Die Tugend der gegenseitigen Hilfe

Mathias Stalder. In der süditalienischen Region Gioia Tauro, geprägt durch die Mafia, besteht die landwirtschaftliche Kooperative «Mani e terra». Es ist ein Ort der konkreten Solidarität mit migrantischen Landarbeiter*innen und Kleinproduzent*innen, eingebettet in die Kampagne SOS Rosarno. Ein Gespräch mit Guiseppe «Peppe» Pugliese, einem Mitgründer der Kooperative.

Covid-19 hat euer Projekt schwer getroffen. Dank der konkreten Solidarität des Berner Konsumvereins Solrosa konnte ein neuer Vertriebskanal in die Schweiz eröffnet werden, erzähl mehr davon?
Der Lockdown im März 2020 hat uns alle überrascht. Für uns bedeutete es einen plötzlichen und totalen Einbruch der Bestellungen. Solrosa waren die Ersten, die uns zu Hilfe kamen und uns auf den Beinen hielten. Unmittelbar danach haben sich glücklicherweise auch in unserem Land Initiativen der Solidarität vervielfacht. Im Vergleich zur vorherigen Saison konnten wir sogar wachsen. Und gleichzeitig konnten wir helfen: Wir erinnern uns gerne an die mehr als fünfzigtausend Kilo Orangen, die an bedürftige Familien gespendet wurden, an streikende Arbeiter*innen von Whirlpool Neapel und andere Initiativen.

Beschreibe uns die Region Gioia Tauro, in der ihr verwurzelt seid.
Die Ebene befindet sich im Süden Kalabriens. Die günstigen klimatischen Bedingungen fördern seit jeher den Anbau von Oliven und Zitrusfrüchte, in jüngerer Zeit auch Kiwis und Avocados. Hier gibt es jahrhundertealte Olivenbäume, zehn bis 15 Meter hoch oder sogar noch höher, die Jahre vor dem Aufkommen der Elektrizität, das Lampenöl lieferten, um viele europäische Städte, bis hin nach St. Petersburg, zu beleuchten. Dieses Gebiet war unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg Schauplatz von Arbeitskämpfen, die zur Eroberung von Tausend Hektaren wilden Waldes führten, der bis dahin im Besitz des Staates war. Unmittelbar nach der Agrarreform zogen einige sizilianische Baumschulgärtner*innen, in die Gegend und lehrten die kalabrischen Bäuerinnen und Bauern, wie man Pflanzen veredelt und Zitrushaine anlegt. Dies führte zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, insbesondere Dank der Früchte Biondo di Calabria und der Clementinen. So wurde es zu einem landwirtschaftlichen Industriezentrum und erhielt den Spitznamen ‹Merichicchia›, also kleines Amerika.

Wie ging es weiter?
Dem Aufschwung folgte eine fortschreitende und scheinbar unaufhaltsame Krise. Deren Ursachen liegen unter anderem in der Transformation der bäuerlichen Landwirtschaft hin zur industriellen. Dazu kommt die gewalttätige Hand der kalabrischen Mafia, der Ndrangheta. Parallel zu ihren Interessen an öffentlichen Bauaufträgen, zum Beispiel den Hafen von Gioia Tauro, der grösste Umschlaghafen im Mittelmeer, haben die Ndrangheta-Familien eine Betrugswelle gegen die Europäische Union losgetreten. Durch die illegal erhaltenen Agrarsubventionen konnten sie über die Jahrzehnte riesige Geldmengen anhäufen und durch ihre einschüchternde Macht den Zitrusfruchtsektor so weit in die Hände bekommen, dass sie ihn fast vollständig kontrollieren. Eine alarmierende Rückkehr des Latifundiums. Die Ausbeutung der eingewanderten Landarbeiter*innen steht dabei nicht ausschliesslich im Kontext der Mafia. Die Verantwortlichen sind stattdessen die grossen Händler*innen und Supermärkte und dem Fehlen von fairen Preisen für die Produzent*innen.

Wie sieht es mit der Lebenswirklichkeit von Migrant*innen aus?
Mit der Krise im Zitrussektor hat sich auch die Herkunft der Arbeitskräfte verändert: Ende der 1980er-Jahre kamen die Maghrebiner*innen, dann die Pol*innen, später andere Osteuropäer*innen. Um die 2000er-Jahren waren die Afrikaner*innen an der Reihe, fast alle aus der westlichen Subsahara. Sie sind im Vergleich zu europäischen Bürger*innen mit grösseren Hindernissen konfrontiert. Sie sind gezwungen, jede Art von Arbeit zu akzeptieren, nur um zu überleben und den Unterhalt für ihre Familien in Afrika zu verdienen. Sie sind das schwächste Glied in der landwirtschaftlichen Kette und bezahlen dafür den höchsten Preis: diskriminierende Einwanderungsgesetze, unzureichende Unterkünfte in Zelt- oder Containerlagern, behelfsmässige Unterbringung in Hütten mitten auf dem Land ohne Wasser, Strom und sanitäre Anlagen. Dies mündete am 7.Januar 2010, nach dem x-ten Angriff auf einige afrikanische Arbeiter*innen, in der Rosarno-Revolte: Ein paar hundert migrantische Arbeiter*innen griffen, ausgehend von den verlassenen Fabriken, in denen sie lebten, bis ins Zentrum des Landes, Menschen an, zerstörten Autos und Schaufenster. Unmittelbar danach kam es zu einer Reaktion aus Rosarno und den Nachbarorten. Einheimische, bewaffnet mit Gewehren, Pistolen und Stöcken, veranstalteten eine regelrechte Jagd auf die Schwarzen. Es waren drei Tage des kollektiven Wahnsinns und die Niederlage des Staates. Dieser löste das Problem nicht, indem er die Gewalt stoppte, sondern dadurch, dass er innerhalb von 36 Stunden 2500 bis 2600 Menschen deportierte – die Anzahl afrikanische Arbeiter*innen, die sich in jenen Tagen in unserer Region aufhielten. Diese Ereignisse stellten den klassischsten aller Kriege zwischen den Armen dar. Die Kinder und Enkel jener, die vor 60 Jahren zuunterst auf der Treppe waren und die Knüppel in die Hand genommen hatten, um Land, Brot und Rechte zu erobern, schlugen auf jene ein, die heute zuunterst sind, statt sich mit ihnen zu solidarisieren. Dies, weil jemand ihnen weisgemacht hat, dass die heutigen migrantischen Arbeiter*innen die Ursache der Schwierigkeiten seien. Diese Ereignisse haben gezeigt, was sich hinter der Orange oder der Clementine verbirgt. Die Analyse dieser Ereignisse liess uns verstehen, wie dringend es war, in das wirtschaftliche Gefüge des Territoriums, in die Mechanismen von Produktion und Arbeit, einzugreifen. Uns wurde klar, dass es neben der Ausbeutung der Arbeiter*innen auch eine extrem schwierige Situation für die Kleinproduzent*innen gibt, die für ihre Produkte nicht kostendeckende Preise erhalten. Wir verstanden die Rolle der Grossabnehmer*innen der Lebensmittel. Es gibt keine Kontrolle der Lieferkette, alles wird dem freien Markt überlassen. Aber ist ein Markt frei, wenn nur einer der Akteur*innen den Preis festlegt? Wie können lokale Produzent*innen mit Ländern wie Marokko konkurrieren, wo legalisierte Arbeitskräfte zwischen fünf und zehn Euro pro Tag kosten? Ganz einfach, sie sparen bei den Menschen, die dringend arbeiten müssen, egal unter welchen Bedingungen.

War dieser Aufstand die Geburtsstunde von SOS Rosarno?
Genau, am 24.Januar 2010 kamen mehrere Dutzend Arbeiter*innen, die nach den Anschlägen aus Rosarno geflohen waren, in Rom an und wurden in den Räumen des besetzten Zentrums EX Snia aufgenommen. Dort begann ein Prozess der Selbstorganisation und der Mobilisierungen, die darauf abzielten, die Rechte dieser Arbeiter*innen einzufordern. Das führte dazu, dass sie ihre ersten Aufenthaltsgenehmigungen erhielten. Bei einem dieser Treffen wurde dank einer Eingebung von Dario Simonetti, einem aussergewöhnlichen Genossen, der ein Jahr später an einer schweren Krankheit starb, die Idee von SOS Rosarno geboren. Darauf folgte die Einbindung kleiner Bio-Produzent*innen und der Start der ersten Vertriebskampagne. Dank der Unterstützung von solidarischen Einkaufsgemeinschaften, Fair-Trade-Läden und vielen besetzten Räumen in ganz Italien führte sie umgehend zu konkreten Fakten: Verträge und Löhne nach dem Gesetz für die Arbeiter*innen, faires Einkommen für die Produzent*innen. Im November 2015 ist eine zweite Blüte der SOS Rosarno-Kampagne aufgegangen: die Genossenschaft «Mani e terra». Diese Kooperative ist der wirtschaftliche Arm der SOS-Rosarno-Kampagne. Sie ermöglicht es unter anderem den Mitgliedern, ihren eigenen Arbeitgeber zu sein und auch in den Monaten nach der Zitrusernte zu arbeiten, weil wir unter anderem auch Gemüse anbauen.

Wie verändert das Projekt die Menschen und die Region?
Es gibt aktuell etwa siebzig Erzeuger*innen mit einer Produktion von einer Million Kilogramm Bio-Clementinen und ebenso vielen Kilogramm Bio-Orangen. Von diesen Produzent*innen schaffen wir es, etwa 25 in das Projekt einzubinden und 15 bis 25 Prozent ihrer Produktion zu übernehmen. Eine weitere tolle Sache ist, dass wir in diesem Jahr neue Produzent*innen ausserhalb unseres ‹engen» Kreises aufnehmen konnten. Erzeuger*innen, die nach jahrelangem Ausverkauf ihres Produkts an die Grosshändler*innen und an die saftverarbeitende Industrie sehen, dass ein anderer Weg möglich ist.

Was können wir von euch lernen, insbesondere in der praktischen Solidarität mit Migrant*innen?
Wir haben Allianzen zwischen Erzeuger*innen, Bauer und Bäuerinnen, Arbeiter*innen und Verbrau-cher*innen gebildet und gefestigt, Land und Stadt zusammengebracht. In einem bestimmten historischen Moment standen einige von uns Seite an Seite mit den Migrant*innen, angesichts einer schändlichen sozialen Ungerechtigkeit. Gemeinsam mit ihnen waren wir von den Ereignissen in Rosarno überwältigt und wir wollten etwas aufbauen. Sich um andere zu kümmern, um Diejenigen, denen es schlechter geht als einem selbst, ob sie nun Migrant*innen sind oder nicht, ist für uns eine natürliche Sache und sollte es für jeden sein. Lebensmittel zu produzieren, ohne die Erde zu vergiften, alle Lebewesen zu respektieren, sowie die Rechte der Arbeiter*innen und der Verbraucher*innen, sollte einfach normal sein. Wenn diese ‹Normalität› zu einer aussergewöhnlichen, ja revolutionären Tatsache wird, bringt uns dies in enorme Schwierigkeiten und macht auch jedem klar, wie abschreckend der Kontext ist, in dem wir agieren.

Die Produkte von SOS Rosarno können ab dem 10.Oktober 2021 unter https://solrosa.org/ bestellt werden. Siehe dazu auch Notiz am Rand.

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