«Wir wollen Frieden, oder ist das zuviel verlangt?»

«Wir wollen Frieden. Oder ist das zuviel verlangt?» Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya, 80, aus Luhanske.
Bild: Klaus Petrus

Klaus Petrus. Sechs Jahre schon dauert der Krieg in der Ostukraine, unter dem am meisten die Zivilbevölkerung leidet. Darunter sind viele alte Menschen. Sie leben in Dörfern zwischen den Frontlinien – und kommen nicht mehr weg. Ihr
trister Alltag ist von Armut geprägt. Eine Reportage.

Gott behüte, nur ein einziger Krümel von diesem Knoblauchbrot und du wirst 66 Tage leiden müssen mit Haut und Haar und alle, die deinen Weg kreuzen, werden von dir weichen und dir naserümpfend hinterhermaulen: Wie konntest du nur? Ich erlag dem Charme der wundersamen Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya, werde ich verschämt erwidern, als hätte ich keine Wahl gehabt. Hatte ich auch nicht. «Nun wird gegessen, keine Widerrede!», sagt die 80-Jährige mit forscher Stimme, sie zupft das geblümte Kopftuch zurecht, scheucht die Katze weg, dann tischt sie eingemachte Peperoni auf, Gurken, ein ordentliches Stück Butter, einen Teller mit Schweineschmalz und dieses Brot, das einen wegputzt. Draussen flattern Stofftücher an der Wäscheleine, ein kalter Wind bläst seit den frühen Morgenstunden über den Acker, es ist Dienstag, Ende November. Hier drinnen aber ist es warm, an den Wänden hängen ein Teppich mit Rehen und einem verschneiten Berg darauf, goldverzierte Heiligenbildchen, eine Uhr, ein Rosenkranz, das Abbild der Mutter Gottes und eine Fotografie von Yuliyas Tochter, als sie noch ein Mädchen war. Die alte Frau setzt Wasser auf, dann beginnt sie von früher zu erzählen und irgendwie scheint alles so normal.

13000 Tote, 1,5 Millionen geflüchtet
Doch das ist es nicht. Denn wo Yuliya lebt – in Luhanske, einem kleinen Dorf in der Ostukraine –, da ist Krieg. Fast jeden Tag hört Yuliya Schüsse, den Donner von Mörserraketen, dann versteckt sie sich in ihrem Häuschen, kriecht ins Bett und wartet, bis sie nur noch das Gebell ihres Hundes vernimmt, der draussen vor dem Schuppen angekettet ist. Manchmal dauert es Minuten, manchmal Stunden. Und manchmal fragt sich Yuliya, ob all das je ein Ende haben wird.
Im April sind es sechs Jahre, als prorussische Separatist*innenen die Gebiete um Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine besetzt und als unabhängige Volksrepubliken ausgerufen haben. Daraufhin schickte die ukrainische Regierung ihr Militär in den Donbass, wie diese Gebiete auch heissen. Die Jahre 2014 und 2015 waren die schlimmsten in diesem Krieg, der bis heute 1,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben und 13000 Tote gefordert hat, unter ihnen 3300 Zivilist*innen. Doch für viele begann alles schon früher, nämlich im November 2013. Damals demonstrierten Menschen auf dem Maidan-Platz in Kiew gegen den eigenmächtigen Entscheid von Präsident Viktor Janukowitsch, die Ukraine nicht weiter der EU anzunähern, sondern Russland. Die Proteste endeten blutig, und Janukowitsch, kriminell und korrupt, musste anfangs 2014 aus dem Land fliehen. Sein Nachfolger Petro Poroschenko gab sich als Patriot. Er versprach, die Ukraine an den Westen zu binden und dem «grossen Bruder» im Osten zu trotzen. Damit konnte der «Schokoladenkönig» – Poroschenko verdient bis heute Millionen und Milliarden mit Süsswaren – die Proteste in Kiew beenden.

Nicht mein Krieg
Doch im Osten des Landes, wo viele Anhän-ger*innen Russlands leben, erzeugte Poroschenko Verunsicherung und Unbill. Diese fragile Übergangszeit nutzte der russische Präsident Wladimir Putin und schuf quasi über Nacht Fakten: Zuerst im März 2014 mit der Eingliederung der Halbinsel Krim im Südosten der Ukraine in sein «Neurussland» – 96 Prozent der Bewohner*innen stimmten zu – und kurz darauf mit der Unterstützung der Separatist*innen im Donbass. Seither ist dieser Krieg zu einem zwischen West und Ost geworden. Auf der einen Seite wollen viele Ukrainer*innen die europäischen Werte von Selbstbestimmung und Freiheit bis in den östlichsten Zipfel ihres Landes verteidigen, auf der anderen Seite wehren sich prorussische Separatist*innen gegen eine nationalistische Vereinnahmung durch Kiew. Dazwischen liegt eine Frontlinie, 450 Kilometer lang, die weiterhin umkämpft ist und bis heute Opfer fordert.
Und an dieser Frontlinie, nur wenige hundert Meter auf der ukrainischen Seite, steht Yuliyas Haus und ihr Garten mit dem verlotterten Schuppen. «Das ist nicht mein Krieg», sagt sie auf Russisch und wird still. Später erzählt sie von jenem Tag, als die Panzer der Separatist*innen vor Luhanske standen, wie aus dem Nichts seien sie aufgetaucht, hätten auf alles geschossen, was sich bewegte, bis heute höre sie die Schreie, sehe das Blut. Damals wohnte Yuliya im Dorfkern, hatte ihr eigenes Haus, ein grosses. Nachdem es beschossen wurde und das Dach einzustürzen drohte, kehrte sie ins Haus ihrer Mutter zurück, die ursprünglich aus Polen stammte und 2012 im Alter von 92 verstarb. Dort lebt Yuliya bis heute, in diesem einen Zimmer mit dem Teppich an der Wand, mit einem Bett, Tisch, Sessel und einer Kochnische. «Viele sind aus dem Dorf geflohen und nicht wieder heimgekehrt. Wer noch hier ist, ist alt, krank – oder verrückt.»
So wie um Luhanske steht es um viele Dörfer auf beiden Seiten entlang der Frontlinie. Man schätzt, dass noch 80000 Menschen in dieser «Grauzone» leben, vor dem Krieg waren es Hundertausende. Manche sind in die Städte gezogen, andere ins Ausland. Wie Yuliyas Tochter, sie ist Mitte fünfzig, verheiratet und lebt heute bei Sankt Petersburg. Sie ist ihr einziges Kind. Yuliya hat sie allein aufgezogen, ihren Ehemann jagte sie schon bald nach der Hochzeit zum Teufel. «Wo-oodka», zischt die Alte und verwirft die Hände. Die monatliche Rente von umgerechnet 80 Schweizer Franken war schon damals knapp, doch Yuliya war jung und kräftig, sie hatte einen grossen Garten, verkaufte ihr Gemüse und Obst auf den umliegenden Märkten. «Jetzt schmerzen meine Gelenke, ich habe Zucker. Am Morgen trinke ich als erstes zwei Gläser Wasser. Eigentlich müsste ich frischen Fisch essen, sagte der Arzt. Doch das ist teuer.»

Dörfer sterben aus
Bis heute bestellt Yuliya ihren Garten, so gut es halt geht, verkauft ein paar Säcke Kartoffeln, kocht für den Winter Gemüse ein und backt Knoblauchbrote. «Das muss ausreichen. Wir sind auf uns selbst gestellt.» Von der patriotischen Euphorie und Unterstützung der Ukrainer*innen zu Beginn des Krieges ist offenbar nicht viel geblieben. Die Soldat*innen beider Seiten halten in den Schützengräben bloss noch ihre Stellung und Kiew liegt 700 Kilometer von Yuliyas Hof entfernt. Auch sonst ist die Hauptstadt der Ukraine, in den Köpfen der Leute, weit weg. Viele der in der Grauzone Verbliebenen fühlen sich verlassen, sie reden von «denen dort drüben», und man weiss nicht immer, wen sie damit meinen: die prorussischen Separatist*innen auf der anderen Seite der Frontlinie, oder die eigenen Leute irgendwo weit weg im Westen? «Nur die Jungen», sagt Yuliya, «können uns noch helfen, doch die ziehen fort. Wenn sie nicht bleiben, sterben unsere Dörfer aus.»
Auch Juri, Yuliyas Enkel, ist fortgezogen. Zwar nur in die Nähe von Bachmut, keine fünfzig Kilometer von Luhanske entfernt. Trotzdem liegen Welten dazwischen: unwegsame, vom ständigen Kriegsgeschehen aufgeschlagene Strassen, Checkpoints, an denen man mitunter lange stehen bleibt, Gas- und Stromleitungen, die seit Jahren nicht funktionieren, Sendungen des russischen Rundfunks, in denen die Ukrainer als Faschist*innen beschimpft werden – und Häuser mit durchschossenen Wänden, eingefallenen Dächern und überwucherten Gärten.
Yuliya kann verstehen, dass ihr Enkel nicht in Luhanske leben will, doch sie ist froh, ihn in der Nähe zu haben. «Wenn mein Juri auf Besuch kommt und über Nacht bleibt, dann schläft er hier im Bett und ich da drüben im Sessel.» Juri ist Anfang dreissig, noch unverheiratet und arbeitet in einer Fabrik bei Kramatorsk. Obschon die Stadt mit 160000 Einwohner*innen keine hundert Kilometer von der Frontlinie entfernt ist, blüht sie auf. Zu Beginn des Krieges, im Frühjahr 2014, tauchten die Separatist*innen in Kramatorsk auf, doch schon bald wurde die Stadt «befreit» und viele, die aus dem Donbass fliehen mussten, zogen hierher – darunter auch reiche Unternehmer*innen, willens zu investieren. Heute sind die ukrainischen Nationalfarben blau-gelb in Kramatorsk allgegenwärtig, es kommen Student*innen, Beamte und Geschäftsleute in die Stadt, und die Stahlfabriken und Kohlebergewerke laufen wieder auf Hochtouren.

Die allerbesten Kartoffeln
im ganzen Land
Wie es wäre, wenn es diesen Krieg nie gegeben hätte oder wenn er endlich aufhören würde, darüber mag Yuliya nicht nachdenken. Sie zuckt mit den Achseln, als wolle sie sagen: Was kann man schon tun? Ihr neuer Präsident, der Schauspieler und Komödiant Wolodymyr Selenskyj, hat viel versprochen bei seinem Amtsantritt im Mai vorigen Jahres: Schluss mit dem Krieg im Donbass, Schluss mit der Korruption, soziale Gerechtigkeit für alle. Von alledem ist im Osten des Landes noch wenig angekommen. Yuliya kümmert das wenig, mit Politik, sagt sie, habe sie nichts zu tun. Die Menschen im Donbass haben sich daran gewöhnt, dass andere über ihr Los entscheiden: Zaren, Oligarchen, der liebe Gott. Ohnehin kommt Yuliya von hier nicht mehr fort. Wohin sollte sie denn gehen? In die Nachbardörfer, ein paar Kilometer weiter weg von den Schützengräben? In die grossen Städte? Hier in Luhanska hat die alte Frau wenigstens ein Dach über dem Kopf, einen Garten, die übriggebliebenen Menschen aus dem Ort – vielleicht noch um die tausend –, die sie ihr Leben lang schon kennt.
Doch das sind schwere Gedanken. Lieber erinnert sich Yuliya an früher, als Tochter und Enkel noch bei ihr waren. «Schau nur, wie klein Juri war, mit dem blauen Hut und der Blume in der Hand», sagt sie und zeigt auf eine Fotografie, leicht vergilbt und wie aus einer anderen Zeit. Dann wechselt Yuliya, wieder einmal, das Thema, redet über Stalingrad, über verbrannte Kinder, über einen Liebhaber aus Sankt Petersburg, der sie partout heiraten wollte vor vierzig Jahren und über ihre Kartoffeln, die allerbesten im ganzen Land. Manchmal hält Yuliya inne und weint und wimmert wie ein kleines Mädchen, ein andermal kann sie sich kaum halten vor Lachen, dann leuchten die Augen dieser alten Frau, die so charmant ist und verwirrt zugleich.
Einmal, erzählt Yuliya, sei sie draussen im Garten gewesen, um nach Kartoffeln zu graben, da fand sie eine Mine. Vielleicht wollen die ja gar nicht, dass wir uns Kartoffeln braten, dachte sie und grub weiter. «Wenn sie mich töten wollen, dann töten sie mich halt.»

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