200 Jahre Friedrich Engels

Manfred Vischer. Zwei Jahrhunderte nach seiner Geburt und 125 Jahren nach seinem Hinschied sind die Werke von Friedrich Engels weiterhin von Aktualität. Teil eins der dreiteiligen Serie über den herausragenden Philosophen, der, wie er selbst sagte, ein Leben lang die «zweite Violine» spielte, sich aber glücklich schätze, eine «so famose erste Violine» zu haben.

Friedrich Engels war ein Mensch, der weit über jede Norm hinausragte. In ihm vereinigte sich Genialität mit gründlicher Forschungsarbeit, vorausschauendes Denken mit nüchterner Analyse, rasche Auffassungsgabe mit grossem Wissensdrang, der Hang zu lustvollem Leben mit diszipliniertem Leistungsvermögen. Es scheint, dass die Dialektik, die er als Philosoph erforschte, schon in seinem eigenen Leben angelegt war.

Der gemeinsame Kampf als Leitmotiv
Engels war eine Frohnatur und ein den sinnlichen Genüssen zugeneigter Mann. Er liebte es, in guter Gesellschaft zu tafeln, so wie es auf dem bekannten Foto vom August 1893 zusammen mit Clara Zetkin, Bebel, Bernstein und anderen in einem Gartenlokal bei Zürich festgehalten ist. Neben seiner politischen und wissenschaftlichen Arbeit blieb ihm genug Zeit, sich fortwährend weiterzubilden und sich in ganz verschiedenen Bereichen ein umfassendes Wissen anzueignen. So konnte ihn Marx in einem Brief an einen Freund als «wahres Universallexikon» bezeichnen, «arbeitsfähig zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, voll oder nüchtern, quick im Schreiben und begriffen wie der Teufel».
Wiederholt hat sich Engels selbst zu seiner Stellung zu Marx und zu seinem eigenen Anteil an der gemeinsamen Arbeit geäussert. Seine Worte kennzeichnen ihn als grosszügigen, bescheidenen Menschen, dem jede Eitelkeit fernstand. Berühmt wurde seine Bemerkung in einem Brief an den sozialistischen Politiker Johann Philipp Becker vom 15. Oktober 1884: «Ich habe mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich zweite Violine spielen, und glaube auch, meine Sache ganz passabel gemacht zu haben. Und ich war froh, so eine famose erste Violine zu haben wie Marx.»
Doch aus diesen Sätzen spricht, wie Georg Fülberth in seinem Buch über Engels 2018 zu Recht feststellt, auch das Wissen, dass zu einer ersten und zweiten Violine ein Ensemble gehöre, und diese übergreifende Einheit, in der das Individuum einen Beitrag leiste, habe Engels immer mehr interessiert als seine eigene Person. Das Leitmotiv seines Lebens war der gemeinsame Kampf um die Befreiung des Proletariats aus seinen Ketten, wie es im Kommunistischen Manifest heisst.

Von allen verstanden
Diese kurze einleitende Charakterisierung der Person soll nur dazu dienen, Engels von den vielen Denkmälern, die er trotz der Wirren der letzten Jahrzehnte noch immer besetzt, herunterzuholen, um eine unbefangene Würdigung seiner Leistung zu ermöglichen. Im Folgenden werden einige seiner wichtigsten Werke näher betrachtet und in den Rahmen seines Gesamtwerks gestellt. Diese Auswahl wird vielen als willkürlich erscheinen. Sie ist einerseits persönlich begründet, andererseits durch den Rang der ausgewählten Werke gerechtfertigt. Engels war ein eifriger und vielseitiger Schriftsteller. Zu den meisten seiner Werke hat er substantielle Vorwörter verfasst, in denen er sich über den Inhalt des Werks, die Umstände seiner Entstehung und weiteres äussert. Es lag daher nahe, ihm in diesem Beitrag oft selbst das Wort zu geben und aus seinen Schriften zu zitieren, denn das ermöglicht, ihn in den geschichtlichen Zusammenhang zu stellen, aus dem heraus er wirkte, und ihn als Menschen seiner Zeit zu verstehen. Engels besass überdies die Gabe, seine Gedanken so zu formulieren, dass sie von allen verstanden werden konnten – eine unabdingbare Voraussetzung für einen Revolutionär.

Die Lage der arbeitenden Klasse in England
Das erste Buch von Engels erschien im Sommer 1845. «Im guten wie im schlechten trägt es den Stempel der Jugend des Verfassers», schrieb Engels im Vorwort zur 2. Auflage von 1892. «Damals hatte ich vierundzwanzig Jahre; heute bin ich dreimal so alt, und wie ich diese Jugendarbeit wieder durchlese, finde ich, dass ich mich ihrer keineswegs zu schämen brauche… Es wird wohl kaum nötig sein zu bemerken, dass der allgemein theoretische Standpunkt dieses Buches – in philosophischer, ökonomischer und politischer Beziehung – sich keineswegs genau deckt mit meinem heutigen Standpunkt (…) Ich habe mir nicht einfallen lassen, aus dem Text die vielen Prophezeiungen zu streichen, namentlich nicht die einer nahe bevorstehenden sozialen Revolution in England, wie meine jugendliche Hitze sie mir damals eingab. Ich habe keinen Anlass, meine Arbeit und mich selbst besser darzustellen als wir beide damals waren.»
Diese selbstkritischen Bemerkungen des alten Engels lassen nicht darüber hinwegsehen, dass das Buch eine erstaunliche Pioniertat war, die detailreich und in klaren Worten auf die verheerenden Folgen einer überstürzten Industrialisierung hinwies. Sie vermittelte Erkenntnisse, die in späteren Arbeiten von Marx und Engels ausformuliert und theoretisch untermauert wurden.

Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen
Zum Gegenstand seines Buches schrieb Engels im Vorwort zur ersten Ausgabe von 1845: «Die Lage der arbeitenden Klasse ist der tatsächliche Boden und Ausgangspunkt aller sozialen Bewegungen der Gegenwart, weil sie die höchste, unverhüllteste Spitze unsrer bestehenden sozialen Misere ist.» Während er vom Winter 1842 bis zum Herbst 1844 in Manchester lebte, konnte er sich in der väterlichen Firma «Ermen und Engels» mit der Realität der Fabrikarbeit vertraut machen. Daneben besuchte er zahlreiche Städte, wo im Zuge der Industrialisierung grosse Arbeiterviertel entstanden waren, und verschaffte sich dort ein eigenes Bild der Wohn- und Lebensverhältnisse des industriellen Proletariats. Seine Eindrücke ergänzte er durch Auskünfte von Gewährsleuten und durch das Studium von Büchern, Zeitungen, Statistiken und Untersuchungen privater oder behördlicher Natur. Sie bildeten das Material für das Buch über die arbeitende Klasse in England, geschrieben «nach eigner Anschauung und authentischen Quellen», wie im Untertitel vermerkt ist.

Die ganze Bandbreite des proletarischen Lebens
England war damals die führende Industrienation der Welt. Es war eine konfliktbeladene Zeit, die durch zahlreiche gesellschaftliche Umbrüche infolge des Wandels von der Manufaktur zur Industriearbeit gekennzeichnet war. Das Werk von Engels ist sorgfältig strukturiert, breit angelegt und befasst sich mit einer Vielzahl von Themen. Nach einem Rückblick auf die Geschichte der industriellen Revolution in England und einer Beschreibung der aus ihr entstandenen Industriezweige folgt eine ausführliche Darstellung der Lebens- und Wohnverhältnisse in den grossen Städten mit genauen Angaben über die Ernährung, Kleidung und die gesundheitliche Verfassung der Bevölkerung. Geschildert werden der Charakter der Industriearbeit, die Problematik der Kinder- und Frauen*arbeit, die Ausbeutung in den Fabriken, die Folgen der langen Arbeitszeit und der Nachtarbeit, ihre Auswirkungen auf die moralische und intellektuelle Lage der arbeitenden Bevölkerung. Engels zeigt die ganze Bandbreite des proletarischen Lebens und kommt zu einem vernichtenden Urteil: «Der Arbeiter ist rechtlich und faktisch Sklave der besitzenden Klasse, der Bourgeoisie, so sehr ihr Sklave, dass er wie eine Ware verkauft wird, wie eine Ware im Preise steigt und fällt. Steigt die Nachfrage nach Arbeitern, so steigen die Arbeiter im Preise; fällt sie, so fallen sie im Preise; fällt sie so sehr, dass eine Anzahl Arbeiter nicht verkäuflich sind, ‹auf Lager bleiben›, so bleiben sie eben liegen, und da sie vom blossen Liegen nicht leben können, so sterben sie Hungers. Denn, um in der Sprache der Nationalökonomen zu sprechen, die auf ihren Unterhalt verwendeten Kosten würden sich nicht ‹reproduzieren›, würden weggeworfenes Geld sein, und dazu gibt kein Mensch sein Kapital her (…) Der ganze Unterschied gegen die alte, offenherzige Sklaverei ist nur der, dass der heutige Arbeiter frei zu sein scheint, weil er nicht auf einmal verkauft wird, sondern stückweise, pro Tag, pro Woche, pro Jahr, und weil nicht ein Eigentümer ihn dem andern verkauft, sondern er sich selbst auf diese Weise verkaufen muss, da er ja nicht der Sklave eines Einzelnen, sondern der ganzen besitzenden Klasse ist…»

Die Rolle des Proletariats
Engels streift auch das Phänomen der zyklischen Krisen, der periodischen Zusammenbrüche der Warenproduktion und -zirkulation, und sieht darin eine Gesetzmässigkeit des Kapitalismus – ein Gedanke, der wenig später im Kommunistischen Manifest wieder aufgenommen und vertieft wird.
«Bei der heutigen regellosen Produktion und Verteilung der Lebensmittel, die nicht um der unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse, sondern um des Geldgewinns willen unternommen wird, bei dem System, wonach Jeder auf eigne Faust arbeitet und sich bereichert, muss alle Augenblicke eine Stockung entstehen… Im Anfange der industriellen Entwicklung beschränkten sich diese Stockungen auf einzelne Fabrikationszweige und einzelne Märkte; aber durch die zentralisierende Wirkung der Konkurrenz… sind diese nach und nach in eine einzige Reihe von periodisch wiederkehrenden Krisen vereinigt worden. Eine solche Krisis pflegt alle fünf Jahre auf eine kurze Periode der Blüthe und des allgemeinen Wohlbefindens zu folgen; der heimische Markt, wie alle fremden Märkte, liegen voll englischer Fabrikate und können diese letzteren nur langsam konsumieren; die industrielle Bewegung stockt in fast allen Bereichen…»
Das Werk erhält seinen Wert durch seine literarische Qualität und seine empirische Ausführlichkeit, die den Blick von Marx, der sich bis anhin vorwiegend mit Geschichtsphilosophie und Religionskritik beschäftigt hatte, auf das Proletariat und die soziale Frage lenkte. Es ebnete den Weg für die ökonomische und revolutionäre Theorie des «Marxismus», wie er von Marx und Engels entwickelt wurde. Und es bleibt festzuhalten, dass der vierundzwanzigjährige Engels um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein weit in die Zukunft weisendes Werk veröffentlichen konnte, in dem er nicht bei der Schilderung der Verelendung des Proletariats stehengeblieben ist, sondern diesem zugleich die Rolle des Subjekts der kommenden Revolution zugewiesen hat.

Share

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Zur Sicherheit untenstehende Aufgabe lösen * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.