Im Chile der Unidad Popular: Das Land denen, die es bestellen!

Redaktion. Sechs Monate nach Amtsantritt hat die Regierung Allende bereits 750000 Hektar Land enteignet. Am Beispiel der Agrarreform zeigen sich die Ziele, Schwierigkeiten und Hoffnungen, die mit dem Wahlsieg 1971 von Salvador Allende in Chile verbunden waren. Und somit auch, warum es am 11.September 1973 zum blutigen Militärputsch unter der Führung des US-Imperialismus kam.

Chile 1916. Schon seit Tagen notiert der als Tagelöhner verkleidete Politiker und Publizist Tancredo Pinochet Le-Brun die Zustände des Landlebens auf der Hacienda Camarica in sein Notizbuch. Aus nächster Nähe erlebt er einen Arbeitsalbtraum: «Es wird von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet. Zum Frühstück gibt es ein Stück Brot, ohne Kaffee oder Tee, ohne heisses Wasser; ein Teller Bohnen zum Mittag, ohne Brot; und noch ein Stück Brot am Tagesende. Nach all dem geht das menschliche Tier (…) nicht in ein Schlafzimmer, um sich auszukleiden: Es wirft sich unter freiem Himmel auf einen Strohhaufen. Am nächsten Tag steht es wieder auf, ohne sich zu waschen, streckt sich und beginnt von neuem zu arbeiten, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang…»
Die Schilderungen des Alltags auf dem Gutssitz des damals amtierenden Präsidenten Juan Luis Sanfuentes sorgen für einen Sturm der Empörung. Für die mehr als zwei Millionen betroffenen Menschen, die ohne ausreichende Grundversorgung und ohne Bildungsmöglichkeiten in quasi-feudalen Verhältnissen auf dem Land leben, ändert sich in den nächsten vier Jahrzehnten jedoch kaum etwas.

Die Blumentopfreform
Folgendes, um sich ein besseres Bild zu verschaffen: Ein Hektar entspricht zehn Quadratkilometer. Die Fläche der aktuellen Europäischen Union (EU) beträgt 423’000 Hektaren. Mitte der 1950er-Jahre konzentriert sich in Chile 80 Prozent aller Agrarflächen (rund fünf Millionen Hektar, also gut zwölf Mal die Fläche der EU!) auf 10’000 Ländereien, während die Hälfte der Bauern und Bäuerinnen überhaupt kein Land besitzt. Und diese soziale Ungleichheit hat Folgen: Die seit den 1920er-Jahren aktiven Gewerkschaften der Landarbeiter:innen (Ligas Campesinas) bekommen Zulauf und linke Parteien wie die 1933 gegründete Sozialistische Partei (PS) finden auch auf dem Land Unterstützung.
So muss die seit 1958 regierende liberal-konservative Koalition von Präsident Jorge Alessandri bei den Parlamentswahlen 1961 grosse Verluste hinnehmen. Die Regierung kann nicht länger die soziale Frage auf dem Land ignorieren – noch dazu, wo die USA nun unverhohlen drohen, allen Ländern die Wirtschaftshilfe zu streichen, die keine strukturellen Veränderungen einleiten.
1962 erlässt Alessandri schliesslich ein Gesetz, dass in Chile heute als «Blumentopfreform» bekannt ist. Statt weitreichende Veränderungen umfasst es einige Absichtserklärungen, macht theoretisch zwar Enteignungen möglich, führt unter dem Strich jedoch nur zum Kauf und der Umverteilung von 50’000 Hektar Land – damals gerade mal ein Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Vor allem die Grossgrundbesitzer:innen – oftmals direkt vertreten im Kongress – setzen alles daran, die Landbevölkerung über ihre neuen Rechte im Unklaren zu lassen. Flugblätter werden zerstört, Gewerkschafter:innen der Zugang auf ihr Güter verwehrt. So schmuggeln Kinder und Jugendliche wie Francisca Rodríguez die Nachrichten zu den Arbeiter:innen.

Schlicht ein Skandal
Trotz aller Unzulänglichkeiten legt das neue Gesetz den Grundstein für das Nationale Institut für landwirtschaftliche Entwicklung (Indap), den Rat für landwirtschaftliche Entwicklung (Consfa) und das staatliche Unternehmen Cora – später, unter anderen politischen Vorzeichen, allesamt wichtige Instrumente einer progressiven Agrarpolitik. Diese Organisationen verändern allmählich den Blick der Stadtbewohner:innen auf das Landleben, erinnert sich der damalige Student Luis Salinas: «Die Frage der Agrarreform stellte sich aus akademischer Sicht so: Wir können keine vernünftige Landwirtschaft betreiben, wenn der Staat nur den Interessen einiger Weniger dient und die Produktion auf verwaisten Flächen mit geringen Erträgen stattfindet.» Dazu kamen die technischen Berichte, im Jahre 1965 dann auch eine Studie von Cida, die offen sagte, die Landverteilung in Chile sei schlicht ein Skandal.
Treibende Kraft hinter vielen dieser Berichte ist der Harvard-Absolvent Solon Barraclough, der sich zuvor als kritischer Ökonom in den Südstaaten der USA einen Namen gemacht hatte, wo er sich auch für Landlose und Tagelöhner:innen einsetzte.

Die Agrarreform der Christdemokrat:innen
Seit 1964 regiert in Chile Eduardo Frei Montalva von der Christdemokratischen Partei (DC). Fortschrittliche Geistliche der Katholischen Kirche organisieren für die Landbevölkerung schon seit längerem Bildungsangebote, und unterstützen sie bei arbeitsrechtlichen Forderungen. Mit einem zweiten Gesetz erweitert die Regierung Frei 1967 die Agrarreform entscheidend. Die Enteignung und Umverteilung von Land sollen erleichtert und die Grundversorgung der Bevölkerung weiter verbessert werden. Doch was die Enteignungen angeht, kommt die Agrarreform nicht so schnell voran wie geplant. Auch wenn bis zum Ende von Freis Regierungszeit über drei Millionen Hektar Land sozialisiert werden, macht das insgesamt nur 13 Prozent aller Anbauflächen aus. Die Christdemokraten versuchen sich in einem schwierigen Spagat: Sie wollen die Forderungen der Bauern und Bäuerinnen nicht der politischen Linken überlassen und es sich zugleich nicht mit der ländlichen Oligarchie verscherzen. Als eine «Revolution in Freiheit» verkauft Frei diese Idee.
Doch bei den Grossgrundbesitzer:innen kann er damit wenig punkten, der christdemokratische Interessenausgleich scheitert. Zwischen 1968 und 1970 nimmt die Zahl der Streiks der Landarbeiter:innen um ein zehnfaches zu, auf ganze 1580 Arbeitsniederlegungen. Die Besetzung von Äckern vervierfacht sich im selben Zeitraum auf fast 2000. Unter den angeeigneten Flächen befinden sich auch Ländereien im Süden des Landes, die den Mapuche-Indigenas seit dem 19.Jahrhundert von Siedler:innen europäischer Abstammung gewaltsam geraubt worden waren. Nun stehen einige Mapuche Seite an Seite mit Aktivist:innen der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) und machen Ansprüche geltend…

Ein neuer Aufbruch
1970 ist in Chile Wahljahr. Der Kandidat der DC, Radomir Tomic versucht eine Mehrheit für die Fortsetzung der Regierungsarbeit zu finden, verspricht zudem die Agrarreform zu intensivieren – vergeblich. Am 5.September um 1 Uhr morgens steht fest: Mit einem Vorsprung von nur 34’000 Stimmen gewinnt das Bündnis Unidad Popular (UP) die Präsidentschaftswahlen. Der neue Präsident Salvador Allende dankt den «anonymen Männern» und «bescheidenen Frauen» und verspricht die «historische Verpflichtung» zu erfüllen. Im Massnahmenkatalog der UP heisst es unter Punkt 24 mit dem Titel «Eine echte Agrarreform»: «Wir werden die Agrarreform vertiefen, die auch den Mittel- und Kleinbauern, Kleinunternehmern, Zwischenhändlern, Angestellten und Aussenstehenden zugutekommen wird. Wir werden die Agrarkredite ausweiten. Wir werden einen Markt für alle landwirtschaftlichen Produkte sicherstellen.»
Doch die Vertiefung der Agrarreform entpuppt sich als schwierig. Tagelöhner:innen haben oft andere Visionen vom Landleben als Kleinbauern. Und die Parteien der Regierungskoalition verkomplizierten diese Debatten auf ihre Weise. Um diese endlose Eigentumsdebatte zu beenden, lenkt auch das Agrarministerium den Blick immer wieder auf Weiterbildung und Selbstverwaltung.
Ein halbes Jahr nach dem Amtsantritt Allendes hat die Regierung bereits 750’000 Hektar Land für die Agrarreform enteignet. Die Übergabe der Flächen läuft nicht immer ohne Konflikte ab. Mal zerstören die ehemaligen Eigentümer:innen mutwillig Bewässerungsanlagen oder Produktionsmittel, mal sind die früheren Herrenhäuser Ziel von Angriffen, erinnert sich Francisca Rodríguez: «Es gab viel Hass und Wut. Manchmal rächten sich die Bauern und Bäuerinnen, indem sie das Haus der früheren Eigentümer:innen niederbrannten.» Sie fügt hinzu: «Dabei hätte das Haus des Patrons auch ein Gemeindezentrum oder eine Schule werden können. Klar, aber ihre Reaktion nach all den Jahren der Unterwerfung war leidenschaftlich und trieb die Menschen zu solchen Aktionen.»

Traktoren aus Rumänien, doch…
Oftmals können die Latifundisten einen Teil ihres Landes behalten, wobei sie dann natürlich die fruchtbarsten Flächen wählen und dort alle mobilen Gerätschaften und Maschinen zusammentragen, um sie vor der Verstaatlichung zu schützen. Auch deshalb kann die Agrarreform ihr Ziel einer raschen Produktionssteigerung nicht erfüllen. Einfach neue Traktoren im Ausland zu kaufen, entpuppt sich als ein doppeltes Problem. Der chilenische Peso verliert 1971 zunehmend an Wert. Ausserdem verhindert die US-Regierung von Richard M. Nixon gezielt den Export landwirtschaftlicher Maschinen nach Chile.
Der Ausweg heisst Universal-650: Ein orangefarbener Traktor made in Rumania, von dem die Regierung 10000 Stück bestellt. Doch der Einsatz des unbekannten Gefährts ist nicht einfach, schildert der Landarbeiter Lucho Montoya rückblickend im Buch Viaje a las Estepas: «Sie kamen, um den Traktor abzuholen, und als sie auf ihrem Feld ankamen, blieb er stehen. Die Treckerfahrer wussten wohl nicht, wie sie ihn Instand halten mussten und hatten vergessen genug Öl nachzufüllen.»

Francisca Rodríguez: «Die grösste Unterstützung waren die Studierenden und Freiwilligen die aufs Land kamen».

«Wir fühlten uns alle wie Helden»
Ebenso schwierig wie die rumänischen Traktoren am Laufen zu halten, ist es, die Bauern und Bäuerinnen für eine kollektive Produktionsweise zu gewinnen. Für Olivier Delahaye vom Forschungsinstitut Iram eines der Haupthindernisse: «Das Problem in einem kollektiven Unternehmen ist, dass viele Menschen dort nicht unbedingt fanatisch der Arbeit nachgehen, ganz im Gegenteil.» Wie bringt man also Menschen dazu, zu arbeiten? «Mit ideologischen Argumenten funktioniert das nicht. Am besten lief es dort, wo unter den neu angesiedelten Bauern auch ein früherer Vorarbeiter lebte. Dann war es sehr einfach, der Vorarbeiter legte zum Beispiel fest, 600 Meter Salat pro Stunde zu jäten. Das war eine klare Ansage, die alle verstanden.»
Der Mangel an Maschinen und Motivation wird vielerorts mit Arbeitseinsätzen von Freiwilligen ausgeglichen. Nicht nur aus Chile, auch aus Argentinien und Uruguay kommen in den Sommerferien junge Helfer:innen aufs Land. Francisca Rodríguez ist bis heute begeistert von dieser solidarischen Zusammenarbeit: «Die grösste Unterstützung waren die Studierenden und Freiwilligen, die aufs Land kamen, die Freiwilligenbrigaden. Es wurden auch riesige Bauvorhaben umgesetzt… 2000 junge Leute, Studierende und Dorfbewohner:innen arbeiteten damals einen ganzen Sommer lang am Bau eines Staudamms, der eine bessere Bewässerung garantieren sollte.» Auch viele weitere Arbeiten wurden von den jungen Leuten übernommen, die aufs Land kamen: der Bau von Schulen, Alphabetisierungskurse und Ernteeinsätze. «Die Freude, das Gefühl dabei zu sein, war unvergleichlich. Wir fühlten uns alle wie Helden, bei dem, was wir taten.»

Die Bauernräte
Den Held:innen schlägt Ende 1971 neuer Widerstand entgegen. Im Parlament hat die Vertiefung der Agrarreform viele politische Gegner:innen, auch bei den Christdemokraten. Die DC ist längst in der Opposition aktiv. Zudem gibt es erste Anschläge von paramilitärischen Gruppen, um Produktion und Versorgung zu sabotieren. So zerstören Unbekannte bei einem Brandanschlag im November Tausende Tonnen Lebensmittel, die für den Einzelhandel in Valparaiso bestimmt waren.
Um die einzelnen Siedlungen und ihre Produktion effektiv und landesweit zu organisieren, schlägt die UP dem Kongress vor, Bauernräte einzuführen. Als die Regierung keine Mehrheit findet, bringt sie diese neuen Vertretungen per Dekret auf den Weg. Doch die praktische Einführung blieb konfliktreich, erinnert sich Jacques Chonchol (Agrarminister in der Regierung Allendes) anlässlich des 50. Jahrestags der Agrarreform in einem Artikel: «Jede Bauerngruppe wollte, dass die ersten enteigneten Gutshöfe jene seien, die sie vorgeschlagen hatten (…) Darüber hinaus gab es auch den Fall von Grundstücken, die laut Gesetz nicht enteignet werden konnten. All dies wurde teilweise durch die Festlegung von Prioritäten in den einzelnen geographischen Gebieten gelöst, unter Vermittlung der entsprechenden Bauernräte. Es gab rechtliche Beschränkungen (…) und dennoch konnten die Bauernräte in mehr als 150 Gemeinden des Landes eingeführt werden.»
Auffällig ist bei der Umsetzung aller Reformmassnahmen, dass in der Regierungszeit der UP scheinbar wenig auf die Belange der Mapuche eingegangen wird. Präsident Allende reagiert kurz nach seinem Amtsantritt schnell auf die Proteste und Vorschläge der Mapuche und bringt ein neues Indigenen-Gesetz auf den Weg. Zudem ordnet er die beschleunigte Enteignung von geraubtem indigenem Land an. Allein von Dezember 1970 bis März 1971 werden 150’000 Hektar rückübertragen.

Die Frauen werden nicht berücksichtigt
Seit 1972 tobt in Chile ein offener Kampf um die Produktion – und um die Köpfe. So erklärt am 11.März die nationale Vertretung der chilenischen Grossgrund-besitzer:innen, dass das Land 40 Prozent des Weizenverbrauchs durch Importe decken müsse. Die Situation auf dem Land sei katastrophal, die Produzent:innen in einer instabilen Situation «angesichts der Bedrohungen und illegaler Besetzungen durch das staatliche Unternehmen Cora, die einen dauerhaften Verstoss gegen Personen und Gesetze darstellen». Die Regierung geht nicht direkt auf die Kritik ein, bestätigt jedoch, dass Chile mit einer Inflation zu kämpfen habe.
Auch wenn niemand hungern muss, sorgen solche Situation für Unmut. Handelsboykotte und Sabotage hin oder her, es gab auch selbst gemachte Probleme. Rückblickend empfindet Francisca Rodríguez es als grossen Fehler, nicht das spezifische Wissen der Frauen, sprich der Bäuerinnen stärker für den Aufbau selbstverwalteter Strukturen genutzt zu haben. «Das einzige selbständige Produktionssystem auf dem Land, war die Bestellung eines kleinen Felds, dass vor allem alten Menschen für den Eigenanbau zur Verfügung gestellt wurde. Und dieses Stück Land wurde meist Frauen und Kindern bearbeitet. Mit anderen Worten, die Frauen hatten viel mehr Klarheit über den Produktionsprozess, um die Familie zu ernähren, als die Bauern, die nur auf Anweisung hin arbeiteten. Es gab also Unterschiede und es war ein Fehler der Agrarreform uns zu ignorieren. Frauen wurden nicht berücksichtigt.»

Ein gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit
Frauen hatten auch nicht die Chance vollwertige Mitglieder in einer Agrarkooperative zu werden. Der US-Agrarexperte Barraclough macht dafür weniger die regierende UP, sondern eher die machistischen Strukturen auf dem Land verantwortlich. Er beschreibt ein Treffen zwischen einer Regierungsdelegation und einigen Bauern, das letztere mit den Worten beendeten: «Wir haben immer für Don Salvador (Allende) gestimmt, aber wenn er darauf besteht, dass unsere Frauen und Töchter ihre Hausarbeit und Kinder vernachlässigen, um uns dabei zu helfen, unsere Genossenschaft zu führen, sollte er in Zukunft nicht auf uns zählen.»
Der gesellschaftliche Wandel braucht Zeit und die hat die UP nicht. Ständig gilt es neue Krisen zu meistern und zu improvisieren: Versorgungskommissionen, Arbeitseinsätze, Importe aus anderen sozialistischen Ländern. Langfristig soll die internationale Kooperation verbessert werden. Noch am 4.September 1973 werden Dutzende junge Bauern und Bäuerinnen zur Ausbildung an eine sowjetische Agrarschule entsandt.
Bis Mitte 1973 hatte die regierende UP 6,6 Millionen Hektar Land enteignet – der Grossgrundbesitz war in Chile nahezu Geschichte, sagt Luis Salinas: «Der grösste Teil der Agrarflächen wurde im letzten Jahr von Allendes Regierung enteignet. Aus diesem Grund war es für die Rechte sehr leicht, nach dem Putsch auf die alten Pfade zurückzukehren, denn der Prozess der Neuorganisation war nicht abgeschlossen, auch wenn es viele Fortschritte gab.»

Putsch, Exil und Gegenreform
Über das Radio erfährt auch die chilenische Landbevölkerung schnell, dass am 11.September 1973 ein Militärputsch die zivile Regierung der UP gestürzt hat. Gezielt greifen die neuen Machthaber:innen politisch aktive Bauern, Bäuerinnen und Funktionär:innen der Agrarreform an. Luis Salinas war gerade mit einem Gewerkschaftskomitee unterwegs und inspizierte Kooperativen, als er verhaftet wird. «Sie schoren mir die Haare ab. Nach der Verhaftung wurden wir bis in die Nacht hinein verhört. Schliesslich wurden die Bauern freigelassen und die beiden Funktionäre und der Fahrer ins Gefängnis gesteckt und in Isolationshaft gehalten. Ich war zehn Tage lang dort. Dann wurde ich zu einem anderen Regiment gebracht, um dort unter Folter weiter verhört zu werden.»
Nachdem die Putschist:innen anfängliche Pläne eines punktuellen Bombardements von Agrarbetrieben verwerfen, verfolgt die militärisch-zivile Diktatur in den folgenden 17 Jahren umso konsequenter eine langwährende Gegenagrarreform. Ehemalige Führungskräfte werden verfolgt, ermordet oder ins Exil gezwungen. Ein Drittel der verstaatlichten Flächen wird an die Latifundistas rückübertragen, ein anderes Drittel an Investor:innen verkauft – der Grundstein Chiles heutiger exportorientierter Monokulturen. Der Rest der Flächen wird unter den Campesino-Familien aufgeteilt, um sich deren stille Unterstützung zu erkaufen. Eine Ausnahme bilden die den Mapuche zugesprochenen Ländereien, die ihnen entschädigungslos und unter Einsatz von Gewalt fast vollständig wieder entrissen werden.
Es dauert eine Zeit, bis sich ein Teil der Landbevölkerung erneut organisiert. Die gewerkschaftliche Arbeit erfolgt nun wieder im Geheimen, wie in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Ein entscheidender Anteil daran haben Frauen wie Francisca Rodríguez: «Ich habe ziemlich lange, also ein paar Jahre klandestine Gewerkschaftsarbeit gemacht, auch in der Organisation. Wir haben viel organisiert, so auch den ersten Hungerstreik der Frauen. Viele Dinge, die wir scherzhaft ‹Heldentaten› nannten. Vom Gefängnis aus bastelten die compañeros sogar Medaillen für die Frauen.»

Dem liberalen Markt vertraut
Heute ist die chilenische Landwirtschaft weltweit in aller Munde: Wein, Heidelbeeren, Avocados – alles hecho en Chile. Die dörflichen Strukturen sind vielerorts verschwunden. Viele kleine Parzellen wurden in den 1990er-Jahren aufgekauft und sind heute Teil einer agroindustriellen grünen Wüste. Auf dem Land der Mapuche stehen heute die Waldplantagen einer Handvoll Unternehmerfamilien, die sich in den Jahren der Diktatur zu arrangieren wussten. Erntearbeiter:innen aus Peru, Haiti und Bolivien schuften als prekäre Saisonkräfte und kleinbäuerliche Familien kämpfen täglich ums Überleben – und schimpfen auf importierte Kartoffeln aus Bulgarien.
Für die Kleinbauern sei die Situation teils wieder wie in den 1950er-Jahren, findet Luis Salinas: «Die landwirtschaftliche Produktionsweise hat sich gewandelt, aber für die Landbevölkerung hat sich nicht viel verändert. Die alten Zeiten sind zurück. Natürlich gibt es ein paar Verbesserungen, alte Leute haben jetzt Fahrräder oder einen Lastwagen, aber die Lage ist immer noch sehr prekär, sehr schwierig für sie.»
Doch die Regierenden Chiles, rechts wie links, vertrauen seit dem Ende der Diktatur der unsichtbaren Hand der Märkte, anstatt die landwirtschaftliche Entwicklung im Interesse der Bevölkerung aktiv mitzugestalten. Barraclough, der nach seinem Wirken in Chile noch viele Jahre weltweit für eine gerechte Agrarpolitik kämpfte, kritisierte dieses neoliberale Dogma bereits 1999 sehr treffend: «Der Beweis steht aus, dass wirksame Landreformen aus einer ‹marktfreundlichen› Politik allein resultieren könnten. Die Übertragung von Landtiteln und die Erleichterung von Immobilientransaktionen zwischen willigen Verkäufern und willigen Käufern verändern nicht die Machtverhältnisse zugunsten der armen Landbevölkerung. In vielen Situationen dürfte eine solche Politik die herrschenden Agrarstrukturen sogar stärken, indem sie Grossgrundbesitzern und Spekulanten zusätzlichen Rechtsschutz bietet, während die Verhandlungsmacht der Armen unverändert bleibt oder geschmälert wird».

Auch heute noch: von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang
Zudem gefährde die heutige Exportorientierung die Ernährungssicherheit der Bevölkerung, warnt der französische Agronom Yves-Roger Marchant, der Ende der 1960er-Jahren ebenfalls einige Jahre in Chile war: «Im Jahr 2008 gab es in etwa 30 Ländern der Welt politische Unruhen, weil plötzlich der Preis für Reis und Weizen innerhalb weniger Monate um 50 oder 100 Prozent nach oben sprang. Länder, die zu sehr von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, können so in eine extrem gefährliche Situation geraten. Also, ja, Ernährungssouveränität ist ein Konzept, das weiterentwickelt werden muss. Und deshalb ist für mich der Import von Trauben oder Äpfeln aus Chile, auch wenn ich Chile sehr mag, ein Irrweg. Es macht einfach in keiner Hinsicht Sinn.»
Wie wichtig eine wirkliche Alternative ist, zeigt ein Blick auf die Arbeitszeiten von Saisonkräften auf den chilenischen Latifundien des 21.Jahrhunderts. Die gehören heute zum Beispiel ehemaligen Ministern wie Gabriel Ruiz-Tagle (Sportminister in den Jahren 2013 und 2014). Vor allem Frauen ernten dort wochenlang für den Mindestlohn Trauben, oft mehr als 16 Stunden am Tag… von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

Quelle und Erstveröffentlichung:
npla.de (Allendes Internationale).
Gekürzte Fassung.

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