Die Festung Europa überwinden – nur wie?

mittelmeer-fluechtlinge-rettungSeit Anfang März sitzen Menschen auf dem Weg nach Europa fest, nicht nur in Idomeni, dem griechischen Festland, auf den Inseln oder in der Türkei, sondern auch in Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich. Ja, eigentlich überall. Wirklich? Und vor allem: Wie lange?

Mit immer brachialeren Mitteln versuchen die Behörden, die Leute von der Überquerung ebenjener Grenzen abzuhalten, die vor zwei Monaten semipermeabel, vor einem halben Jahr ganz und gar durchlässig waren. Dabei zögern die eigentlichen Verantwortlichen für dieses Elend, PolitikerInnen aller Couleurs und ihre mandatierten Sicherheitskräfte, nicht, die vielen Freiwilligen, die seit Monaten deren Arbeit machen, als AnstifterInnen der Proteste und Durchbruchsversuche, als Feinde der Demokratie hinzustellen. Die Frage wird ihnen aber überall gestellt: Wieviel müssten wir sein, um den Sommer 2015 zu wiederholen? Und so ist es auch kein Wunder, dass kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht von Protesten, Durchbruchsversuche, Hungerstreiks oder einer Besetzung aus Griechenland und anderswo unterrichtet werden. Tatsache ist, dass sich die Mehrheit der Freiwilligen davon distanziert. Ohne jedoch den Zurückgebliebenen eine Alternative zu bieten. Jenu, gehen wir dem selbst nach.

Das Nadelöhr

Es gibt, tatsächlich, neue Wege, um legal nach Europa und auch in die Schweiz zu gelangen. Gemäss den beiden 2015 verabschiedeten Relocation programs sollten 160 000 Personen von Griechenland und Italien in andere EU-Staaten, Schweiz inklusive, umgesiedelt werden. Tatsächlich haben bisher insgesamt knapp 7000 Menschen von diesem Programm profitiert, die Hälfte davon aus Italien, 413 landeten schliesslich in der Schweiz. Wobei allein in den letzten drei Monaten mehr als 150 000 Personen nach Griechenland gelangten. Es dürfen denn auch nur Menschen aus Syrien, dem Irak, Eritrea, der Zentralafrikanischen Republik, dem Jemen, Swaziland oder Bahrain daran teilnehmen. Die eigentliche Crux ist aber, dass kein einziger Staat zu deren Übernahme verpflichtet ist. So verpuffen die vollmundigen Worte der EntscheidungsträgerInnen wie warme Luft, und mit ihnen die Hoffnungen der meisten MigrantInnen. Registrierte SyrerInnen in der Türkei dürfen zudem gemäss EU-Türkei-Deal ein Resettlement beantragen und direkt ab Istanbul in ein europäisches Land fliegen, sofern sich ein solches findet (siehe oben). Allerdings ist nach wie vor ziemlich alles unklar diesbezüglich, und geschafft haben es so bisher lediglich 79 Personen – von 2,75 Millionen AnwärterInnen! Dazu gibt es zu sagen, dass auch SyrerInnen mittlerweile eines Visums bedürfen, um in die Türkei einzureisen, und gewöhnlich auf der anderen Seite der neu gebauten Mauer an der Grenze zum syrischen Konfliktgebiet zurückgehalten oder gar dorthin zurückgebracht werden. Besonders fürchten müssen schliesslich die Staatsangehörigen derjenigen Länder, die ein Rückübernahmeabkommen mit der Türkei besitzen, unter anderem Belarus, Kirgisistan, Moldawien, Nigeria, Pakistan, Russland, eben Syrien, aber auch die Ukraine und der Jemen. Ausser SyrerInnen haben Menschen, die nicht aus Europa stammen, keine Möglichkeit, die Türkei um Asyl zu bitten. Das Land feilscht zudem zurzeit mit folgenden Ländern um weitere Rückübernahmeabkommen: Iran, Irak, Afghanistan, Algerien, Bangladesch, Kamerun, Eritrea, Marokko, Ghana, Myanmar, die Republik Kongo, Somalia, dem Sudan und Tunesien. Die Türkei ist also für die meisten weit davon entfernt, ein sicheres Land zu sein, auch wenn sie dies in amtlichen Papieren bescheinigt und in Schnellverfahren umsetzt.

Mauern, Mafia, Vigilantes

Viele Alternativen entlang der Balkanroute wurden letztlich hierzulande kolportiert. Tatsache ist, dass offensichtlich bisher keine davon zu überzeugen vermochte. Nicht umsonst avancierte letzten Sommer die mazedonisch-griechische Grenze zum Haupteintrittstor nach Europa. Was die meisten verschweigen oder vielleicht gar nicht wissen: Davor war die Situation in Südosten Europas auch nicht anders. Die Leute blieben jahrelang stecken: in knastähnlichen Strukturen, als Sans-Papiers in der Landwirtschaft oder Gastronomie oder aber, den Nazis ausgesetzt, unter freiem Himmel. Noch nie war Albanien zum Beispiel eine Alternative zu den Lastwagen-Containern in Patras und Igoumenitsa. Ganz einfach aus dem Grund, dass das Land einen der gefährlichsten Mafia-Clans auf der Welt beheimatet, der zudem eng mit den staatlichen Strukturen verknüpft ist. Das wissen die Leute, und drum meiden sie Albanien. Und das ist gut so. Bulgarien wird offenbar neuerdings von denjenigen genutzt, die in Serbien steckengeblieben sind und es nicht nach Ungarn oder Kroatien schaffen. An Bulgariens Grenzen haben sich mittlerweile sogenannte Vigilantes, paramilitärische Bürgerwehren, gebildet, die Eingereiste jagen, festnehmen, schlagen…. Im Süden verfügt das Land bekanntlich über einen EU-finanzierten Stacheldrahtzaun, der auch von Schweizer GrenzwächterInnen mit bewacht wird. Obwohl die Einreisezahlen im letzten Quartal entgegen den Vorhersagen von PolitikerInnen und ExpertInnen um 20 Prozent zurückgingen, rüstet die dortige Armee gegen den offensichtlich ausbleibenden «Einmarsch der Elenden» auf, wozu auch die Schwarzsee-Flotte eingebunden wurde. Bulgarien ist schliesslich Dublin-Erstasylland, die Asylstrukturen desolat, die Gefahr gross, Opfer von Menschenhandel zu werden. Wohin also, wenn nicht legal oder über Südosteuropa?

Wer kann, fliegt

Anzeichen gibt es anscheinend, dass zurzeit grössere Bootsfahrten aus dem Süden der Türkei direkt nach Italien vorbereitet würden. Diese Ansicht widerspricht komplett der Tatsache, dass die Türkei, zumindest bis zum Eintritt in die Schengenzone diesen Sommer, absolut kein Interesse daran hat, den Deal mit der EU zu torpedieren. Das totalitäre Regime von Ankara hat seit Jahresanfang selbstredend beinahe achtmal mehr Personen an der Überfahrt gehindert als im ersten Vorjahresquartal und scheint tatsächlich gewillt, Menschen weder über Land noch Wasser unkontrolliert nach Europa reisen zu lassen. Wer kann, fliegt also, und zwar in ein Land, für das er oder sie kein Visum braucht oder eines leicht ergattern kann. Letzthin las ich von einem, der es über Brasilien und Französisch-Guayana nach Europa schaffte. Das dürfte die Ausnahme bleiben. Zeigt aber, wie überlegen ein einzelner Mensch gegenüber einem Staat, ja Staatenbund, sein kann oder ist. Zurück zum Mainstream. Zugenommen haben in den letzten Wochen zum Beispiel die 1500 Kilometer langen Bootsüberfahrten von Flüchtlingen aus Ägypten nach Italien. Dort wurde im November 2015 ein neues Gesetz eingeführt, dass illegale Ein- und Durchreisen mit Gefängnis bestraft. Die Grenzkontrollen wurden vor allem im Süden verstärkt: Allein im Dezember wurden gemäss der Regierung 22 026 Personen geschnappt. Doch zu ihrem Verbleib und dem derjenigen, die sich einer Kontrolle entziehen konnten, gibt es kaum verlässliche Informationen. Kein Wunder: Nichtregierungs- und ganz besonders Menschenrechtsorganisationen werden dort immer stärker verfolgt; viele existieren gar nicht mehr, deren ExponentInnen wurden gebüsst, verhaftet, angeklagt, verurteilt, mehrere gefoltert und einige sind gar spurlos verschwunden.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Wie alle anderen nordafrikanischen Staaten haben auch Ägypten und Libyen selbst für SyrerInnen einen Visumszwang eingeführt. In Libyen warten bekanntlich seit Jahren Abertausende von MigrantInnen auf die Überfahrt nach Italien, viele von ihnen in Gefängnissen, sei es von der sogenannten Übergangsregierung, dem IS, der SchmugglerInnen oder sonst irgendwelcher Clans, die von ihrem Elend profitieren wollen. Wer empört ist über den EU-Türkei-Deal, sollte gefälligst auch nach Libyen schauen: 2009 schloss der damalige italienische Ministerpräsident Berlusconi mit dem damaligen libyschen Staatschef Ghaddafi ein Rückübernahmeabkommen, das als Vorläufer des heutigen Deals mit der Türkei gelten kann und nur deshalb nicht mehr funktioniert, weil Ghaddafi 2011 aus dem Land gebombt und umgebracht wurde. Seitdem herrscht Krieg, der damalige Transfer an Know-how und technischen Hilfsmitteln wird nun im Konflikt eingesetzt. Dennoch lässt die EU im Hintergrund keine Gelegenheit aus, um in diesem Chaos die Migration aus Libyen zu steuern zu versuchen. Kaum ist der EU-Türkei-Deal unter Dach und Fach, denkt zum Beispiel Deutschland im Ernst darüber nach, Libyen zu einem sicheren Drittstaat zu deklarieren, und strebt dabei nach einer Übereinkunft mit einer soeben durch westlichen Druck eingesetzten Einheitsregierung, die prophylaktisch bereits angefangen hat, abfahrende Flüchtlingsboote abzufangen und die Reisenden zu inhaftieren.

Was tun?

Bleibt also noch der Weg über Marokko, dem eigentlichen Prototypen des EU-Türkei-, beziehungsweise des Italien-Libyen-Deals. Das erste Rückübernahme-Abkommen mit Marokko unterzeichnete Spanien 1992, doch erst zwanzig Jahre später begann es, zu greifen. Ab Mitte der 90er-Jahre nahmen die EU-Staaten Marokko mittels Freihandelsabkommen in die Zange, 1999 erarbeiteten sie einen «Aktionsplan Migration», der erstmals auch die Übernahme von «Staatsangehörigen von Drittländern und Staatenlosen» vorsah, «die nach ihrer Ankunft aus Marokko in das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten illegal eingereist oder dort illegal verblieben sind». Tatsächlich sind die Aurseisezahlen nach Europa dort zusammengebrochen. «Pushbacks» sind an den Enklaven von Ceuta und Melilla an der Tagesordnung, nur wenige Boote wagen es über die Gibraltar-Meerenge oder zu den Kanarischen Inseln. Razzien in Treffpunkten und Aufenhaltsorten von MigrantInnen sowie Haft und Deportationen in den Süden des Landes bis hin zur Grenzek, haben in Marokko massiv zugenommen. Was tun? Meine persönliche Einschätzung ist, dass die Grenzen in Südosteuropa zurzeit zu militarisiert und propagiert sind, als dass dort heuer eine Wiederholung der Ereignisse von letztem Sommer möglich wäre. Was wir aber wissen: Was die MigrantInnen letztes Jahr da erreichten, kann durchaus anderswo gelingen. Wir werden die Behörden also weiterhin genau beobachten und dann überraschen.

 

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«Heuchlerisch, mörderisch und diskriminierend!»

flüchtlingeErneut steht in der Schweiz eine Abstimmung über das Asylgesetz vor der Türe. Eine Abstimmung, die für viele Linke ein Dilemma ist, da es einmal mehr die «Wahl» zwischen dem kleineren Übel ist – falls man überhaupt von einem kleinen Übel reden kann. Der «vorwärts» sprach mit Amanda Ioset (26), seit zwei Jahren Geschäftsführerin von Solidarité sans frontières (Sosf), über die Abstimmung sowie über die schweizerische und europäische Asylpolitik.

Beginnen wir mit der Aktualität: Am 5. Juni wird über die Asylgesetzrevision abgestimmt. Man hört und liest bisher wenig darüber. Um was geht es konkret?

Es ist das Ergebnis der «Neustrukturierung» des Asylwesens, die offiziell das Verfahren beschleunigen soll und in drei Teilen, praktisch in drei verschiedene Pakete, aufgeteilt wurde. Das erste Paket mit der Einschränkung des Flüchtlingsbegriffs und des Familiennachzugs wurde im Dezember 2012 vom Parlament verabschiedet. Dagegen wurde kein Referendum ergriffen. Diese Vorlage ist von der Abstimmung vom 5. Juni daher nicht betroffen. Das zweite Paket wurde vom Parlament im September 2015 gutgeheissen. Es beinhaltet die Kürzung der Rekursfristen und die Konzentration der Verfahrensabläufe in den grossen Bundeszentren für Asylsuchende. Insgesamt ist es daher eine Verschärfung des Asylgesetzes. Es sind jedoch auch positive Punkte vorgesehen: Zu nennen ist die kostenlose Rechtsberatung, die den Flüchtlingen in den Bundeszentren und am Flughafen zur Verfügung stehen. Weiter zu nennen sind die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Minderjährigen, die ohne Eltern oder Begleitung von Erwachsenen auf der Flucht sind, sowie die Pflicht der Kantone, Kinder und Jugendliche einzuschulen, die sich in den Bundeszentren befinden. Das dritte Paket beinhaltet die «dringlichen Massnahmen» im Asylgesetzt, die im Juni 2013 von den Stimmberechtigten angenommen wurden, nachdem das Referendum dagegen ergriffen wurde. Diese «dringlichen Massnahmen» sollen nun fester Bestandteil des Asylgesetzes werden. Dabei ist zu unterstreichen, dass die «dringlichen Massnahmen» auch bei einem Nein am 5. Juni in Kraft bleiben werden und zwar bis 2019.

Sosf empfiehlt ein «kritisches Ja» zur Revision. Warum?

Die Linke hat gegen diese Revision kein Referendum lanciert. Und soweit mir bekannt ist, wurde diese Option nicht mal ernsthaft geprüft. Der Abstimmungskampf gegen die «dringlichen Massnahmen», bei dem wir gerade mal 21 Prozent erreicht haben, hat uns geschwächt. Für eine Organisation, die sehr beschränkte finanzielle Mittel zur Verfügung hat, ist es schwierig regelmässig ein Referendum zu lancieren und dies erst noch im Wissen, dass keine Chancen auf einen Sieg bestehen. Als die SVP das Referendum ergriff, über das am 5. Juni abgestimmt wird, hatten wir intern lange Diskussionen darüber, ob wir es unterstützen sollen. Es kam schon vor, dass wir die gleiche Abstimmungsparole wie die SVP hatten. Dies war bei der Ratifizierung des Schengen/Dublin-Abkommens von 2004 der Fall. Wir waren die einzige linke Organisation, die es wagte, Nein zum Abkommen zu sagen. Doch heute ist die Ausgangslage eine völlig andere: Wir müssen in Betracht ziehen, was die Folgen eines Neins wären. Eines Neins, das hauptsächlich als ein Sieg der SVP interpretiert würde. Und wir können davon ausgehen, dass das Parlament sehr schnell eine neue Revision verabschieden würde, die in den Grundzügen gleich bleibt (und somit auch die «dringlichen Massnahmen» beibehält), aber auch von der SVP mitgetragen würde. Das heisst konkret, dass die kostenlose Rechtsberatung kippen würde, die eine der ältesten Forderung von schweizerischen Flüchtlingsorganisationen ist.

Von links wird eure Position teilweise nicht verstanden, gar kritisiert.

Ehrlich gesagt, unsere Position hat keine grosse Kritik ausgelöst. Der Diskussionsprozess, der unserem Ja zugrunde liegt, ist für die Menschen nachvollziehbar, auch wenn nicht alle zum selben Schluss kommen wie wir. Wir stehen wirklich vor einem Dilemma, das einmal mehr die Grenzen der «direkten Demokratie» aufzeigt, auf welche die Schweiz so stolz ist: Wir sind gezwungen, uns für das «kleinere Übel» zu entscheiden und somit widerspiegelt keine der Möglichkeiten, die wir am 5. Juni haben, unsere Überzeugung. Doch innerhalb der Linken gibt es eine Art Konsens: Egal welche Parole für die Abstimmung vom 5. Juni beschlossen wird und unabhängig des Ausgangs der Abstimmung, muss in den kommenden Jahren weiterhin gegen die Verschärfung im Asylwesen gekämpft werden. Für Sosf sowie für mich persönlich ist es daher das Wichtigste aufzuzeigen, was mit dieser Revision auf dem Spiel steht, welche Probleme und offenen Fragen damit verbunden sind und sein werden.

Was sind die drei grössten, aktuellen Herausforderungen für Sosf?

Der Kampf gegen das Dublin-Abkommen hat im Moment Priorität. Es ist schlicht untragbar, dass die reiche Schweiz ihre Verantwortung nicht wahrnimmt und Flüchtlinge wieder in andere europäische Länder abschiebt. Wir wollen, dass die Flüchtlinge selber entscheiden können, in welchem Land sie das Asylgesuch stellen können und zwar unabhängig der Gründe, die sie dafür haben. Weiter fordern wir eine würdige Unterkunft für alle Menschen, die Schutz benötigen. Gemeint ist hauptsächlich die immer mehr systematisch werdende Unterbringung von Flüchtlinge in unterirdischen Zivilschutzanlagen. Wir widersetzen uns der Behauptung, dass es dazu keine Alternative gibt. Ich komme aus dem Kanton Neuenburg, in dem es weiterhin vier Bunker mit 250 Plätzen gibt, obwohl dies als eine temporäre, dringliche Massnahme definiert und der Bevölkerung entsprechend verkauft wurde. Ich kann aber alleine in der Stadt Neuenburg drei Beispiele von leerstehenden, städtischen Häusern nennen, die für die Unterbringung von Flüchtlingen benutzt werden könnten. Man muss nur die Augen öffnen, um zu sehen, dass es Lösungen gibt. Schliesslich ist es dringend nötig, Wege zu schaffen, welche es den Flüchtlingen erlaubt, sicher in die Schweiz zu gelangen. Dabei sind mehrere Möglichkeiten denkbar. Eine davon ist die Wiedereinführung des Rechts, in den Schweizer Botschaften das Asylgesuch stellen zu können. Auch die Festsetzung von Kontingenten ist denkbar: Im Jahr 2015 haben Sosf und andere Organisationen vom Bundesrat gefordert, dass 100 000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen werden. Aktuell läuft eine Petition der Gewerkschaften, die eine Aufnahme von 50 000 Flüchtlingen verlangt. Wir unterstützen sämtliche Initiativen, die in solche und ähnliche Richtungen gehen.

Mit welchen drei Worten bringst Du die Asylpolitik der Schweiz auf den Punkt?

Heuchlerisch, mörderisch und diskriminierend! Heuchlerisch, weil die offizielle Schweiz offen und solidarisch ist, nicht für Menschen, die auf der Flucht sind, sondern für Grosskonzerne und Multis, die ganze Regionen destabilisieren, Waffen in Kriegsgebiete exportieren und Rohstoffe plündern. Der Slogan einer Veranstaltung, die kürzlich in Lausanne stattfand, bringt diese Heuchelei bestens auf den Punkt: «Keine Grenzen für die BörsenmaklerInnen. Barrieren für die MigrantInnen?» Mörderisch, weil die Opfer der schweizerischen und europäischen Asylpolitik nicht nur im Mittelmeer, auf der Balkanroute oder an den Barrieren von Ceuta oder Melilla zu finden sind. Wir finden sie auch in den Zellen der Ausschaffungsgefängnisse, an unseren Flughäfen und in unseren Flugzeugen bei den Ausschaffungsflügen. Kürzlich haben einige Personen gar Selbstmord begangen, um ihre Ausschaffung zu verhindern… Diskriminierend, weil die Asylsuchenden nicht die gleichen Rechte haben wie andere Menschen hier in der Schweiz. Sie bekommen weniger Sozialhilfe und haben in einer ersten Phase des Asylverfahrens nicht das Recht zu arbeiten.

Verlassen wir die Schweiz. An der so genannten Aussengrenze Europas ist die Situation dramatisch. Was tut das Sosf für diese Flüchtlinge?

Wir rufen die verantwortlichen Behörden der Schweiz dazu auf, eine Reihe von Massnahmen zu ergreifen: Erstens muss die Schweiz die Flüchtlinge an der europäischen Aussengrenze unterstützen. Zweitens muss unser Land die Ausschaffungen wegen dem Dublin-Abkommen beenden, insbesondere in Länder an der Aussengrenze Europas und entlang der Balkanroute. Dann erwarten wir von der offiziellen Schweiz, dass sie das Abkommen zwischen der EU und dem Regime von Erdogan verurteilt. Ein Abkommen, das die systematische Rückschaffung von schutzbedürftigen Menschen in die Türkei erlaubt. Es ist eine echte Schande für Europa, das von sich behauptet, die Menschenrechte zu respektieren.

Was können wir als Einzelpersonen für diese Menschen tun?

Als erstes Mitglied von Sosf werden! Es ist wichtig, sich hier in der Schweiz zu organisieren, um die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse zu verändern. Dies unter anderem weil unser Land Bestandteil der Ausgrenzungspolitik an den europäischen Grenzen ist, zum Beispiel durch ihre Beteiligung an Frontex. Dann gibt es natürlich auch die Möglichkeit, sich Organisationen anzuschliessen, die den Flüchtlingen direkt und konkret vor Ort helfen. Und schliesslich ist es wichtig, auf allen Ebenen gegen Vorurteile und Rassismus zu kämpfen. Dies beginnt im unmittelbaren, persönlichen Umfeld, in den Diskussionen, die man mit den Menschen führt. Die Klischees gegenüber Muslimen, Flüchtlingen und AusländerInnen im Allgemeinen müssen abgebaut werden. Und Folgendes ist für mich extrem wichtig, auch wenn es eine Arbeit ist, die einen sehr langen Atem braucht: Wir müssen dahin arbeiten, dass sich die Menschen hier von ihrer westlichen Sichtweise entfernen, um sich so näher bei den «Anderen» zu fühlen.

Weitere Infos und Mitglied werden bei Sosf: www.sosf.ch

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Arbeit – Bewegung – Geschichte

08_Arbeitskampf FiatDie Schweiz spielte keine unwichtige Rolle in der Geschichte der linken ArbeiterInnenbewegung. Die Zimmerwalder-Konferenz von 1915, zu der die sozialistischen GegnerInnen des 1. Weltkriegs zusammen kamen, ist ein bekanntes Beispiel. Kaum bekannt ist hingegen, dass die Schweiz vor über 40 Jahren auch eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung der linken Betriebsintervention gespielt hat.

Anfang der 1970er Jahre wurde in Zürich ein internationales Koordinationsbüro für die länderübergreifende Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfe aufgebaut. Getragen wurde es von Gruppen der radikalen Linken, die durch den Aufbruch nach 1968 entstanden sind und sich weder der sozialdemokratischen noch der traditionskommunistischen Richtung zuordneten. Neben dem Pariser Mai 1968 war auch der italienische Herbst 1969 für diese Linke ein wichtiger Bezugspunkt. Denn in Italien beteiligten sich viele ArbeiterInnen im ganzen Land an Betriebsbesetzungen, Streiks und militanten Demonstrationen. Dort war der Funke des revolutionären Aufbruchs tatsächlich übergesprungen, von den Hochschulen auf die Fabriken. Linke AktivistInnen sowie kämpferische ArbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern verfolgten die Entwicklung mit grossem Interesse. «In der historischen Forschung zu den Streikbewegungen und Arbeitskämpfen der 1960er und 1970er ist die internationale Zusammenarbeit von Strömungen und Gruppen, die sich an diesen Auseinandersetzungen in der Fabrik orientieren, noch wenig beachtet worden», schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange in der aktuellen Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien.

Die Prophezeiung des heraufziehen den Postfordismus

Das Schwerpunktthema lautet «Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988». Dietmar Lange, der gemeinsam mit Fabian Bennewitz, Ralf Hoffrogge und Axel Weipert die Zeitschrift herausgibt, forscht seit längerem zur Geschichte der linken Betriebsinterventionen der 1960er und 1970er Jahre. Dabei hat er auch einen Bericht über eine Internationale ArbeiterInnenkonferenz im April 1973 ausgegraben, die in Paris stattgefunden hat. Sie wurde wesentlich von dem Zürcher Koordinationsbüro vorbereitet und widmete sich den Klassenauseinandersetzungen in der Automobilindustrie. Anwesend ArbeiterInnen aus den wichtigsten Automobilkonzernen wie BMW, VW, Fiat, Opel, Alfa Romeo, Renault und Citroen. Aus der Schweiz waren Beschäftigte von Saurier vertreten. Auch verschiedene Linke aus Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien nahmen an der Konferenz teil. Aus der Schweiz waren AktivistInnen der Gruppe Klassenkampf nach Paris gekommen, die sich aus einer maoistisch orientierten Jugendbewegung in der italienischen Schweiz entwickelt hatte und Anfang der 70er Jahre ihren Einfluss auf die deutschsprachige Schweiz ausdehnte. Mitte der 70er Jahre löste sich die Gruppe auf. In dieser Zeit war die linke Betriebsintervention in eine Krise geraten und auch das Zürcher Koordinierungsbüro stellte die Arbeit ein. Die Vorbereitung der Pariser Konferenz war ihre wichtigste Arbeit. «Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Grossteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel oder löste sich auf», schreibt Dietmar Lange. In einem Interview mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der damals an der linken Betriebsintervention beteiligt war, spürt Lange den Gründen für den schnellen Zusammenbruch der transnationalen Solidaritätsarbeit nach, der zu einem langen Abschied der linken Bewegung vom Proletariat führen sollte. Roth erinnert sich an warnende Stimmen auf der Konferenz, die berichteten, wie durch Konzernstrategien das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. «Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses», so Roth. Er begründet auch, warum das Koordinierungsbüro, dass neben der Gruppe Klassenkampf auch von der Berner und St. Gallener Ortsgruppen der Proletarischen Front getragen wurden, in der Schweiz errichtet wurde: «Die Standortwahl lag nicht nur aus geographischen Gründen nahe, sondern hatte mit der damals leider noch sehr seltenen Mehrsprachigkeit der schweizerischen Genossinnen und Genossen zu tun».

Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen

Das Koordinierungsbüro habe sich zum Ziel gesetzt, die Selbstorganisation der am meisten marginalisierten Sektoren der europäischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Das ist eine sehr aktuelle Zielsetzung. Schliesslich gibt es zurzeit eine linke Betriebsintervention bei Amazon. Es gab bereits mehrere Treffen von Beschäftigten von Amazon-Werken in Deutschland und Polen. Deshalb weckt das Schwerpunktthema der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte nicht nur historisches Interesse. Die HerausgeberInnen weisen darauf hin, dass sich «in den hier publizierten Texten zahlreiche Aspekte finden, die Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen aufweisen». Nelly Tügel untersucht in ihren Beitrag, wie der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf gewerkschaftliche Aktivitäten von ArbeitsmigrantInnen in Westdeutschland reagierte, die oft noch Klassenkampftraditionen einbrachten, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden waren. «Zum einen erging die Aufforderung an die Einzelgewerkschaften, jeweils einen Kollegen zu benennen, der in einen der Abteilung Organisation unterstellten Unterausschuss für die Betreuung ausländischer Kollegen entsandt werden sollte. Zum anderen wurde beschlossen, Materialen über die kommunistische und faschistische Unterwanderung durch ausländische Arbeitnehmer zusammenzustellen und allen Bundestagsabgeordneten zuzustellen».

Sehr empfehlenswert sind auch die Beiträge in der Zeitschrift, die sich nicht mit dem Schwerpunktthema befassen. Auch dabei wird deutlich, dass die Schweiz in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung eine wichtige Rolle spielte. So berichtet die Historikerin Miriam Sachse von einem Symposium, das sich mit der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern befasste. Dabei betonte die Präsidentin der Schweizer Robert Grimm Gesellschaft, Monika Wick aus Zürich, dass die Konferenz, die in klarer Opposition zum sozialdemokratischen Kurs des Burgfriedens stand, auch männliche Unterstützer hatte. Dazu gehörte in der Schweiz Robert Grimm.

Arbeit – Bewegung – Geschichte.
Zeitschrift für historische Studien, Heft 1/2016, 230 Seiten, Bezug: www.metropol-verlag.de

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Kampf um die Entwicklungshilfe

400- 2Die rechtsbürgerlich dominierte Finanzkommission des Nationalrats will die Entwicklungshilfe bis 2020 um über einen Viertel kürzen. Doch gegen den drohenden Kahlschlag regt sich Widerstand. So haben am 30. März rund drei Dutzend Nichtregierungsorganisationen die Kampagne «Weckruf gegen Hunger und Armut» lanciert.

Am 22. März gab die Finanzkommission des Nationalrats bekannt, dass sie beabsichtigt, die öffentlichen Ausgaben für die Entwicklungshilfe von 0,5 Prozent auf 0,4 Prozent des Bruttoinlandeinkommens zu senken. Ausgenommen von dieser Sparmassnahme wäre die humanitäre Direkthilfe bei Krisensituationen. Geht es nach dem Willen der Finanzkommission, sollen in den nächsten vier Jahren noch 9 585 Millionen Franken in die internationale Zusammenarbeit fliessen, während der Bundesrat ursprünglich noch von 11 100 Millionen Franken ausging. Zwar fiel der Entscheid in der Finanzkommission mit 13 zu 12 Stimmen äussert knapp aus, zeigt aber, dass aufgrund des Rechtsrutsches im Parlament künftig mit einem kräftigen Wind der sozialen Kälte aus Bundesbern zu rechnen ist.

Keine Entwicklungshilfe ohne Migrationspartnerschaft?

Ursprünglich fasste die vorbereitende Subkommission gar eine Reduktion der Entwicklungshilfe auf 0,3 Prozent ins Auge, was etwa 7 465 Millionen Franken entsprechen würde. Das würde eine Halbierung der Ausgaben für die eigentliche Entwicklungshilfe im Ausland bedeuten. Besonders umstritten ist die Hilfe für Asylsuchende im Inland, die surrealerweise auch zu den Entwicklungsausgaben gezählt und bei einer anvisierten Reduktion auf 0,4 Prozent fast ein Drittel der Gelder für die Entwicklungshilfe «auffressen» würde. Im Jahr 2014 machten diese mit 456,3 Millionen Franken immerhin 14 Prozent der öffentlichen Entwicklungsausgaben aus. Die Ausgaben für den Asylbereich dürften in den nächsten Jahren weiter zunehmen, Einsparungen hingegen sind in diesem Bereich grundsätzlich wohl kaum möglich. Um die Quote auf 0,4 Prozent zu senken, wären deshalb jährliche Einsparungen von rund 700 Millionen Franken nötig. Aufgrund dieser unschönen Entwicklung überrascht es wenig, dass nun die Hilfswerke und betroffenen Nichtregierungsorganisationen auf die Barrikade gehen.

Zwar dürften es die radikalen Kürzungsvorschläge der Finanzkommission im Nationalrat nicht einfach haben, eine Mehrheit zu finden, jedoch werden die Stimmen aus dem bürgerlichen Lager und der Zivilgesellschaft lauter, die etwa die Verknüpfung von Entwicklungshilfe mit Schweizer Eigeninteressen fordern, insbesondere wenn es um Migrationspartnerschaften und Rückübernahmeabkommen von abgewiesenen Asylsuchenden geht.

Und da die Finanzkommission die humanitäre Hilfe von den Kürzungen ausnehmen will, müssten faktisch alle anderen Rahmenkredite bis 2020 um einen Drittel gekürzt werden. Zwar leuchtet es angesichts der aktuellen Weltlage durchaus ein, die Gelder für humanitäre Krisenhilfe aufzustocken, doch es ist unsinnig, dies auf Kosten einer nachhaltigen und langfristigen Entwicklungszusammenarbeit zu tun. «Auf akute humanitäre Not zu reagieren ist wichtig, aber nur, wenn gleichzeitig auch in die Prävention investiert wird, damit neue Krisenherde gar nicht erst entstehen. Auch braucht es nach Katastrophen und Krisen oft langfristige Wiederaufbauprojekte, die nicht von der humanitären Hilfe realisiert werden», kritisiert deshalb das Komitee «Weckruf gegen Hunger und Armut» in ihrer Medienmitteilung vom 30. März.

«Weckruf gegen Hunger und Armut»

In der Sommersession wird sich nun der Nationalrat, in der Herbstsession der Ständerat mit der Entwicklungshilfe beschäftigen. Setzt sich die Finanzkommission mit ihrem Sparvorschlag durch, würde das Aussendepartement (EDA) von Bundesrat Didier Burkhalter auf einen Schlag rund 20 Prozent seines Budgets verlieren; es wäre eine eigentliche Demontage der bisherigen Schweizer Aussenpolitik, ohne dass darüber eine öffentliche Debatte stattgefunden hätte.

Der «Weckruf gegen Hunger und Armut» fordert hingegen, dass die reiche Schweiz auf ihre Absichtserklärungen und Lippenbekenntnisse endlich auch Taten folgen lässt. Letztes Jahr hat sich die Schweiz zweimal zur «Agenda 2030» und zu den 0,7 Prozent der UNO bekannt: Im Juli im Rahmen der UN-Konferenz «Financing for Development» in Addis Abeba und im September am UNO-Gipfel in New York bei der Verabschiedung der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung. Die «Agenda 2030» sieht vor, dass die reichen Industrienationen die Entwicklungsländer bis ins Jahr 2030 mit 0,7 Prozent des Bruttoinlandeinkommens unterstützen. Das wären im Jahre 2014 rund 4 500 Millionen Franken gewesen, tatsächlich wurden aber bloss 3 200 Millionen Franken, also rund 0,5 Prozent, für die Entwicklungshilfe eingesetzt. Damit hat die Schweiz erstmals umgesetzt, was das Parlament schon 2008 beschlossen und 2011 nochmals bestätigt hatte: Dass es fortan 0,5 Prozent sein sollen. Damit reiht sich die Schweiz im unauffälligen Mittelfeld der reichen Länder ein. Am grosszügigsten sind Schweden mit 1,09 Prozent, Norwegen mit 1 Prozent und Grossbritannien mit 0,7 Prozent.

Steuerflucht und Entwicklungsgeld

Das Jahr 2008, das ist inzwischen aber eine Weile her. Seither haben sich die politischen Kräfteverhältnisse in der Schweiz markant nach rechts verschoben. Gegenwärtig fliehen Millionen von Menschen vor Krieg, Terror und Armut. Gleichzeitig schätzt man, dass Jahr für Jahr rund 1000 Milliarden Franken undeklarierter Gelder aus Steuerhinterziehung und Korruption aus den Entwicklungs- und Schwellenländern in Steueroasen fliessen und Gewinne aus der Billigproduktion praktisch unversteuert in Tiefststeuerparadiese ? wie eben die Schweiz ? verlagert werden. Damit stehen die Entwicklungsgelder, die von den reichen Industrienationen an ärmere Länder fliessen, in keinerlei Verhältniss zu den finanziellen Löchern, die durch Steuerflucht, Profitmaximierung und Korruption entstehen.

Für mehr Infos und die Petition siehe:

www.weckruf-armut.ch

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Heuchelei: USA kritisieren Kuba

56f17bb9c46188125d8b45aeVor Präsident Barack Obamas historischem Besuch Kubas am 20. März wird spekuliert, ob er Kuba dazu zwingen kann, seine Menschenrechte besser einzuhalten. Ein Vergleich zwischen dem Stand der Menschenrechte in Kuba mit dem in den Vereinigten Staaten von Amerika zeigt jedoch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika von Kuba lernen sollten.

Die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» enthält zwei unterschiedliche Kategorien von Menschenrechten – zivile und politische Rechte einerseits, und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits. Die zivilen und politischen Rechte beinhalten die Rechte auf Leben, freie Meinungsäusserung, Religionsfreiheit, faires Verfahren, Selbstbestimmung; und Freiheit von Folter, grausamer Behandlung und willkürlichem Freiheitsentzug. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfassen das Recht auf Bildung, medizinische Versorgung, soziale Sicherheit, Arbeitslosenversicherung, Mutterschutz, gleiche Bezahlung für gleiche Leistung, Senkung der Kindersterblichkeit; Prävention, Behandlung und Kontrolle von Krankheiten; Bildung und Beitritt zu Gewerkschaften und Streik. Diese Menschenrechte sind enthalten in zwei Verträgen – dem «International Covenant on Civil and Political Rights» (ICCPR) und dem «International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights» (ICESCR). Die Vereinigten Staaten von Amerika sind dem ICCPR beigetreten. Die Vereinigten Staaten von Amerika weigern sich jedoch, dem ICESCR beizutreten. Seit der Reagan-Administration ist es Politik der USA, die Menschenrechte nur als zivile und politische Rechte zu definieren. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte werden abgelehnt als gleichbedeutend mit Wohlfahrtsstaat oder Sozialismus. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika kritisiert die zivilen und politischen Rechte in Kuba, während sie den höheren Standard der Kubaner in der allgemeinen Wohnsituation, Gesundheitswesen, Bildung, garantiertem Mutterschutz und gleichen Lohnsätzen ignoriert. Inzwischen hat die Regierung der USA schwere Menschrechtsverbrechen auf kubanischem Boden begangen, darunter Folter, grausame Behandlung und willkürliche Anhaltung. Und seit 1960 haben die Vereinigten Staaten von Amerika sich durch das Wirtschaftembargo ausdrücklich in Kubas wirtschaftliche Rechte und in sein Recht auf Selbstbestimmung eingemischt.

Das Embargo der Vereinigten Staaten von Amerika gegen Kuba, jetzt eine Blockade, wurde während des Kalten Kriegs von Präsident Dwight D. Eisenhower eingeführt auf ein von einem höheren Beamten des Aussenministeriums verfasstes Memorandum hin. Das Memo schlug vor «eine Reihe von Aktionen, die die grössten Eingriffe in den Zufluss von Geld und Gütern nach Kuba bewirken, um Geldbestand und Reallöhne zu senken, um Hunger, Verzweiflung und den Sturz der Regierung (Castro) herbeizuführen.» Dieses Ziel wurde nicht erreicht, aber die Strafblockade hat das Leben in Kuba schwierig gemacht. Ungeachtet dieser inhumanen Bemühung garantiert Kuba seiner Bevölkerung jedenfalls eine bemerkenswerte Palette von Menschenrechten.

Gesundheitswesen

Anders als in den Vereinigten Staaten von Amerika wird medizinische Versorgung in Kuba als Recht betrachtet. Kuba hat das höchste Ärzte-Patienten-Verhältnis der Welt mit 6,7 Ärzten pro 1000 EinwohnerInnen. Die Kindersterblichkeit lag 2014 bei 4,2 pro 1000 Lebendgeburten – eine der niedrigsten der Welt. Das Gesundheitswesen in Kuba legt das Schwergewicht auf Vorbeugung, statt sich nur auf Medikamente zu stützen, teilweise aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Medikamenten infolge der Blockade der Vereinigten Staaten von Amerika. 2014 schrieb die medizinische Fachzeitschrift Lancet: «Wenn die Errungenschaften Kubas über einen weiten Bereich von armen und Ländern mit mittlerem Einkommen ausgedehnt werden könnten, würde sich die Gesundheit der Weltbevölkerung wesentlich ändern.» Kuba hat bahnbrechende Medikamente zur Behandlung und Prävention von Lungenkrebs und zur Vorbeugung von Amputationen infolge von Diabetes entwickelt. Aufgrund der Blockade stehen diese uns in den USA allerdings nicht zur Verfügung.

Bildung

Freie Bildung ist ein allgemeines Recht und umfasst auch höhere Bildung. Kuba gibt für Bildung einen höheren Anteil seines BIP aus als alle anderen Länder der Welt. «Mobile LehrerInnen» kommen zu den Kindern, die die Schule nicht besuchen können. Viele Schulen bieten freie Versorgung vor und nach der Schule, wenn berufstätige Eltern keine entsprechende Möglichkeit in der Familie haben. Die Ausbildung zum Arzt kostet nichts. Es gibt mittlerweile 22 medizinische Fakultäten in Kuba, drei waren es vor der kubanischen Revolution im Jahr 1959.

Wahlen

Wahlen zum kubanischen nationalen Parlament gibt es alle fünf Jahre und Wahlen zu den Gemeindevertretungen alle zweieinhalb Jahre. Die Abgeordneten des nationalen Parlaments wählen den Staatsrat, der seinerseits den Ministerrat bestimmt, aus dem der Präsident gewählt wird. Mit 2018 (dem Datum der nächsten allgemeinen Wahlen in Kuba) wird es ein Limit geben von höchstens zwei fünfjährigen Amtsperioden bei allen höheren gewählten Ämtern einschliesslich dem des Präsidenten. Jede und jeder kann zum Kandidaten nominiert werden. Es ist nicht erforderlich, Mitglied der kommunistischen Partei (CP) zu sein. Kein Geld darf für die Werbung für KandidatInnen ausgegeben werden, und Parteien (inklusive der CP) dürfen während Wahlen keine Werbung betreiben. Die Wahllokale werden nicht vom Militär bewacht, sondern Schulkinder bewachen die Wahlurnen.

Arbeiterrechte

Das kubanische Gesetz garantiert das Recht, freiwillig Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten. Gewerkschaften sind vom Gesetz her unabhängig und finanziell autonom, unabhängig von der CP und vom Staat, finanziert aus den Beiträgen der Mitglieder. Unter den von den Gewerkschaften geschützten Arbeiterrechten sind ein schriftlicher Arbeitsvertrag, die 40 bis 44 Stunden-Woche und 30 Tage bezahlter Urlaub im staatlichen Sektor. Gewerkschaften haben das Recht, Arbeiten einzustellen, die sie als gefährlich erachten. Sie haben das Recht, am Firmenmanagement teilzunehmen, Informationen vom Management zu erhalten, Büroraum und -material und Zeit für Tätigkeiten des Betriebsrats zu bekommen. Einigung mit der Gewerkschaft ist erforderlich bei Entlassungen, bei Änderungen der Arbeitszeit, Überstunden und dem jährlichen Sicherheitsbericht. Gewerkschaften spielen in Kuba auch eine politische Rolle und haben das verfassungsmässig garantierte Recht, in Fragen des Arbeitsrechts konsultiert zu werden. Sie besitzen auch das Recht, dem nationalen Parlament neue Gesetze vorzuschlagen.

Frauen

Frauen bilden die Mehrheit der kubanischen Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Wissenschafter, technischen Angestellten, Angestellten im öffentlichen Gesundheitsbereich und Fachpersonal. Kuba liegt an erster Stelle im «Mütterindex der weniger entwickelten Länder» von Save the Children. Mit über 48 Prozent Frauenanteil im Parlament hat Kuba den höchsten Prozentsatz weiblicher Parlamentarierinnen in der Welt. Frauen bekommen neun Monate voll bezahlten Urlaub bei Geburt eines Kindes, danach drei Monate bei 75 Prozent des Gehalts. Die Regierung subventioniert Abtreibung und Familienplanung, legt einen hohen Wert auf Versorgung vor der Geburt und bietet Frauen vor der Geburt «Mutterschaftsunterbringung».

Lebenserwartung

2013 betrug laut WHO (Weltgesundheitsorganisation der UNO) die Lebenserwartung in Kuba bei Frauen 80, bei Männern 77 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, im Alter zwischen 15 und 60 Jahren zu sterben, betrug in Kuba pro 1000 EinwohnerIn 115 bei Männern und 73 bei Frauen. Im gleichen Zeitraum lag die Lebenserwartung für Frauen in den Vereinigten Staaten von Amerika bei 81 und für Männer bei 76 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, zwischen 15 und 60 zu sterben, lag in den Vereinigten Staaten von Amerika pro 1000 Einwohnern bei Männern bei 128 und bei Frauen bei 76.

Todesstrafe

Eine Studie der Cornell Law School fand in Kuba im Oktober 2015 keinen zum Tod Verurteilten und keinen im Todestrakt. Am 28. Dezember 2010 wandelte der Oberste Gerichtshof Kubas das Todesurteil des letzten Insassen des Todestrakts um, eines Kuba-Amerikaners, der wegen Mordes verurteilt worden war, den er bei der letzten terroristischen Invasion der Insel 1994 begangen hatte. Seither ist nichts von der Verhängung neuer Todesurteile bekannt. Im Gegensatz dazu befanden sich am 1. Januar 2016 2949 Menschen im Todestrakt von staatlichen Gefängnissen der Vereinigten Staaten von Amerika. Und am 16. März 2016 befanden sich 62 im Todestrakt in Bundesgefängnissen, laut Death Penalty Information.

Nachhaltige Entwicklung

2006 befand der World Wildlife Fund (WWF), eine führende Umweltorganisation, dass Kuba das einzige Land auf der Welt ist, das eine nachhaltige Entwicklung erreicht hat. Jonathan Loh, einer der Autoren des WWF-Berichts, sagte: «Kuba hat eine gute Stufe der Entwicklung gemäss den Kriterien der Vereinten Nationen erreicht, dank seines hohen Bildungsstandards und einer sehr hohen Lebenserwartung, wobei der ökologische Fussabdruck nicht gross ist, da es ein Land mit niedrigem Energiekon-sum ist.»

Hört auf mit der Belehrung Kubas und hebt die Blockade auf!

Als Kuba und die Vereinigten Staaten von Amerika vor einem Jahr Gespräche über Menschenrechte führten, sagte Pedro Luis Pedroso, der Leiter der kubanischen Delegation: «Wir brachten unsere Bedenken bezüglich Diskriminierung und rassistischen Mustern in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika zum Ausdruck, der Verschlimmerung der Brutalität der Polizei, Folter und aussergerichtlichen Ermordungen im Kampf gegen den Terror und der rechtlichen Grauzone, in der sich die Gefangenen des Anhaltelagers der Vereinigten Staaten von Amerika in Guantánamo befinden.» Die Scheinheiligkeit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika bei der Belehrung Kubas über seine Menschenrechte, während sie den Menschen Amerikas viele grundlegende Menschenrechte vorenthält, schreit zum Himmel. Die Vereinigten Staaten von Amerika sollten die Blockade aufheben. Obama sollte Guantánamo schließen und an Kuba zurückgeben.

Aus dem vorwärts vom 8. April 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Hass allein genügt nicht mehr

petryEin Beitrag zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, zum Wahlerfolg der «Alternative für Deutschland», zum Nationalismus und zum Klassenkampf.

Da wäre zunächst der Teil, den wir schon mal hatten: eine AfD wird aus dem Stand in einem nationalistischen Taumel bei Wahlen zweistellig (Wahlsieg der «Allianz für Deutschland» 1990); unterdessen zusammengepferchte und drangsalierte Bürgerkriegsflüchtlinge, Roma und andere MigrantInnen – und der staatlich geduldete bis geförderte rassistische und faschistische Terror gegen sie, der mit Asylrechtsverschärfung «belohnt» wird; dazu noch eine zu erheblichen Teilen aus faschismusaffinen Strukturen rekrutierte Grenzpolizei. Anders betrachtet: Es handelt sich um eine durch mehr oder weniger absichtliche Fehlplanung staatlich hergestellte «Flüchtlingskrise»; leidende und fliehende Menschen werden medial als «Flut» dargestellt, gegen die nur eine nationalistische Wendung zu helfen scheint.

Während grössere Teile der Regierungen und Parlamente bundesweit noch damit beschäftigt waren, ihr Bedauern über die Realität der nun geltenden Gesetzesverschärfungen zu äussern, die sie gerade erst beschlossen und auf die sie sich vorher jahrelang hingearbeitet hatten, schickten sie den Sozi vor, der schon mal die nächsten anstehenden Massnahmen dementierte – Maas: «Haftzonen an den Grenzen wird es nicht geben.»

Und während grössere Teile der Gesellschaft sich davon erschüttert zeigten, dass die Gesellschaft so aussieht, wie sie sie eingerichtet haben, fanden sie doch immer noch die anderen Parteien, die anderen Regierungen, die anderen Bevölkerungsgruppen, die anderen Staaten, aus denen das Beklagte herrührt; und sie fanden einen KZ-Sager, dem sie unterschieben konnten, was sie Nazis am liebsten sagen hören wollen, damit alles klar bleibt.

Die Mitte und die Linke

Für «Die Zeit» schrieb jüngst noch Journalist Malte Henk: «Sie haben sich nicht mitverändert. Man konnte leicht vergessen, dass es sie noch gibt. Sie schienen weg, erledigt.» Doch diese Leute waren die ganze Zeit da, haben ganze Gegenden terrorisiert, Anschläge verübt und sich im Sicherheitsapparat festgesetzt. Das Problem ist, wie leicht es zu vielen fiel, das zu ignorieren.

Direkt vor der Wahl zeigte sich das konservative Lager einerseits etwa in Gestalt von CDU-Ministerpräsident Haseloff mit Seehofer im Wahlkampf und «bewarb» andererseits medial etwa in Gestalt der Hallenser Ausgabe der Bild-Zeitung noch am Vortag der Wahl das neue AfD-Programm mit den drei ausgewählten Punkten Minarett-, Beschneidungs- und Schächtungsverbot.

Die parlamentarische Linke setzte dagegen fast nur noch auf Sozialstaat und kaum noch auf soziale Kämpfe und versuchte, gegen Nazis und AfD mit der absurden Parole «Brandstifter abschieben» (Haupt-Wahlplakat der Linkspartei zum Thema) zu punkten. Immer wieder wurde unterstellt, dass WählerInnen nur auf die AfD hereinfallen; die AfD wurde mehr blamiert als kritisiert. Die Linke stärkte somit den Eindruck, dass Nationalismus und Rassismus zuerst ein Image-Problem sind; dass lieber die gewählt werden sollen, die die Nation und ihre Arbeitskraftauswahl weniger hässlich aussehen lassen.

Und neben alldem eine zu selbstgefällige linke Szene, die nicht nur hier in den letzten Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt war und – im Grunde unfassbarerweise – versäumte, in die teilweise umfangreichen Arbeitskämpfe der letzten beiden Jahre einzusteigen (Sachsen-Anhalt war eins der Zentren sowohl des GDL-Streiks als auch des von diesem mit angeschobenen GEW-Streiks) oder weitere soziale Kämpfe hier und anderswo anzuzetteln und zu unterstützen.

Die besonders Deutschen

Die autoritäre Verschärfung wird den Leuten stets angeboten, Klassenkampf und Kommunismus nicht, auch wenn das die Welt anders sehen mag, die die klassisch-faschistische proto-sozialistische Rhetorik von Le Pen bis AfD nicht von selbsterkämpftem Sozialismus unterscheiden kann und will – wie viele Linke ja auch nicht mehr.

Am Wahlabend schauten viele AfDlerInnen gar nicht die Fernsehberichterstattung, sondern lieber ins Internet – die AfD Sachsen-Anhalt hat bei Facebook so viele Likes wie alle anderen Parteien zusammen – und dort besonders in die Youtube-Channels der Zeitschrift «Compact», in deren Wahlstudio der AfD-Spitzenkandidat André Poggenburg, der Sezession-Herausgeber Götz Kubitschek und Gastgeber Jürgen Elsässer zufrieden Bilanz zogen und grosse Pläne schmiedeten. Elsässer sieht jetzt den historischen Moment für die nationale Revolution gekommen, fordert ständige Demos in Berlin «wie damals ’89». Zuletzt beschwor er bei öffentlichen Auftritten die revolutionäre Tradition der Orte, in denen er sprach, vom Bauernkrieg über die Novemberrevolution bis zum «Arbeiterwiderstand gegen die Nazis und gegen die SED». Sein Refrain: «Lasst euch das nicht gefallen, wehrt euch, denn ihr seid Deutschland!»

Die Schlüsse

Von kritischen Linken wird darauf mit «Vorsicht, Volk!» geantwortet, statt vom Unterschied von Volk als Klasse und Volk als Nation zu reden. Es scheint, als seien sie der Rede von der Volksgemeinschaft auf den Leim gegangen, und tun nun so, als ginge es nicht um die Klasse, auch wenn Pegida fast allein überhaupt von der «Arbeiterklasse» spricht; auch wenn doch die allgemeine Empörung gegen AfD und Pegida erst richtig ausbrach, als sich «Bürgerliche» teilweise daraus zurückzuziehen begannen; und auch wenn der Bundespräsident in Bautzen die Haltung eines «‹Wir hier unten› und ‹Ihr da oben›» als ein «altdeutsches Gefühl» beklagt, «das in diesem Teil Deutschlands noch vorherrsche, diese ostdeutsche Prägung…»

Es kann nun nicht darum gehen, ob reaktionäre Themen den offen nationalistischen und faschistischen Kräften überlassen werden – das müssen ihre Themen bleiben. Es geht darum, ihnen nicht das ganze eigene Spielfeld zu überlassen. Elsässer beschwört die «nationale Volksrevolution» – er will eben nicht die arbeitende Klasse aufwiegeln, sondern sie, ganz in faschistischer Tradition, für die Nation gewinnen und erhalten.

Kommunistisch gebildete Menschen könnten wissen, was Nationalismus ist; sie könnten erklären, wo die Ideologie herkommt: dass Nationalismus das ist, was kapitalistische Gesellschaften gegen Klassenkampf, Arbeiterrevolution und Kommunismus zusammenhält; das vom Klassenkonflikt auf die faulen, kriminellen, betrügenden und blutsaugenden Parasiten ablenkt; und das zu etwa ähnlich grossen Teilen aus Manipulation, der Realität der Konkurrenz und dem Fetischdenken entsteht. Der Staat versucht weiterhin, die entschlossene Migrationsbewegung zu kontrollieren, um eine Auswahl an Arbeitskräften vornehmen zu können, und spaltet die Klasse weiter, indem er die verschiedenen Lohnniveaus gegeneinander ausspielt. Dagegen half immer nur der Zusammenschluss der Klasse: Nur wo für alle gekämpft wird, kann die Binnenkonkurrenz der Klasse teilweise aufgehoben werden. Das ist mühselig, der Weg dahin lang und der Erfolg höchst ungewiss, doch nur das könnte die Klasse gegen die Nation stellen und dem Nationalismus den Boden entziehen.

Aus dem vorwärts vom 26. März 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Wahrheit und Gerechtigkeit für Giulio Regeni!

regeniGleich mehrere Polizeiübergriffe und Justizskandale sorgen derzeit in Ägypten für Empörung und Beschämung. Chaos und Polizeigewalt setzen das Regime immer mehr unter Druck. Das Militär hat zwar die Macht, nicht aber die Kontrolle. Und nach dem Foltertod von Giulio Regeni wächst auch der internationale Druck.

Ein Tuk-Tuk-Fahrer, der mehr Geld haben wollte: erschossen. Ein Mann, der Drogen besessen haben soll: in Luxor zu Tode gequält. Zwei Ärzte, die sich weigerten, einem Polizisten ein Gefälligkeitszeugnis auszustellen: verhaftet und verprügelt. Ein Dreijähriger, der als Baby an einer Demo der Muslimbruderschaft teilnahm: zu lebenslanger Haft verurteilt. Und ein italienischer Genosse, der zu ägyptischen Gewerkschaften forschte: am Jahrestag der Revolution von der Staatssicherheit verschleppt und zu Tode gefoltert.

Ein politischer Mord

Gross war die Anteilnahme in Giulio Regenis Heimatstadt Fiumicello in der Provinz Udine im Nordosten Italiens, als er am 12. Februar beerdigt wurde. Der junge Aktivist und Forscher der Universität Cambridge war am 25. Januar in Kairo spurlos verschwunden. Berichten zufolge verliess er gegen 20 Uhr seine Wohnung im Stadtteil Dokki, um an eine Geburtstagsparty in der Nähe des Tahrir-Platzes zu besuchen. Dort kam der 28jährige Italiener jedoch nie an. Tatsächlich sprechen alle Indizien dafür, dass er von der ägyptischen Staatssicherheit verschleppt und aus politischen Gründen zu Tode gefoltert wurde.

Regeni verschwand am 5. Jahrestag der ägyptischen Revolution. An jenem Tag waren in der Innenstadt von Kairo tausende schwer bewaffnete Sicherheitskräfte postiert und an jeder Ecke standen zivile Schlägertrupps der Staatssicherheit für den Ernstfall bereit. Diese Ausgangslage lässt es nahezu als unmöglich erscheinen, dass Regeni mitten in der Downtown von Kairo entführt wird. Mehrere Augenzeugen berichteten gegenüber westlichen Medien, dass Regeni beim Verlassen einer U-Bahn-Station von zwei Zivilbeamten abgeführt wurde. Ausserdem hätten drei Sicherheitsbeamte anonym bestätigt, dass der italienische Dozent in Polizeigewahrsam genommen worden sei, da er für einen Spion gehalten wurde. Tatsächlich machte sich Giulio Regeni seit ein paar Wochen Sorgen um die eigene Sicherheit. So wurde er nach einem Treffen mit VertreterInnen der Gewerkschaftsbewegung am 11. Dezember 2015 von einem Unbekanten fotografiert, weshalb er nur noch unter einem Pseudonym für die linke Tageszeitung «Il Manifesto» schrieb, wo er regelmässig als freischaffender Journalist über die Entwicklungen in Ägypten berichtete.

Die Handschrift der Staatssicherheit

Schliesslich wurde sein entblösster Leichnam eine Woche später an einer Schnellstrasse zwischen Kairo und Alexandria gefunden. Angeblich hätte ein Taxifahrer dort seine Leiche gefunden, da «per Zufall» sein Auto genau dort eine Panne hatte. Der Fund erfolgte allerdings, nur kurz nachdem sich die italienische Regierung unter wachsenden öffentlichen Druck direkt an den ägyptischen Präsident Abdel Fattah al-Sisi gewandt hatte. Zwar willigte die ägyptische Militärjunta nach Einbestellung des Botschafters in Rom ebenso einer unabhängigen Obduktion zu, leugnet aber vehement jegliche Verstrickung in Regenis Tod und wies Berichte von westlichen Medien als anti-ägyptische Propaganda zurück. Der Innenminister Magdi Abdel Ghaffer bestritt energisch, dass der Italiener sich jemals in den Händen der Behörden befunden hatte und behauptet dreist, dass in Ägypten noch nie ein solches Verbrechen mit der Staatssicherheit in Verbindung gebracht worden sei, schliesslich sei Ägyptens Polizei bekannt für ihre Integrität und Transparenz. Nach der ersten Obduktion wurde gar von einem normalen Verkehrsunfall gesprochen, später von einem gewöhnlichen Verbrechen.

Tatsächlich kam die zweite Obduktion zu einem schockierenden Ergebnis, die bezeugt, dass Regeni über eine Woche hinweg verhört und systematisch zu Tode gefoltert wurde. Unter anderem wurden sieben gebrochene Rippen, Zeichen von Stromschlägen am Penis, schwere Verletzungen am ganzen Körper und eine Hirnblutung festgestellt. Zudem wurde ihm ein Ohr abgeschnitten sowie alle Finger- und Fussnägel rausgerissen. Sein Körper war übersät mit Brandmalen und Schnittverletzungen und desweitern wurden ihm die Oberarmknochen und die Schulterblätter gebrochen. Der italienische Innenminister Angelino Alfano sprach mit Verweis auf eine zweite Autopsie in Italien von «unmenschlicher, animalischer, inakzeptabler Gewalt», die dem Opfer zugefügt worden sei. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem typischen Foltermuster der ägyptischen Staatssicherheit. Des Weitern arbeitet die ägyptische Polizei sehr unkooperativ mit den italienischen Behörden zusammen. So wurden etwa die Handydaten von Regeni bis heute nicht an die italienischen ErmittlerInnen übergeben und Videoaufnahmen, die allenfalls die Entführer identifizieren könnten, wurden gelöscht.

Die Botschaft, die hinter dem Mord an Regeni steht, ist klar: Jede und jeder, der es in Ägypten wagt, das Regime auch nur zu kritisieren, muss damit rechnen, verschleppt und zu Tode gefoltert zu werden, sogar wenn er Ausländer ist. Währenddessen kooperiert der Westen eng mit dem ägyptischen Regime, um die eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen nicht zu gefährden. So gilt al-Sisi als unverzichtbarer Stabilisator für die Region und als Bollwerk gegen den politischen Islam. Gleichzeitig schüren das Regime und die Medien ein Klima des Hasses und der Paranoia, in dem jede und jeder verdächtigt wird, ein Revolutionär und Agent des Westens zu sein. Hinter diesem Denken verbirgt sich auch eine tiefe Verachtung der Mächtigen gegenüber der eigenen Bevölkerung. In allen Ländern des Nahen Ostens bleibt es für die Herrschenden unvorstellbar, dass die eigene Bevölkerung vor fünf Jahren ohne Aufstachelung durch westliche NGOs und die Tätigkeit von dunklen Kräften gegen Unterdrückung, Folter und Entrechtung aufgestanden sein könnte.

«Dreckige Regierung, ihr seid Hurensöhne!»

Doch die bestialische Ermordung von Giulio Regeni durch die ägyptische Staatssicherheit ist nur einer von mehreren Fällen, die am Nil für Wut und Trauer sorgen. Am 16. Februar prügelte eine wütende Menschenmenge einen Polizisten krankenhausreif, zog vor die Einsatzzentrale in der Hauptstadt und skandierte: «Dreckige Regierung, ihr seid Hurensöhne.» Der Beamte hatte einen 24jährigen Tuk-Tuk-Fahrer mit einem Kopfschuss getötet, während beide über den Fahrpreis stritten. Zuvor hatten gleichentags mehr als 10 000 MedizinerInnen sich über das neue Demonstrationsgesetz hinweggesetzt und gegen die ständigen Übergriffe von PolizistInnen in Krankenhäusern demonstriert – das grösste Aufbegehren der Bevölkerung seit dem Amtsantritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi im Juni 2014. Sie forderten unter anderem den kostenlosen Zugang zum Gesundheitswesen für alle ÄgypterInnen, den Rücktritt von Gesundheitsminister Ahmed Emad sowie das Ende von polizeilichen Übergriffen gegen ÄrztInnen. Die Generalversammlung der Ärztekammer votierte zuvor für einen landesweiten Streik, falls die Forderungen der Gewerkschaften nicht erfüllt werden sollten. Ausgangspunkt für diese Protestwelle war ein Vorfall in einem Krankenhaus in Matariya, einem der ärmsten Aussenquartiere von Kairo. Die Situation eskalierte, als zwei Mediziner sich weigerten, eine von ihnen als nur kleine Verletzung taxierte Wunde zu nähen und dem Polizisten ein Gefälligkeitszeugnis auszustellen. Die beiden Männer wurden daraufhin in einen Polizeitransporter gezerrt und in der nahe gelegenen Polizeistation von neun Beamten verprügelt. Der betreffende Posten gilt allgemeinhin als einer der berüchtigtsten in Kairo. Das Personal des Krankenhauses lief daraufhin Sturm und trat für eine Woche in den Streik. Zahlreiche Gewerkschaften und AkteurInnen der sozialen Bewegung solidarisierten sich mit der Spitalbelegschaft. Zwar hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen die neun Polizisten eingeleitet, diese wurden aber bis zum Prozessbeginn gegen Kaution aus dem Knast entlassen. Es ist zu befürchten, dass die Strafverfolgung ohne Konsequenzen für die fehlbaren Beamten bleiben und alt bekannten Muster folgen wird. Zwar gibt es immer wieder erstinstanzliche Urteile, die durchaus Hoffnung nach mehr Rechtsstaatlichkeit wecken, doch meist werden diese Urteile von einem Berufungsgericht annulliert, sobald das öffentliche Interesse für die jeweiligen Verfahren nachlässt.

Wer regiert Ägypten?

Und der Polizeiapparat zeigt sich bisher wenig beeindruckt. Statt die Folterer in den eigenen Reihen zu stoppen, gehen die Sicherheitskräfte erstmals auch gegen das «Nadeem Zentrum zur Behandlung von Opfern von Gewalt und Folter» in Kairo vor, die einzige Anlaufstelle für Folteropfer im ganzen Land. Nadeem-Mitbegründerin Aida Seif al-Dawla gilt als mutige Kritikerin von Menschenrechtsverletzungen in ihrer Heimat. Seit dem Beginn ihrer Einrichtung 1993 habe es in Ägypten noch nie solche Zustände gegeben wie heute, sagte sie. Die Brutalität der Folter habe extrem zugenommen. In den Gefängnissen gebe es «exzessive sexuelle Gewalt» gegen Frauen und Männer gleichermassen.

Das ungehemmte Wüten der Polizei scheint inzwischen aber auch Teile der ägyptischen Militärführung zu beunruhigen, so dass Präsident al-Sisi jetzt überraschend ein schärferes Gesetz gegen Polizeigewalt ankündigt hat. Ob das aber an den Missständen etwas ändert, bleibt fraglich. Genauso unklar ist, ob und inwieweit die Militärführung überhaupt Einfluss auf die Staatssicherheit hat. Tatsächlich deutet schon seit längerem vieles auf einen Machtkampf hinter den Kulissen hin. Trotzdem wünschen sich in Ägypten – angesichts der Entwicklungen in Syrien, Libyen und dem Jemen – derzeit wohl die Wenigsten eine neue Revolutionswelle. Aber die Menschen am Nil tragen ihren Frust mittlerweile wieder auf die Strasse und zwingen so al-Sisi zum Handeln. Noch hält das Zweckbündnis zwischen der Zivilgesellschaft und den Militärs gegen den politischen Islam, doch auch für al-Sisi wird die Luft irgendwann dünner, sofern er es nicht schafft, Herr im eigenen Haus zu werden und den Polizeiapparat in seine Schranken zu weisen.

Italien jedenfalls will nicht locker lassen. Die Zahl der italienischen TouristInnen ist bereits um 90 Prozent zurückgegangen. «Wir wollen die wahren Verantwortlichen finden», erklärte Roms Aussenminister Paolo Gentiloni. «Wir dulden keine Halbwahrheiten und keine Ausflüchte.» Und der Tod von Giulio Regeni wird seinen Platz in den ägyptischen Geschichtsbüchern finden. Bei einer Gedenkveranstaltung an der italienischen Botschaft in Kairo hielt ein junger Ägypter ein Schild hoch: «Giulio war einer von uns. Und er starb wie einer von uns.»

Aus dem vorwärts vom 11. März 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Es lebe der 8. März!

zetkinBei dem Streik der Textilarbeiterinnen am 8. März 1857 in New York, den sie für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen organisierten, wurden 129 Frauen ermordet. Auf der zweiten Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen im Jahre 1910 schlug Clara Zetkin vor, dass ein Tag im Jahr als internationaler Einheits-, Kampf- und Solidaritätstag der Frauen eingeführt werden solle. Festgelegt wurde der 8. März dann zu Ehren des Kampfes der New Yorker Textil-arbeiterinnen.

Am 8. März 1917 hoben die Arbeiterinnen von St. Petersburg die Fahne des Kampfes in die Höhe. Dieser Streik war der Beginn der Oktoberrevolution und richtete sich gegen den Zarismus und die Armut. Der 8. März ist auch zu ihren Ehren der internationale Kampf- und Solidaritätstag der Frauen. Somit entwickelte sich der 8. März zu einem Tag, den internationale Arbeiterinnen mit ihrem Leben bezahlten, an dem der Gleichheits- und Befreiungskampf gemeinsam gefeiert wird und an dem die aktuellen Forderungen der Frauen formuliert werden.

Seit dem ersten organisierten Streik der Frauen am 8. März 1857 sind 159 Jahre vergangenen. In diesen 155 Jahren haben Frauen einige Rechte gewonnen und einen langen Weg zurückgelegt. Doch die Profitgier der Kapitalherrscher, die eine tödliche Kriegspolitik betreiben, die zu Krisen führt, die Arbeitslosigkeit produziert und die Armut wie eine Lawine wachsen lässt, führt auch Stück für Stück zu der Rücknahme der ArbeiterInnenrechte, die jahrelang erkämpft wurden.

Die Frauen, die die Sklaven der Sklaven sind, werden nur aufgrund der Tatsache, dass sie Frauen sind, dies wissend geprägt und so gebildet. Ebenso wird zu Gewalt gegriffen, um ihnen gewisse Verhaltensweisen zu lehren. Sie werden zweifach unterdrückt und im Namen der Ehre ermordet. Ihre Sexualität wird vermarktet, wird gekauft und verkauft. Sie werden vergewaltigt und sexuell belästigt. In Kriegen sind sie die zu erobernden Schätze. Obwohl die Frau jeden Tag aufs Neue diejenige ist, die das Leben reproduziert, hat sie in keinem Bereich des Lebens ein Mitspracherecht, nicht einmal über ihren eigenen Körper und ihr Leben. Frauen sind diejenigen, die als billige Ersatzarbeitskraft eingestellt werden, und in Krisenzeiten als erste entlassen werden. Wenn innerhalb der Familie die Arbeitslosigkeit steigt, wird die gesellschaftliche Rolle der Frau immer wichtiger. Denn trotz der Armut ist es weiterhin die Aufgabe der Frau, die Familienmitglieder satt zu machen und glücklich zu stimmen. Sobald Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit keine Rechte mehr sind, sondern privatisiert und als Ware verkauft werden, sind auch hier die Frauen die ersten, die diese Rechte verlieren. Doch damit nicht genug! Auch übernehmen Frauen – als sei es ein ungeschriebenes Gesetz – die Pflege von Hilfsbedürftigen. Arbeitslosigkeit und Armut führen dazu, dass Frauen weltweit zur Zielgruppe des Sexsektors werden; dass die psychischen Probleme innerhalb der Gesellschaft und die häusliche Gewalt zunehmen; und dass Frauenmorde und Gewalt an Frauen in grausamer Art und Weise steigen.

Ruhm denjenigen, die den 8. März erschaffen haben und heute am Leben halten!

Die Zahlen der Streikenden auf Strassen, in Fabriken und Schulen weltweit gegen diese Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung und Grausamkeit nehmen zu und Frauen scheuen sich nicht, ihren Platz an den Fronten einzunehmen. Die Fackel, die 1857 durch die streikenden Frauen entflammte, lodert heute in den Händen der Arbeiterinnen.

Arbeiterinnen, liebe Frauen, liebe Freunde, lasst uns gemeinsam gegen dieses Leben als Sklaven, das uns aufgezwungen wird, auf die Strassen gehen! Lasst uns gemeinsam gegen den Sozialabbau, die Arbeitslosigkeit, Armut und sexistische Gesetze kämpfen! Lasst uns am 8. März solidarisch unsere gemeinsamen Parolen rufen!

Es lebe der internationale Kampftag der Frauen!

Auf der sozialistischen Frauenkonferenz im August 1910 wurde beschlossen, «als einheitliche internationale Aktion einen alljährlichen Frauentag», einen gemeinsamen Kampftag der Arbeiterinnenbewegung zu begehen. Unter dem Kampfruf «Heraus mit dem Frauenwahlrecht» gingen am ersten internationalen Frauentag, am 19. März 1911, alleine in Deutschland mehr als eine Million Frauen auf die Strasse und forderten für alle Frauen soziale und politische Gleichberechtigung. Auch heute sind diese Forderungen aktuell: Weltweit leben Frauen in patriarchalen Herrschaftsverhältnissen und sind mit Unterdrückung und Ausbeutung konfrontiert. Mehrheitlich Frauen und Mädchen werden Opfer von Armut und Gewalt, wobei laut WHO-Statistik 2001 global Gewalt die Haupttodesursache für Frauen ist, noch vor Krebs, HIV und Herzinfarkt. In Deutschland verdienen sie im Falle von geregelten Arbeitsverhältnissen durchschnittlich 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen und sind überproportional häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist eine gesellschaftlich akzeptierte Tatsache, die in patriarchalen und heteronormativen Systemen zu dessen Aufrechterhaltung immer weiter reproduziert wird. Deshalb ist die Frage der Geschlechterverhältnisse nicht losgelöst von der grundsätzlichen hierarchischen Beschaffenheit der Gesellschaft zu denken, die nach ausgrenzenden Kategorien wie Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnie, Nationalität, Behinderung, Klasse und anderen funktioniert.

Für eine Welt ohne Patriarchat, Ausbeutung und Unterdrückung

Und trotz allem bleibt es noch ein weiter Weg, bis die Gleichheit in allen Bereichen und Augenblicken des Alltags Realität wird. Es gibt noch zahlreiche Situationen, in denen sich die Diskriminierung der Frau fortsetzt, in der sie ungleich behandelt wird, Respekt und Gerechtigkeit fehlen. Es reicht ein Blick hin zu unseren Nachbarinnen, zu den Familien in unserem Wohnviertel, zu unseren Arbeitskolleginnen, zu den arbeitenden Frauen auf anderen Kontinenten um festzustellen, dass noch immer Unterschiede, Diskriminierung und Gewalt auf Grund des Geschlechtes existieren. Wir beobachten, dass sich diese Situation heute, wegen der aktuellen globalen Krise verschärft hat. Ohne Erbarmen trifft sie die Arbeiterklasse, aber auf eine viel brutalere Weise und sehr viel härter die am leichtesten zu verletzenden und benachteiligten Gruppen, wie , neben anderen, die Frauen , insbesondere die armen und jungen Frauen, so wie die Migrantinnen.

Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der die kapitalistische Ordnung überwunden ist und nicht der Profit im Mittelpunkt steht. Für eine Welt, in der Patriarchat, Ausbeutung und Unterdrückung keinen Platz haben.

Aus dem vorwärts vom 4. März 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Gemeinschaft und Widerstand

sciopero_generale_04Das gegenwärtige Migrationsregime bedingt das Leben von vielen Frauen* auf gewaltvolle Weise. Gemeinschaft und Solidarität bauen, jenseits von kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Teilungspraktiken ist eine Strategie des Widerstands dagegen.

Das Migrationsregime ist Gewalt an Frauen*, weil es jeden legalen Fluchtweg in die Schweiz verunmöglicht. Der letzte legale Weg in die Schweiz zu flüchten, war bis 2013 über das sogenannte Botschaftsasyl. Über 40 Prozent der Gesuche wurden von Frauen* in CH-Botschaften ihrer Herkunftsländern gestellt. Durch die Abschaffung dieser Einreisemöglichkeit ist die Schweiz mitverantwortlich an den Gräueltaten, die Frauen* auf der Flucht widerfahren. Es drängt sie auf gefährliche Fluchtrouten, auf denen sie von ökonomischer und sexueller Ausbeutung bedroht sind.

Das Migrationsregime ist auch Gewalt an Frauen*, weil es ausser «hochqualifizierten». spezialisierten Arbeitskräften“ keine Möglichkeit der Niederlassung für Frauen* aus Drittstaaten bietet, ausser der Ehe. Dem Grossteil bleibt einzig zu heiraten, um eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten. Aufenthaltsrechtlich wird Frau* somit auf eine Ehefrau reduziert. Seit diesem Jahr ist der Cabaret-Status – die letzte Möglichkeit ausserhalb der EU- und EFTA-Staaten eine Arbeitsbewilligung zu erwerben – abgeschafft. Dies drängt Frauen* in die Illegalität und somit in die Rechtlosigkeit. Die Arbeitsbedingungen illegalisierter Frauen* sind prekär: Illegalisierten Hausarbeiter*innen beispielsweise fehlt sozialer und rechtlicher Schutz und die Angst vor einer plötzlichen Ausschaffung ist allgegenwärtig. Dabei erfüllen sie eine Nachfrage, die mit der globalen, kapitalistischen Arbeitsteilung und den hiesigen Geschlechterverhältnissen verbunden ist: Während immer mehr Schweizer Frauen* erwerbstätig sind, hat eine Anerkennung sowie eine Umverteilung der Haus- und Care-Arbeit zu den Männern nicht stattgefunden.

Das Migrationsregime ist Gewalt an Frauen*, weil es Ausbildung, Fähigkeiten und Wissen von Frauen*, die migriert oder geflüchtet sind, aberkennt und somit ungleiche Zugänge zu ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen legitimiert. Die Aberkennung von Fähigkeiten aus rassistischen Motiven ist verbunden mit einer kapitalistischen Logik, die Migrant*innen und Geflüchtete einzig als wirtschaftliche Ressourcen wahrnimmt und somit ihren Einsatz nur in den untersten Lohnsegmenten vorsieht.Trotz all dieser widrigen Umstände schaffen es viele Frauen*, sich selbständig durch zu schlagen und finden Wege, sich selbstbestimmt zur Wehr zu setzen. Im Frauen*?!…Kafi versuchen wir an einer Gemeinschaft und an Solidarität jenseits von rassistischen, sexistischen und klassistischen Teilungspraktiken mitzubauen. Dabei geht es darum, widerständige Stimmen gegen die bestehenden Herrschaftslogiken zu stärken, zu verbreiten und Formen des Widerstands zu kreieren. Dazu ist es notwendig, von unterschiedlichen Wissenstraditionen zu lernen, um sich politisch zu bilden. Das Frauen*?!…Kafi ist Teil eines Raumes für Antirassismus und Feminismus. Im Sinne des Raums verpflichten wir uns einer antikapitalistischen, emanzipatorischen Praxis mit radikalem Anspruch. Wir sind Frauen* mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen, aus verschiedenen Gründen in Zürich: geflohen, gereist oder hier aufgewachsen. Politik verstehen wir als Teil unseres Alltags. Ob wir wollen oder nicht, bedingt Politik unser Leben, deswegen wollen und müssen wir uns organisieren, zusammenschliessen, Gemeinschaft bauen und die Stimme erheben gegen patriarchale, rassistische und kapitalistische Strukturen.

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Schluss mit den Massakern in Kurdistan!

cizreIn Cizîr (Cizre) verloren während der Ausgangssperre und der Militäroperation mehr als 200 Menschen ihr Leben. Das Militär hat zwar die Operation beendet, doch dauern die Ausgangssperre und die Übergriffe durch türkische Sicherheitskräfte an. Die Identifizierungen der Leichname der Opfer des Massakers aus den drei Kellern von Cizîr sind noch nicht abgeschlossen – und jetzt zittern die Menschen um das Leben ihrer Angehörigen im belagerten Sûr. Mit jedem verstreichenden Tag, an dem der Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung nicht gestoppt wird, gibt es weitere tote ZivilistInnen!

Cizîr (Nordkurdistan/Türkei) wurde während 64 Tagen den Angriffen der türkischen Sicherheitskräfte ausgesetzt, wobei laut örtlichen Angaben auch bio-chemische Waffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Mindestens 165 ZivilistInnen, die inmitten von Militäroperationen Zuflucht in den Kellern von Wohnhäusern gesucht hatten, wurden von türkischen Sicherheitskräften zu Tode gebombt. Die Leichname, die in die Spitäler von Cizîr geliefert wurden, sind unkenntlich. Deshalb können die Familien sie nicht identifizieren. Mehr als 100 Leichname warten nach wie vor auf Identifizierung durch einen DNA-Test.

Die unbegrenzten Ausgangssperren rund um die Uhr, welche die AKP-Regierung in kurdischen Provinzen erklärt hat, verschärfen weiterhin die Notsituation, welche grundlegende Menschenrechte und Freiheiten in der Region, einschliesslich dem Recht auf Leben und persönliche Sicherheit, untergräbt. Insgesamt wurden seit dem 16. August 2015 in sieben Provinzen und 20 Landkreise fast 400 Tage Ausgangssperre verhängt. Verwundete Menschen werden in ihren Häusern mit Mörsergranaten beschossen und daran gehindert, ins Spital zu gehen. Im Oktober 2015 konnte eine Mutter in Cizîr aufgrund der Ausgangssperre ihre von den türkischen Sicherheitskräften getötete 12-jährige Tochter nicht beerdigen und musste sie daher im Gefrierfach aufbewahren.

Schluss mit der faschistischen Praxis der AKP-Regierung!

Während sich die AKP-Regierung weiterhin von der Verantwortung für die Massaker an ZivilistInnen in Cizîr mit der abgedroschenen Phrase vom «Kampf gegen den Terror» freispricht, sind wir erneut schockiert von den Nachrichten aus dem Bezirk Sûr der Stadt Amed (Diyarbak?r). Der historische Stadtteil, dessen Stadtmauer unlängst von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt wurde, steht seit dem 11. Dezember 2015 unter Ausgangssperre – das sind bei Redaktionsschluss 88 Tage!

In einem dringenden Aufruf erklärte die Demokratische Partei der Völker HDP: « Während der militärischen Angriffe gegen die eingeschlossenen ZivilistInnen in Cizîr hatten wir der internationalen Öffentlichkeit mitgeteilt, dass ihr Schweigen und ihre Gleichgültigkeit die AKP-Regierung und deren Sicherheitskräfte bei ihren ungesetzlichen und unmenschlichen Handlungen in kurdischen Städten stärken. Wenn die Weltöffentlichkeit ihre mächtige Stimme für den Schutz von Leben und Sicherheit der eingeschlossenen ZivilistInnen in Cizîr erhoben hätte, dann hätten wir heute vielleicht nicht hunderte von toten Körpern aus den Ruinen von Cizîr bergen müssen. Nun, am Beginn einer möglicherweise ähnlichen Tragödie, die im Bezirk Sûr droht, appellieren wir erneut an die internationale Gemeinschaft.»

Die AKP-Regierung mit ihrer Politik unter Einsetzung von Militär, Polizei und bewaffneten Spezialeinheiten und ihren Massakern an der mehrheitlich kurdische Zivilbevölkerung stellt seit dem Juli 2015 eine Bedrohung des Friedens dar. Es werden schlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Bilder erinnern an die überwunden geglaubten Szenen aus den Neunzigerjahren, wo im Zuge der Vernichtungspolitik der türkischen Regierung gegen die KurdInnen über 4000 Dörfer zerstört, Frauen und Kinder verbrannt, massenhaft exekutiert und teilweise in Massengräbern geworfen wurden.

Das Schweigen Deutschlands

Obwohl die AKP-Regierung unter Führung Erdogans vor Augen der Weltöffentlichkeit Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, unterstützt die Bundesregierung Deutschlands das Vorgehen Erdogans mit neuen Geldern, die zur Kriegsführung eingesetzt werden. Dazu der Minister des Inneren Herr de Meziere (Monitor-Beitrag vom 04.02.2016): «Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich, das nicht fortzusetzen. Wir haben Interessen. Die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt. (…) Natürlich gibt es in der Türkei Dinge, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es im Zuge des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt.»

Hoch die internationale Solidarität!

Wir Frauen können und wollen dazu nicht schweigen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Menschlichkeit ermordet wird. Die Zeit ist gekommen, ein System, das uns alle gefangen hält, zu überwinden und mit ihm abzurechnen. Hinter den faschistischen, frauenfeindlichen Angriffen auf die kurdische Bevölkerung steht die Absicht des türkischen Staates und seiner Verbündeten wie der Terrororganisation IS, die kurdische Freiheitsbewegung und die dahinter stehende Vision auf ein freies Leben jenseits von staatlicher und patriarchaler Herrschaft zu zerschlagen. Wir stehen in der Verantwortung, unsere Organisierung, unseren Kampf und die internationale Frauensolidarität stärker zu entwickeln. Nur unter dieser Voraussetzung wird es gelingen, die Gewaltkultur im Allgemeinen und speziell jene gegen Frauen zu überwinden.

Wir begrüssen den historischen Widerstand der Frauen in Kurdistan, der im Gedenken an Sakine Cansiz, Ekin Wan, Seve, Pakize und Fatma und alle getöteten Frauen und Kinder geführt wird und rufen die Weltöffentlichkeit, und insbesondere die Frauen, dazu auf, ihre Solidarität mit dem demokratischen Widerstand des kurdischen Volkes, der im Namen der gesamten Menschheit geführt wird, sichtbarer zu machen.

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Superreiche! Und super wenige!

67197181Jedes Jahr veröffentlicht die Hilfsorganisation Oxfam kurz vor dem WEF in Davos einen Bericht, der die globale Ungleichheit anprangert. Mittlerweile sind es nur noch 62 Menschen, die zusammen 1760 Milliarden Dollar besitzen und somit gleich viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Der neue Oxfam-Bericht zeigt auf, dass ein Prozent der Weltbevölkerung über mehr Vermögen verfügt als die restlichen 99 Prozent.

Während die Reichen immer reicher werden, werden die Armen dementsprechend ärmer. In den zurückliegenden fünf Jahren wuchs das Vermögen der 62 Reichsten der Welt um mehr als eine halbe Billion US-Dollar, während das Gesamtvermögen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung um rund eine Billion Dollar zusammenschmolz. Da die Superreichen ganz offensichtlich die Nutzniesser der Weltwirtschaft sind, bezeichnet Oxfam diese als die «Wirtschaft für die 1 Prozent».

Immenser Reichtum durch Steuerbetrug

Ein Grund für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist eine «ungerechte Steuerpolitik», mit der Vermögen und Kapitalgewinne im Gegensatz zu früher nur gering besteuert werden. Ausserdem sind die Möglichkeiten für Unternehmen und reiche Einzelpersonen gestiegen, die Steuerabgaben zu senken oder gar ganz zu umgehen. Sie beschäftigen ein Heer von InvestmentberaterInnen und AnwältInnen, um ihr Vermögen vor dem Fiskus in Sicherheit zu bringen. «Reiche Einzelpersonen halten in Steueroasen rund 7,6 Billionen US-Dollar versteckt, neun von zehn grossen Unternehmen haben mindestens eine Tochterfirma in Steueroasen», heisst es in dem Bericht. Allein den Entwicklungsländern gehen auf diese Weise jedes Jahr mindestens 100 Milliarden Dollar an Steuereinnahmen verloren.

In der Schweiz besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung 58,9 Prozent des gesamten Nettovermögens und damit mehr als die übrigen 99 Prozent der Bevölkerung. Laut dem Schweizer Wirtschaftsmagazin «Bilanz» besassen im 2013 die 300 Reichsten der Schweiz 564 Milliarden Franken. Damit hat sich ihr Vermögen in den letzten 25 Jahren mehr als versechsfacht. Und wer reich ist, bleibt reich: Von den 40 Milliarden Franken, die im 2010 vererbt wurden, flossen mehr als die Hälfte an bestehende MillionärInnen. Somit ist die Schweiz an der Spitze jener Länder, welche die sozialen Klassen am besten reproduziert.

Geld ist vorhanden

Diese dramatische Spaltung der Gesellschaft zwischen den Superreichen und dem Rest ist politisch gewollt. Denn Geld kauft Macht. Und so sind die politischen und wirtschaftlichen Eliten auf das Engste und einander herzlich verbunden. Gleichzeitig wird versucht, der Bevölkerung einzureden, dass Menschen auf der Flucht vor Hunger, Elend, Krieg und Verfolgung Europa «überfordern» und eine Gefahr für «unseren Wohlstand» seien. Nein! Nicht die Flüchtenden, sondern die extreme Ungleichheit zwischen Arm und Reich ist das Problem. Wenn das Abkippen in autoritäre Verhältnisse verhindert werden soll, dann muss die Verteilungsfrage ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt werden. Denn der im Oxfam-Bericht aufgezeigte Mechanismus, der diese obszöne Ungleichheit in Gang gesetzt hat und am Laufen hält, schafft jeden Tag neue Fluchtursachen, untergräbt die Demokratie und blockiert jeden politischen Ausweg aus der Krise.

Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse durch progressive Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen zugunsten der Finanzierung öffentlicher Güter und Dienste sind die Antwort auf Verrohung, Rechtsentwicklung, wirtschaftliche Stagnation und der Gefahr des Falls in die Barbarei. Die Linke muss es schaffen, die Bedürfnisse der Flüchtlinge und der schon hier Lebenden zu einem gemeinsamen Anliegen zu bündeln, die verschiedenen Bewegungen zu verbinden und gemeinsam für Umverteilung, bezahlbaren Wohnraum für Alle, Investitionen in kommunale Infrastruktur sowei für die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu kämpfen. Das Geld ist vorhanden!

Quelle: www.kommunisten.de

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Mit dem Rücken zur Wand

maduroDie PSUV hat in Venezuela die Mehrheit im Parlament verloren. Die Wahlniederlage ist aber im Grunde genommen eine Niederlage des Reformismus. Die Mängel der bolivarischen Revolution waren schon im Vorhinein ersichtlich.

Das Jahr 2015 war für die radikale Linke bitter. Da war der Rechtsruck bei den vergangenen eidgenössischen Wahlen; dass die Partei der Arbeit wieder in den Nationalrat eingezogen ist, war bloss ein kleiner Trost in diesen düsteren Zeiten. In Frankreich konnte der Front National einen Erfolg erzielen, während der PCF und die Linken eine Niederlage einsteckten. In Argentinien sind die Rechten wieder an der Macht. Und nicht zu vergessen, die tragische Kapitulation der griechischen Regierung gegenüber der Troika, die dem Versuch, mit der Sparpolitik der EU zu brechen, ein Ende bereitet hat.

Die vielleicht schlimmste und bedeutendste Niederlage, die weder verschwiegen noch relativiert werden darf, fand in Venezuela statt. Die MUD, eine oppositionelle Koalition von oligarchischen VenezolanerInnen, hat zwei Drittel der Sitze im venezolanischen Parlament errungen. Dadurch hat die Koalition die Macht, die Verfassung zu ändern und den Präsidenten Nicolás Maduro abzusetzen. Es war die erste Wahlniederlage des Chavismus seit der Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten Venezuelas 1999. Die PSUV, die von Chávez gegründet wurde und viele linke Parteien vereinigte mit Ausnahme der Kommunistischen Partei (die ihre Organisation erhalten wollte, aber solidarisch mit der revolutionären Regierung ist), findet sich nun zum ersten Mal in der Opposition.

Reformistische Illusionen

Die Wahlniederlage ist auf alle Fälle ein harter Schlag für das venezolanische Volk, aber auch für alle, die ihre Hoffnung auf Chávez und seine Bewegung gesetzt haben. Venezuela erschien nach Kuba als das hellste Leuchtfeuer des Sozialismus in Lateinamerika, als linkstes Land des Kontinents, als ein Land, in dem die sozialistische Revolution auf dem demokratischen Weg ihren Sieg feiern konnte. Viele glaubten, dass ein Punkt erreicht wurde, an dem der Prozess irreversibel geworden ist. Dieser Optimismus ergab sich oft daraus, dass an mehr oder weniger reformistische Illusionen, an einen Übergang von bürgerlich-demokratischen Institutionen zum Sozialismus geglaubt wurde. Man muss sagen: Venezuela hat niemals aufgehört, ein kapitalistisches Land zu sein hinsichtlich der Produktionsweise. Der Prozess, der von Hugo Chávez angestossen wurde, nannte sich «bolivarische Revolution». Zweifellos ist er aus einer Volksbewegung mit revolutionärem Charakter heraus entstanden und hat sich das Ziel des Sozialismus gegeben. Die bolivarische Revolution hat sich auch sehr schnell eine Partei gegeben, die das umsetzen sollte.

Es hat sich wirklich um eine Revolution gehandelt, aber um eine, die auf halbem Weg steckengeblieben und in eine gewisse Routine verfallen ist. Die bolivarische Revolution hat die venezolanische ArbeiterInnen an die Macht gebracht und die Bourgeoisie zur Seite gedrängt, aber ohne deren ökonomische und politische Macht vollständig zu brechen. Der Chavismus hat eine Verstaatlichung im Interesse des Volkes vorangetrieben, besonders der Erdölindustrie, aber viele strategische Sektoren der Wirtschaft wurden nicht angetastet. Die bolivarische Revolution hat zwar nicht einfach versucht, die alte Maschine des bürgerlichen Staates zu übernehmen und sie im Interesse des Porletariats zu bedienen, aber fast. Trotz wichtiger Fortschritte hinsichtlich einer direkteren Basisdemokratie auf Grundlage lokaler Kollektive, trotz notwendiger Veränderungen in der Armee, ist der venezolanische Staat strukturell gleich geblieben. Man ist sehr weit vom Aufbau einer wirklichen Volksmacht entfernt.

Unklare Ideologie

«Es gibt eine solche Partei und es ist die bolschewistische Partei», sagte Lenin als Erwiderung auf seine GegnerInnen in den Zeiten der provisorischen Regierung, als behauptet wurde, dass keine politische Kraft in Russland existiere, die das Land aus den Widrigkeiten hinausführen könne, in denen es steckte. Für die PSUV wäre es zumindest prätentiös, so zu reden. Denn diese Partei ist bis heute ein bunt zusammengewürfelter Haufen verschiedenartiger Strömungen mit einer ziemlich unklaren ideologischen Linie. Ihr Zusammenhalt ist zu einem grossen Teil den persönlichen Anstrengungen Chávez’ zu verdanken. Entsprechend fehlt es der Partei an Einheit und Disziplin, die nötig sind, um den Aufbau des Sozialismus zu lenken, die aber umgekehrt nicht den Mitgliedern fehlt, die ihr aus Opportunismus beigetreten sind, und dem rechten Flügel, der in Wirklichkeit dem Sozialismus entgegengesetzt ist. Namentlich führen sich gewisse PSUV-Gouverneure wie lokale Barone auf und auch die Korruption konnte nicht vollständig unterdrückt werden. Kurz: Man ist sehr weit entfernt von einer leninistischen Partei neuen Typus, deren Notwendigkeit von der Geschichte weitgehend bewiesen wurde. Und auch wenn es an Bezügen zu revolutionärer und marxistischer Ideologie nicht gemangelt hat, blieben sie immer vage und undeutlich. Eine klare Leitlinie der Revolution wurde nie wirklich formuliert. Die Diskussion um den «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» ist nie mehr als konfus geblieben.

Vor allem aber hat es der Chavismus nicht geschafft, eine materielle Basis des Sozialismus zu errichten. Die Erdölindustrie wurde verstaatlicht, die Gewinne wurden in den Dienst des Volkes gestellt, um ehrgeizige Sozialprogramme und Arbeitsrechte, die die ArbeiterInnen schützten, den Mindestlohn erhöht, die Infrastruktur verbessert, zu finanzieren. Die absolute Armut wurde beinahe vollständig beseitigt und der allgemeine Lebensstandard wurde stark verbessert. Trotz allem wurde der Geldsegen nicht oder kaum eingesetzt, um eine nationale Industrie aufzubauen, um die Wirtschaft im Land zu diversifizieren, die zum Grossteil auf Importe aus der kapitalistischen Welt angewiesen ist. Noch schlimmer: Der Aussenhandel wurde in den Händen der Privatwirtschaft gelassen.

Abhängig vom Kapitalismus

Wenn die Erfahrung des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion und der theoretische Beitrag der KPdSU uns etwas lehren kann, dann dass ein sozialistisches Land sich auf einen eigenen produktiven Sektor stützen muss und dass man sich nicht mit dem Export von Erdöl zufrieden geben kann, weil man dadurch von der kapitalistischen Welt abhängig bleibt. Überhaupt hatten die USA ein leichtes Spiel, indem sie sich mit ihren saudischen und katarischen FreundInnen absprachen, um den Erdölpreis drastisch zu senken und dadurch die venezolanische Wirtschaft in Schwierigkeiten zu bringen.

Seit Beginn der bolivarischen Revolution hat die entmachtete Oligarchie mit Unterstützung des Imperialismus regelrecht einen Informations- und Wirtschaftskrieg gegen das venezolanische Volk geführt. Die Bourgeoisie in Venezuela, die stets den Aussenhandel in ihren Händen behalten hat, hat künstliche Engpässe auf allen Gebieten und eine Hyperinflation erzeugt, um die VenezolanerInnen gegen die Regierung aufzubringen. Die Medien, besonders das Fernsehen, die in übergrossen Mehrheit auf Seiten der Opposition sind, haben von Anfang bis zum Schluss eine hasserfüllte Verleumdungskampagne gegen die bolivarische Revolution betrieben. Eine Kampagne, die von den bürgerlichen Medien in Europa bedingungslos übernommen wurde, trotz ihres grotesken Charakters.

Wie die Klassiker des Marxismus erklärt haben, bleibt die Bourgeoisie vorläufig auch nach der Revolution stärker als das siegreiche Proletariat, durch ihre Verbindungen mit dem internationalen Kapital und den Machtmitteln, die ihr verbleiben. Und sie wird niemals ihre Macht abgeben, ohne bis zum Schluss darum zu kämpfen. Um die Revolution zu Ende zu bringen, müssen Massnahmen getroffen werden, um die Macht der Oligarchie zu brechen. Die Theorie der Diktatur des Proletariats hat heutzutage einen schlechten Ruf, was nicht verhindert, dass die Tatsachen für sie sprechen.

Klassenkampf am Horizont

Die Niederlagen der Syriza und der PSUV sind im Grunde genommen Niederlagen des Reformismus. Aber während die Syriza definitiv kapituliert und objektiv das Lager gewechselt hat, ist die Sache für die PSUV noch nicht gelaufen.

Zuerst einmal muss man sich aber darauf gefasst machen, dass die venezolanische Rechte, getrieben von Hass und Durst nach Vergeltung, sich vorrangig alles zurückholen wird, was ihr der Chavismus genommen hat. Sie wird die Errungenschaften der Revolution zerstören und die Sozialprogramme von Chávez aufheben, alles, was verstaatlicht wurde, wieder privatisieren und das Land an die USA annähern. In diesem Fall wird sich die Rechte unweigerlich am venezolanischen Volk stossen, das sich nicht einfach enteignen lassen wird. Der venezolanische Arbeitgeberverband hat zum Beispiel sofort die Beseitigung des Arbeitsgesetzes gefordert, von dem die grösste Gewerkschaft Venezuelas gesagt hat, dass sie dessen Abschaffung niemals zulassen würde. Es zeichnet sich ein unerbittlicher Klassenkampf am Horizont ab.

Diese Situation könnte auch eine Gelegenheit sein, wenn die RevolutionärInnen sie zu nutzen wissen. Die Niederlage hat uns in Erinnerung gerufen, dass beim Aufbau des Sozialismus nichts irreversibel ist, dass der Klassenfeind sich nie geschlagen gibt, dass sich die Revolution nicht durch ruhige Routine oder auf rein parlamentarischem Weg durchsetzt. Präsident Maduo sagte klar, dass er nicht vor der Konterrevolution kapitulieren, sondern den Kampf weiterführen wird. Die RevolutionärInnen in Venezuela haben zweifellos die Kraft, den Kampf wieder aufzunehmen, an der Seite des Volkes, gegen die momentan siegreiche Oligarchie. Unsere GenossInnen in der Kommunistischen Partei Venezuelas, die oft zu Recht die Mängel und Halbheiten des Chavismus kritisiert haben, müssen dabei eine wichtige Rolle spielen.

Die bürgerlichen Medien und die prokapitalistische «Linke» freuen sich über diese temporäre Niederlage, aber ihre Freude ist verfrüht. Ebenso dürfen wir nicht zu schnell verzweifeln. «Diese heroische Mobilisierung, die es dem Volk erlaubte, 1998 der erste Etappe im revolutionären Prozess den Anstoss zu geben, die Erbin des Kampfes für die nationale Befreiung, wird dieselbe sein, die den mörderischen Faschismus und Imperialismus gnadenlos besiegen wird. Sie wird mit Stolz bestätigen, dass die Anstrengungen des Genossen Chávez nicht vergebens waren und dass man den Weg zum Aufbau des wissenschaftlichen Sozialismus in revolutionärer Einheit wieder aufnehmen wird», erklärte die Kommunistische Partei in Erinnerung an Hugo Chávez. Die reaktionären Kräfte können stark erscheinen, sie werden aber nicht verhindern können, dass diese Sätze Wirklichkeit werden.

 

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Hände weg von Vio.Me

Vio.Me_Der seit 2011 von den ArbeiterInnen besetzten und seit 2013 in Selbstverwaltung betriebenen Fabrik Vio.Me droht seit längerer Zeit die Zwangsversteigerung. Am 3. Dezember, dem Tag des nun schon zweiten Generalstreiks innerhalb der letzten drei Wochen, zog eine der drei Generalstreikdemonstrationen Thessaloníkis zum Gerichtsgebäude, um die für den Morgen angesetzte Versteigerung der Fabrikanlagen zu verhindern. Die gut 500 DemonstrantInnen standen am Haupteingang des Gerichts dem MAT-Sondereinsatzkommando der Polizei gegenüber. Nach Stunden des Wartens wurde schliesslich «auf Grund der Teilnahme der Anwaltsvereinigung am Generalstreik», die Vertagung der Zwangsversteigerung bekanntgegeben. Schon am 26. November 2015 war es gut 250 AktivistInnen mit der Blockade des Gerichtsgebäudes in Thessaloníki gelungen, den ersten Versteigerungstermin abzuwenden. Der nächste Versuch und erneute Mobilisierungen sind auf den 10. Dezember terminiert.

Du hältst den Betrieb am Laufen!

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass kapitalistische Krisen ausser vielfachem Leid auch die Emanzipation der von der Krise betroffenen ArbeiterInnen beinhalten kann, ist die besetzte Fabrik Viomichanikí Metallevtikí (Vio.Me) in Thessaloníki. Vio.Me wurde 1982 als eine von drei Tochterfirmen des Unternehmens Philkeram & Johnson gegründet, das Keramikkacheln produzierte. Die Firma stellte chemische Baumaterialien wie Fugenkleber her und belieferte Baufirmen in Griechenland und dem benachbarten Ausland. Im Mai 2011 stellten die damaligen EigentümerInnen, die Familie Filíppou, die Lohnzahlungen ein, verschuldeten den Betrieb und machten sich schliesslich aus dem Staub. Um die Demontage der Produktionsanlagen zu verhindern und die Zahlung der ausstehenden Löhne zu erzwingen, besetzten die ArbeiterInnen die Fabrik. Da ihre Lohnforderungen ignoriert wurden und die üblichen Wege – wie Gerichtsverfahren und Investorensuche die der Kapitalismus für diesen Fall bereit hält, ohne Erfolg blieben, beschlossen sie nach langen Diskussionen unter anderem mit ArbeiterInnen der seit 2001 besetzten und selbstverwaltet produzierenden Ziegelfabrik Zanon aus Argentinien, die Produktion in die eigene Hand zu nehmen.

Im Februar 2013 schliesslich feierten tausende Menschen mit einem grossen Solidaritätskonzert die Wiedereröffnung der Fabrik. Seit April 2013 produziert Vio.Me mithilfe selbstorganisierter Strukturen Thessaloníkis umweltfreundliche Wasch- und Reinigungsmittel. Die Produkte werden in sozialen Zentren, anarchistischen Treffpunkten, besetzten Häusern und auf informellen Märkten vertrieben und inzwischen auch an solidarische Gruppen und Organisationen ins europäische Ausland geliefert. Sie können in Deutschland über verschiedene FAU-Syndikate oder das Griechenland Solidaritätskomitee Köln (GSKK) bestellt werden. Ziel ist auch, mittels des Produkts und der selbstverwalteten Produktion und Verteilung die Vision einer selbstorganisierten Gesellschaft zu vermitteln. Alle Gespräche mit staatlichen Behörden sind trotz der mehrfach wechselnden Regierungen seit 2011 gescheitert. Auch die von der KKE dominierte Gewerkschaftsfront Pame und der Gewerkschaftsdachverband GSEE verweigern die Unterstützung der Fabrik in Selbstverwaltung, da «Arbeiterselbstverwaltung nicht auf der Tagesordnung» stehe. Trotzdem machen die ArbeiteInnen weiter und kämpfen für das Ziel eines selbstbestimmten Lebens.

Internationaler Unterstützerkreis

Ein informeller Zusammenschluss aus Kollektivbetrieben, Basisgewerkschaften, politischen Gruppen, Netzwerken und Einzelpersonen aus verschiedenen europäischen Ländern versucht, den Kampf der Vio.Me-ArbeiterInnen solidarisch zu unterstützen. Das Beispiel der selbstverwalteten Fabrik in Thessaloníki soll europaweit noch bekannter gemacht werden. Darüber hinaus soll das Beispiel der selbstverwalteten Fabrik auch andere ArbeiterInnen ermutigen, sich nicht dem Krisendiktat der Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Internationalem Währungsfond (IWF) zu beugen, sondern Widerstand zu leisten und sich selbstorganisierten, emanzipatorischen Initiativen anzuschliessen. Vio.Me zeigt, dass es eine Alternative jenseits von Austerität, Nationalismus und sozialer Zertrümmerung gibt – die Solidarität sozialer Bewegungen und die Selbstorganisierung von unten. Des Weiteren versucht der UnterstützerInnen-kreis Druck auf die griechische Syriza-Ane–l-Regierung auszuüben, da die Gefahr einer Räumung des Projekts immer – und gerade jetzt durch die angestrebte Zwangsversteigerung des Betriebsgeländes akut – besteht.

Direkte Aktion gegen Zwangsversteigerung der Fabrikanlagen

Mit der Übernahme der Fabrik durch die ehemaligen Angestellten und der Umwandlung der Produktion hin zu biologisch abbaubaren Wasch- und Reinigungsmitteln, mit der Produktion unter Arbeiterkontrolle und der Vollversammlung der ArbeiterInnen als höchstes Entscheidungsgremium, und mit der täglich erlebbaren gegenseitigen Hilfe der verschiedensten Initiativen in Griechenland und der Unterstützung der internationalen Solidaritätsbewegung, ist es den Vio.Me-ArbeiterInnen seit nunmehr zweieinhalb Jahren gelungen, ihr ökonomisches Überleben zu sichern. Gleichzeitig jedoch, und das ist der Grund für die andauernden Angriffe, stellt das Projekt die kapitalistischen Besitzverhältnisse und damit das Überleben des Systems an sich in Frage. Durch die nun angesetzte Zwangsversteigerung des Betriebsgeländes will der Insolvenzverwalter die Forderungen der Gläubiger des insolventen Mutterkonzerns Philkeram & Johnson eintreiben, um dessen Schulden bei verschiedenen Banken, beim griechischen Staat und bei privaten Gläubigern zu begleichen. Die AlteigentümerInnen der Familie Filíppou hatten 2011 die bis dahin erfolgreiche Fabrik für Baumaterialien in die Insolvenz getrieben.

Schon Anfang Oktober hatten die ArbeiterInnen zur Verhinderung der drohenden Zwangsversteigerung und einer internationalen Aktionswoche vom 17. bis 24. November 2015 aufgerufen. Am Dienstag, dem 24. November, fand eine grosse Demonstration in Thessaloniki statt, an der sich verschiedenste politische Initiativen, soziale Zentren, besetzte Häuser und GewerkschafterInnen beteiligten. Mit dabei waren entlassene Beschäftigte der lokalen Tageszeitung «Angeliofóros», die seit zwei Jahren gegen die Schliessung und für die Wiedereröffnung ihres Werkes kämpfenden Arbeiter-Innen von Coca-Cola, AktivistInnen der Karawane der Solidarität und eine Delegation der gegen den geplanten Goldabbau auf Chalkidikí kämpfenden Bevölkerung. «Von Vio.Me bis Chalkidikí, Krieg den Bossen auf der ganzen Welt», oder «Die Solidarität ist die Waffe der Völker, Krieg dem Krieg der Bosse», waren zwei der gerufenen Parolen. Am 25. November hatte im Gewerkschaftshaus von Thessaloniki eine landesweite Versammlung zur Vorbereitung der Blockade-Aktion im Gerichtssaal stattgefunden. Mit der erfolgreichen Blockade, die am folgenden Morgen von rund 250 AktivistInnen durchgeführt wurde, konnte die angestrebte Zwangsversteigerung der selbstverwalteten Fabrik vorerst verhindert werden. Entschlossene Vio.Me-ArbeiterInnen und Aktivist-Innen aus den Solidaritätsgruppen hatten sich teils in Ketten vor dem Gerichtssaal postiert und diesen dicht gemacht. Auch beim nächsten Termin, dem 3. Dezember waren gut 500 DemonstrantInnen vor das Gerichtsgebäude gezogen. Weitere direkte Aktionen sind für den nächsten Zwangsversteigerungstermin am 10. Dezember angekündigt. «Wir haben es geschafft, die Zwangsversteigerung zu verhindern, weil wir geschlossen wie eine geballte Faust sind. (…) Wir werden die Fabrik nicht verlassen. Die haben unser Leben zerstört und wir haben alleine gekämpft, um wieder auf die Beine zu kommen. Wir werden es niemandem erlauben, unser Leben erneut zu zerstören», betonte Mákis Anagnóstou, einer der Vio.Me-Sprecher.

Von der Syriza-Anel-Regierung erwarten die ArbeiterInnen nichts mehr. In ihrer Erklärung zum Zwangsversteigerungstermin stellen sie klar: «Vio.Me gegenüber stehen Staat und Kapital, die in den letzten Jahren Millionen Menschen in Griechenland in Armut und Elend gestürzt haben, die Tausende in den Selbstmord getrieben haben, die Grenzzäune am Evros (Grenzfluss zur Türkei) hochziehen und den Kampf der Bevölkerung Chalkidikís gegen den Goldabbau mit Gewalt niederschlagen; die parastaatliche faschistische Kräfte dulden, oder besser ausgedrückt anleiten, und die Ermordung von Antifaschisten und Einwanderern und Angriffe auf alle, die nicht ins faschistische Weltbild passen, erlauben».

Seit dem ersten Wahlsieg am 25. Januar 2015 hatten die Vio.Me-ArbeiterInnen vergeblich einen Termin im zuständigen Ministerium gefordert. Syriza war vor den Wahlen eine der Organisationen im UnterstützerInnenkreis von Vio.Me und auch der jetzige Ministerpräsident Alexis Tsípras hatte persönlich seine Unterstützung für die Fabrik in Arbeiterhand zugesagt. Weder Syriza noch Tsípras wollen jetzt, nach ihrer Wiederwahl im September, noch etwas davon wissen. Während das Wirtschaftsministerium eisern schweigt, verweist Tsípras inzwischen lapidar auf die «Unabhängigkeit der Justiz». Dabei sei jedes Urteil und jede mögliche Lösung des Konflikts «eine klare politische Entscheidung», so die Vio.Me-ArbeiterInnen in einer Presseerklärung. Laut den Veröffentlichungen des Gerichts handelt es sich um insgesamt 14 Grundstücke der insolventen Philkeram & Johnson, die versteigert werden sollen. Die Fläche der Tochtergesellschaft, die besetzte Fabrik Vio.Me, «macht nur ca. 1/7 der Fläche aus, die unkompliziert vom Rest des Betriebsgeländes abtrennbar» sei. Dass die Anspannung auf Seiten der ArbeiterInnen und ihrer Familien immer mehr ansteigt, ist klar, «da es sich nach vier Jahren des Kampfes inzwischen um eine Frage des Überlebens» handelt. Den AlteigentümerInnen der Familie Filíppou wurden im Übrigen vom Staat in der Vergangenheit Teile der Betriebsflächen umsonst übertragen; «als staatliche Anerkennung für die soziale Leistung durch die Schaffung von Arbeitsplätzen».

Generalstreik am 3. Dezember –Syriza streikt mit

Zum zweiten Mal in nur drei Wochen wurde Griechenland am 3. Dezember durch einen Generalstreik lahmgelegt. Wie beim ersten Generalstreik am 12. November ging insbesondere im öffentlichen Sektor nichts mehr. Behörden, Schulen und Universitäten blieben geschlossen, der öffentliche Nahverkehr stand über Stunden still, Züge und Schiffe fuhren den ganzen Tag nicht und etliche Flüge fielen aus. Um berichten zu können, hatten die Mediengewerkschaften ihren Ausstand einen Tag vorverlegt. Im öffentlichen Gesundheitswesen wurde sogar zwei Tage lang in Notdiensten gearbeitet. ÄrztInnen und PflegerInnen der staatlichen Krankenhäuser hatten die Arbeit schon am Mittwoch niedergelegt. Hier fehlen nach offiziellen Angaben rund 20 000 PflegerInnen und mehr als 6000 ÄrztInnen. Ging es beim letzten Generalstreik am 12. November gegen die inzwischen von der Syriza-Anel-Regierungskoalition verabschiedete Freigabe von Zwangsversteigerungen von Wohnungen ihrer überschuldeten BesitzerInnen, so wurde am 3. Dezember vor allem gegen die anstehenden Verschlechterungen im Rentensystem gestreikt. Zwar sind die Details mit den Gläubigern von EZB, IWF und  EU-Kommission noch nicht ausgehandelt, die zentralen Achsen jedoch stehen bereits fest. Eine allgemeinverbindliche Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, die erneute Senkung der Mindestrente auf dann 365 Euro und die Zusammenlegung aller Rentenkassen in eine zentrale Kasse, bei Angleichung der Renten auf niedrigstem Niveau, scheinen beschlossene Sache zu sein. Die Regierungspartei Syriza hatte, wie schon im November, auch dieses Mal zur Teilnahme am Streik aufgerufen. «Regierung und Partei sind verschiedene Dinge», ausserdem dürfe man nicht vergessen, dass «die Verhandlungen mit den Gläubigern um die Details» fortgesetzt würden, so Syriza-Parlamentarier Chrístos Mántas. «Schämt euch!», waren die Rufe der Streikenden, die diese Syriza-Taktik als Versuch der Vereinnahmung werteten.

 

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Sozialstreik – Waffe des Prekariats

social-strikeDer neoliberale Boom der 80er Jahre hat die Zusammensetzung der europäischen ArbeiterInnenklasse radikal verändert. Industrieverlagerung, Individualisierung und Prekarisierung sind Tendenzen, die von der aktuellen Krise abermals begünstigt werden. Doch der Klasse fehlt bislang ein wirksames Gegenmittel. Nun loten immer mehr Basisgewerkschaften und autonome Gruppen die Möglichkeiten eines transnationalen «Sozialstreiks» aus. Zuletzt an einer Konferenz in Polen.

 

Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie angereist und hörten auf so klingende Namen wie «Rome Social Strike Laboratory», «Berlin Migrant Strikers» oder «Grupo de Acción Sindical». Die westpolnische Stadt Poznan war am ersten Oktoberwochenende Austragungsort einer internationalen Konferenz von Basisgewerkschaften und autonomen ArbeiterInnenkollektiven. Etwas holpriger als die Gruppennamen las sich der Zweck der Zusammenkunft: «Transnationaler Sozialstreik» – Eine neue Form des Massenstreiks also, die nicht bloss auf die traditionellen, gewerkschaftlich eingebundenen Industrien zielt, sondern der Vielfältigkeit der Klassensegmente und ihrer verschiedenen Kämpfe gerecht werden will. Nichts geringeres nämlich beabsichtigen die versammelten Kollektive langfristig auf die Beine zu stellen. In Poznan beschränkte man sich allerdings zunächst auf Vernetzung, Erfahrungsaustausch und Analyse. Gefragt wurde nach den Schwächen und Stärken vergangener Mobilisierungen, Arbeitskämpfe und Generalstreiks, nach dem Charakter gegenwärtiger Arbeitsverhältnisse und schliesslich nach der Bedeutung von Migration, Care-Arbeit, Prekarität und transnationaler Arbeitsorganisation für den Klassenkampf.

Einen derartigen Fragenkatalog abzuarbeiten, verlangte den TeilnehmerInnen einiges an Sitzleder ab. Aber im prunkvollen ehemaligen Festsaal der Strassenbahnerunion, welcher die  anarchosyndikalistische Gewerkschaft «Inicjatywa Pracownicza» (dt. Arbeiterinitiative) vermittelt hatte, liess es sich ganz vorzüglich aushalten.

 

Prekäre neue Welt

Was hinter der Idee des Sozialstreiks steckt, hob am treffendsten die britische Gruppe «Plan C» in ihrem Beitrag «The strike is dead. Long live the strike» hervor. Das Zeitalter der mächtigen und gut organisierten ArbeiterInnenklasse sei vorbei – zumindest in unseren Breitengraden. Aus den Fabriken der alten Industrienationen wurden Shoppingcenter und die Lofts der sogenannten «Dienstleistungsgesellschaft». Mit der Verlagerung der Arbeitsplätze der traditionellen Industrien sind auch die Kulturen und Institutionen der ArbeiterInnen untergegangen. Diese Neuordnung der globalen Arbeitsteilung war jedoch nie bloss eine «natürliche» Folge von neuen und günstigeren Produktionsstandorten, sondern immer auch ein Mittel, um widerständige proletarische Gemeinschaften zu zerschlagen. Auch wenn die Deindustrialisierung nicht total ist, so ist der Alltag der meisten Lohnabhängigen doch ein post-industrieller. Und die Tricks zur Profitmaximierung und ArbeiterInnenkontrolle in der post-industriellen Gesellschaft erleben wir tagtäglich: Individualisierte Arbeitsverträge, flexible Bezahlung in Honoraren statt regelmässigen Löhnen, Homeoffice statt Fabrik, Anstellungen ohne Arbeitsgarantien, Arbeit auf Abruf, Vermischung von Frei- und Arbeitszeit oder Temporär- statt Festanstellung. Solche Veränderungen in der Produktion und Arbeitsorganisation schufen eine neue ArbeiterInnenklasse. Und diese entwickelt allmählich neue Organisierungs- und Kampfformen.

Fest steht nämlich, dass es einen Weg zurück zu den Arbeitermassen, die im Blaumann die Industrieareale verlassen und als «Speerspitze der Klasse» den Generalstreik verkünden, nicht geben kann. Mehr denn je ist dies ein romantischer linker Traum. Die ökonomische Grundlage zu seiner Verwirklichung ist schlicht nicht mehr vorhanden. Dennoch ist die Verweigerung und Verhinderung der Arbeit nach wie vor das vielleicht wirksamste Mittel gegen die Besitzenden und Herrschenden. Wie aber kann das Heer der Vereinzelten und prekär oder gar nicht Beschäftigten zusammen in Streik treten? Und wie kann ein sektorenübergreifender Streik organisiert werden, wenn die grossen Gewerkschaften sich in systemkonformer Passivität üben und die prekären Massen kaum beachten?

 

Erster «sciopero sociale» in Italien

Mögliche Antworten kommen aus Italien, wo der sogenannte «EuroMayDay» am meisten fruchtete. Europaweit demonstrieren unter diesem Namen seit 2001 unterschiedlichste Initiativen vereint am 1. Mai. Migrantinnen, Arbeitslose, Studierende, Feministinnen, Künstler, Gewerkschafterinnen, Umweltschützer, LGBT-Gruppen, Recht auf Stadt- und  MieterInnen-Initiativen – so verschieden deren Hintergründe auch sein mögen, ihr vereinendes Moment ist der Kampf gegen ausbeuterische und unterdrückerische Zustände im Kapitalismus. Ausserdem befinden sich die meisten der Protestierenden in einer prekären ökonomischen Lage. «San Precario» heisst denn auch der ironische Schutzheilige der Bewegung.

Am 14. November 2014 hob diese besonders von jungen Menschen getragene Bewegung das Experiment auf eine neue Stufe. Das gemeinsame Demonstrieren sollte ergänzt werden – mit einem Massenstreik! Zum allerersten Mal wurde zu einem Sozialstreik, zum «sciopero sociale» aufgerufen. Davon ausgehend, dass das «kapitalistische Kommando» nicht bloss in den Fabriken hallt, sondern alle Bereiche des Sozialen durchdringt, versuchte der Sozialstreik verschiedene Sozialkategorien anzusprechen. Ergänzend mobilisierten kämpferische Basisgewerkschaften für einen klassischen Generalstreik, dem sich sehr zögerlich auch etablierte Grossgewerkschaften anschlossen. Schliesslich fanden in über 30 Städten Streiks, Demonstrationen und Blockaden statt.

In der Bilanz waren sich die Basisgewerkschaften und Sozialstreik-InitiantInnen einig: Dieser gemeinsame Protesttag zeigte erfolgreich Möglichkeiten auf, Kämpfe, Strukturen und Generationen zusammenzubringen. Die Beteiligung prekärer ArbeiterInnen müsse aber noch erleichtert werden. Der vielleicht prekärste Teil der italienischen ArbeiterInnenklasse, die illegal arbeitenden Flüchtlinge, war jedenfalls stark präsent.

 

Voraussetzungen schaffen!

Auch in Poznan war man sich einig: Mit Demonstrationen alleine seien die Zumutungen der Austeritätsprogramme nicht zu bodigen. Ebensowenig könne auf die Grossgewerkschaften gesetzt werden, die kaum Interesse zeigten, neben ihren alten Klientel auch Flüchtlinge oder andere Prekäre anzusprechen. Zudem sei im Zeitalter globalisierter und flexibler Arbeitsprozesse eine internationale Koordination absolut notwendig. So erzählten anwesende Arbeiter des Internetversandhandels Amazon, wie massiv ihre Aufträge in Polen zunahmen, als bei Amazon Deutschland gestreikt wurde. Infrastrukturen der Logistik wurden denn auch als zentrale Orte der Intervention verstanden. Dies auch deshalb, weil heute viele gar keine Möglichkeit haben, ein Unternehmen im klassischen Stil zu bestreiken. Im Sozialstreik solle die Warenzirkulation durch Blockaden unterbrochen werden. Bereits wandte Occupy Oakland diese Taktik mit der Hafenblockade 2011 an.

Damit aber alle sozial kämpfenden Sektoren zusammenfinden und sich gemeinsam nicht nur die Strasse nehmen, sondern auch die Wirtschaft lahmlegen, braucht es ein wenig Vorbereitung. Anfangen könnte jedeR bei sich selbst – mit der Anerkennung der eigenen Lage als LohnabhängigeR und mit der entsprechenden Organisierung mit den KollegInnen. Auch braucht es eine Kommunikation zwischen den verschiedenen kämpfenden Sektoren. Nur so kann gelingen, was die italienischen GenossInnen bereits forderten: «Verschränken wir unsere Arme und unsere Kämpfe!»

TTIP-Demo: Gross und sonst?

ttip berlinAm 10. Oktober gingen in Berlin eine Viertelmillion Menschen gegen das Freihandelsabkommen TTIP auf die Strasse. Es war eine der grössten Demonstrationen in Deutschland seit Jahren und die Grösste zu diesem Thema überhaupt. Dennoch blieb sie weitgehend unbeachtet.

Nichts ging mehr. Die Strassen waren verstopft und viele Protestierende schienen sich nicht länger über TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership), sondern über das lange Rumstehen aufzuregen. Die scheinbar hoch angesetzte Zahl von 150 000 TeilnehmerInnen musste mehrmals nach oben korrigiert werden. Dies überrascht, da die Verhandlungen zu TTIP von der breiten Öffentlichkeit unbeachtet bleiben. Dem aufrufenden, sehr breiten Trägerkreis – von der Linkspartei, über den Deutschen Gewerkschaftsbund, bis hin zum WWF und dem evangelischen Brot für die Welt – gelang es unter der Parole «Für einen gerechten Welthandel» alle quantitativen Erwartungen zu übertreffen. Doch diese Parole wirkte angesichts einer fehlenden Bezugnahme auf den Kapitalismus als System mit inneren Gesetzen reichlich naiv. Zum zahmen Motto passte auch die Demoroute; rund die Hälfte der Strecke lag in einem bewaldeten Stadtpark, war also nicht sichtbar. Trotz des Riesenaufmarschs blieb das Medienecho eher gering.

 

Angriff auf die Arbeitsbedingungen

Die genauen Auswirkungen von TTIP sind schwer vorherzusagen. Schliesslich wird geheim und fernab der Parlamente verhandelt, was bis weit ins bürgerliche Lager skandalisiert wird. Sicher ist jedoch; jegliche Aussenhandelsbeschränkungen würden radikal abgebaut. Falls sich Staaten nicht an die Vereinbarungen halten würden, sollen Konzerne sie vor privaten Schiedsgerichten verklagen dürfen. Diese Schiedsgerichte wurden in Deutschland jedoch bereits als verfassungswidrig erklärt. Aus linker Perspektive gilt es den Hauptfokus aber nicht auf die Unterwanderung der Demokratie, sondern auf die drohende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu legen. Es ist keine Neuheit und auch nicht Resultat eines auswüchsigen Kapitalismus, dass die bürgerliche Demokratie den Profitinteressen dient. Wichtig ist der Widerstand gegen TTIP als Verteidigungskampf angesichts der drohenden Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und der Deregulierung von VerbraucherInnen- und Naturschutzrichtlinien.

 

Keine Radikale, dafür Rechte

Die Situation in Deutschland unterscheidet sich denn auch zu jener in der Schweiz, wo sich die reformistische Linke kaum um das mühsam zu vermittelnde Thema TiSA (Trade in Services Agreement) kümmert. Bei einer unbewilligten Kundgebung gegen TISA letztes Frühjahr in Zürich gab die Polizei mit einem Grossaufgebot dem Paradeplatz die Ehre. Dass die deutsche Kampagne gegen TTIP reformistisch geprägt ist, müsste und dürfte nicht so sein. Die radikale Linke blieb der Demo fern, was angesichts ihrer Aufmachung verständlich scheint. Eigentlich sind es aber solche Proteste, welche eine revolutionäre Perspektive sichtbar machen können. Notwendig wäre die radikale Einmischung zudem wegen den nationalistischen Aspekten des Protests, welche weder übertrieben noch ignoriert werden dürfen. Auf Transparenten waren häufig genug antiamerikanische und sogar antiisraelische Parolen zu lesen. Demnach werden die Angriffe des internationalen Kapitals als ein Verteilkrieg zwischen Nationen verstanden, in dem es die «eigene» zu schützen gilt. Demgegenüber muss die internationale Solidarität unter den ArbeiterInnen gestärkt und der Kapitalismus als Ganzes thematisiert werden. Vor einem solchem Hintergrund könnte der Widerstand gegen Freihandelsabkommen mit Protesten wie in Berlin nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ auf einen Bruch mit dem Kapitalismus verweisen

USA–Kuba :Ende der Subversion?

Cuba_siEine Veranstaltungsreihe mit Aleida Godínez und Alicia Zamora,zwei ehemalige kubanische Agentinnen. Sie erzählen von der Subversion gegen ihre Insel.

Am 17. Dezember 2014 kündeten Raúl Castro und Barack Obama der Weltöffentlichkeit die Wiederaufnahme der offiziellen Beziehungen zwischen Kuba und den USA an.
Seit dem 20. Juli dieses Jahres wehen die Flaggen der beiden Länder nach 54 Jahren wieder über ihren jeweiligen Botschaften in Washington und Havanna.
Ist dies das Ende der Unterwanderungsversuche und konterrevolutionären Aktivitäten der USA gegen Kuba, die seit 1959 mehr als 3000 Todesopfer gefordert haben?

Aleida Godínez und Alicia Zamora berichten über ihre damalige Arbeit als Agentinnen, die im Auftrag Kubas konterrevolutionäre Gruppierungen infiltrierten, und geben eine Einschätzung der aktuellen Entwicklung.

Veranstaltungen:
12. September in Bern, Brasserie Lorraine, 19:00h
14. September in Solothurn, Restaurant Kreuz, 20:30h
17. September in Fribourg, Hôpital des Bourgeois, 18:00h
19. September in Bellinzona
21. September in Basel, Unternehmen Mitte, 19:00h
24. September in Genf, Maison des Associations, 19:00h
26. September in Zürich, Punto di Incontro, 19:00h

Brennende Stimmzettel und Militärstiefel

mexiko-iguala-protestAm 7. Juni fanden in Mexiko die Wahlen statt. Die militante Lehrergewerkschaft rief zum Boykott auf und führte Aktionen durch. Der Staat mobilisierte 40000 Sicherheitskräfte. Es kam zu Auseinandersetzungen, 125 AktivistInnen wurden verhaftet und nach einer Polizeiaktion wurde ein Aktivist getötet. Die repräsentative Demokratie steckt in einer abgrundtiefen Krise. Aber auch die Proteste müssen hinterfragt werden.

«Wirklich, ich musste mich diesmal ausserordentlich überwinden, um wählen zu gehen», stöhnte der Karikaturist Rius nach dem Wahlgang vom 7. Juni. Der 80-jährige Linke mit bürgerlichem Namen Eduardo del Rio, seit einem halben Jahrhundert für seine bissige Kritik mit dem Zeichenstift bekannt und gefürchtet, erklärte seine Qual der Wahl so: «Ich habe eine Peso-Münze in die Luft geworfen, wenn sie auf den Adler fallen sollte, wähle ich Morena, fällt sie auf die Seite mit der Sonne, dann wähl ich niemanden. Das zeigt dir, wie meine politische Haltung ist und was viele Leute wie ich in Sachen Parteipolitik denken.»

Die Wahlen zur Erneuerung des mexikanischen Parlaments sowie einiger Gouverneure und Lokalparlamente waren geprägt von einer Frustration, welche sich vielseitig Luft machte. Kritische Stimmen riefen im Vorfeld zum Protestwählen per ungültiger Stimmabgabe auf. Knapp fünf Prozent folgten diesem Aufruf, markierten Wahlzettel mit Sprüchen wie «Alles Ratten», «Wir wollen die 43 Studenten lebend zurück» oder «Ich wähle und dann lässt ihr mich verschwinden». Der neuen linken Partei Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung) unter dem zweimaligen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador kam jeder Protest gegen die Wahlen ungelegen, denn sie wollen beweisen, dass mit dieser vierten linken Partei endlich eine reale Alternative am Start war.

Besetzte Büros und brennende Unterlagen

Bis hierhin eine typische Krise der repräsentativen Demokratie, wie wir sie weltweit an vielen Orten erleben. Doch im Süden des Aztekenlandes nahmen die oppositionellen Lehrersektionen den Aufruf der Angehörigen der verschwundenen Studenten der pädagogischen Hochschule von Ayotzinapa auf: Die Wahlen müssen aktiv boykottiert werden, damit das Regime keine politische Normalität simulieren kann, die nach den Strukturanpassungsmassnahmen und den Staatsverbrechen wie in Guerrero ein Hohn ist. Ab dem 1. Juni traten die LehrerInnen in Michoacán, Guerrero, Oaxaca und Chiapas in einen unbefristeten Streik gegen die neoliberale Bildungsreform, welche die Regierung von Enrique Peña Nieto 2013 mit Unterstützung der sozialdemokratischen PRD durchs Parlament brachte. Die Reform hat zum Ziel, Arbeitsrechte und gewerkschaftliche Organisierung einzuschränken.

Am selben Tag begannen massive Proteste gegen die Wahlen. Die Institute der Wahlbehörde INE und Büros aller Parteien wurden besetzt, Unterlagen verbrannt. Zwei Tage vor den Wahlen sandte Peña Nieto insgesamt 40 000 Einsatzkräfte in die Unruheregionen, um in einer Feuerwehraktion doch noch Wahlen garantieren zu können. In Kleinstädten in Guerrero und insbesondere Oaxaca kam es zu gefährlichen Auseinandersetzungen zwischen AktivistInnen und Bundespolizei, Gendarmerie, Militär und Marine. Am Wahltag wurden allein in Oaxaca 440 Wahlurnen entweder verbrannt oder die Wahllokale gar nicht eingerichtet, was neun Prozent der Lokale im Bundesstaat entsprach. In Guerrero verletzten regierungstreue Gangs oppositionelle LehrerInnen und SchülerInnen von Ayotzinapa. In einer Polizeiaktion in der Nacht nach den Wahlen töteten Polizisten in Tixtla einen jungen Lehrer.

Landesweit wurden am Wahltag über 120 AktivistInnen festgenommen, 25 aus Oaxaca sind noch in Haft und wurden wegen Besitz von Molotow-Coctails in Hochsicherheitsgefängnisse in die Bundesstaaten Nayarit und Veracruz verlegt, wo sie nun zusammen mit gefährlichen Mafia-Mitgliedern einsitzen. Die NGOs von Oaxaca, normalerweise auf kritischer Distanz zur militanten Lehrergewerkschaft, haben sich vor und während der Wahlen zusammengerauft und forderten eine Demilitarisierung des Wahlprozesses, denn in ihrer Sicht beweist «der militärische Umgang mit einer sozialen Problematik eine gravierenden Rückschritt in Richtung autoritäres Regime», wie über 50 Organisationen aus Oaxaca in ihrem internationalen Aufruf warnen.

Boykott kritisch hinterfragen

In den Tagen nach der Wahl und deren teilweisen Boykott ist der Katzenjammer allerorten gross. Die Resultate vieler Wahlbezirke werden von den Verliererparteien angefochten, da unter den erschwerten Bedingungen die auch sonst schon notorischen Wahlbetrügereien zunahmen. Das Wahlgericht hat in über tausend Fällen Untersuchungen aufgenommen, doch selten ist die Beweislage genügend stichhaltig oder der politische Wille vorhanden, um Wahlen in einzelnen Orten zu wiederholen. Im Parlament bestätigte sich die Regierungspartei PRI als stärkste Kraft, auch wenn sie, wie die rechte PAN und die sozialdemokratische PRD, Stimmen an die kleinen Parteien verlor. Wahlgewinnerin ist die neue linke Morena, aber mit deren acht Prozent Wählergunst, abgeworben bei der PRD, ändert sich am Kräfteverhältnis im Parlament kaum etwas. Von denjenigen, die wählen gingen, legte nur jeder Vierte seine Stimme für linke KandidatInnen ein.

Auch die Proteste müssen bezüglich ihrer Wirkung kritisch hinterfragt werden. Die Bewegung um Ayotzinapa und die Lehrergewerkschaft hat mit dem Wahlboykott in ihren konkreten Forderungen nichts bewegen können. Die Parteien aus dem linken Spektrum machen den Wahlboykott für das gute Abschneiden der Regierungskräfte verantwortlich. Und die dröhnenden Armeehelikopter im Tiefflug sowie das martialische Aufmarschieren der Sicherheitskräfte kehrten die offizielle Absicht, das Recht auf freie Wahlen zu schützen, in ihr Gegenteil; sie schürten Angst und Unsicherheit unter der Bevölkerung, die frühere Manöver dieser Art und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen allzu gut in Erinnerung hat. Kommt hinzu, dass die schwerbewaffneten Verbände auch Tage nach den Wahlen immer noch in den Städten Oaxacas patrouillieren. Der Wahlboykott war ein idealer Vorwand, um die Militärpräsenz in den widerständigen Regionen des Südens zu konsolidieren.

Eine historische Wahl?

Dennoch, die meisten KommentatorInnen sind sich einig, dass die Wahlen ein Warnsignal waren. Der beliebte Analyst Julio Hernández López, dessen spitze Feder in der linken Tageszeitung Jornada täglich die mexikanische Politik seziert, bringt dies auf den Punkt: «Die andauernden und intensiven Proteste korrelieren exakt mit der Verweigerungshaltung der Politiker und Behörden, die existierenden sozialen Probleme anzugehen.» Regierungsapparat und die Formen der politischen Repräsentation «funktionieren nur noch für die eigenen Machtzirkel», so Hernández López in seinem Artikel mit dem Titel «Andauernde soziale Verstörung».

Doch nicht alle Stimmen äusserten sich über die soziale Unruhe besorgt. Für Präsident Peña Nieto waren die Wahlen ein «historisches Ereignis», die Probleme am Wahltag «vereinzelte Vorfälle». Er sieht die Demokratie in Mexiko gestärkt. Tags darauf reiste Peña nach Brüssel, unter anderem um über neue Freihandelsverträge zu verhandeln. Auch Bundesrat Burkhalter will Neuverhandlungen mit Mexiko, dem Land, das die meisten Freihandelsverträge weltweit hat und gleichzeitig unter gravierender sozialer Ungleichheit leidet. Der Beobachter Luis Hernández Navarro konterte die präsidiale Schönwetter-Rede: «Es stimmt, es war eine historische Wahl», aber genau im Gegenteil, die repräsentative Demokratie Mexikos stecke «in einer abgrundtiefen Krise». Die Münze des Karikaturisten Rius fiel übrigens auf die Adler-Seite. Damit kriegte die neue linke Partei Morena eine erste und vielleicht letzte Chance.

Aus der Printausgabe vom 19. Juni 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Israelisch-schweizerischer Drohnendeal

droAktivistInnen blockierten am 26. Mai den Haupteingang des Thuner Waffenplatzes und verwehrten der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) den Zugang, um gegen den Kauf sechs bewaffnungsfähiger Militärdrohnen aus Israel zu protestieren. Als Kompensationsgeschäft sichert die Schweiz Aufträge im Wert von 213 Millionen Franken. Als die Mitglieder der SiKs beider Räte am Dienstagmorgen zur geplanten «Vorführung des Materials des Rüstungsprogramms 15» erschienen, bot sich ihnen ein ungewohntes Bild: Der Eingang war mit blutverschmierten «Leichen» übersät. AktivistInnen forderten auf Transparenten die BundesparlamentarierInnen auf, den Drohnendeal abzulehnen und keine Beihilfe zu Kriegsverbrechen zu leisten.

Es gibt starke Anzeichen dafür, dass mit dieser Militärdrohne namens «Hermes 900» in der Vergangenheit Kriegsverbrechen begangen wurden. Laut dem Kinderhilfswerk «Children Defense International» (CDI) fielen bei der israelischen Militäroffensive «Protective Edge» letzten Sommer in Gaza-Stadt 164 Kinder Drohnenangriffen zum Opfer. CDI und andere Menschenrechtsorganisationen werfen den israelischen Streitkräften vor, mit den dokumentierten Angriffen auf Zivilpersonen gegen humanitäres Völkerrecht verstossen zu haben. Die israelische Regierung hätte die Möglichkeit, diese Anschuldigungen aus dem Weg zu räumen, indem sie die Videoaufzeichnungen der Kampfdrohnen für Untersuchungen zugänglich macht. Dies verweigert sie konsequent.

Militärisch-industrielle Kooperation

Spätestens seit der Ernennung der neuen ultrarechten Regierung Israels muss auch die Schweiz erkennen, dass zukünftige Kriegsverbrechen nicht ausgeschlossen werden können. So rief beispielsweise die frisch ernannte israelische Justizministerin, Ayalet Shaked, letztes Jahr öffentlich dazu auf, unbewaffnete Zivilpersonen zu töten und zivile Infrastruktur der PalästinenserInnen zu zerstören, um so den propagierten Krieg gegen das palästinensische Volk ein für alle Mal zu gewinnen. Das stellt klar einen Aufruf zu Kriegsverbrechen dar. Einer Regierung mit einem solchen Rechtsverständnis muss jegliches Vertrauen entzogen werden.

Die Schweiz plant aber eine militärisch-industrielle Kooperation mit einem Staat, welcher im dringenden Verdacht steht, Kriegsverbrechen mit einem Waffensystem begangen zu haben, welches nun von Schweizer Unternehmen technologisch verfeinert werden soll. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Technologie bei zukünftigen Kriegsverbrechen zum Einsatz kommt. Dies ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern erfüllt unter den gegebenen Umständen den Tatbestand der eventualvorsätzlichen Beihilfe zu Kriegsverbrechen.

Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates (SiK-N) entschloss sich im Anschluss an die Blockade mit 16 zu 7 Stimmen für den Drohnendeal. Der Präsident der SiK-N, Thomas Hurter (SVP), kommentierte dies lapidar: Menschenrechtsverletzungen seien «störend», aber ein Boykott würde nichts bewirken. Zudem sei es kein politischer Entscheid gewesen. Wahrscheinlich hat er damit Recht. Der Entscheid der SiK, welche als verlängerter Arm der Rüstungslobby fungiert, war ökonomischer Natur. Denn mit dem Kauf sichert sich die Schweizer Industrie Aufträge in Millionenhöhe. Angesichts solcher Profitaussichten kann man bei Nebensächlichkeiten wie der Beihilfe zu Kriegsverbrechen schon mal ein Auge zudrücken.

 

Aus der Printausgabe vom 5. Juni 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

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