Der palästinensische Kampf in Israel selbst

Reem Hazzan (rechts im Bild) bei einem Protest in Haifa.
Bild: Hadash

Redaktion. Im aktuellen Krieg laufen die Palästinenser:innen, die in Israel selbst leben, Gefahr, vergessen zu werden. Sie erleben derzeit eine Welle der Unterdrückung durch den Staat, dessen Bürger:innen sie sind. Marcel Cartier von «People’s World» führt ein Gespräch mit Reem Hazzan, der Internationalen Sekretärin der Kommunistischen Partei Israels, die bei den arabischen Israelis besonders fest verankert ist. Wir veröffentlichen eine leicht gekürzte Fassung.

Etwa 20 Prozent der Bevölkerung Israels sind Personen, die offiziell als «israelische Araber:innen» bezeichnet werden. Sie identifizieren sich oft selbst als «Palästinenser:innen von 1948». Eine der dominierenden politischen Kräfte für diese Palästinenser:innen war lange Zeit die Kommunistische Partei Israels (CPI). Die Kommunist:innen führen ihre Ursprünge auf die Kommunistische Partei Palästinas zurück, die 1919 gegründet wurde, als jüdische Einwander:innen den Marxismus zum ersten Mal in das neu geschaffene britische Mandatsgebiet brachten. Sie waren lange Zeit die wichtigste Kraft, die sich für die Gleichberechtigung der Palästinenser, die Schaffung einer arabisch-jüdischen Einheit und das Ende der Besetzung der Westbank und des Gazastreifens einsetzte, um die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates zu ermöglichen.

Massive Repression
Seit 1977 sind die Kommunist:innen die grösste Kraft innerhalb der Demokratischen Front für Frieden und Gleichheit (Hadash). Sie haben fünf Sitze im israelischen Parlament, der Knesset, von denen vier von Mitgliedern der CPI besetzt sind. Nach den Angriffen vom 7.Oktober haben die Kommunist:innen und Hadash — sowie die breitere palästinensische Minderheit in Israel — eine Welle der Unterdrückung und Einschüchterung erlitten. Das einzige jüdische Mitglied der CPI in der Knesset, Ofer Cassif, wurde Mitte Oktober für 45 Tage in der Ausübung seines Parlamentsmandats suspendiert, weil er den Krieg gegen Gaza kritisiert hatte. Anfang November wurde das führende CPI-Mitglied und ehemaliger Abgeordneter Mohammad Barakah in Nazareth festgenommen, weil er eine Antikriegsdemonstration angekündigt hatte. Die Begründung für die Festnahme: Die Demonstration könnte zu «Aufhetzung» führen. Als in Israel die ersten Proteste für einen Waffenstillstand und der Austausch von Gefangenen Gestalt annahmen, traf sich «People’s World» mit der Internationalen Sekretärin der CPI Reem Hazzan. Trotz allem zeigte sich Hazzan immer noch optimistisch in Bezug auf eine Zukunft in Frieden und Gleichheit.

Als Kommunisten, als Friedensaktivisten und als diejenigen, die auf arabisch-jüdische Einheit drängen, wie war die Situation nach dem 7.Oktober im Vergleich zu vorher? Wie hat sich die Situation für die palästinensischen Bürger:innen Israels in dieser Zeit entwickelt?
Reem Hazzan: Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, schon vor dem 7.Oktober waren wir als Partei und als Aktivist:innen, die sich im Kampf engagiert haben, nicht in einer guten Position. Ebenso lebten wir als palästinensische Bürger:innen Israels in einer Demokratie, die nur für ihre jüdischen Bürger:innen eine ist. Nehmen wir das Nationalstaatsgesetz von 2018. In diesem Jahr verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das besagte, dass nur Juden und Jüdinnen die vollen Rechte auf das Land und auf alles andere in diesem Staat haben. Das war eigentlich schon vor 2018 faktisch der Fall, aber seitdem ist es gesetzlich verankert. Es wird jetzt klar gesagt, dass die Araber:innen keine gleichberechtigten Bürger sind. Wir können dies sehen, wenn wir über Diskriminierung beim Zugang zu Arbeit, Lohnunterschieden, Budgets für Bildung und Infrastruktur usw. sprechen. Nach dem 7.Oktober kam zu unseren bereits bestehenden Ängsten eine neue Bedrohung hinzu: die Verfolgung durch das Regime. Es ist jetzt die Hetze der extremistischen, rechten jüdischen Gruppen. Menschen werden verhaftet. Sie werden inhaftiert, verhört, von der Arbeit entlassen, von der Universität verwiesen und aus den Schlafsälen ihres Campus geworfen. Es gibt faschistische Phänomene und Aktionen, die unter dem Deckmantel der Verteidigung der nationalen Sicherheit stattfinden. Gleichzeitig sollten wir uns daran erinnern, dass neun Monate lang Hunderttausende gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu und die geplanten Rechtsreformen protestiert hatten. Viele Israelis gingen auf die Strasse und forderten Demokratie. Wir mögen in der Frage, welche Art von Demokratie es sein sollte, unterschiedlicher Meinung sein, aber offensichtlich war, dass die Menschen spüren konnten, dass mit dem Regime etwas nicht stimmte. Das sagten nicht nur die Palästinenser:innen, sondern auch die jüdischen Bürger:innen. Dies gab Anlass zur Hoffnung.

 

Wie hätte die israelische Regierung auf den Angriff der Hamas am 7.Oktober reagieren sollen? Was würden Sie denen entgegnen, die sagen, Israel verteidige sich nur selbst?
Als Partei sagen wir, dass dies nicht am 7.Oktober begonnen hat. Wenn Sie alles aus dem Zusammenhang reissen, hat nichts eine Bedeutung. Wir können nicht sagen, dass die Dinge plötzlich an einem friedlichen Morgen ausbrachen, als ob Gewalt und Unterdrückung nicht seit Jahrzehnten die ständige Realität der Palästinenser:innen gewesen wären. Auch wenn wir nicht bei der Nakba von 1948 und der Besetzung der Westbank beginnen, die seit 1967 Realität ist, ist das Problem klar: Wir haben keinen palästinensischen Staat. Gaza wird seit 16 Jahren belagert. Das Westjordanland wird auf sehr methodische Weise ethnisch gesäubert. Heutzutage schenkt niemand der zunehmenden Gewalt gegen Palästinenser:innen im Westjordanland Beachtung, weil die Augen der Menschen auf Gaza gerichtet sind. Die Siedlergewalt hat zugenommen, unterstützt von den israelischen Streitkräften. Wenn Sie mich fragen, wie Israel hätte reagieren sollen, antworte ich Ihnen, dass jedes friedensuchende Land sich von Anfang an nicht hätte in eine Besatzung verwickeln lassen. Es würde nicht Jahrzehnte dauern, um das Problem zu lösen – oder in diesem Fall müsste man sagen: nicht zu lösen. Eine normale Regierung wäre gar nicht erst in diese Situation gekommen. Ich denke, dass Israel zu diesem Zeitpunkt hätte verstehen müssen, dass eine politische Lösung dringend erforderlich ist. Aber mit einer solchen rechtsextremen Regierung bedeutet dies, dass sich die Wahrnehmungen, die sich am 7.Oktober hätten ändern müssen, nicht geändert haben. Wenn Sie glauben, dass militärische Gewalt Ihr einziger Ausweg ist, dann wird die einzige Lösung immer militärisch sein, heisst; mehr Gewalt und noch mehr Gewalt. Anderseits müssen wir glauben, dass es keine andere Option gibt als eine politische Lösung, insbesondere nach dem Tod von Tausenden in Gaza und nachdem so viele israelische Zivilist:innen ihr Leben verloren haben. Israelische Soldat:innen verlieren jetzt ihr Leben. Immer mehr Mütter weinen um ihre Kinder. Das Blutvergiessen hört nicht auf. Es stimmt, dass es in Gaza vielleicht 20-mal schlimmer ist, aber wenn wir sagen, dass jedes Kind zählt, jede Seele zählt, dann gilt das für alle, unabhängig von ihrer Nationalität oder Rasse. Wir als Kommunist:innen und die Linken sagen das, aber sagen das auch die anderen? Sie tun es nicht. Wenn Sie Kritik an der Politik Israels zeigen, werden Sie automatisch als Terrorist:innen eingestuft. Das bringt uns in einen sehr undemokratischen Raum. Demokratien, denke ich, werden nicht nur daran gemessen, wie sie in Friedenszeiten handeln, sondern vor allem in Kriegszeiten. Das ist es, was gerade über den israelischen Staat aufgedeckt wird, nämlich dass dieser von Anfang an keine echte Demokratie war.

Warum haben wir keine grösseren Kundgebungen zur Unterstützung eines Waffenstillstands gesehen? Zeigt dies, dass sich die Mehrheit der israelischen Gesellschaft auf die Seite des Krieges gegen Gaza stellt?
Von Anfang an veröffentlichte der Polizeichef Kobi Shabtai ein Video, in dem er sagte, dass nirgendwo Proteste erlaubt seien. Jeder, der dagegen verstösst, wird festgenommen, eingeschüchtert und mit einer Geldstrafe belegt. Er drohte, Demonstrant:innen nach Gaza zu schicken! Menschen, die sich dem widersetzt haben, wurden tagelang festgehalten und dann ihre Bankkonten und Kreditkarten gesperrt, um sie davon abzuhalten, wieder auf die Strasse zu gehen. Auch Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir träumt seit zwei Jahren davon, wie bewaffnete Mobs seine Drecksarbeit erledigen könnten. Sie würden sich selbst als «zivile Unterstützungstruppe» für die Polizei bezeichnen. Dieser Krieg gab ihm die perfekte Gelegenheit, dies tatsächlich zu verwirklichen. Jetzt haben Sie über 600 Gruppen bewaffneter Menschen. Ihr Hauptziel ist es, Araber:innen einzuschüchtern. Ein oder zwei Tage nach dem 7.Oktober wurden Menschen wegen Anstiftung in sozialen Medien verhaftet. Die Polizei kam und begann mitten in der Nacht gewaltsam damit, Menschen zu verhaften und sie aus ihren Häusern abzuführen. Ich denke, die palästinensischen Bürger:innen auf der linken Seite haben sehr genau, sehr vorsichtig auf das Geschehene geschaut. Wir wussten sofort, dass jedes Zeichen der Ablehnung des Krieges mit äusserster Gewalt niedergeschlagen werden wird. Es war sehr offensichtlich aus der Antwort, in Bezug auf das, was sie in Gaza zu tun begannen und was sie Siedler:innen im Westjordanland erlaubten. Das Problem ist, dass wir uns jetzt in einer Notsituation befinden, was bedeutet, dass jede Art von Repression als gerechtfertigt angesehen wird. Alles ist legitimiert. Sie zielen auf grosse Namen, darunter ehemalige Mitglieder der Knesset wie unser Genosse Mohammad Barakeh, der in Nazareth verhaftet wurde, weil er eine Antikriegsdemonstration angekündigt hatte. Sie haben auch arabische Richter ins Visier genommen, die sich geweigert haben, die Haft einiger Menschen zu verlängern, weil sie der Meinung sind, dass es keine Grundlage für ihre Festnahme gibt. Das machen die Behörden, aber auch der rechte Mob. Mitte November wurden bei zwei Protesten gegen die Einschränkungen der Meinungsfreiheit meine Kolleg:innen und Genoss:innen zusammengeschlagen. Fünfzehn Personen wurden in Tel Aviv und zwei oder drei weitere in Jerusalem festgenommen. Menschen wurden schwer verletzt. Die einzigen Demonstrationen, die im Allgemeinen erlaubt wurden, sind diejenigen, die die Rückgabe der Geiseln fordern.

 

Haben Sie trotz der repressiven Atmosphäre immer noch ein Gefühl des Optimismus für die Zukunft? Was motiviert Sie weiterzumachen?
Ich denke, weil es keinen anderen Weg gibt. Das mag naiv klingen, aber ich denke, Kommunist:innen sind von Natur aus Optimist:innen, weil man daran glauben muss, dass man etwas verändern kann. Dass man dazu beitragen kann, den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Wir müssen einen Weg finden, der funktioniert, das kann nur geschehen, wenn man sich um Menschenrechte, um Würde kümmert. Wir wollen nicht nur Gleichheit, wir wollen auch Würde, weil die Menschen respektiert werden wollen, unabhängig davon, ob sie Jüd:innen und Juden oder Araber:innen sind. Es gibt wirklich keinen anderen Weg, als zur altmodischen Zweistaatenlösung zurückzukehren. Wir wussten immer, dass dieser Kampf nicht kurzfristig sein würde. Deshalb sind wir nach Jahrzehnten des Kampfes für Frieden, für Würde, für Gerechtigkeit und für eine Art Koexistenz zwischen Palästinenser:innen und Israelis immer noch hier. Nichts wird in Monaten oder gar Jahren erreicht. Was uns auch am Laufen hält, ist zu sehen, dass die Welt dem palästinensischen Volk beisteht, auch wenn ihre Regierungen dies nicht tun. Diese globalen Proteste sorgen dafür, dass sich das palästinensische Volk weniger isoliert fühlt und wir als Linke in Israel uns auch etwas weniger einsam fühlen.

Quelle: People’s World.

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