antwort auf Arbeiterverhalten – Fluchtträume, Fluktuation, Kämpfe.» (S. 12) Damit nehmen die AutorInnen eine theoretische Position ein, die die Zentralität des alltäglichen Konflikts im Produktionsprozess als den treibenden Motor der wirtschaftlichen Entwicklung versteht. Sie knüpfen an die operaistische Tradition an: Technologie und Organisation der kapitalistischen Produktionsweise als Methode der Beherrschung und Kommandierung lebendiger Arbeit werden radikal kritisiert. Damit vollziehen sie einen Bruch mit dem Verständnis der bürgerlichen Ökonomie und mit dem «orthodoxen» Marxismus, die beide die ArbeiterInnen im unmittelbaren Produktionsprozess zu «ZuschauerInnen» der historischen Entwicklung degradieren. Vielmehr wird der alltäglich von den ArbeiterInnen geführte Klassenkampf zum Subjekt der Geschichte. Die Notwendigkeit unserer solidarischen Unterstützung des Widerstandes der ArbeiterInnen in China kann damit auch als Ausgangspunkt dienen, über unsere eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen nachzudenken.

Kleines Krisen-Update

Finanzminister beraten über Euro-Krise

Die Krise wütet in der Euro-Zone, vom Zweckoptimismus des politischen Personals gänzlich unberührt, weiter.  Ein (zu) kurzer ökonomischer Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand des Schlamassels.

Aus dem vorwärts vom 24. Mai. Unterstütze uns mit einem Abo.

Die litauische Präsidentin, Dalia Grybauskaite, verkündete kürzlich in einem Interview mit der «Deutschen Welle», dass es überhaupt keine Euro-Krise gebe. Ihr Kollege, der EU-Kommissionspräsident José Manuel Borroso, war in Bezug auf die Vergangenheit etwas realitätsnäher, aber auch er erklärte auf dem «WDR Europaforum» kürzlich: «Die existenzielle Krise des Euro ist vorbei». Diese Aussagen deuten entweder auf einen grassierenden Realitätsverlust bei Teilen des politischen Personals hin oder aber sie sollen vor allem eines sein: selbsterfüllende Prophezeiungen. Man möchte die Zuversicht bei den MarktteilnehmerInnen fördern und ignoriert dazu schlicht die reellen Problemen, die sich unvermindert in die Nationalökonomien der Euro-Zone fressen.

Die Proletarisierten können eine Lied vom Ende der Krise singen: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in der Euro-Zone bei rund 24 Prozent; angeführt von Griechenland und Spanien, die mittlerweile mit knapp 60 Prozent Arbeitslosen unter 25 Jahren zu Buche schlagen. Die «Zukunft der Gesellschaft» wächst ohne Zukunft heran. Derzeit werden in Spanien täglich über 500 Familien aus ihren Häusern geworfen; seit Beginn der Krise wurden über 400 000 Räumungen vollstreckt. Die Austeritätsprogramme in den Krisenstaaten sorgen dafür, dass allerorts Betroffene nur schlecht aufgefangen werden und die wohltätigen Suppenküchen kaum dem Ansturm gewachsen sind. Doch auch wenn man den Blick vom zunehmenden Elend der Proletarisierten weg, hin zu den nackten Wirtschaftsdaten lenkt, sieht es nicht wesentlich besser aus.

Krisenphänomene

Die neusten Quartalszahlen der Euro-Zone sprechen von einem Sinken des Bruttoinlandproduktes (BIP) von 0,2 Prozent. Von einer Rezession spricht man im Allgemeinen, wenn das BIP in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen sinkt. Es ist nun aber bereits das sechsts Quartal in Folge, dass die Wirtschaftsleistung der Euro-Zone schrumpft. Das schwache Wachstum der deutschen Nationalökonomie kann diesem Trend nicht entgegenwirken – und ist übrigens nur auf Kosten von Staaten möglich, die deutsche Waren importieren. Für den Krisenstaat Zypern rechnen ExpertInnen 2013 mit einem Einbruch des BIP von 8,7 Prozent. Die Ideologie des beständigen Wachstums, wie sie von ExpertInnen und PolitikerInnen wie ein Mantra beschworen wird, hat ihren wahren Kern, auch wenn sie selber davon keinen Begriff haben?: Das Kapital kann sich nur auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren. Geld muss profitabel investiert werden und der entstehende Mehrwert als Kapital neu in den Produktionsprozess fliessen – alles natürlich bei entsprechenden Profitraten. Eine stagnierende oder gar sich verkleinernde Volkswirtschaft zeigt also nicht weniger an, als dass sich gewisse Kapitale nicht mehr reproduzieren können.

Die wachsenden Staatsschulden hängen natürlich damit zusammen: Nebst der stockenden (momentan aber zumindest kurzfristig wieder etwas besser laufenden) Refinanzierung auf den Finanzmärkten sind vor allem die damit verbundenen sinkenden Steuereinnahmen durch die Unternehmen ein Problem. Die Rezession führt aber auch zu einem Einbrechen der Einnahmen der Massen durch Arbeitslosigkeit. Dies wiederum untergräbt das Steuersubstrat. Zudem wird dadurch die Massennachfrage reduziert, was einige Linke fälschlich zur Ursache der Krise verklären.

Krise des Kapitals

Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht seit einiger Zeit diesen Prozessen mit verschiedenen Massnahmen Herr zu werden: Sie erklärte, dass sie im Krisenfall die betreffenden Staatsanleihen aufkaufen würde. Dies führte dazu, dass die Finanzmärkte wieder etwas Vertrauen fassten und etwa riskante italienische Staatspapiere aufkauften. Bloss: Sollte der italienische Staat, immerhin die drittgrösste Nationalökonomie der EU, tatsächlich Bankrott gehen, ist es mehr als fraglich, ob die monetären Mittel der EZB ausreichen, um die entsprechenden Schrottpapiere aufzukaufen. Ausserdem senkte die EZB den Leitzins auf 0,5 Prozent und versucht so Geld in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen. Die Vorstellung dabei ist, dass dieses Geld in die produktive Wirtschaft fliesst und einen Wirtschaftsaufschwung generiert, der auch die Arbeitslosenzahlen nach unten korrigiert. Blöd nur, dass dieses Geld momentan gerade das nicht macht, sondern in hochspekulative Bereiche abfliesst und die Börsenkurse unabhängig von der sogenannten Realwirtschaft befeuert – was zu allerhand veritablen Blasenbildungen führt. Das Problem ist nicht, dass die Bank-ManagerInnen alle durchgedreht sind. Das Geld wird in der Regel nicht mehr in der sogenannten Realwirtschaft investiert, weil die Profitraten nicht mehr ausreichen, um Unternehmensgewinn und (Bank-)Zinsen in der notwendigen Höhe zu garantieren. Das ist das eigentliche Dilemma: Die EZB pumpt Geld in eine Wirtschaft, die wegen mangelnder Profitraten an Kapitalüberproduktion leidet.

Krisenlösung?

Was Europa als Lösung anstrebt, ist eine aggressive Exportpolitik nach deutschem Vorbild. Diese quasi merkantilistische Politik soll dazu führen, dass durch die Exportüberschüsse die Defizite und schliesslich auch die Staatschulden exportiert werden können. Dies ist aber nur möglich, wenn bei hoher Produktivität die Lohnstückkosten gesenkt werden können – wie das Deutschland mit den Hartz-Reformen gelungen ist – und man das Defizit einfach an zu Schuldnerstaaten degradierte Nationalökonomien auslagern kann. Wie lange diese Staaten überhaupt die Überschüsse aufkaufen können, steht in den Sternen; ihre Wirtschaft wird schlicht und einfach ruiniert (siehe etwa Griechenland). Eine wirkliche Lösung ist dieses Modell auf jeden Fall nicht. Aus dem wirtschaftlichen Dilemma wird es keinen Ausweg geben ausser der massiven Vernichtung von Kapital mit den damit verbundenen Verheerungen für die Proletarisierten. Als kommunistischer Beobachter dieser Prozesse muss man sich nicht so dumm machen lassen wie das politische Personal des Kapitals, sondern kann offen aussprechen, dass der Kapitalismus derzeit in einer Sackgasse steckt.

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