Hass allein genügt nicht mehr

petryEin Beitrag zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, zum Wahlerfolg der «Alternative für Deutschland», zum Nationalismus und zum Klassenkampf.

Da wäre zunächst der Teil, den wir schon mal hatten: eine AfD wird aus dem Stand in einem nationalistischen Taumel bei Wahlen zweistellig (Wahlsieg der «Allianz für Deutschland» 1990); unterdessen zusammengepferchte und drangsalierte Bürgerkriegsflüchtlinge, Roma und andere MigrantInnen – und der staatlich geduldete bis geförderte rassistische und faschistische Terror gegen sie, der mit Asylrechtsverschärfung «belohnt» wird; dazu noch eine zu erheblichen Teilen aus faschismusaffinen Strukturen rekrutierte Grenzpolizei. Anders betrachtet: Es handelt sich um eine durch mehr oder weniger absichtliche Fehlplanung staatlich hergestellte «Flüchtlingskrise»; leidende und fliehende Menschen werden medial als «Flut» dargestellt, gegen die nur eine nationalistische Wendung zu helfen scheint.

Während grössere Teile der Regierungen und Parlamente bundesweit noch damit beschäftigt waren, ihr Bedauern über die Realität der nun geltenden Gesetzesverschärfungen zu äussern, die sie gerade erst beschlossen und auf die sie sich vorher jahrelang hingearbeitet hatten, schickten sie den Sozi vor, der schon mal die nächsten anstehenden Massnahmen dementierte – Maas: «Haftzonen an den Grenzen wird es nicht geben.»

Und während grössere Teile der Gesellschaft sich davon erschüttert zeigten, dass die Gesellschaft so aussieht, wie sie sie eingerichtet haben, fanden sie doch immer noch die anderen Parteien, die anderen Regierungen, die anderen Bevölkerungsgruppen, die anderen Staaten, aus denen das Beklagte herrührt; und sie fanden einen KZ-Sager, dem sie unterschieben konnten, was sie Nazis am liebsten sagen hören wollen, damit alles klar bleibt.

Die Mitte und die Linke

Für «Die Zeit» schrieb jüngst noch Journalist Malte Henk: «Sie haben sich nicht mitverändert. Man konnte leicht vergessen, dass es sie noch gibt. Sie schienen weg, erledigt.» Doch diese Leute waren die ganze Zeit da, haben ganze Gegenden terrorisiert, Anschläge verübt und sich im Sicherheitsapparat festgesetzt. Das Problem ist, wie leicht es zu vielen fiel, das zu ignorieren.

Direkt vor der Wahl zeigte sich das konservative Lager einerseits etwa in Gestalt von CDU-Ministerpräsident Haseloff mit Seehofer im Wahlkampf und «bewarb» andererseits medial etwa in Gestalt der Hallenser Ausgabe der Bild-Zeitung noch am Vortag der Wahl das neue AfD-Programm mit den drei ausgewählten Punkten Minarett-, Beschneidungs- und Schächtungsverbot.

Die parlamentarische Linke setzte dagegen fast nur noch auf Sozialstaat und kaum noch auf soziale Kämpfe und versuchte, gegen Nazis und AfD mit der absurden Parole «Brandstifter abschieben» (Haupt-Wahlplakat der Linkspartei zum Thema) zu punkten. Immer wieder wurde unterstellt, dass WählerInnen nur auf die AfD hereinfallen; die AfD wurde mehr blamiert als kritisiert. Die Linke stärkte somit den Eindruck, dass Nationalismus und Rassismus zuerst ein Image-Problem sind; dass lieber die gewählt werden sollen, die die Nation und ihre Arbeitskraftauswahl weniger hässlich aussehen lassen.

Und neben alldem eine zu selbstgefällige linke Szene, die nicht nur hier in den letzten Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt war und – im Grunde unfassbarerweise – versäumte, in die teilweise umfangreichen Arbeitskämpfe der letzten beiden Jahre einzusteigen (Sachsen-Anhalt war eins der Zentren sowohl des GDL-Streiks als auch des von diesem mit angeschobenen GEW-Streiks) oder weitere soziale Kämpfe hier und anderswo anzuzetteln und zu unterstützen.

Die besonders Deutschen

Die autoritäre Verschärfung wird den Leuten stets angeboten, Klassenkampf und Kommunismus nicht, auch wenn das die Welt anders sehen mag, die die klassisch-faschistische proto-sozialistische Rhetorik von Le Pen bis AfD nicht von selbsterkämpftem Sozialismus unterscheiden kann und will – wie viele Linke ja auch nicht mehr.

Am Wahlabend schauten viele AfDlerInnen gar nicht die Fernsehberichterstattung, sondern lieber ins Internet – die AfD Sachsen-Anhalt hat bei Facebook so viele Likes wie alle anderen Parteien zusammen – und dort besonders in die Youtube-Channels der Zeitschrift «Compact», in deren Wahlstudio der AfD-Spitzenkandidat André Poggenburg, der Sezession-Herausgeber Götz Kubitschek und Gastgeber Jürgen Elsässer zufrieden Bilanz zogen und grosse Pläne schmiedeten. Elsässer sieht jetzt den historischen Moment für die nationale Revolution gekommen, fordert ständige Demos in Berlin «wie damals ’89». Zuletzt beschwor er bei öffentlichen Auftritten die revolutionäre Tradition der Orte, in denen er sprach, vom Bauernkrieg über die Novemberrevolution bis zum «Arbeiterwiderstand gegen die Nazis und gegen die SED». Sein Refrain: «Lasst euch das nicht gefallen, wehrt euch, denn ihr seid Deutschland!»

Die Schlüsse

Von kritischen Linken wird darauf mit «Vorsicht, Volk!» geantwortet, statt vom Unterschied von Volk als Klasse und Volk als Nation zu reden. Es scheint, als seien sie der Rede von der Volksgemeinschaft auf den Leim gegangen, und tun nun so, als ginge es nicht um die Klasse, auch wenn Pegida fast allein überhaupt von der «Arbeiterklasse» spricht; auch wenn doch die allgemeine Empörung gegen AfD und Pegida erst richtig ausbrach, als sich «Bürgerliche» teilweise daraus zurückzuziehen begannen; und auch wenn der Bundespräsident in Bautzen die Haltung eines «‹Wir hier unten› und ‹Ihr da oben›» als ein «altdeutsches Gefühl» beklagt, «das in diesem Teil Deutschlands noch vorherrsche, diese ostdeutsche Prägung…»

Es kann nun nicht darum gehen, ob reaktionäre Themen den offen nationalistischen und faschistischen Kräften überlassen werden – das müssen ihre Themen bleiben. Es geht darum, ihnen nicht das ganze eigene Spielfeld zu überlassen. Elsässer beschwört die «nationale Volksrevolution» – er will eben nicht die arbeitende Klasse aufwiegeln, sondern sie, ganz in faschistischer Tradition, für die Nation gewinnen und erhalten.

Kommunistisch gebildete Menschen könnten wissen, was Nationalismus ist; sie könnten erklären, wo die Ideologie herkommt: dass Nationalismus das ist, was kapitalistische Gesellschaften gegen Klassenkampf, Arbeiterrevolution und Kommunismus zusammenhält; das vom Klassenkonflikt auf die faulen, kriminellen, betrügenden und blutsaugenden Parasiten ablenkt; und das zu etwa ähnlich grossen Teilen aus Manipulation, der Realität der Konkurrenz und dem Fetischdenken entsteht. Der Staat versucht weiterhin, die entschlossene Migrationsbewegung zu kontrollieren, um eine Auswahl an Arbeitskräften vornehmen zu können, und spaltet die Klasse weiter, indem er die verschiedenen Lohnniveaus gegeneinander ausspielt. Dagegen half immer nur der Zusammenschluss der Klasse: Nur wo für alle gekämpft wird, kann die Binnenkonkurrenz der Klasse teilweise aufgehoben werden. Das ist mühselig, der Weg dahin lang und der Erfolg höchst ungewiss, doch nur das könnte die Klasse gegen die Nation stellen und dem Nationalismus den Boden entziehen.

Aus dem vorwärts vom 26. März 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Wahrheit und Gerechtigkeit für Giulio Regeni!

regeniGleich mehrere Polizeiübergriffe und Justizskandale sorgen derzeit in Ägypten für Empörung und Beschämung. Chaos und Polizeigewalt setzen das Regime immer mehr unter Druck. Das Militär hat zwar die Macht, nicht aber die Kontrolle. Und nach dem Foltertod von Giulio Regeni wächst auch der internationale Druck.

Ein Tuk-Tuk-Fahrer, der mehr Geld haben wollte: erschossen. Ein Mann, der Drogen besessen haben soll: in Luxor zu Tode gequält. Zwei Ärzte, die sich weigerten, einem Polizisten ein Gefälligkeitszeugnis auszustellen: verhaftet und verprügelt. Ein Dreijähriger, der als Baby an einer Demo der Muslimbruderschaft teilnahm: zu lebenslanger Haft verurteilt. Und ein italienischer Genosse, der zu ägyptischen Gewerkschaften forschte: am Jahrestag der Revolution von der Staatssicherheit verschleppt und zu Tode gefoltert.

Ein politischer Mord

Gross war die Anteilnahme in Giulio Regenis Heimatstadt Fiumicello in der Provinz Udine im Nordosten Italiens, als er am 12. Februar beerdigt wurde. Der junge Aktivist und Forscher der Universität Cambridge war am 25. Januar in Kairo spurlos verschwunden. Berichten zufolge verliess er gegen 20 Uhr seine Wohnung im Stadtteil Dokki, um an eine Geburtstagsparty in der Nähe des Tahrir-Platzes zu besuchen. Dort kam der 28jährige Italiener jedoch nie an. Tatsächlich sprechen alle Indizien dafür, dass er von der ägyptischen Staatssicherheit verschleppt und aus politischen Gründen zu Tode gefoltert wurde.

Regeni verschwand am 5. Jahrestag der ägyptischen Revolution. An jenem Tag waren in der Innenstadt von Kairo tausende schwer bewaffnete Sicherheitskräfte postiert und an jeder Ecke standen zivile Schlägertrupps der Staatssicherheit für den Ernstfall bereit. Diese Ausgangslage lässt es nahezu als unmöglich erscheinen, dass Regeni mitten in der Downtown von Kairo entführt wird. Mehrere Augenzeugen berichteten gegenüber westlichen Medien, dass Regeni beim Verlassen einer U-Bahn-Station von zwei Zivilbeamten abgeführt wurde. Ausserdem hätten drei Sicherheitsbeamte anonym bestätigt, dass der italienische Dozent in Polizeigewahrsam genommen worden sei, da er für einen Spion gehalten wurde. Tatsächlich machte sich Giulio Regeni seit ein paar Wochen Sorgen um die eigene Sicherheit. So wurde er nach einem Treffen mit VertreterInnen der Gewerkschaftsbewegung am 11. Dezember 2015 von einem Unbekanten fotografiert, weshalb er nur noch unter einem Pseudonym für die linke Tageszeitung «Il Manifesto» schrieb, wo er regelmässig als freischaffender Journalist über die Entwicklungen in Ägypten berichtete.

Die Handschrift der Staatssicherheit

Schliesslich wurde sein entblösster Leichnam eine Woche später an einer Schnellstrasse zwischen Kairo und Alexandria gefunden. Angeblich hätte ein Taxifahrer dort seine Leiche gefunden, da «per Zufall» sein Auto genau dort eine Panne hatte. Der Fund erfolgte allerdings, nur kurz nachdem sich die italienische Regierung unter wachsenden öffentlichen Druck direkt an den ägyptischen Präsident Abdel Fattah al-Sisi gewandt hatte. Zwar willigte die ägyptische Militärjunta nach Einbestellung des Botschafters in Rom ebenso einer unabhängigen Obduktion zu, leugnet aber vehement jegliche Verstrickung in Regenis Tod und wies Berichte von westlichen Medien als anti-ägyptische Propaganda zurück. Der Innenminister Magdi Abdel Ghaffer bestritt energisch, dass der Italiener sich jemals in den Händen der Behörden befunden hatte und behauptet dreist, dass in Ägypten noch nie ein solches Verbrechen mit der Staatssicherheit in Verbindung gebracht worden sei, schliesslich sei Ägyptens Polizei bekannt für ihre Integrität und Transparenz. Nach der ersten Obduktion wurde gar von einem normalen Verkehrsunfall gesprochen, später von einem gewöhnlichen Verbrechen.

Tatsächlich kam die zweite Obduktion zu einem schockierenden Ergebnis, die bezeugt, dass Regeni über eine Woche hinweg verhört und systematisch zu Tode gefoltert wurde. Unter anderem wurden sieben gebrochene Rippen, Zeichen von Stromschlägen am Penis, schwere Verletzungen am ganzen Körper und eine Hirnblutung festgestellt. Zudem wurde ihm ein Ohr abgeschnitten sowie alle Finger- und Fussnägel rausgerissen. Sein Körper war übersät mit Brandmalen und Schnittverletzungen und desweitern wurden ihm die Oberarmknochen und die Schulterblätter gebrochen. Der italienische Innenminister Angelino Alfano sprach mit Verweis auf eine zweite Autopsie in Italien von «unmenschlicher, animalischer, inakzeptabler Gewalt», die dem Opfer zugefügt worden sei. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem typischen Foltermuster der ägyptischen Staatssicherheit. Des Weitern arbeitet die ägyptische Polizei sehr unkooperativ mit den italienischen Behörden zusammen. So wurden etwa die Handydaten von Regeni bis heute nicht an die italienischen ErmittlerInnen übergeben und Videoaufnahmen, die allenfalls die Entführer identifizieren könnten, wurden gelöscht.

Die Botschaft, die hinter dem Mord an Regeni steht, ist klar: Jede und jeder, der es in Ägypten wagt, das Regime auch nur zu kritisieren, muss damit rechnen, verschleppt und zu Tode gefoltert zu werden, sogar wenn er Ausländer ist. Währenddessen kooperiert der Westen eng mit dem ägyptischen Regime, um die eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen nicht zu gefährden. So gilt al-Sisi als unverzichtbarer Stabilisator für die Region und als Bollwerk gegen den politischen Islam. Gleichzeitig schüren das Regime und die Medien ein Klima des Hasses und der Paranoia, in dem jede und jeder verdächtigt wird, ein Revolutionär und Agent des Westens zu sein. Hinter diesem Denken verbirgt sich auch eine tiefe Verachtung der Mächtigen gegenüber der eigenen Bevölkerung. In allen Ländern des Nahen Ostens bleibt es für die Herrschenden unvorstellbar, dass die eigene Bevölkerung vor fünf Jahren ohne Aufstachelung durch westliche NGOs und die Tätigkeit von dunklen Kräften gegen Unterdrückung, Folter und Entrechtung aufgestanden sein könnte.

«Dreckige Regierung, ihr seid Hurensöhne!»

Doch die bestialische Ermordung von Giulio Regeni durch die ägyptische Staatssicherheit ist nur einer von mehreren Fällen, die am Nil für Wut und Trauer sorgen. Am 16. Februar prügelte eine wütende Menschenmenge einen Polizisten krankenhausreif, zog vor die Einsatzzentrale in der Hauptstadt und skandierte: «Dreckige Regierung, ihr seid Hurensöhne.» Der Beamte hatte einen 24jährigen Tuk-Tuk-Fahrer mit einem Kopfschuss getötet, während beide über den Fahrpreis stritten. Zuvor hatten gleichentags mehr als 10 000 MedizinerInnen sich über das neue Demonstrationsgesetz hinweggesetzt und gegen die ständigen Übergriffe von PolizistInnen in Krankenhäusern demonstriert – das grösste Aufbegehren der Bevölkerung seit dem Amtsantritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi im Juni 2014. Sie forderten unter anderem den kostenlosen Zugang zum Gesundheitswesen für alle ÄgypterInnen, den Rücktritt von Gesundheitsminister Ahmed Emad sowie das Ende von polizeilichen Übergriffen gegen ÄrztInnen. Die Generalversammlung der Ärztekammer votierte zuvor für einen landesweiten Streik, falls die Forderungen der Gewerkschaften nicht erfüllt werden sollten. Ausgangspunkt für diese Protestwelle war ein Vorfall in einem Krankenhaus in Matariya, einem der ärmsten Aussenquartiere von Kairo. Die Situation eskalierte, als zwei Mediziner sich weigerten, eine von ihnen als nur kleine Verletzung taxierte Wunde zu nähen und dem Polizisten ein Gefälligkeitszeugnis auszustellen. Die beiden Männer wurden daraufhin in einen Polizeitransporter gezerrt und in der nahe gelegenen Polizeistation von neun Beamten verprügelt. Der betreffende Posten gilt allgemeinhin als einer der berüchtigtsten in Kairo. Das Personal des Krankenhauses lief daraufhin Sturm und trat für eine Woche in den Streik. Zahlreiche Gewerkschaften und AkteurInnen der sozialen Bewegung solidarisierten sich mit der Spitalbelegschaft. Zwar hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen die neun Polizisten eingeleitet, diese wurden aber bis zum Prozessbeginn gegen Kaution aus dem Knast entlassen. Es ist zu befürchten, dass die Strafverfolgung ohne Konsequenzen für die fehlbaren Beamten bleiben und alt bekannten Muster folgen wird. Zwar gibt es immer wieder erstinstanzliche Urteile, die durchaus Hoffnung nach mehr Rechtsstaatlichkeit wecken, doch meist werden diese Urteile von einem Berufungsgericht annulliert, sobald das öffentliche Interesse für die jeweiligen Verfahren nachlässt.

Wer regiert Ägypten?

Und der Polizeiapparat zeigt sich bisher wenig beeindruckt. Statt die Folterer in den eigenen Reihen zu stoppen, gehen die Sicherheitskräfte erstmals auch gegen das «Nadeem Zentrum zur Behandlung von Opfern von Gewalt und Folter» in Kairo vor, die einzige Anlaufstelle für Folteropfer im ganzen Land. Nadeem-Mitbegründerin Aida Seif al-Dawla gilt als mutige Kritikerin von Menschenrechtsverletzungen in ihrer Heimat. Seit dem Beginn ihrer Einrichtung 1993 habe es in Ägypten noch nie solche Zustände gegeben wie heute, sagte sie. Die Brutalität der Folter habe extrem zugenommen. In den Gefängnissen gebe es «exzessive sexuelle Gewalt» gegen Frauen und Männer gleichermassen.

Das ungehemmte Wüten der Polizei scheint inzwischen aber auch Teile der ägyptischen Militärführung zu beunruhigen, so dass Präsident al-Sisi jetzt überraschend ein schärferes Gesetz gegen Polizeigewalt ankündigt hat. Ob das aber an den Missständen etwas ändert, bleibt fraglich. Genauso unklar ist, ob und inwieweit die Militärführung überhaupt Einfluss auf die Staatssicherheit hat. Tatsächlich deutet schon seit längerem vieles auf einen Machtkampf hinter den Kulissen hin. Trotzdem wünschen sich in Ägypten – angesichts der Entwicklungen in Syrien, Libyen und dem Jemen – derzeit wohl die Wenigsten eine neue Revolutionswelle. Aber die Menschen am Nil tragen ihren Frust mittlerweile wieder auf die Strasse und zwingen so al-Sisi zum Handeln. Noch hält das Zweckbündnis zwischen der Zivilgesellschaft und den Militärs gegen den politischen Islam, doch auch für al-Sisi wird die Luft irgendwann dünner, sofern er es nicht schafft, Herr im eigenen Haus zu werden und den Polizeiapparat in seine Schranken zu weisen.

Italien jedenfalls will nicht locker lassen. Die Zahl der italienischen TouristInnen ist bereits um 90 Prozent zurückgegangen. «Wir wollen die wahren Verantwortlichen finden», erklärte Roms Aussenminister Paolo Gentiloni. «Wir dulden keine Halbwahrheiten und keine Ausflüchte.» Und der Tod von Giulio Regeni wird seinen Platz in den ägyptischen Geschichtsbüchern finden. Bei einer Gedenkveranstaltung an der italienischen Botschaft in Kairo hielt ein junger Ägypter ein Schild hoch: «Giulio war einer von uns. Und er starb wie einer von uns.»

Aus dem vorwärts vom 11. März 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Es lebe der 8. März!

zetkinBei dem Streik der Textilarbeiterinnen am 8. März 1857 in New York, den sie für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen organisierten, wurden 129 Frauen ermordet. Auf der zweiten Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen im Jahre 1910 schlug Clara Zetkin vor, dass ein Tag im Jahr als internationaler Einheits-, Kampf- und Solidaritätstag der Frauen eingeführt werden solle. Festgelegt wurde der 8. März dann zu Ehren des Kampfes der New Yorker Textil-arbeiterinnen.

Am 8. März 1917 hoben die Arbeiterinnen von St. Petersburg die Fahne des Kampfes in die Höhe. Dieser Streik war der Beginn der Oktoberrevolution und richtete sich gegen den Zarismus und die Armut. Der 8. März ist auch zu ihren Ehren der internationale Kampf- und Solidaritätstag der Frauen. Somit entwickelte sich der 8. März zu einem Tag, den internationale Arbeiterinnen mit ihrem Leben bezahlten, an dem der Gleichheits- und Befreiungskampf gemeinsam gefeiert wird und an dem die aktuellen Forderungen der Frauen formuliert werden.

Seit dem ersten organisierten Streik der Frauen am 8. März 1857 sind 159 Jahre vergangenen. In diesen 155 Jahren haben Frauen einige Rechte gewonnen und einen langen Weg zurückgelegt. Doch die Profitgier der Kapitalherrscher, die eine tödliche Kriegspolitik betreiben, die zu Krisen führt, die Arbeitslosigkeit produziert und die Armut wie eine Lawine wachsen lässt, führt auch Stück für Stück zu der Rücknahme der ArbeiterInnenrechte, die jahrelang erkämpft wurden.

Die Frauen, die die Sklaven der Sklaven sind, werden nur aufgrund der Tatsache, dass sie Frauen sind, dies wissend geprägt und so gebildet. Ebenso wird zu Gewalt gegriffen, um ihnen gewisse Verhaltensweisen zu lehren. Sie werden zweifach unterdrückt und im Namen der Ehre ermordet. Ihre Sexualität wird vermarktet, wird gekauft und verkauft. Sie werden vergewaltigt und sexuell belästigt. In Kriegen sind sie die zu erobernden Schätze. Obwohl die Frau jeden Tag aufs Neue diejenige ist, die das Leben reproduziert, hat sie in keinem Bereich des Lebens ein Mitspracherecht, nicht einmal über ihren eigenen Körper und ihr Leben. Frauen sind diejenigen, die als billige Ersatzarbeitskraft eingestellt werden, und in Krisenzeiten als erste entlassen werden. Wenn innerhalb der Familie die Arbeitslosigkeit steigt, wird die gesellschaftliche Rolle der Frau immer wichtiger. Denn trotz der Armut ist es weiterhin die Aufgabe der Frau, die Familienmitglieder satt zu machen und glücklich zu stimmen. Sobald Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit keine Rechte mehr sind, sondern privatisiert und als Ware verkauft werden, sind auch hier die Frauen die ersten, die diese Rechte verlieren. Doch damit nicht genug! Auch übernehmen Frauen – als sei es ein ungeschriebenes Gesetz – die Pflege von Hilfsbedürftigen. Arbeitslosigkeit und Armut führen dazu, dass Frauen weltweit zur Zielgruppe des Sexsektors werden; dass die psychischen Probleme innerhalb der Gesellschaft und die häusliche Gewalt zunehmen; und dass Frauenmorde und Gewalt an Frauen in grausamer Art und Weise steigen.

Ruhm denjenigen, die den 8. März erschaffen haben und heute am Leben halten!

Die Zahlen der Streikenden auf Strassen, in Fabriken und Schulen weltweit gegen diese Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung und Grausamkeit nehmen zu und Frauen scheuen sich nicht, ihren Platz an den Fronten einzunehmen. Die Fackel, die 1857 durch die streikenden Frauen entflammte, lodert heute in den Händen der Arbeiterinnen.

Arbeiterinnen, liebe Frauen, liebe Freunde, lasst uns gemeinsam gegen dieses Leben als Sklaven, das uns aufgezwungen wird, auf die Strassen gehen! Lasst uns gemeinsam gegen den Sozialabbau, die Arbeitslosigkeit, Armut und sexistische Gesetze kämpfen! Lasst uns am 8. März solidarisch unsere gemeinsamen Parolen rufen!

Es lebe der internationale Kampftag der Frauen!

Auf der sozialistischen Frauenkonferenz im August 1910 wurde beschlossen, «als einheitliche internationale Aktion einen alljährlichen Frauentag», einen gemeinsamen Kampftag der Arbeiterinnenbewegung zu begehen. Unter dem Kampfruf «Heraus mit dem Frauenwahlrecht» gingen am ersten internationalen Frauentag, am 19. März 1911, alleine in Deutschland mehr als eine Million Frauen auf die Strasse und forderten für alle Frauen soziale und politische Gleichberechtigung. Auch heute sind diese Forderungen aktuell: Weltweit leben Frauen in patriarchalen Herrschaftsverhältnissen und sind mit Unterdrückung und Ausbeutung konfrontiert. Mehrheitlich Frauen und Mädchen werden Opfer von Armut und Gewalt, wobei laut WHO-Statistik 2001 global Gewalt die Haupttodesursache für Frauen ist, noch vor Krebs, HIV und Herzinfarkt. In Deutschland verdienen sie im Falle von geregelten Arbeitsverhältnissen durchschnittlich 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen und sind überproportional häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist eine gesellschaftlich akzeptierte Tatsache, die in patriarchalen und heteronormativen Systemen zu dessen Aufrechterhaltung immer weiter reproduziert wird. Deshalb ist die Frage der Geschlechterverhältnisse nicht losgelöst von der grundsätzlichen hierarchischen Beschaffenheit der Gesellschaft zu denken, die nach ausgrenzenden Kategorien wie Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnie, Nationalität, Behinderung, Klasse und anderen funktioniert.

Für eine Welt ohne Patriarchat, Ausbeutung und Unterdrückung

Und trotz allem bleibt es noch ein weiter Weg, bis die Gleichheit in allen Bereichen und Augenblicken des Alltags Realität wird. Es gibt noch zahlreiche Situationen, in denen sich die Diskriminierung der Frau fortsetzt, in der sie ungleich behandelt wird, Respekt und Gerechtigkeit fehlen. Es reicht ein Blick hin zu unseren Nachbarinnen, zu den Familien in unserem Wohnviertel, zu unseren Arbeitskolleginnen, zu den arbeitenden Frauen auf anderen Kontinenten um festzustellen, dass noch immer Unterschiede, Diskriminierung und Gewalt auf Grund des Geschlechtes existieren. Wir beobachten, dass sich diese Situation heute, wegen der aktuellen globalen Krise verschärft hat. Ohne Erbarmen trifft sie die Arbeiterklasse, aber auf eine viel brutalere Weise und sehr viel härter die am leichtesten zu verletzenden und benachteiligten Gruppen, wie , neben anderen, die Frauen , insbesondere die armen und jungen Frauen, so wie die Migrantinnen.

Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der die kapitalistische Ordnung überwunden ist und nicht der Profit im Mittelpunkt steht. Für eine Welt, in der Patriarchat, Ausbeutung und Unterdrückung keinen Platz haben.

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Gemeinschaft und Widerstand

sciopero_generale_04Das gegenwärtige Migrationsregime bedingt das Leben von vielen Frauen* auf gewaltvolle Weise. Gemeinschaft und Solidarität bauen, jenseits von kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Teilungspraktiken ist eine Strategie des Widerstands dagegen.

Das Migrationsregime ist Gewalt an Frauen*, weil es jeden legalen Fluchtweg in die Schweiz verunmöglicht. Der letzte legale Weg in die Schweiz zu flüchten, war bis 2013 über das sogenannte Botschaftsasyl. Über 40 Prozent der Gesuche wurden von Frauen* in CH-Botschaften ihrer Herkunftsländern gestellt. Durch die Abschaffung dieser Einreisemöglichkeit ist die Schweiz mitverantwortlich an den Gräueltaten, die Frauen* auf der Flucht widerfahren. Es drängt sie auf gefährliche Fluchtrouten, auf denen sie von ökonomischer und sexueller Ausbeutung bedroht sind.

Das Migrationsregime ist auch Gewalt an Frauen*, weil es ausser «hochqualifizierten». spezialisierten Arbeitskräften“ keine Möglichkeit der Niederlassung für Frauen* aus Drittstaaten bietet, ausser der Ehe. Dem Grossteil bleibt einzig zu heiraten, um eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten. Aufenthaltsrechtlich wird Frau* somit auf eine Ehefrau reduziert. Seit diesem Jahr ist der Cabaret-Status – die letzte Möglichkeit ausserhalb der EU- und EFTA-Staaten eine Arbeitsbewilligung zu erwerben – abgeschafft. Dies drängt Frauen* in die Illegalität und somit in die Rechtlosigkeit. Die Arbeitsbedingungen illegalisierter Frauen* sind prekär: Illegalisierten Hausarbeiter*innen beispielsweise fehlt sozialer und rechtlicher Schutz und die Angst vor einer plötzlichen Ausschaffung ist allgegenwärtig. Dabei erfüllen sie eine Nachfrage, die mit der globalen, kapitalistischen Arbeitsteilung und den hiesigen Geschlechterverhältnissen verbunden ist: Während immer mehr Schweizer Frauen* erwerbstätig sind, hat eine Anerkennung sowie eine Umverteilung der Haus- und Care-Arbeit zu den Männern nicht stattgefunden.

Das Migrationsregime ist Gewalt an Frauen*, weil es Ausbildung, Fähigkeiten und Wissen von Frauen*, die migriert oder geflüchtet sind, aberkennt und somit ungleiche Zugänge zu ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen legitimiert. Die Aberkennung von Fähigkeiten aus rassistischen Motiven ist verbunden mit einer kapitalistischen Logik, die Migrant*innen und Geflüchtete einzig als wirtschaftliche Ressourcen wahrnimmt und somit ihren Einsatz nur in den untersten Lohnsegmenten vorsieht.Trotz all dieser widrigen Umstände schaffen es viele Frauen*, sich selbständig durch zu schlagen und finden Wege, sich selbstbestimmt zur Wehr zu setzen. Im Frauen*?!…Kafi versuchen wir an einer Gemeinschaft und an Solidarität jenseits von rassistischen, sexistischen und klassistischen Teilungspraktiken mitzubauen. Dabei geht es darum, widerständige Stimmen gegen die bestehenden Herrschaftslogiken zu stärken, zu verbreiten und Formen des Widerstands zu kreieren. Dazu ist es notwendig, von unterschiedlichen Wissenstraditionen zu lernen, um sich politisch zu bilden. Das Frauen*?!…Kafi ist Teil eines Raumes für Antirassismus und Feminismus. Im Sinne des Raums verpflichten wir uns einer antikapitalistischen, emanzipatorischen Praxis mit radikalem Anspruch. Wir sind Frauen* mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen, aus verschiedenen Gründen in Zürich: geflohen, gereist oder hier aufgewachsen. Politik verstehen wir als Teil unseres Alltags. Ob wir wollen oder nicht, bedingt Politik unser Leben, deswegen wollen und müssen wir uns organisieren, zusammenschliessen, Gemeinschaft bauen und die Stimme erheben gegen patriarchale, rassistische und kapitalistische Strukturen.

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Schluss mit den Massakern in Kurdistan!

cizreIn Cizîr (Cizre) verloren während der Ausgangssperre und der Militäroperation mehr als 200 Menschen ihr Leben. Das Militär hat zwar die Operation beendet, doch dauern die Ausgangssperre und die Übergriffe durch türkische Sicherheitskräfte an. Die Identifizierungen der Leichname der Opfer des Massakers aus den drei Kellern von Cizîr sind noch nicht abgeschlossen – und jetzt zittern die Menschen um das Leben ihrer Angehörigen im belagerten Sûr. Mit jedem verstreichenden Tag, an dem der Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung nicht gestoppt wird, gibt es weitere tote ZivilistInnen!

Cizîr (Nordkurdistan/Türkei) wurde während 64 Tagen den Angriffen der türkischen Sicherheitskräfte ausgesetzt, wobei laut örtlichen Angaben auch bio-chemische Waffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Mindestens 165 ZivilistInnen, die inmitten von Militäroperationen Zuflucht in den Kellern von Wohnhäusern gesucht hatten, wurden von türkischen Sicherheitskräften zu Tode gebombt. Die Leichname, die in die Spitäler von Cizîr geliefert wurden, sind unkenntlich. Deshalb können die Familien sie nicht identifizieren. Mehr als 100 Leichname warten nach wie vor auf Identifizierung durch einen DNA-Test.

Die unbegrenzten Ausgangssperren rund um die Uhr, welche die AKP-Regierung in kurdischen Provinzen erklärt hat, verschärfen weiterhin die Notsituation, welche grundlegende Menschenrechte und Freiheiten in der Region, einschliesslich dem Recht auf Leben und persönliche Sicherheit, untergräbt. Insgesamt wurden seit dem 16. August 2015 in sieben Provinzen und 20 Landkreise fast 400 Tage Ausgangssperre verhängt. Verwundete Menschen werden in ihren Häusern mit Mörsergranaten beschossen und daran gehindert, ins Spital zu gehen. Im Oktober 2015 konnte eine Mutter in Cizîr aufgrund der Ausgangssperre ihre von den türkischen Sicherheitskräften getötete 12-jährige Tochter nicht beerdigen und musste sie daher im Gefrierfach aufbewahren.

Schluss mit der faschistischen Praxis der AKP-Regierung!

Während sich die AKP-Regierung weiterhin von der Verantwortung für die Massaker an ZivilistInnen in Cizîr mit der abgedroschenen Phrase vom «Kampf gegen den Terror» freispricht, sind wir erneut schockiert von den Nachrichten aus dem Bezirk Sûr der Stadt Amed (Diyarbak?r). Der historische Stadtteil, dessen Stadtmauer unlängst von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt wurde, steht seit dem 11. Dezember 2015 unter Ausgangssperre – das sind bei Redaktionsschluss 88 Tage!

In einem dringenden Aufruf erklärte die Demokratische Partei der Völker HDP: « Während der militärischen Angriffe gegen die eingeschlossenen ZivilistInnen in Cizîr hatten wir der internationalen Öffentlichkeit mitgeteilt, dass ihr Schweigen und ihre Gleichgültigkeit die AKP-Regierung und deren Sicherheitskräfte bei ihren ungesetzlichen und unmenschlichen Handlungen in kurdischen Städten stärken. Wenn die Weltöffentlichkeit ihre mächtige Stimme für den Schutz von Leben und Sicherheit der eingeschlossenen ZivilistInnen in Cizîr erhoben hätte, dann hätten wir heute vielleicht nicht hunderte von toten Körpern aus den Ruinen von Cizîr bergen müssen. Nun, am Beginn einer möglicherweise ähnlichen Tragödie, die im Bezirk Sûr droht, appellieren wir erneut an die internationale Gemeinschaft.»

Die AKP-Regierung mit ihrer Politik unter Einsetzung von Militär, Polizei und bewaffneten Spezialeinheiten und ihren Massakern an der mehrheitlich kurdische Zivilbevölkerung stellt seit dem Juli 2015 eine Bedrohung des Friedens dar. Es werden schlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Bilder erinnern an die überwunden geglaubten Szenen aus den Neunzigerjahren, wo im Zuge der Vernichtungspolitik der türkischen Regierung gegen die KurdInnen über 4000 Dörfer zerstört, Frauen und Kinder verbrannt, massenhaft exekutiert und teilweise in Massengräbern geworfen wurden.

Das Schweigen Deutschlands

Obwohl die AKP-Regierung unter Führung Erdogans vor Augen der Weltöffentlichkeit Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, unterstützt die Bundesregierung Deutschlands das Vorgehen Erdogans mit neuen Geldern, die zur Kriegsführung eingesetzt werden. Dazu der Minister des Inneren Herr de Meziere (Monitor-Beitrag vom 04.02.2016): «Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich, das nicht fortzusetzen. Wir haben Interessen. Die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt. (…) Natürlich gibt es in der Türkei Dinge, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es im Zuge des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt.»

Hoch die internationale Solidarität!

Wir Frauen können und wollen dazu nicht schweigen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Menschlichkeit ermordet wird. Die Zeit ist gekommen, ein System, das uns alle gefangen hält, zu überwinden und mit ihm abzurechnen. Hinter den faschistischen, frauenfeindlichen Angriffen auf die kurdische Bevölkerung steht die Absicht des türkischen Staates und seiner Verbündeten wie der Terrororganisation IS, die kurdische Freiheitsbewegung und die dahinter stehende Vision auf ein freies Leben jenseits von staatlicher und patriarchaler Herrschaft zu zerschlagen. Wir stehen in der Verantwortung, unsere Organisierung, unseren Kampf und die internationale Frauensolidarität stärker zu entwickeln. Nur unter dieser Voraussetzung wird es gelingen, die Gewaltkultur im Allgemeinen und speziell jene gegen Frauen zu überwinden.

Wir begrüssen den historischen Widerstand der Frauen in Kurdistan, der im Gedenken an Sakine Cansiz, Ekin Wan, Seve, Pakize und Fatma und alle getöteten Frauen und Kinder geführt wird und rufen die Weltöffentlichkeit, und insbesondere die Frauen, dazu auf, ihre Solidarität mit dem demokratischen Widerstand des kurdischen Volkes, der im Namen der gesamten Menschheit geführt wird, sichtbarer zu machen.

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Superreiche! Und super wenige!

67197181Jedes Jahr veröffentlicht die Hilfsorganisation Oxfam kurz vor dem WEF in Davos einen Bericht, der die globale Ungleichheit anprangert. Mittlerweile sind es nur noch 62 Menschen, die zusammen 1760 Milliarden Dollar besitzen und somit gleich viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Der neue Oxfam-Bericht zeigt auf, dass ein Prozent der Weltbevölkerung über mehr Vermögen verfügt als die restlichen 99 Prozent.

Während die Reichen immer reicher werden, werden die Armen dementsprechend ärmer. In den zurückliegenden fünf Jahren wuchs das Vermögen der 62 Reichsten der Welt um mehr als eine halbe Billion US-Dollar, während das Gesamtvermögen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung um rund eine Billion Dollar zusammenschmolz. Da die Superreichen ganz offensichtlich die Nutzniesser der Weltwirtschaft sind, bezeichnet Oxfam diese als die «Wirtschaft für die 1 Prozent».

Immenser Reichtum durch Steuerbetrug

Ein Grund für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist eine «ungerechte Steuerpolitik», mit der Vermögen und Kapitalgewinne im Gegensatz zu früher nur gering besteuert werden. Ausserdem sind die Möglichkeiten für Unternehmen und reiche Einzelpersonen gestiegen, die Steuerabgaben zu senken oder gar ganz zu umgehen. Sie beschäftigen ein Heer von InvestmentberaterInnen und AnwältInnen, um ihr Vermögen vor dem Fiskus in Sicherheit zu bringen. «Reiche Einzelpersonen halten in Steueroasen rund 7,6 Billionen US-Dollar versteckt, neun von zehn grossen Unternehmen haben mindestens eine Tochterfirma in Steueroasen», heisst es in dem Bericht. Allein den Entwicklungsländern gehen auf diese Weise jedes Jahr mindestens 100 Milliarden Dollar an Steuereinnahmen verloren.

In der Schweiz besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung 58,9 Prozent des gesamten Nettovermögens und damit mehr als die übrigen 99 Prozent der Bevölkerung. Laut dem Schweizer Wirtschaftsmagazin «Bilanz» besassen im 2013 die 300 Reichsten der Schweiz 564 Milliarden Franken. Damit hat sich ihr Vermögen in den letzten 25 Jahren mehr als versechsfacht. Und wer reich ist, bleibt reich: Von den 40 Milliarden Franken, die im 2010 vererbt wurden, flossen mehr als die Hälfte an bestehende MillionärInnen. Somit ist die Schweiz an der Spitze jener Länder, welche die sozialen Klassen am besten reproduziert.

Geld ist vorhanden

Diese dramatische Spaltung der Gesellschaft zwischen den Superreichen und dem Rest ist politisch gewollt. Denn Geld kauft Macht. Und so sind die politischen und wirtschaftlichen Eliten auf das Engste und einander herzlich verbunden. Gleichzeitig wird versucht, der Bevölkerung einzureden, dass Menschen auf der Flucht vor Hunger, Elend, Krieg und Verfolgung Europa «überfordern» und eine Gefahr für «unseren Wohlstand» seien. Nein! Nicht die Flüchtenden, sondern die extreme Ungleichheit zwischen Arm und Reich ist das Problem. Wenn das Abkippen in autoritäre Verhältnisse verhindert werden soll, dann muss die Verteilungsfrage ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt werden. Denn der im Oxfam-Bericht aufgezeigte Mechanismus, der diese obszöne Ungleichheit in Gang gesetzt hat und am Laufen hält, schafft jeden Tag neue Fluchtursachen, untergräbt die Demokratie und blockiert jeden politischen Ausweg aus der Krise.

Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse durch progressive Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen zugunsten der Finanzierung öffentlicher Güter und Dienste sind die Antwort auf Verrohung, Rechtsentwicklung, wirtschaftliche Stagnation und der Gefahr des Falls in die Barbarei. Die Linke muss es schaffen, die Bedürfnisse der Flüchtlinge und der schon hier Lebenden zu einem gemeinsamen Anliegen zu bündeln, die verschiedenen Bewegungen zu verbinden und gemeinsam für Umverteilung, bezahlbaren Wohnraum für Alle, Investitionen in kommunale Infrastruktur sowei für die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu kämpfen. Das Geld ist vorhanden!

Quelle: www.kommunisten.de

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Mit dem Rücken zur Wand

maduroDie PSUV hat in Venezuela die Mehrheit im Parlament verloren. Die Wahlniederlage ist aber im Grunde genommen eine Niederlage des Reformismus. Die Mängel der bolivarischen Revolution waren schon im Vorhinein ersichtlich.

Das Jahr 2015 war für die radikale Linke bitter. Da war der Rechtsruck bei den vergangenen eidgenössischen Wahlen; dass die Partei der Arbeit wieder in den Nationalrat eingezogen ist, war bloss ein kleiner Trost in diesen düsteren Zeiten. In Frankreich konnte der Front National einen Erfolg erzielen, während der PCF und die Linken eine Niederlage einsteckten. In Argentinien sind die Rechten wieder an der Macht. Und nicht zu vergessen, die tragische Kapitulation der griechischen Regierung gegenüber der Troika, die dem Versuch, mit der Sparpolitik der EU zu brechen, ein Ende bereitet hat.

Die vielleicht schlimmste und bedeutendste Niederlage, die weder verschwiegen noch relativiert werden darf, fand in Venezuela statt. Die MUD, eine oppositionelle Koalition von oligarchischen VenezolanerInnen, hat zwei Drittel der Sitze im venezolanischen Parlament errungen. Dadurch hat die Koalition die Macht, die Verfassung zu ändern und den Präsidenten Nicolás Maduro abzusetzen. Es war die erste Wahlniederlage des Chavismus seit der Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten Venezuelas 1999. Die PSUV, die von Chávez gegründet wurde und viele linke Parteien vereinigte mit Ausnahme der Kommunistischen Partei (die ihre Organisation erhalten wollte, aber solidarisch mit der revolutionären Regierung ist), findet sich nun zum ersten Mal in der Opposition.

Reformistische Illusionen

Die Wahlniederlage ist auf alle Fälle ein harter Schlag für das venezolanische Volk, aber auch für alle, die ihre Hoffnung auf Chávez und seine Bewegung gesetzt haben. Venezuela erschien nach Kuba als das hellste Leuchtfeuer des Sozialismus in Lateinamerika, als linkstes Land des Kontinents, als ein Land, in dem die sozialistische Revolution auf dem demokratischen Weg ihren Sieg feiern konnte. Viele glaubten, dass ein Punkt erreicht wurde, an dem der Prozess irreversibel geworden ist. Dieser Optimismus ergab sich oft daraus, dass an mehr oder weniger reformistische Illusionen, an einen Übergang von bürgerlich-demokratischen Institutionen zum Sozialismus geglaubt wurde. Man muss sagen: Venezuela hat niemals aufgehört, ein kapitalistisches Land zu sein hinsichtlich der Produktionsweise. Der Prozess, der von Hugo Chávez angestossen wurde, nannte sich «bolivarische Revolution». Zweifellos ist er aus einer Volksbewegung mit revolutionärem Charakter heraus entstanden und hat sich das Ziel des Sozialismus gegeben. Die bolivarische Revolution hat sich auch sehr schnell eine Partei gegeben, die das umsetzen sollte.

Es hat sich wirklich um eine Revolution gehandelt, aber um eine, die auf halbem Weg steckengeblieben und in eine gewisse Routine verfallen ist. Die bolivarische Revolution hat die venezolanische ArbeiterInnen an die Macht gebracht und die Bourgeoisie zur Seite gedrängt, aber ohne deren ökonomische und politische Macht vollständig zu brechen. Der Chavismus hat eine Verstaatlichung im Interesse des Volkes vorangetrieben, besonders der Erdölindustrie, aber viele strategische Sektoren der Wirtschaft wurden nicht angetastet. Die bolivarische Revolution hat zwar nicht einfach versucht, die alte Maschine des bürgerlichen Staates zu übernehmen und sie im Interesse des Porletariats zu bedienen, aber fast. Trotz wichtiger Fortschritte hinsichtlich einer direkteren Basisdemokratie auf Grundlage lokaler Kollektive, trotz notwendiger Veränderungen in der Armee, ist der venezolanische Staat strukturell gleich geblieben. Man ist sehr weit vom Aufbau einer wirklichen Volksmacht entfernt.

Unklare Ideologie

«Es gibt eine solche Partei und es ist die bolschewistische Partei», sagte Lenin als Erwiderung auf seine GegnerInnen in den Zeiten der provisorischen Regierung, als behauptet wurde, dass keine politische Kraft in Russland existiere, die das Land aus den Widrigkeiten hinausführen könne, in denen es steckte. Für die PSUV wäre es zumindest prätentiös, so zu reden. Denn diese Partei ist bis heute ein bunt zusammengewürfelter Haufen verschiedenartiger Strömungen mit einer ziemlich unklaren ideologischen Linie. Ihr Zusammenhalt ist zu einem grossen Teil den persönlichen Anstrengungen Chávez’ zu verdanken. Entsprechend fehlt es der Partei an Einheit und Disziplin, die nötig sind, um den Aufbau des Sozialismus zu lenken, die aber umgekehrt nicht den Mitgliedern fehlt, die ihr aus Opportunismus beigetreten sind, und dem rechten Flügel, der in Wirklichkeit dem Sozialismus entgegengesetzt ist. Namentlich führen sich gewisse PSUV-Gouverneure wie lokale Barone auf und auch die Korruption konnte nicht vollständig unterdrückt werden. Kurz: Man ist sehr weit entfernt von einer leninistischen Partei neuen Typus, deren Notwendigkeit von der Geschichte weitgehend bewiesen wurde. Und auch wenn es an Bezügen zu revolutionärer und marxistischer Ideologie nicht gemangelt hat, blieben sie immer vage und undeutlich. Eine klare Leitlinie der Revolution wurde nie wirklich formuliert. Die Diskussion um den «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» ist nie mehr als konfus geblieben.

Vor allem aber hat es der Chavismus nicht geschafft, eine materielle Basis des Sozialismus zu errichten. Die Erdölindustrie wurde verstaatlicht, die Gewinne wurden in den Dienst des Volkes gestellt, um ehrgeizige Sozialprogramme und Arbeitsrechte, die die ArbeiterInnen schützten, den Mindestlohn erhöht, die Infrastruktur verbessert, zu finanzieren. Die absolute Armut wurde beinahe vollständig beseitigt und der allgemeine Lebensstandard wurde stark verbessert. Trotz allem wurde der Geldsegen nicht oder kaum eingesetzt, um eine nationale Industrie aufzubauen, um die Wirtschaft im Land zu diversifizieren, die zum Grossteil auf Importe aus der kapitalistischen Welt angewiesen ist. Noch schlimmer: Der Aussenhandel wurde in den Händen der Privatwirtschaft gelassen.

Abhängig vom Kapitalismus

Wenn die Erfahrung des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion und der theoretische Beitrag der KPdSU uns etwas lehren kann, dann dass ein sozialistisches Land sich auf einen eigenen produktiven Sektor stützen muss und dass man sich nicht mit dem Export von Erdöl zufrieden geben kann, weil man dadurch von der kapitalistischen Welt abhängig bleibt. Überhaupt hatten die USA ein leichtes Spiel, indem sie sich mit ihren saudischen und katarischen FreundInnen absprachen, um den Erdölpreis drastisch zu senken und dadurch die venezolanische Wirtschaft in Schwierigkeiten zu bringen.

Seit Beginn der bolivarischen Revolution hat die entmachtete Oligarchie mit Unterstützung des Imperialismus regelrecht einen Informations- und Wirtschaftskrieg gegen das venezolanische Volk geführt. Die Bourgeoisie in Venezuela, die stets den Aussenhandel in ihren Händen behalten hat, hat künstliche Engpässe auf allen Gebieten und eine Hyperinflation erzeugt, um die VenezolanerInnen gegen die Regierung aufzubringen. Die Medien, besonders das Fernsehen, die in übergrossen Mehrheit auf Seiten der Opposition sind, haben von Anfang bis zum Schluss eine hasserfüllte Verleumdungskampagne gegen die bolivarische Revolution betrieben. Eine Kampagne, die von den bürgerlichen Medien in Europa bedingungslos übernommen wurde, trotz ihres grotesken Charakters.

Wie die Klassiker des Marxismus erklärt haben, bleibt die Bourgeoisie vorläufig auch nach der Revolution stärker als das siegreiche Proletariat, durch ihre Verbindungen mit dem internationalen Kapital und den Machtmitteln, die ihr verbleiben. Und sie wird niemals ihre Macht abgeben, ohne bis zum Schluss darum zu kämpfen. Um die Revolution zu Ende zu bringen, müssen Massnahmen getroffen werden, um die Macht der Oligarchie zu brechen. Die Theorie der Diktatur des Proletariats hat heutzutage einen schlechten Ruf, was nicht verhindert, dass die Tatsachen für sie sprechen.

Klassenkampf am Horizont

Die Niederlagen der Syriza und der PSUV sind im Grunde genommen Niederlagen des Reformismus. Aber während die Syriza definitiv kapituliert und objektiv das Lager gewechselt hat, ist die Sache für die PSUV noch nicht gelaufen.

Zuerst einmal muss man sich aber darauf gefasst machen, dass die venezolanische Rechte, getrieben von Hass und Durst nach Vergeltung, sich vorrangig alles zurückholen wird, was ihr der Chavismus genommen hat. Sie wird die Errungenschaften der Revolution zerstören und die Sozialprogramme von Chávez aufheben, alles, was verstaatlicht wurde, wieder privatisieren und das Land an die USA annähern. In diesem Fall wird sich die Rechte unweigerlich am venezolanischen Volk stossen, das sich nicht einfach enteignen lassen wird. Der venezolanische Arbeitgeberverband hat zum Beispiel sofort die Beseitigung des Arbeitsgesetzes gefordert, von dem die grösste Gewerkschaft Venezuelas gesagt hat, dass sie dessen Abschaffung niemals zulassen würde. Es zeichnet sich ein unerbittlicher Klassenkampf am Horizont ab.

Diese Situation könnte auch eine Gelegenheit sein, wenn die RevolutionärInnen sie zu nutzen wissen. Die Niederlage hat uns in Erinnerung gerufen, dass beim Aufbau des Sozialismus nichts irreversibel ist, dass der Klassenfeind sich nie geschlagen gibt, dass sich die Revolution nicht durch ruhige Routine oder auf rein parlamentarischem Weg durchsetzt. Präsident Maduo sagte klar, dass er nicht vor der Konterrevolution kapitulieren, sondern den Kampf weiterführen wird. Die RevolutionärInnen in Venezuela haben zweifellos die Kraft, den Kampf wieder aufzunehmen, an der Seite des Volkes, gegen die momentan siegreiche Oligarchie. Unsere GenossInnen in der Kommunistischen Partei Venezuelas, die oft zu Recht die Mängel und Halbheiten des Chavismus kritisiert haben, müssen dabei eine wichtige Rolle spielen.

Die bürgerlichen Medien und die prokapitalistische «Linke» freuen sich über diese temporäre Niederlage, aber ihre Freude ist verfrüht. Ebenso dürfen wir nicht zu schnell verzweifeln. «Diese heroische Mobilisierung, die es dem Volk erlaubte, 1998 der erste Etappe im revolutionären Prozess den Anstoss zu geben, die Erbin des Kampfes für die nationale Befreiung, wird dieselbe sein, die den mörderischen Faschismus und Imperialismus gnadenlos besiegen wird. Sie wird mit Stolz bestätigen, dass die Anstrengungen des Genossen Chávez nicht vergebens waren und dass man den Weg zum Aufbau des wissenschaftlichen Sozialismus in revolutionärer Einheit wieder aufnehmen wird», erklärte die Kommunistische Partei in Erinnerung an Hugo Chávez. Die reaktionären Kräfte können stark erscheinen, sie werden aber nicht verhindern können, dass diese Sätze Wirklichkeit werden.

 

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Hände weg von Vio.Me

Vio.Me_Der seit 2011 von den ArbeiterInnen besetzten und seit 2013 in Selbstverwaltung betriebenen Fabrik Vio.Me droht seit längerer Zeit die Zwangsversteigerung. Am 3. Dezember, dem Tag des nun schon zweiten Generalstreiks innerhalb der letzten drei Wochen, zog eine der drei Generalstreikdemonstrationen Thessaloníkis zum Gerichtsgebäude, um die für den Morgen angesetzte Versteigerung der Fabrikanlagen zu verhindern. Die gut 500 DemonstrantInnen standen am Haupteingang des Gerichts dem MAT-Sondereinsatzkommando der Polizei gegenüber. Nach Stunden des Wartens wurde schliesslich «auf Grund der Teilnahme der Anwaltsvereinigung am Generalstreik», die Vertagung der Zwangsversteigerung bekanntgegeben. Schon am 26. November 2015 war es gut 250 AktivistInnen mit der Blockade des Gerichtsgebäudes in Thessaloníki gelungen, den ersten Versteigerungstermin abzuwenden. Der nächste Versuch und erneute Mobilisierungen sind auf den 10. Dezember terminiert.

Du hältst den Betrieb am Laufen!

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass kapitalistische Krisen ausser vielfachem Leid auch die Emanzipation der von der Krise betroffenen ArbeiterInnen beinhalten kann, ist die besetzte Fabrik Viomichanikí Metallevtikí (Vio.Me) in Thessaloníki. Vio.Me wurde 1982 als eine von drei Tochterfirmen des Unternehmens Philkeram & Johnson gegründet, das Keramikkacheln produzierte. Die Firma stellte chemische Baumaterialien wie Fugenkleber her und belieferte Baufirmen in Griechenland und dem benachbarten Ausland. Im Mai 2011 stellten die damaligen EigentümerInnen, die Familie Filíppou, die Lohnzahlungen ein, verschuldeten den Betrieb und machten sich schliesslich aus dem Staub. Um die Demontage der Produktionsanlagen zu verhindern und die Zahlung der ausstehenden Löhne zu erzwingen, besetzten die ArbeiterInnen die Fabrik. Da ihre Lohnforderungen ignoriert wurden und die üblichen Wege – wie Gerichtsverfahren und Investorensuche die der Kapitalismus für diesen Fall bereit hält, ohne Erfolg blieben, beschlossen sie nach langen Diskussionen unter anderem mit ArbeiterInnen der seit 2001 besetzten und selbstverwaltet produzierenden Ziegelfabrik Zanon aus Argentinien, die Produktion in die eigene Hand zu nehmen.

Im Februar 2013 schliesslich feierten tausende Menschen mit einem grossen Solidaritätskonzert die Wiedereröffnung der Fabrik. Seit April 2013 produziert Vio.Me mithilfe selbstorganisierter Strukturen Thessaloníkis umweltfreundliche Wasch- und Reinigungsmittel. Die Produkte werden in sozialen Zentren, anarchistischen Treffpunkten, besetzten Häusern und auf informellen Märkten vertrieben und inzwischen auch an solidarische Gruppen und Organisationen ins europäische Ausland geliefert. Sie können in Deutschland über verschiedene FAU-Syndikate oder das Griechenland Solidaritätskomitee Köln (GSKK) bestellt werden. Ziel ist auch, mittels des Produkts und der selbstverwalteten Produktion und Verteilung die Vision einer selbstorganisierten Gesellschaft zu vermitteln. Alle Gespräche mit staatlichen Behörden sind trotz der mehrfach wechselnden Regierungen seit 2011 gescheitert. Auch die von der KKE dominierte Gewerkschaftsfront Pame und der Gewerkschaftsdachverband GSEE verweigern die Unterstützung der Fabrik in Selbstverwaltung, da «Arbeiterselbstverwaltung nicht auf der Tagesordnung» stehe. Trotzdem machen die ArbeiteInnen weiter und kämpfen für das Ziel eines selbstbestimmten Lebens.

Internationaler Unterstützerkreis

Ein informeller Zusammenschluss aus Kollektivbetrieben, Basisgewerkschaften, politischen Gruppen, Netzwerken und Einzelpersonen aus verschiedenen europäischen Ländern versucht, den Kampf der Vio.Me-ArbeiterInnen solidarisch zu unterstützen. Das Beispiel der selbstverwalteten Fabrik in Thessaloníki soll europaweit noch bekannter gemacht werden. Darüber hinaus soll das Beispiel der selbstverwalteten Fabrik auch andere ArbeiterInnen ermutigen, sich nicht dem Krisendiktat der Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Internationalem Währungsfond (IWF) zu beugen, sondern Widerstand zu leisten und sich selbstorganisierten, emanzipatorischen Initiativen anzuschliessen. Vio.Me zeigt, dass es eine Alternative jenseits von Austerität, Nationalismus und sozialer Zertrümmerung gibt – die Solidarität sozialer Bewegungen und die Selbstorganisierung von unten. Des Weiteren versucht der UnterstützerInnen-kreis Druck auf die griechische Syriza-Ane–l-Regierung auszuüben, da die Gefahr einer Räumung des Projekts immer – und gerade jetzt durch die angestrebte Zwangsversteigerung des Betriebsgeländes akut – besteht.

Direkte Aktion gegen Zwangsversteigerung der Fabrikanlagen

Mit der Übernahme der Fabrik durch die ehemaligen Angestellten und der Umwandlung der Produktion hin zu biologisch abbaubaren Wasch- und Reinigungsmitteln, mit der Produktion unter Arbeiterkontrolle und der Vollversammlung der ArbeiterInnen als höchstes Entscheidungsgremium, und mit der täglich erlebbaren gegenseitigen Hilfe der verschiedensten Initiativen in Griechenland und der Unterstützung der internationalen Solidaritätsbewegung, ist es den Vio.Me-ArbeiterInnen seit nunmehr zweieinhalb Jahren gelungen, ihr ökonomisches Überleben zu sichern. Gleichzeitig jedoch, und das ist der Grund für die andauernden Angriffe, stellt das Projekt die kapitalistischen Besitzverhältnisse und damit das Überleben des Systems an sich in Frage. Durch die nun angesetzte Zwangsversteigerung des Betriebsgeländes will der Insolvenzverwalter die Forderungen der Gläubiger des insolventen Mutterkonzerns Philkeram & Johnson eintreiben, um dessen Schulden bei verschiedenen Banken, beim griechischen Staat und bei privaten Gläubigern zu begleichen. Die AlteigentümerInnen der Familie Filíppou hatten 2011 die bis dahin erfolgreiche Fabrik für Baumaterialien in die Insolvenz getrieben.

Schon Anfang Oktober hatten die ArbeiterInnen zur Verhinderung der drohenden Zwangsversteigerung und einer internationalen Aktionswoche vom 17. bis 24. November 2015 aufgerufen. Am Dienstag, dem 24. November, fand eine grosse Demonstration in Thessaloniki statt, an der sich verschiedenste politische Initiativen, soziale Zentren, besetzte Häuser und GewerkschafterInnen beteiligten. Mit dabei waren entlassene Beschäftigte der lokalen Tageszeitung «Angeliofóros», die seit zwei Jahren gegen die Schliessung und für die Wiedereröffnung ihres Werkes kämpfenden Arbeiter-Innen von Coca-Cola, AktivistInnen der Karawane der Solidarität und eine Delegation der gegen den geplanten Goldabbau auf Chalkidikí kämpfenden Bevölkerung. «Von Vio.Me bis Chalkidikí, Krieg den Bossen auf der ganzen Welt», oder «Die Solidarität ist die Waffe der Völker, Krieg dem Krieg der Bosse», waren zwei der gerufenen Parolen. Am 25. November hatte im Gewerkschaftshaus von Thessaloniki eine landesweite Versammlung zur Vorbereitung der Blockade-Aktion im Gerichtssaal stattgefunden. Mit der erfolgreichen Blockade, die am folgenden Morgen von rund 250 AktivistInnen durchgeführt wurde, konnte die angestrebte Zwangsversteigerung der selbstverwalteten Fabrik vorerst verhindert werden. Entschlossene Vio.Me-ArbeiterInnen und Aktivist-Innen aus den Solidaritätsgruppen hatten sich teils in Ketten vor dem Gerichtssaal postiert und diesen dicht gemacht. Auch beim nächsten Termin, dem 3. Dezember waren gut 500 DemonstrantInnen vor das Gerichtsgebäude gezogen. Weitere direkte Aktionen sind für den nächsten Zwangsversteigerungstermin am 10. Dezember angekündigt. «Wir haben es geschafft, die Zwangsversteigerung zu verhindern, weil wir geschlossen wie eine geballte Faust sind. (…) Wir werden die Fabrik nicht verlassen. Die haben unser Leben zerstört und wir haben alleine gekämpft, um wieder auf die Beine zu kommen. Wir werden es niemandem erlauben, unser Leben erneut zu zerstören», betonte Mákis Anagnóstou, einer der Vio.Me-Sprecher.

Von der Syriza-Anel-Regierung erwarten die ArbeiterInnen nichts mehr. In ihrer Erklärung zum Zwangsversteigerungstermin stellen sie klar: «Vio.Me gegenüber stehen Staat und Kapital, die in den letzten Jahren Millionen Menschen in Griechenland in Armut und Elend gestürzt haben, die Tausende in den Selbstmord getrieben haben, die Grenzzäune am Evros (Grenzfluss zur Türkei) hochziehen und den Kampf der Bevölkerung Chalkidikís gegen den Goldabbau mit Gewalt niederschlagen; die parastaatliche faschistische Kräfte dulden, oder besser ausgedrückt anleiten, und die Ermordung von Antifaschisten und Einwanderern und Angriffe auf alle, die nicht ins faschistische Weltbild passen, erlauben».

Seit dem ersten Wahlsieg am 25. Januar 2015 hatten die Vio.Me-ArbeiterInnen vergeblich einen Termin im zuständigen Ministerium gefordert. Syriza war vor den Wahlen eine der Organisationen im UnterstützerInnenkreis von Vio.Me und auch der jetzige Ministerpräsident Alexis Tsípras hatte persönlich seine Unterstützung für die Fabrik in Arbeiterhand zugesagt. Weder Syriza noch Tsípras wollen jetzt, nach ihrer Wiederwahl im September, noch etwas davon wissen. Während das Wirtschaftsministerium eisern schweigt, verweist Tsípras inzwischen lapidar auf die «Unabhängigkeit der Justiz». Dabei sei jedes Urteil und jede mögliche Lösung des Konflikts «eine klare politische Entscheidung», so die Vio.Me-ArbeiterInnen in einer Presseerklärung. Laut den Veröffentlichungen des Gerichts handelt es sich um insgesamt 14 Grundstücke der insolventen Philkeram & Johnson, die versteigert werden sollen. Die Fläche der Tochtergesellschaft, die besetzte Fabrik Vio.Me, «macht nur ca. 1/7 der Fläche aus, die unkompliziert vom Rest des Betriebsgeländes abtrennbar» sei. Dass die Anspannung auf Seiten der ArbeiterInnen und ihrer Familien immer mehr ansteigt, ist klar, «da es sich nach vier Jahren des Kampfes inzwischen um eine Frage des Überlebens» handelt. Den AlteigentümerInnen der Familie Filíppou wurden im Übrigen vom Staat in der Vergangenheit Teile der Betriebsflächen umsonst übertragen; «als staatliche Anerkennung für die soziale Leistung durch die Schaffung von Arbeitsplätzen».

Generalstreik am 3. Dezember –Syriza streikt mit

Zum zweiten Mal in nur drei Wochen wurde Griechenland am 3. Dezember durch einen Generalstreik lahmgelegt. Wie beim ersten Generalstreik am 12. November ging insbesondere im öffentlichen Sektor nichts mehr. Behörden, Schulen und Universitäten blieben geschlossen, der öffentliche Nahverkehr stand über Stunden still, Züge und Schiffe fuhren den ganzen Tag nicht und etliche Flüge fielen aus. Um berichten zu können, hatten die Mediengewerkschaften ihren Ausstand einen Tag vorverlegt. Im öffentlichen Gesundheitswesen wurde sogar zwei Tage lang in Notdiensten gearbeitet. ÄrztInnen und PflegerInnen der staatlichen Krankenhäuser hatten die Arbeit schon am Mittwoch niedergelegt. Hier fehlen nach offiziellen Angaben rund 20 000 PflegerInnen und mehr als 6000 ÄrztInnen. Ging es beim letzten Generalstreik am 12. November gegen die inzwischen von der Syriza-Anel-Regierungskoalition verabschiedete Freigabe von Zwangsversteigerungen von Wohnungen ihrer überschuldeten BesitzerInnen, so wurde am 3. Dezember vor allem gegen die anstehenden Verschlechterungen im Rentensystem gestreikt. Zwar sind die Details mit den Gläubigern von EZB, IWF und  EU-Kommission noch nicht ausgehandelt, die zentralen Achsen jedoch stehen bereits fest. Eine allgemeinverbindliche Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, die erneute Senkung der Mindestrente auf dann 365 Euro und die Zusammenlegung aller Rentenkassen in eine zentrale Kasse, bei Angleichung der Renten auf niedrigstem Niveau, scheinen beschlossene Sache zu sein. Die Regierungspartei Syriza hatte, wie schon im November, auch dieses Mal zur Teilnahme am Streik aufgerufen. «Regierung und Partei sind verschiedene Dinge», ausserdem dürfe man nicht vergessen, dass «die Verhandlungen mit den Gläubigern um die Details» fortgesetzt würden, so Syriza-Parlamentarier Chrístos Mántas. «Schämt euch!», waren die Rufe der Streikenden, die diese Syriza-Taktik als Versuch der Vereinnahmung werteten.

 

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Sozialstreik – Waffe des Prekariats

social-strikeDer neoliberale Boom der 80er Jahre hat die Zusammensetzung der europäischen ArbeiterInnenklasse radikal verändert. Industrieverlagerung, Individualisierung und Prekarisierung sind Tendenzen, die von der aktuellen Krise abermals begünstigt werden. Doch der Klasse fehlt bislang ein wirksames Gegenmittel. Nun loten immer mehr Basisgewerkschaften und autonome Gruppen die Möglichkeiten eines transnationalen «Sozialstreiks» aus. Zuletzt an einer Konferenz in Polen.

 

Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie angereist und hörten auf so klingende Namen wie «Rome Social Strike Laboratory», «Berlin Migrant Strikers» oder «Grupo de Acción Sindical». Die westpolnische Stadt Poznan war am ersten Oktoberwochenende Austragungsort einer internationalen Konferenz von Basisgewerkschaften und autonomen ArbeiterInnenkollektiven. Etwas holpriger als die Gruppennamen las sich der Zweck der Zusammenkunft: «Transnationaler Sozialstreik» – Eine neue Form des Massenstreiks also, die nicht bloss auf die traditionellen, gewerkschaftlich eingebundenen Industrien zielt, sondern der Vielfältigkeit der Klassensegmente und ihrer verschiedenen Kämpfe gerecht werden will. Nichts geringeres nämlich beabsichtigen die versammelten Kollektive langfristig auf die Beine zu stellen. In Poznan beschränkte man sich allerdings zunächst auf Vernetzung, Erfahrungsaustausch und Analyse. Gefragt wurde nach den Schwächen und Stärken vergangener Mobilisierungen, Arbeitskämpfe und Generalstreiks, nach dem Charakter gegenwärtiger Arbeitsverhältnisse und schliesslich nach der Bedeutung von Migration, Care-Arbeit, Prekarität und transnationaler Arbeitsorganisation für den Klassenkampf.

Einen derartigen Fragenkatalog abzuarbeiten, verlangte den TeilnehmerInnen einiges an Sitzleder ab. Aber im prunkvollen ehemaligen Festsaal der Strassenbahnerunion, welcher die  anarchosyndikalistische Gewerkschaft «Inicjatywa Pracownicza» (dt. Arbeiterinitiative) vermittelt hatte, liess es sich ganz vorzüglich aushalten.

 

Prekäre neue Welt

Was hinter der Idee des Sozialstreiks steckt, hob am treffendsten die britische Gruppe «Plan C» in ihrem Beitrag «The strike is dead. Long live the strike» hervor. Das Zeitalter der mächtigen und gut organisierten ArbeiterInnenklasse sei vorbei – zumindest in unseren Breitengraden. Aus den Fabriken der alten Industrienationen wurden Shoppingcenter und die Lofts der sogenannten «Dienstleistungsgesellschaft». Mit der Verlagerung der Arbeitsplätze der traditionellen Industrien sind auch die Kulturen und Institutionen der ArbeiterInnen untergegangen. Diese Neuordnung der globalen Arbeitsteilung war jedoch nie bloss eine «natürliche» Folge von neuen und günstigeren Produktionsstandorten, sondern immer auch ein Mittel, um widerständige proletarische Gemeinschaften zu zerschlagen. Auch wenn die Deindustrialisierung nicht total ist, so ist der Alltag der meisten Lohnabhängigen doch ein post-industrieller. Und die Tricks zur Profitmaximierung und ArbeiterInnenkontrolle in der post-industriellen Gesellschaft erleben wir tagtäglich: Individualisierte Arbeitsverträge, flexible Bezahlung in Honoraren statt regelmässigen Löhnen, Homeoffice statt Fabrik, Anstellungen ohne Arbeitsgarantien, Arbeit auf Abruf, Vermischung von Frei- und Arbeitszeit oder Temporär- statt Festanstellung. Solche Veränderungen in der Produktion und Arbeitsorganisation schufen eine neue ArbeiterInnenklasse. Und diese entwickelt allmählich neue Organisierungs- und Kampfformen.

Fest steht nämlich, dass es einen Weg zurück zu den Arbeitermassen, die im Blaumann die Industrieareale verlassen und als «Speerspitze der Klasse» den Generalstreik verkünden, nicht geben kann. Mehr denn je ist dies ein romantischer linker Traum. Die ökonomische Grundlage zu seiner Verwirklichung ist schlicht nicht mehr vorhanden. Dennoch ist die Verweigerung und Verhinderung der Arbeit nach wie vor das vielleicht wirksamste Mittel gegen die Besitzenden und Herrschenden. Wie aber kann das Heer der Vereinzelten und prekär oder gar nicht Beschäftigten zusammen in Streik treten? Und wie kann ein sektorenübergreifender Streik organisiert werden, wenn die grossen Gewerkschaften sich in systemkonformer Passivität üben und die prekären Massen kaum beachten?

 

Erster «sciopero sociale» in Italien

Mögliche Antworten kommen aus Italien, wo der sogenannte «EuroMayDay» am meisten fruchtete. Europaweit demonstrieren unter diesem Namen seit 2001 unterschiedlichste Initiativen vereint am 1. Mai. Migrantinnen, Arbeitslose, Studierende, Feministinnen, Künstler, Gewerkschafterinnen, Umweltschützer, LGBT-Gruppen, Recht auf Stadt- und  MieterInnen-Initiativen – so verschieden deren Hintergründe auch sein mögen, ihr vereinendes Moment ist der Kampf gegen ausbeuterische und unterdrückerische Zustände im Kapitalismus. Ausserdem befinden sich die meisten der Protestierenden in einer prekären ökonomischen Lage. «San Precario» heisst denn auch der ironische Schutzheilige der Bewegung.

Am 14. November 2014 hob diese besonders von jungen Menschen getragene Bewegung das Experiment auf eine neue Stufe. Das gemeinsame Demonstrieren sollte ergänzt werden – mit einem Massenstreik! Zum allerersten Mal wurde zu einem Sozialstreik, zum «sciopero sociale» aufgerufen. Davon ausgehend, dass das «kapitalistische Kommando» nicht bloss in den Fabriken hallt, sondern alle Bereiche des Sozialen durchdringt, versuchte der Sozialstreik verschiedene Sozialkategorien anzusprechen. Ergänzend mobilisierten kämpferische Basisgewerkschaften für einen klassischen Generalstreik, dem sich sehr zögerlich auch etablierte Grossgewerkschaften anschlossen. Schliesslich fanden in über 30 Städten Streiks, Demonstrationen und Blockaden statt.

In der Bilanz waren sich die Basisgewerkschaften und Sozialstreik-InitiantInnen einig: Dieser gemeinsame Protesttag zeigte erfolgreich Möglichkeiten auf, Kämpfe, Strukturen und Generationen zusammenzubringen. Die Beteiligung prekärer ArbeiterInnen müsse aber noch erleichtert werden. Der vielleicht prekärste Teil der italienischen ArbeiterInnenklasse, die illegal arbeitenden Flüchtlinge, war jedenfalls stark präsent.

 

Voraussetzungen schaffen!

Auch in Poznan war man sich einig: Mit Demonstrationen alleine seien die Zumutungen der Austeritätsprogramme nicht zu bodigen. Ebensowenig könne auf die Grossgewerkschaften gesetzt werden, die kaum Interesse zeigten, neben ihren alten Klientel auch Flüchtlinge oder andere Prekäre anzusprechen. Zudem sei im Zeitalter globalisierter und flexibler Arbeitsprozesse eine internationale Koordination absolut notwendig. So erzählten anwesende Arbeiter des Internetversandhandels Amazon, wie massiv ihre Aufträge in Polen zunahmen, als bei Amazon Deutschland gestreikt wurde. Infrastrukturen der Logistik wurden denn auch als zentrale Orte der Intervention verstanden. Dies auch deshalb, weil heute viele gar keine Möglichkeit haben, ein Unternehmen im klassischen Stil zu bestreiken. Im Sozialstreik solle die Warenzirkulation durch Blockaden unterbrochen werden. Bereits wandte Occupy Oakland diese Taktik mit der Hafenblockade 2011 an.

Damit aber alle sozial kämpfenden Sektoren zusammenfinden und sich gemeinsam nicht nur die Strasse nehmen, sondern auch die Wirtschaft lahmlegen, braucht es ein wenig Vorbereitung. Anfangen könnte jedeR bei sich selbst – mit der Anerkennung der eigenen Lage als LohnabhängigeR und mit der entsprechenden Organisierung mit den KollegInnen. Auch braucht es eine Kommunikation zwischen den verschiedenen kämpfenden Sektoren. Nur so kann gelingen, was die italienischen GenossInnen bereits forderten: «Verschränken wir unsere Arme und unsere Kämpfe!»

TTIP-Demo: Gross und sonst?

ttip berlinAm 10. Oktober gingen in Berlin eine Viertelmillion Menschen gegen das Freihandelsabkommen TTIP auf die Strasse. Es war eine der grössten Demonstrationen in Deutschland seit Jahren und die Grösste zu diesem Thema überhaupt. Dennoch blieb sie weitgehend unbeachtet.

Nichts ging mehr. Die Strassen waren verstopft und viele Protestierende schienen sich nicht länger über TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership), sondern über das lange Rumstehen aufzuregen. Die scheinbar hoch angesetzte Zahl von 150 000 TeilnehmerInnen musste mehrmals nach oben korrigiert werden. Dies überrascht, da die Verhandlungen zu TTIP von der breiten Öffentlichkeit unbeachtet bleiben. Dem aufrufenden, sehr breiten Trägerkreis – von der Linkspartei, über den Deutschen Gewerkschaftsbund, bis hin zum WWF und dem evangelischen Brot für die Welt – gelang es unter der Parole «Für einen gerechten Welthandel» alle quantitativen Erwartungen zu übertreffen. Doch diese Parole wirkte angesichts einer fehlenden Bezugnahme auf den Kapitalismus als System mit inneren Gesetzen reichlich naiv. Zum zahmen Motto passte auch die Demoroute; rund die Hälfte der Strecke lag in einem bewaldeten Stadtpark, war also nicht sichtbar. Trotz des Riesenaufmarschs blieb das Medienecho eher gering.

 

Angriff auf die Arbeitsbedingungen

Die genauen Auswirkungen von TTIP sind schwer vorherzusagen. Schliesslich wird geheim und fernab der Parlamente verhandelt, was bis weit ins bürgerliche Lager skandalisiert wird. Sicher ist jedoch; jegliche Aussenhandelsbeschränkungen würden radikal abgebaut. Falls sich Staaten nicht an die Vereinbarungen halten würden, sollen Konzerne sie vor privaten Schiedsgerichten verklagen dürfen. Diese Schiedsgerichte wurden in Deutschland jedoch bereits als verfassungswidrig erklärt. Aus linker Perspektive gilt es den Hauptfokus aber nicht auf die Unterwanderung der Demokratie, sondern auf die drohende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu legen. Es ist keine Neuheit und auch nicht Resultat eines auswüchsigen Kapitalismus, dass die bürgerliche Demokratie den Profitinteressen dient. Wichtig ist der Widerstand gegen TTIP als Verteidigungskampf angesichts der drohenden Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und der Deregulierung von VerbraucherInnen- und Naturschutzrichtlinien.

 

Keine Radikale, dafür Rechte

Die Situation in Deutschland unterscheidet sich denn auch zu jener in der Schweiz, wo sich die reformistische Linke kaum um das mühsam zu vermittelnde Thema TiSA (Trade in Services Agreement) kümmert. Bei einer unbewilligten Kundgebung gegen TISA letztes Frühjahr in Zürich gab die Polizei mit einem Grossaufgebot dem Paradeplatz die Ehre. Dass die deutsche Kampagne gegen TTIP reformistisch geprägt ist, müsste und dürfte nicht so sein. Die radikale Linke blieb der Demo fern, was angesichts ihrer Aufmachung verständlich scheint. Eigentlich sind es aber solche Proteste, welche eine revolutionäre Perspektive sichtbar machen können. Notwendig wäre die radikale Einmischung zudem wegen den nationalistischen Aspekten des Protests, welche weder übertrieben noch ignoriert werden dürfen. Auf Transparenten waren häufig genug antiamerikanische und sogar antiisraelische Parolen zu lesen. Demnach werden die Angriffe des internationalen Kapitals als ein Verteilkrieg zwischen Nationen verstanden, in dem es die «eigene» zu schützen gilt. Demgegenüber muss die internationale Solidarität unter den ArbeiterInnen gestärkt und der Kapitalismus als Ganzes thematisiert werden. Vor einem solchem Hintergrund könnte der Widerstand gegen Freihandelsabkommen mit Protesten wie in Berlin nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ auf einen Bruch mit dem Kapitalismus verweisen

USA–Kuba :Ende der Subversion?

Cuba_siEine Veranstaltungsreihe mit Aleida Godínez und Alicia Zamora,zwei ehemalige kubanische Agentinnen. Sie erzählen von der Subversion gegen ihre Insel.

Am 17. Dezember 2014 kündeten Raúl Castro und Barack Obama der Weltöffentlichkeit die Wiederaufnahme der offiziellen Beziehungen zwischen Kuba und den USA an.
Seit dem 20. Juli dieses Jahres wehen die Flaggen der beiden Länder nach 54 Jahren wieder über ihren jeweiligen Botschaften in Washington und Havanna.
Ist dies das Ende der Unterwanderungsversuche und konterrevolutionären Aktivitäten der USA gegen Kuba, die seit 1959 mehr als 3000 Todesopfer gefordert haben?

Aleida Godínez und Alicia Zamora berichten über ihre damalige Arbeit als Agentinnen, die im Auftrag Kubas konterrevolutionäre Gruppierungen infiltrierten, und geben eine Einschätzung der aktuellen Entwicklung.

Veranstaltungen:
12. September in Bern, Brasserie Lorraine, 19:00h
14. September in Solothurn, Restaurant Kreuz, 20:30h
17. September in Fribourg, Hôpital des Bourgeois, 18:00h
19. September in Bellinzona
21. September in Basel, Unternehmen Mitte, 19:00h
24. September in Genf, Maison des Associations, 19:00h
26. September in Zürich, Punto di Incontro, 19:00h

Brennende Stimmzettel und Militärstiefel

mexiko-iguala-protestAm 7. Juni fanden in Mexiko die Wahlen statt. Die militante Lehrergewerkschaft rief zum Boykott auf und führte Aktionen durch. Der Staat mobilisierte 40000 Sicherheitskräfte. Es kam zu Auseinandersetzungen, 125 AktivistInnen wurden verhaftet und nach einer Polizeiaktion wurde ein Aktivist getötet. Die repräsentative Demokratie steckt in einer abgrundtiefen Krise. Aber auch die Proteste müssen hinterfragt werden.

«Wirklich, ich musste mich diesmal ausserordentlich überwinden, um wählen zu gehen», stöhnte der Karikaturist Rius nach dem Wahlgang vom 7. Juni. Der 80-jährige Linke mit bürgerlichem Namen Eduardo del Rio, seit einem halben Jahrhundert für seine bissige Kritik mit dem Zeichenstift bekannt und gefürchtet, erklärte seine Qual der Wahl so: «Ich habe eine Peso-Münze in die Luft geworfen, wenn sie auf den Adler fallen sollte, wähle ich Morena, fällt sie auf die Seite mit der Sonne, dann wähl ich niemanden. Das zeigt dir, wie meine politische Haltung ist und was viele Leute wie ich in Sachen Parteipolitik denken.»

Die Wahlen zur Erneuerung des mexikanischen Parlaments sowie einiger Gouverneure und Lokalparlamente waren geprägt von einer Frustration, welche sich vielseitig Luft machte. Kritische Stimmen riefen im Vorfeld zum Protestwählen per ungültiger Stimmabgabe auf. Knapp fünf Prozent folgten diesem Aufruf, markierten Wahlzettel mit Sprüchen wie «Alles Ratten», «Wir wollen die 43 Studenten lebend zurück» oder «Ich wähle und dann lässt ihr mich verschwinden». Der neuen linken Partei Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung) unter dem zweimaligen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador kam jeder Protest gegen die Wahlen ungelegen, denn sie wollen beweisen, dass mit dieser vierten linken Partei endlich eine reale Alternative am Start war.

Besetzte Büros und brennende Unterlagen

Bis hierhin eine typische Krise der repräsentativen Demokratie, wie wir sie weltweit an vielen Orten erleben. Doch im Süden des Aztekenlandes nahmen die oppositionellen Lehrersektionen den Aufruf der Angehörigen der verschwundenen Studenten der pädagogischen Hochschule von Ayotzinapa auf: Die Wahlen müssen aktiv boykottiert werden, damit das Regime keine politische Normalität simulieren kann, die nach den Strukturanpassungsmassnahmen und den Staatsverbrechen wie in Guerrero ein Hohn ist. Ab dem 1. Juni traten die LehrerInnen in Michoacán, Guerrero, Oaxaca und Chiapas in einen unbefristeten Streik gegen die neoliberale Bildungsreform, welche die Regierung von Enrique Peña Nieto 2013 mit Unterstützung der sozialdemokratischen PRD durchs Parlament brachte. Die Reform hat zum Ziel, Arbeitsrechte und gewerkschaftliche Organisierung einzuschränken.

Am selben Tag begannen massive Proteste gegen die Wahlen. Die Institute der Wahlbehörde INE und Büros aller Parteien wurden besetzt, Unterlagen verbrannt. Zwei Tage vor den Wahlen sandte Peña Nieto insgesamt 40 000 Einsatzkräfte in die Unruheregionen, um in einer Feuerwehraktion doch noch Wahlen garantieren zu können. In Kleinstädten in Guerrero und insbesondere Oaxaca kam es zu gefährlichen Auseinandersetzungen zwischen AktivistInnen und Bundespolizei, Gendarmerie, Militär und Marine. Am Wahltag wurden allein in Oaxaca 440 Wahlurnen entweder verbrannt oder die Wahllokale gar nicht eingerichtet, was neun Prozent der Lokale im Bundesstaat entsprach. In Guerrero verletzten regierungstreue Gangs oppositionelle LehrerInnen und SchülerInnen von Ayotzinapa. In einer Polizeiaktion in der Nacht nach den Wahlen töteten Polizisten in Tixtla einen jungen Lehrer.

Landesweit wurden am Wahltag über 120 AktivistInnen festgenommen, 25 aus Oaxaca sind noch in Haft und wurden wegen Besitz von Molotow-Coctails in Hochsicherheitsgefängnisse in die Bundesstaaten Nayarit und Veracruz verlegt, wo sie nun zusammen mit gefährlichen Mafia-Mitgliedern einsitzen. Die NGOs von Oaxaca, normalerweise auf kritischer Distanz zur militanten Lehrergewerkschaft, haben sich vor und während der Wahlen zusammengerauft und forderten eine Demilitarisierung des Wahlprozesses, denn in ihrer Sicht beweist «der militärische Umgang mit einer sozialen Problematik eine gravierenden Rückschritt in Richtung autoritäres Regime», wie über 50 Organisationen aus Oaxaca in ihrem internationalen Aufruf warnen.

Boykott kritisch hinterfragen

In den Tagen nach der Wahl und deren teilweisen Boykott ist der Katzenjammer allerorten gross. Die Resultate vieler Wahlbezirke werden von den Verliererparteien angefochten, da unter den erschwerten Bedingungen die auch sonst schon notorischen Wahlbetrügereien zunahmen. Das Wahlgericht hat in über tausend Fällen Untersuchungen aufgenommen, doch selten ist die Beweislage genügend stichhaltig oder der politische Wille vorhanden, um Wahlen in einzelnen Orten zu wiederholen. Im Parlament bestätigte sich die Regierungspartei PRI als stärkste Kraft, auch wenn sie, wie die rechte PAN und die sozialdemokratische PRD, Stimmen an die kleinen Parteien verlor. Wahlgewinnerin ist die neue linke Morena, aber mit deren acht Prozent Wählergunst, abgeworben bei der PRD, ändert sich am Kräfteverhältnis im Parlament kaum etwas. Von denjenigen, die wählen gingen, legte nur jeder Vierte seine Stimme für linke KandidatInnen ein.

Auch die Proteste müssen bezüglich ihrer Wirkung kritisch hinterfragt werden. Die Bewegung um Ayotzinapa und die Lehrergewerkschaft hat mit dem Wahlboykott in ihren konkreten Forderungen nichts bewegen können. Die Parteien aus dem linken Spektrum machen den Wahlboykott für das gute Abschneiden der Regierungskräfte verantwortlich. Und die dröhnenden Armeehelikopter im Tiefflug sowie das martialische Aufmarschieren der Sicherheitskräfte kehrten die offizielle Absicht, das Recht auf freie Wahlen zu schützen, in ihr Gegenteil; sie schürten Angst und Unsicherheit unter der Bevölkerung, die frühere Manöver dieser Art und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen allzu gut in Erinnerung hat. Kommt hinzu, dass die schwerbewaffneten Verbände auch Tage nach den Wahlen immer noch in den Städten Oaxacas patrouillieren. Der Wahlboykott war ein idealer Vorwand, um die Militärpräsenz in den widerständigen Regionen des Südens zu konsolidieren.

Eine historische Wahl?

Dennoch, die meisten KommentatorInnen sind sich einig, dass die Wahlen ein Warnsignal waren. Der beliebte Analyst Julio Hernández López, dessen spitze Feder in der linken Tageszeitung Jornada täglich die mexikanische Politik seziert, bringt dies auf den Punkt: «Die andauernden und intensiven Proteste korrelieren exakt mit der Verweigerungshaltung der Politiker und Behörden, die existierenden sozialen Probleme anzugehen.» Regierungsapparat und die Formen der politischen Repräsentation «funktionieren nur noch für die eigenen Machtzirkel», so Hernández López in seinem Artikel mit dem Titel «Andauernde soziale Verstörung».

Doch nicht alle Stimmen äusserten sich über die soziale Unruhe besorgt. Für Präsident Peña Nieto waren die Wahlen ein «historisches Ereignis», die Probleme am Wahltag «vereinzelte Vorfälle». Er sieht die Demokratie in Mexiko gestärkt. Tags darauf reiste Peña nach Brüssel, unter anderem um über neue Freihandelsverträge zu verhandeln. Auch Bundesrat Burkhalter will Neuverhandlungen mit Mexiko, dem Land, das die meisten Freihandelsverträge weltweit hat und gleichzeitig unter gravierender sozialer Ungleichheit leidet. Der Beobachter Luis Hernández Navarro konterte die präsidiale Schönwetter-Rede: «Es stimmt, es war eine historische Wahl», aber genau im Gegenteil, die repräsentative Demokratie Mexikos stecke «in einer abgrundtiefen Krise». Die Münze des Karikaturisten Rius fiel übrigens auf die Adler-Seite. Damit kriegte die neue linke Partei Morena eine erste und vielleicht letzte Chance.

Aus der Printausgabe vom 19. Juni 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Israelisch-schweizerischer Drohnendeal

droAktivistInnen blockierten am 26. Mai den Haupteingang des Thuner Waffenplatzes und verwehrten der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) den Zugang, um gegen den Kauf sechs bewaffnungsfähiger Militärdrohnen aus Israel zu protestieren. Als Kompensationsgeschäft sichert die Schweiz Aufträge im Wert von 213 Millionen Franken. Als die Mitglieder der SiKs beider Räte am Dienstagmorgen zur geplanten «Vorführung des Materials des Rüstungsprogramms 15» erschienen, bot sich ihnen ein ungewohntes Bild: Der Eingang war mit blutverschmierten «Leichen» übersät. AktivistInnen forderten auf Transparenten die BundesparlamentarierInnen auf, den Drohnendeal abzulehnen und keine Beihilfe zu Kriegsverbrechen zu leisten.

Es gibt starke Anzeichen dafür, dass mit dieser Militärdrohne namens «Hermes 900» in der Vergangenheit Kriegsverbrechen begangen wurden. Laut dem Kinderhilfswerk «Children Defense International» (CDI) fielen bei der israelischen Militäroffensive «Protective Edge» letzten Sommer in Gaza-Stadt 164 Kinder Drohnenangriffen zum Opfer. CDI und andere Menschenrechtsorganisationen werfen den israelischen Streitkräften vor, mit den dokumentierten Angriffen auf Zivilpersonen gegen humanitäres Völkerrecht verstossen zu haben. Die israelische Regierung hätte die Möglichkeit, diese Anschuldigungen aus dem Weg zu räumen, indem sie die Videoaufzeichnungen der Kampfdrohnen für Untersuchungen zugänglich macht. Dies verweigert sie konsequent.

Militärisch-industrielle Kooperation

Spätestens seit der Ernennung der neuen ultrarechten Regierung Israels muss auch die Schweiz erkennen, dass zukünftige Kriegsverbrechen nicht ausgeschlossen werden können. So rief beispielsweise die frisch ernannte israelische Justizministerin, Ayalet Shaked, letztes Jahr öffentlich dazu auf, unbewaffnete Zivilpersonen zu töten und zivile Infrastruktur der PalästinenserInnen zu zerstören, um so den propagierten Krieg gegen das palästinensische Volk ein für alle Mal zu gewinnen. Das stellt klar einen Aufruf zu Kriegsverbrechen dar. Einer Regierung mit einem solchen Rechtsverständnis muss jegliches Vertrauen entzogen werden.

Die Schweiz plant aber eine militärisch-industrielle Kooperation mit einem Staat, welcher im dringenden Verdacht steht, Kriegsverbrechen mit einem Waffensystem begangen zu haben, welches nun von Schweizer Unternehmen technologisch verfeinert werden soll. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Technologie bei zukünftigen Kriegsverbrechen zum Einsatz kommt. Dies ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern erfüllt unter den gegebenen Umständen den Tatbestand der eventualvorsätzlichen Beihilfe zu Kriegsverbrechen.

Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates (SiK-N) entschloss sich im Anschluss an die Blockade mit 16 zu 7 Stimmen für den Drohnendeal. Der Präsident der SiK-N, Thomas Hurter (SVP), kommentierte dies lapidar: Menschenrechtsverletzungen seien «störend», aber ein Boykott würde nichts bewirken. Zudem sei es kein politischer Entscheid gewesen. Wahrscheinlich hat er damit Recht. Der Entscheid der SiK, welche als verlängerter Arm der Rüstungslobby fungiert, war ökonomischer Natur. Denn mit dem Kauf sichert sich die Schweizer Industrie Aufträge in Millionenhöhe. Angesichts solcher Profitaussichten kann man bei Nebensächlichkeiten wie der Beihilfe zu Kriegsverbrechen schon mal ein Auge zudrücken.

 

Aus der Printausgabe vom 5. Juni 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Wiederaufbau in Kobanê

Vor-einem-Wiederaufbau-muss-Kobane-wieder-sicher-gemacht-werdenVor vier Monaten befreiten die Volks- und Frauenselbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ die Stadt Kobanê vom selbsternannten Islamischen Staat (IS). Geblieben ist eine zerbombte Stadt, kaum ein Haus steht unversehrt, ganze Strassenzüge wurden dem Erdboden gleich gemacht. Geblieben ist aber auch die Freude und der Stolz, den als unbesiegbar geltenden IS vertrieben zu haben. Für die Bevölkerung von Kobanê war klar: «Wir bauen unsere Stadt wieder auf!» Trotzdem kommt alles nur zögerlich voran. Schuld daran ist nicht zuletzt die Türkei, die alles dran setzt, das Embargo gegen Rojava aufrechtzuerhalten und die Grenze nach Kobanê möglichst dicht zu halten.

Nach 135 Tagen Belagerung konnten die YPG und YPJ den IS am 26. Januar 2015 aus der Stadt Kobanê vertreiben und somit ihr emanzipatorisches Projekt erfolgreich verteidigen. Auch wenn Kobanê schon lange keine Schlagzeilen mehr macht, ist der Krieg nicht vorbei. Die Front ist nun etwa 50 Kilometer von der Stadt entfernt, und nach wie vor ist der Kanton Kobanê von allen Seiten vom IS umzingelt, bis auf die Grenze mit der Türkei. Die YPG und YPJ befreien ein Dorf nach dem anderen, doch alle befreiten Gebiete müssen zuerst sorgfältig nach Minen und vom IS gelegten Sprengfallen untersucht werden, bevor die Bevölkerung zurück kann. Zurzeit häufen sich die Gerüchte, dass die türkische Regierung in Syrien einmarschieren und eine Pufferzone einrichten möchte, offiziell um den syrischen Präsidenten Assad zu stürzen. Diese Pufferzone, mit der der türkische Staatspräsident Erdogan bereits letzten Herbst drohte, richtet sich auch diesmal nicht gegen den IS, sondern primär gegen das selbstverwaltete Projekt in Rojava und die KurdInnen in der ganzen Region.

Was viele im Herbst leise wünschten, wurde lauthals Ende Januar verkündet: «Wir sehen uns zu Newroz in Kobanê!» Das kurdische Frühlingsfest, das seit Jahren auch als politisches Symbol des Widerstandes gilt, konnte zwar nur im kleinen Rahmen von ein paar Tausend Menschen in Kobanê gefeiert werden – und erst noch unter strömendem Regen. Doch dieser Tag war unvergesslich. Über eine Million Menschen wären gekommen, wenn die Türkei nicht die Grenze zugemacht hätte; auch illegal war es um den 21. März besonders schwierig rüber zu kommen. Zudem wurde die Lage als zu gefährlich eingeschätzt: Die Hänge vom Mistenur-Hügel, ein strategisch wichtiger Punkt, sind noch voll Minen und Blindgänger. Ausserdem wurden über 40 Personen in Haseke (Kanton Cizîre) durch einen Selbstmordanschlag des IS während der Newrozfeier am 20. März umgebracht. Deshalb wurde zwar beschlossen, das Newrozfest durchzuführen, aber nur mit den Leute von Kobanê selbst, am westlichen Stadtrand, wo der IS nie vordringen konnte und es somit keine Minen hat.

Newroz in Kobanê

Trotz Regen und Kälte ist die Stimmung feierlich, überall wird getanzt. Als dann aber ein Laientheaterensemble und einige Guerilla-KämpferInnen ein Stück über den Widerstand von Kobanê spielen, wird die Stimmung augenblicklich schwermütig. Sie spielen nach, wie die Bevölkerung fliehen musste, die Angst und Verzweiflung sind deutlich spürbar, fast zu real, neben mir weint ein gestandener Herr und wohl kein Auge bleibt ganz trocken. Alle folgen gebannt den Ereignissen, voller Sorge, obwohl wir ja alle wissen, dass es gut ausgehen würde.

Der Krieg und die Trauer sind ständige Begleiter, doch jedes Fest, jedes Lachen, jeder Tanz und jedes Lied sind kleine Akte des Widerstandes gegen den IS, der solche Tätigkeiten als Blasphemien betrachtet und strengstens verbietet. Als später eine kurdische Rockband ihr Bestes gibt, fordert uns eine junge Kämpferin zum Tanzen auf, ihr Gesicht strahlt und ihre Energie steckt alle an. Vergessen die nassen Kleider, wir tanzen im Schlamm wie an einem Open-Air. Hevala Rûken, so ihr Name, habe auch in den schlimmsten Zeiten gelacht und den anderen Mut gemacht, erzählt uns Mustafa Ali. Er ist Journalist bei der kurdischen Nachrichtenagentur ANHA und lebt in Kobanê. Er ist fast die ganze Zeit in der Stadt geblieben und gehörte somit zur kleinen Gruppe lokaler JournalistInnen, die die Welt damals über die Geschehnisse in Kobanê auf dem Laufenden hielten. Im improvisierten Pressezentrum betreuten sie auch die wenigen ausländischen JournalistInnen, sorgten für ihre Sicherheit, brachten sie zur Front, organisierten GesprächspartnerInnen, dolmetschten die Interviews – und tun dies auch heute noch.

Mustafa Ali hat uns die Stadt gezeigt, die Kriegsschauplätze. Er erzählt vom Mut der KämpferInnen, die die Stadt auch dann verteidigten, als der Rest der Welt den Sieg des IS voraussagte. Stolz in seiner Stimme, aber auch Trauer, viele sind gefallen. Wir laufen durch die Ruinen, gewisse Strassenzüge sind vollkommen zerstört, andere Quartiere sind besser dran, doch überall sind Einschusslöcher, die Strassen voller Schutt und kaputtem Mobiliar, da eine zerfetzte Bibliothek, dort ein zerbombter Coiffeursalon, überall Spuren des früheren Alltags zwischen den Trümmern. Ein Bagger aus der Stadt Amed (Diyarbakir auf Türkisch) fährt an uns vorbei, die Männer tragen Handschuhe und Masken, ein ekelhafter Geruch begleitet sie, sie räumen IS-Leichen weg. Noch heute, zwei Monate nach unserem Besuch, werden Leichen gefunden.

Wir treffen immer wieder auf Menschen, die vor Kurzem zurückgekehrt sind. Sie tragen Schutt weg, retten, was noch irgendwie brauchbar ist aus den Trümmern, und versuchen ihre Häuser wieder bewohnbar zu machen. Ihr Unterfangen kommt mir oft ziemlich aussichtslos vor, zumal es an allem fehlt: Maschinen, Werkzeugen, Baumaterial; die Türkei lässt nichts rein. Aber die Leute scheint das nicht zu verunsichern: Der IS wurde vertrieben, wir sind wieder zurück, das Leben geht weiter.

Aufbruchsstimmung

Tatsächlich kehrt das Leben zurück. Die Stadt liegt in Trümmern, aber sie wirkt nicht gespenstig. Die Rückkehr hat auch eine Kehrseite: Die Vorräte an Mehl und Öl der einzigen Bäckerei reichen nicht mehr lange, jetzt wo die Leute zurückkehren, braucht es viel mehr Brot, mehr als 40 Tonnen pro Tag. Fewziya Ebdê, Ko-Präsidentin des Parlaments von Kobanê, erklärt uns in einem Telefoninterview Mitte Mai, dass sich die Situation bezüglich Lebensmittel ein wenig entspannt habe. Die Türkei lasse Lastwagen mit Nahrungsmitteln durch. Sie betont aber, dass es je nach Tagen mehr oder weniger gut funktioniere. Deshalb brauche es unbedingt internationalen Druck, damit die Türkei endlich die Grenze öffnet.

Am 2. und 3. Mai fand eine Konferenz zum Wiederaufbau von Kobanê in Amed statt. Mustafa Ali war vor Ort und sagte, dass sie sehr gut gelaufen sei. Ein Koordinationskomitee wurde gegründet, die Teilnehmenden konnten sich eine Übersicht über den aktuellen Zustand verschaffen und die notwendigen Schritte planen. Die kurdischen Gemeinden Amed und Wan (bzw. Van auf Türkisch) übernehmen den Wiederaufbau der Trinkwasser- und Kanalisationssysteme. Auch andere Städte und NGOs möchten sich beteiligen, internationale Brigaden sind geplant. Doch solange an der türkischen Grenze Willkür herrscht, kommt alles ins Stocken.

Tausend tickende Zeitbomben

SpezialistInnen sind gefragt, aber wir sehen vor allem Familien mit Kleinkindern, ältere Menschen. So viele Menschen, denen eigentlich alles fehlt, angefangen beim Dach über den Kopf. Die Nächte sind sehr kühl, es regnet immer wieder und der Wind tut noch das Seine, so dass die Kinder in der einzigen zur Zeit unseres Besuches offenen Schule den Mantel nicht ausziehen während dem Unterricht. Doch schaut man in die Gesichter der Leute, in ihre Augen, so sieht man nichts davon, nur Zuversicht und Stolz. Mustafa Ali und Fewziya Ebdê bestätigen beide, dass es bis heute so ist.

Nachdem wir die Schule besucht haben, begleiten wir ein paar internationale Aktivistinnen zu einem Gespräch mit der YPJ-Kommandantin Hevala Rengîn. Die KämpferInnen sind in der Stadt präsent, sorgen für die Sicherheit oder erholen sich von den Fronteinsätzen. Sie tragen ihre Uniformen und haben natürlich auch ihre Kalaschnikows dabei – doch sie spielen sich nie auf, sie strahlen Wärme aus, helfen mit, so dass die Stadt überhaupt nicht militarisiert wirkt, im Gegenteil. Beeindruckend ist, dass die Rolle der Frauen überall Thema ist, nicht nur bei den Kommandantinnen der YPJ. Auch die Kämpfer, auch die Menschen auf der Strasse, mit denen wir ins Gespräch kommen, erzählen uns von den mutigen Frauen und verkünden, dass dies die Revolution der Frauen sei. Es ist schön, in einem befreiten Gebiet zu sein, wo Utopien ernsthaft diskutiert werden und die Menschen an emanzipatorischen Veränderungen glauben und bereit sind, dafür zu kämpfen, auf den verschiedensten Ebenen und mit den verschiedensten Mitteln.

Gegen Ende des Gesprächs mit der Kommandantin hören wir plötzlich eine Detonation. Alle erstarren, fast wäre ich unter den Tisch gesprungen. Hevala Rengîn macht sich sofort auf dem Weg, wir folgen etwas zögernd. Sie improvisiert eine kleine Pressekonferenz für die ebenfalls angerannten JournalistInnen: «Das ist zurzeit unser grösstes Problem, darüber müsst ihr berichten. Heute wurde niemand verletzt. Aber viel zu viele Kinder sind schon gestorben, weil sie in den Trümmer gespielt haben und ein Blindgänger hochgegangen ist. Viel zu viele KämpferInnen sind schon bei der Räumung von Minen und Sprengfallen gestorben. Und das nur, weil keine MinenspezialistInnen da sind, um uns zu helfen, die Bomben sicher zu entschärfen und uns darin auszubilden.» Ich fragte mich all die Tage über: Wo bleibt die UNO? Wo die Anti-Minen-Teams? Wir überlegten uns ernsthaft, einen Anti-Minen-Hund zu kaufen und über die Grenze zu schmuggeln – erfuhren aber inzwischen, dass verschiedene NGOs am Thema dran sind. Fewziya Ebdê erzählt uns, dass ein paar SpezialistInnen da waren zur Abklärung und sie Leute vor Ort ausbilden werden. Doch konnten sie ihre Arbeit noch nicht aufnehmen. Die UNO und die internationalen Organisationen würden sich an die Anweisungen der Türkei halten, und die lauten: Jegliche Hilfe muss über die AFAD, den offiziellen Katastrophendienst der Türkei, laufen, sprich dort stecken bleiben. Die Türkei will nicht zusehen, wie mit internationaler Unterstützung ein basisdemokratisches Projekt vor ihrer Nase aufgebaut wird, das nicht nur eine Zukunftsperspektive für die Menschen in Rojava, sondern auch eine Hoffnung für die kurdischen und anderen linken AktivistInnen in der Türkei darstellt.

 

Aus der Printausgabe vom 22. Mai 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Die Intervention geht weiter

Mideast Saudi Arabia Air ForceSaudi-Arabien führt die Bombardements im Jemen trotz gegenteiliger Ankündigung weiter. Die Militärintervention hat mittlerweile über tausend Menschenleben gefordert sowie mehr als das Dreifache an Verletzten.

Weniger als einen Monat nach Beginn der Intervention im Jemen seitens Saudi-Arabiens verkündete die Militärführung in Riad das Ende der Operation «Sturm der Entschlossenheit». Der jemenitische Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi im saudischen Exil glaubte, «dass die wichtigsten Ziele der Operation am Boden erreicht seien, dass die Legitimität seiner Regierung gesichert sei und die Bürger Jemens nicht mehr in Gefahr wären wie zuvor». Auf sein «Ersuchen» hin sollte die Operation nun beendet werden. Wer dies als das Ende der Militärintervention interpretierte, lag falsch. Um die Präsenz der Regierung auf dem Territorium Jemens zu verstärken und dem Volk Sicherheit und Stabilität zu bringen, wurde bloss eine neue Phase der Intervention eingeläutet, die Operation «Wiederherstellung der Hoffnung». Die neue Operation bedeutet in Wirklichkeit die Fortsetzung der Luftangriffe durch die von Saudi-Arabien angeführte Kriegskoalition.

Präsident ohne Legitimation

Die Militärintervention durch die Saudis begann am 26. März und hat das Ziel, den jementischen Präsidenten Hadi, der im Januar gestürzt wurde, wieder an die Macht zu bomben. Die schiitischen sogenannten Huthi-RebellInnen, aber auch ein grosser Teil der regulären Streitkräfte im Jemen, darunter Luftwaffe und Spezialeinheiten, stehen in Opposition zum ehemaligen Machthaber. Die Mehrheit des Militärs ist noch immer dem Vorgänger Hadis treu, Ali Abdullah Saleh, der nach den Massendemonstration der jemenitischen Version des «Arabischen Frühlings» von den USA zum Rücktritt gezwungen worden war. Der gegenwärtige offizielle Amtsinhaber Hadi wurde von den Monarchien der arabischen Halbinsel und der US-Regierung zum Nachfolger bestimmt. In einer Wahl 2012 wurde er «demokratisch» legitimiert: Es ergab sich eine Zustimmung von 99,8 Prozent für Hadi, wobei er als einziger Kandidat zur Auswahl stand.

UN-gestützte Aggression

Mitte April hat sich nun auch der UN-Sicherheitsrat dazu herabgelassen, einige Worte über die saudische Aggression zu verlieren. Die Resolution, die von 14 der 15 Mitglieder des Sicherheitsrates gebilligt wurde, stellt sich auf Seiten Saudi-Arabiens und verurteilt einzig die Gewalt der RebellInnen. Während von den US-treuen Regierungen nichts anderes zu erwarten war, da die Intervention auf den ausdrücklichen Segen und die logistische Unterstützung der USA zählen kann, gibt das Verhalten Chinas und Venezuelas, die beide der Resolution zugestimmt haben, zu denken. Für China habe die «Einheit, Souveränität und territoriale Integrität» des Jemens Priorität und der Konflikt solle auf friedlichem Weg durch Dialog gelöst werden. Auch Venezuela pocht auf eine politische Lösung und kritisiert bloss, dass nicht alle Parteien in die Gespräche einbezogen werden. Eine friedliche Lösung, wie sie die beiden Länder vorschlagen, kann aber nur ein frommer Wunsch bleiben, wenn nur eine Seite dazu aufgefordert wird. Russland hat als einziges Land sich wenigstens eine Zustimmung zur Resolution verweigert. Wie der russische Vertreter richtig bemerkt, werden darin nicht beide Seiten zum Ende der Gewalt aufgerufen.

Aus der Printausgabe vom 8. Mai 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Neonazis gegen Kapitalismus?

May Day In Germany: RostockDie heutigen Nazis lassen häufig antikapitalistische und antiimperialistische Töne von sich hören. In Deutschland hat sich der sogenannte Strasserismus in den 90er Jahren durchsetzen können, sodass auch die NPD für eine «antikapitalistische Wirtschaftsordnung» kämpft.

«Sie haben völlig recht», entgegnete vor einigen Jahren ein schulbekannter Neonazi in einer Schule im Berlin-Prenzlauer Berg seiner Lehrerin. «Hitler war ein grosser Verbrecher. Er hat den Nationalsozialismus an das Kapital verraten. Unsere Leit- und Vorbilder sind nicht Hitler, Himmler, Goebbels und andere Grössen des ‹Dritten Reiches›, sondern Gregor und Otto Strasser.» Die Lehrerin war zunächst in zweierlei Hinsicht sprachlos. Zum einen hatte sie während ihrer Ausbildung in der DDR nie etwas über die Faschisten Gregor Strasser (1892–1934) und Otto Strasser (1897–1974) gehört und zum anderen verblüffte sie die völlig unerwartete Ideologie heutiger neonazistischer Gruppierungen in der BRD. Diese Berliner Lehrerin stellt keine Ausnahme dar. Bis in die Gegenwart hinein ist den meisten Menschen in den alten und neuen Bundesländern die geistige und programmatische Metamorphose beachtlicher Teile des bundesdeutschen Neonazismus kaum bekannt. Nach dem Scheitern aller Pläne von Otto Strasser, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre sein in der Weimarer Republik und danach entwickeltes faschistisches Politikkonzept nahtlos auf die BRD zu übertragen, war der Strasserismus bis auf die heute noch in Nordrhein-Westfalen agierende Unabhängige Arbeiterpartei (UAP) weitgehend in der politischen Versenkung verschwunden. Ein zaghafter Wandel machte sich erst wieder in den 70er Jahren bemerkbar, als die Neue Rechte in der Bundesrepublik analog ihrer französischen Gesinnungsfreunde nach neuen Ideen suchten, um die politische wie geistige Isolierung der Rechtsextremen zu überwinden. Während man in der französischen Nouvelle Droite insbesondere Vorstellungen von Antonio Gramcsi von der Eroberung der kulturellen Hegemonie vor einer politischen Machtübernahme aufgriff, suchte der sogenannte nationalrevolutionäre Flügel der westdeutschen Neuen Rechten Anknüpfungspunkte beim angeblich linken Flügel der NSDAP, der besonders von den Gebrüdern Strasser repräsentiert wurde. Diese rechtsextremen sogenannten Nationalrevolutionäre, die sich vom Hitlerismus und dem NS-System, aber nicht von der Idee eines «nationalen Sozialismus» distanzierten, gruppierten sich in den 80er Jahren vor allem um die Zeitschriften «wir selbst» (Koblenz), «Europa Vorn» (Köln) und um die «Deutsch-Europäische Studiengesellschaft» (Hamburg).

«Ethnopluralismus» statt Rassismus

Von den IdeologInnen dieser Kräfte, die sich als «progressive NationalistInnen» verstanden, wurden eine Reihe neuer Begriffe entwickelt, um den Rechtsextremismus besser in der Öffentlichkeit anbringen zu können. So sprach man anstatt von Rassismus jetzt vom Ethnopluralismus, statt Biologismus nur noch von einem Biohumanismus. Nach wie vor blieb aber auch bei ihnen die Überwindung der demokratischen Republik und die Errichtung eines neuen Deutschen Reiches das Ziel, in dem die Grundwerte der Aufklärung, vor allem das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, überwunden und durch eine ethnisch homogene und hierarchische Volksgemeinschaft ersetzt werden sollte. Die Rezeption der Strasser-Vorstellungen in der BRD vollzog sich über verschiedene Phasen, die nicht widerspruchslos abliefen. Bis in die 80er Jahre hinein waren die neuen Strasser-AnhängerInnen in intellektuellen Zirkeln relativ isoliert und politisch wirkungslos. Das änderte sich in dem Masse, wie Michael Kühnen, von den 70er bis Anfang der 90er Jahre wichtigster Repräsentant des bundesrepublikanischen Neonazismus, sich über Positionen der faschistischen Sturmabteilung (SA) dem Strasser-Konzept näherte. Bis zu Beginn der 90er Jahre dominierten dann Strasser-Ideen in fast allen nennenswerten neonazistischen Gruppen der BRD. Zu nennen sind hier insbesondere die inzwischen verbotenen Gruppierungen Nationalistische Front (NF) einschliesslich ihrer diversen Nachfolgegruppen, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und die Deutsche Alternative (DA). Dass die Strasser-Ideen gerade in Ostdeutschland einen beachtlichen Widerhall fanden und finden, hängt mit einer diffusen Nachwirkung des «Sozialismus« in der DDR, der Ambivalenz zu den angeblich antikapitalistischen Vorstellungen der Gebrüder Strasser und der neonazistischen Parole zusammen, dass der Sozialismus an sich eine gute Idee wäre, nur müsse dieser nicht internationalistisch, sondern nationalistisch ausgerichtet sein.

Durchsetzung des Strasserismus

Die Durchsetzung des Strasserismus in den meisten neonazistischen Vereinigungen vollzog sich nicht konfliktfrei. So setzte 1992 der damalige DA-Bundesvorsitzende Frank Hübner den verantwortlichen Redakteur der DA-Zeitung «Brandenburger Beobachter», Frank Mencke, ohne viel Federlesens ab, weil dieser in einem Artikel Hitler als Wahrer der Menschenrechte und den SS-Obergruppenführer und Organisator des Holocaust, Reinhard Heidrich, als Vorbild für die jungen Neonazis hingestellt hatte. In der Begründung seines Handelns erklärte Hübner, dass solche Auffassungen nicht den Positionen der DA entsprächen. Ein anderes typisches Beispiel waren die Auseinandersetzungen über diese Problematik in der neonazistischen NPD und ihrer Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN), die im Sommer 1996 zur Absetzung fast der gesamten Redaktion der JN-Zeitschrift «Der Aktivist – Nationalistisches Infoblatt» führte. Erst in dem Umfang, wie sich der 1995 neugewählte NPD-Vorsitzende Udo Voigt gegen den Flügel des abgesetzten vorherigen Vorsitzenden Günter Deckert durchsetzte, veränderte sich auch der politische und ideologische Kurs der NPD in Richtung auf die Strasser-Linie. Der von Deckert favorisierte geschichtliche Revisionismus (vor allem die «Auschwitz-Lüge») wurde zugunsten der sozialen Gegenwartsprobleme in den Hintergrund gerückt. Wie im Strasserismus wird jetzt auch in der NPD eine hemmungslose nationalistische und rassistische Revolutions- und Sozialismus-Phraseologie betrieben, die durch den Übertritt von Funktionären der Ende 1997 aufgelösten Gruppierung Die Nationalen (NAT) noch verstärkt wurde. Bereits im Mai 1996 fand der 26. ordentliche Bundeskongress der JN in Leipzig unter der heute bundesweit vorgetragenen Losung «Gegen System und Kapital – unser Kampf ist national!» statt. In Distanzierung von bisherigen Praktiken beteiligte sich auch die NPD im August 1997 nicht mehr offiziell an den Gedenkveranstaltungen für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess. Dazu argumentierte die Spitze der NPD, so etwas sei nicht mehr zeitgemäss und würde von der Masse der Bevölkerung nicht verstanden.

Testfeld Osten

Hauptexperimentierfeld für die Durchsetzung des neuen NPD-Kurses ist der Freistaat Sachsen. Hier haben NDP und JN seit dem Ende der 90er Jahre ihre politische Isolierung durchbrochen und zählen jetzt ca. 1000 hauptsächlich junge Mitglieder. 2004 und 2009 konnten Abgeordnete der NPD in den Sächsischen Landtag einziehen, 2014 scheiterte sie knapp an der 5-Prozent-Hürde. Ähnlich wie in Sachsen agieren NPD und JN auch in Mecklenburg-Vorpommern. Bei den neonazistischen Mitgliedern und AnhängerInnen der NPD steht nach wie vor die rassistische Hetze gegen AusländerInnen und eine massive soziale Demagogie im Zusammenhang mit der Massenarbeitslosigkeit und der Lehrstellenmisere im Vordergrund der Tagesagitation. Das verdeutlicht aber noch nicht genügend die veränderte, angeblich antiimperialistische Politik der NPD. Das wird deutlicher, sieht man sich die weitergehenden Positionen der NPD an. So heisst es im aktualisierten Parteiprogramm: «Die NPD lehnt die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung systematisch betriebene Internationalisierung der Volkswirtschaften entschieden ab. (…) Auf der ganzen Welt erteilt der Aufbruch der Völker dem multikulturellen Einheitswahn eine Absage. Grundlage einer europäischen Neuordnung muss das Bekenntnis zum nationalstaatlichen Ordnungsprinzip und zum Prinzip der Volksabstammung sein. (…) Wir fordern die Revision der nach dem Krieg abgeschlossenen Grenzanerkennungsverträge.» Noch deutlicher wird die der NPD nahestehende Zeitung, in der «der Kampf für eine nationale, antikapitalistische Wirtschaftsordnung», eine «Basisdemokratie gegen Bonzenhierarchie» gefordert wird. Das alles wird in den neuen Bundesländern mit einer rechtsextremen Vereinnahmung der DDR und einer Anbiederung an einstige DDR-Funktionsträger verbunden. In einem in Sachsen verbreiteten NPD-Flugblatt wird dazu erklärt: «Wir Mitglieder der NPD stehen zur ganzen deutschen Geschichte und auch zur Geschichte der DDR. Die Mehrheit unserer Mitglieder ist (…) der Meinung, dass die DDR das bessere Deutschland war. Wir wollen deshalb die positiven Erfahrungen der DDR in unsere Politik einbringen.» Aber selbst das reicht der NPD noch nicht. Um an ehemalige Kader der SED heranzukommen, wird in dem zitierten Flugblatt entgegen der geschichtlichen Wahrheit weiter verkündet, dass die NPD «in der Tradition der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung» steht. Ideologisch ist man in diesem Zusammenhang bereit, den bisherigen extremen Antikommunismus zugunsten eines ausgeprägteren Antiamerikanismus zurückzunehmen. All das soll dem Ziel der Schaffung einer «Volksfront von rechts» – oder wie es in dem Sachsenflugblatt formuliert wird – der Installierung einer «neuen Nationalen Front des demokratischen Deutschlands» dienen.

Genauere Analysen

Diese geschicktere pseudopatriotische und systemkritische Demagogie wesentlicher Teile des heutigen bundesrepublikanischen Neonazismus findet nicht nur unter Teilen der Jugend, sondern auch bei älteren BürgerInnen in den neuen Bundesländern Widerhall. So bekannte der Sprecher der Bündnisgrünen in Mecklenburg-Vorpommern, Klaus-Dieter Feige: «Ich bin immer wieder erschüttert, wenn ich mich mit Rechtsextremen unterhalte, in wie vielen Punkten wir in der Kritik am existierenden Kapitalismus übereinstimmen.» Zum Schluss sei hier noch darauf verwiesen, dass sich in Gestalt der Europäischen Synergien, einer Absonderung von den europäischen Neuen Rechten, eine neue internationale Struktur herausbildet, die sich verstärkt mit der Thematik des sogenannten Nationalkommunismus befasst und deren Verbindungen bis zu hohen russischen Militärs in Moskau reichen. Ohne jetzt hier noch weitere Thesen und Praktiken der Strasser-ErbInnen zu erörtern, verdeutlicht schon diese kurze Abhandlung, dass viele linke Analysen des heutigen Rechtsextremismus noch zu sehr in überholten Vorstellungen befangen sind und auch viele Argumente des heutigen Antifaschismus nicht die neuen Entwicklungen reflektieren und daher kaum Wirkung zeigen. Anliegen aller Linken sollte es sein, in ihren Analysen genauer die rechtsextremistische Gegenwart zu untersuchen, um daraus effektivere Argumente und politische Aktivitäten zur Zurückdrängung des zur Zeit immer noch wachsenden Einflusses des Rechtsextremismus in allen seinen Varianten zu entwickeln.

Aus der Printausgabe vom 24. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

¡NO PASARAN!

nopasaran-494x329Vor 70 Jahren endete der Horror des Zweiten Weltkriegs. Die diesjährige Beilag der 1.Mai-Ausgabe des vorwärts steht im Zeichen von diesem historischen Ereignis. Es ist ein Beitrag, so bescheiden er auch sein mag, um niemals zu vergessen! Gleichzeitig soll die Beilage aber auch anregen, sich darüber Gedanken zu machen, was es heisst, heute Antifaschist zu sein.

Mai 1945: Europa liegt in Schutt und Asche. Es beweint 60 bis 70 Millionen Tote. Die genaue Zahl wird die Menschheit nie erfahren. Weitere Millionen kehren als Krüppel von den Schlachtfeldern zurück oder sind es durch die flächendeckenden Bombardierungen geworden. Millionen von Menschen schwören sich: «Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!».

Mai 2015: Wir stellen fest, dass es in Europa sehr wohl wieder Kriege gab und noch gibt. Wir wissen, dass in der Ukraine faschistische Kräfte von der EU unterstützt werden. Wir sehen, wie rassistische, faschistoide Parteien auf dem ganzen Kontinent an Zuspruch gewinnen, grossen Einfluss haben oder gar – wie in Ungarn – an der Macht sitzen. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Was ist aus diesem Eid geworden? Was heisst es heute, Antifaschist zu sein? Eine Frage, die sich vor allem jene Linke stellen muss, die ihren Aktionsradius etwas grösser und breiter als einen Bierdeckel definiert und sich daher nicht nur auf den bürgerlichen Parlamentarismus, Initiativen und Referenden beschränkt.

Auf der Suche nach Antworten finden wir einen ganz grossen Schriftsteller, Politiker, marxistischen Philosophen und Antifaschisten aus Italien, der seine felsenfeste Überzeug mit dem Tod bezahlte: Antonio Gramsci. «Die Illusion ist die hartnäckigste Quecke des kollektiven Bewusstseins: Die Geschichte lehrt, hat aber keine Schüler», ist eine seiner Weisheiten, die er uns hinterliess. Die Quecke ist bekanntlich ein Gras, das sehr schnell wächst und alles andere «überdeckt». Und Gramsci fordert uns auf, SchülerInnen der Geschichte zu werden. Das heisst heute: Niemals die Quecke wuchern lassen, niemals vergessen! Niemals den Holocaust vergessen. Niemals den blutigen, heldenhaften Befreiungskampf der PartisanInnen vergessen. Niemals die tragende, zentrale Rolle der sozialistischen, kommunistischen Parteien und anarchistischen Organisationen im antifaschistischen Kampf vergessen. Niemals vergessen, dass Europa auch von der Roten Armee befreit wurde und nicht nur von den Amis alleine. Niemals vergessen, dass die Sowjetunion weitaus die grösste Anzahl Opfer zu beklagen hatte.

Geschwüre auch in der Schweiz

Aber das Nichtvergessen alleine reicht nicht. Auch dies sagt uns Genosse Gramsci, Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei (Partito Comunista Italiano) im Jahr 1921 und Gründer der geschichtsträchtigen Parteizeitung «L’Unità» im Jahr 1924: «Der Faschismus hat sich als Antipartei gegeben, hat allen Kandidaten die Türe geöffnet, hat einer ungeordneten Vielfalt die Möglichkeit geboten, nebulöse und vage politische Ideale mit einem Farbanstrich zu überstreichen. Es ist das wilde Überborden der Leidenschaft, des Hasses, der Wünsche.» Ins Heute umgemünzt, beschreibt hier Gramsci unter anderem die Organisation «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) aus Deutschland, die Tausende von WutbürgerInnen auf die Strasse mobilisiert. Aber auch die Schweiz ist nicht frei von solchen Geschwüren. Am 29. März 2014 versuchte die Gruppe «Stopp Kuscheljustiz» eine Kundgebung unter dem Namen «Volksversammlung» zu organisieren. Ihr Facebook-Auftritt zeigt, dass die Gruppe ein Sammelbecken für rechtskonservative und rechtsextreme Ideologien darstellt. Die «Helvetia» wird zur Heimat der «Eidgenossen» hochstilisiert und populistische Hetzberichte gegen AusländerInnen, Asylsuchende und Kriminelle von Seiten rechtsextremer Parteien wie der Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) folgen regelmässig. Auf-forderungen wie «Schweiz erwache» in Anlehnung an das SA-Kampflied «Deutschland erwache» und Aufrufe zu ethnischen Säuberungen oder die Forderung der Todesstrafe gegenüber Andersdenkenden oder MigrantInnen sind die Regel. In «Gefahr» ist alles angeblich Schweizerische, von der direkten Demokratie bis zur Cervelat. Obwohl sich die VeranstalterInnen von rechtsextremen Positionen distanzieren und sich nicht als FaschistInnen oder Neonazis wissen wollen, zieht eine solche «Volksversammlung» sehr wohl offen deklarierte RassistInnen, FaschistInnen und RechtspopulistInnen an. Die faschistoiden Züge der Rechten in der Schweiz haben sich ständig durch rassistische Komponenten und den Schutz der eigenen «Identität» und «Tradition» charakterisiert. Und sie sind vor allem auch immer bis in die «Mitte der Gesellschaft» vorzufinden.

Die Speerspitze der herrschenden Klasse

Bei Gramsci bildeten Ideologie, Philosophie und politische Praxis eine feste Einheit. Er konzentrierte sich stark auf das Verständnis der realen Situation und der gesellschaftlichen Verhältnissen Italiens jener Zeit und der Möglichkeit, diese im sozialistischem Sinne zu transformieren. Den Faschismus definierte er als «Speerspitze der Krise der bürgerlichen Gesellschaft», da der herrschenden Klasse, die «soziale, intellektuelle und moralische Hegemonie verloren hatte» und zur Gewalt greifen musste. Ein Blick auf die herrschende Klasse von heute zeigt, dass sie mit den sogenannten Freihandelsverträgen wie TiSA und TTIP (um nur zwei zu nennen) dabei ist, einen epochalen neoliberalen Angriff durchzuführen. Was wird ihre Speerspitze sein? Und: Welche Alternative bieten wir zur aktuelle Barbarei? Die Antworten auf die Frage, was es heisst, heute AntifaschistIn zu sein, finden wir in der Vergangenheit, im Heute und in dem, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Um diese im sozialistischen Sinne aufzubauen, heisst die gemeinsame Kampfparole: NO PASARAN!

 

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Töten wir das Monster!

01_TISAAm 18. April findet der globale Aktionstag gegen Freihandel statt. Es ist der konkrete Widerstand gegen die Freihandelsabkommen, die der schrankenlosen Privatisierung und Liberalisierung den Weg ebnen soll. Was dabei die -Folgen sind, zeigt die Privatisierung des Spitals «La Providence» in Neuenburg. Die Abkommen betreffen direkt auch die Schweiz. Am Aktionstag findet auf dem Zürcher Paradeplatz eine Kundgebung statt.

TiSA? TTIP? Tafta? Das sind Abkürzungen für so genannte Freihandelsabkommen. Freihandelsabkommen? Das ist der «diplomatische Fachbegriff» für die komplette, vollständige Liberalisierung und Privatisierung! «Privatisierungen der öffentlichen Dienste und Liberalisierung sind die politischen Waffen der Unternehmen und Besitzenden, um ihre Profitinteressen durchzusetzen. Für die ArbeitnehmerInnen bedeuten sie schlicht eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und somit auch der Lebensbedingungen», hält die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) in ihrem Wahlprogramm 2015 fest. So geschehen beim Spital «La Providence» in Neuenburg: Nachdem das Spital durch die private Gruppe «Genolier» übernommen wurde, kam es zur Kündigung des Gesamtarbeitsvertrags (GAV), der Auslagerung nicht- medizinischer und nicht-pflegerischer Leistungen. Die Folgen waren ein allgemeiner Lohn- und Stellenabbau. Dies geschah mit dem Einverständnis der Neuenburger Regierung: Sie erlaubte der Gruppe «Genolier», den GAV zu kündigen, obwohl eine Verordnung des Regierungsrates selbst festlegte, dass der GAV respektiert werden muss, um einen öffentlichen Auftrag im Gesundheitswesen zu erhalten. Eine «Ausnahme»? Nein! «Ein Musterbeispiel von Privatisierung und Liberalisierung im Sinne des kapitalistischen Diktats, das heute Globalisierung genannt wird», schreibt die PdAS dazu und trifft damit den Nagel auf dem Kopf.

Weltweite, undemokratische Verhandlungen

Seit 2012 verhandelt das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) im Auftrag des Bundesrats mit der EU, die ihrerseits 28 Länder umfasst, sowie weiteren 20 Ländern unter der Führung der USA über das Freihandelsabkommen «Trade in Services Agreement» (TiSA). Auf der Website des Komitee Stop-Tisa ist darüber zu lesen: «Es geht um fast alles, was wir zum Leben brauchen: vom Trinkwasser bis zur Abfallentsorgung, vom Kindergarten bis zum Altersheim, von Post und Bank über Eisenbahn und Elektrizitätswerke bis zum Theater. Der ganze Service public, wie wir ihn in der Schweiz nennen, ist vom Dienstleistungsabkommen TiSA bedroht.» Die Verhandlungen werden im Geheimen und undemokratisch geführt. Das Schweizer Parlament, wie auch die Öffentlichkeit, wurde erst auf öffentlichen Druck spät und unzulänglich über den Stand der Verhandlungen informiert. Die Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien kennen seit Jahrzehnten die Auswirkungen dieser Freihandelsabkommen, die ihre Wirtschaft zerstört und das Volk in Armut geführt haben. So gibt es heute gemäss WTO weltweit gegen 400 Freihandelsverträge, vor vierzig Jahren waren es weniger als zehn.

Konzerne klagen gegen Staaten

Gemäss den Freihandelsverträgen müssen alle Dienstleistungsbereiche, in denen neben den öffentlichen auch private Anbieter vorhanden sind, den Regeln des «freien und unverfälschten Wettbewerbs» unterstellt werden. Ist dies nicht der Fall, können einzelne Konzerne eine Regierung auf «entgangene Gewinne» verklagen, um diese aus Steuergeldern ausgleichen zu lassen. Die Unternehmen haben denselben Rechtsstatus wie Nationalstaaten. Geklagt wird nicht bei einem öffentlichen Gericht, sondern bei einem Schiedsgericht, das der Weltbank untersteht! Diese Regelungen sind bereits aus bestehenden Freihandelsverträgen bekannt. Zwei konkrete Beispiele, bei denen von Parlamenten demokratisch gefällte Entscheide gekippt werden sollen: Die schwedische Energiefirma «Vattenfall» hat Deutschland wegen seiner Atomausstiegspläne auf 3,7 Milliarden Euro verklagt. Philip Morris will zwei Milliarden US-Dollar von Uruguay, weil das Land seine Gesetze zum Rauchen verschärft hat.

Dem Willen der Konzerne nach sollen die Freihandelsverträge die Zukunft bilden. So verhandeln die EU mit den USA seit Juli 2013 über das sogenannte «Transatlantic Trade and Investment Partnership», abgekürzt TTIP. Dabei geht es um die Schaffung der grössten Freihandelszone der Welt und, die einen gemeinsamen Wirtschaftsraum für mehr als 800 Millionen KonsumentInnen bilden würde. Unter dem Deckmantel, die Gesetze «transatlantisch aufeinander abzustimmen», ist die Profitmaximierung das eigentliche und reell angestrebte Ziel. Das betrifft die Nahrung und Industrieprodukte sowie Bereiche wie Arbeitsrecht, Gesundheit sowie Umwelt- und Klimaschutz.

Wirtschafts-Nato als Ziel

Die US-Amerikanerin Lori Wallach, Direktorin von «Public Citizen», der grössten Verbraucherschutzorganisation der Welt, Rechtsanwältin mit Spezialgebiet Handelsrecht und führender Kopf bei den Protesten 1999 in Seattle gegen die WTO-Ministerkonferenz, nennt das TTIP einen «Staatsstreich in Zeitlupe». Und sie schreibt in einem sehr empfehlenswerten Artikel in «Le Mode diplomatique» vom 8. November 2013: «Die erklärte Absicht ist, in zwei Jahren ein Abkommen zu unterzeichnen, das eine transatlantische Freihandelszone ‹Transatlantic Free Trade Area› (Tafta) zu gründen. Das gesamte TTIP-Tafta-Projekt gleicht dem Monster aus einem Horrorfilm, das durch nichts totzukriegen ist. Denn die Vorteile, die eine solche ‹Wirtschafts-Nato› den Unternehmen bieten würde, wären bindend, dauerhaft und praktisch irreversibel, weil jede einzelne Bestimmung nur mit Zustimmung sämtlicher Unterzeichnerstaaten geändert werden kann.»

Die Schlussfolgerung aus all dem ist verdammt einfach: Töten wir das Monster!

Gegen TiSA Abkommen!
Privatisierung stoppen!
Kundgebung: 18. April, 14.00 Uhr

Paradeplatz Zürich

Aus der Printausgabe vom 10. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

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