Auf der Suche nach neuen Horizonten

Andreas Boueke. Längst haben sich weitere Karawanen von MigrantInnen aus den Ländern Honduras, El Salvador und Guatemala auf den Weg Richtung Norden gemacht. Eine Reportage.

Eine schmale Strasse im alten Zentrum von Guatemala Stadt. Rund zweihundert Menschen sitzen auf dem Bürgersteig vor dem «Haus des Migranten». Seit 25 Jahren steht die kirchliche Institution reisenden Menschen bei, die eine Pause und etwas Stärkung brauchen. Die ersten MigrantInnen der Karawane sind schon vor Stunden in die guatemaltekische Hauptstadt gekommen. Für die Nacht haben sie sich auf verschiedene Lagerstätten verteilt. Das klappt gut, obwohl diesmal keine Männer mit Megaphonen Ansagen machen, so wie bei den ersten beiden Karawanen. Die einzelnen Gruppen stehen jetzt über Smartphones in Kontakt mit FreundInnen oder Angehörigen, die dieselbe Strecken schon hinter sich haben. Sie geben Tipps für Reiserouten und Übernachtungsmöglichkeiten.

Das Elend hinter sich lassen
Diesmal sind besonders viele Mütter mit Kindern gekommen. Die 30-jährige Miriam ist vor drei Tagen in San Pedro Sula aufgebrochen, einer Grossstadt im Osten von Honduras. «Manchmal laufen wir, manchmal nimmt uns ein Auto oder ein Lastwagen mit», erzählt sie. «Jetzt warten wir hier vor dem Haus des Migranten auf Einlass für die Nacht.»
Miriams vierjährige Tochter liegt rücklings auf dem Bordstein und starrt in den wolkenlosen Himmel. Die Kleine hat noch nicht verstanden, da bisher erst eine Etappe der sehr langen Reise hinter ihr liegt. «In Honduras gibt es keine Arbeit», klagt ihre Mutter. «Schauen sie, meine Haut ist sonnengebrannt, weil ich so lange durch die Strassen gelaufen bin, auf der Suche nach Arbeit, um meine Familie ernähren zu können. Natürlich macht mir die lange Reise Angst, aber wir haben keine andere Wahl.»
Im Inneren des «Haus des Migranten» bereiten Freiwillige den Moment vor, an dem sie die Türen öffnen werden. Sie säubern Toiletten, entlausen Matratzen und schrubben Fussböden. Die Psychologin Roxana Palma steht bereit, um sich denjenigen MigrantInnen zuzuwenden, die ein therapeutisches Gespräch brauchen. «Die Leute sind es Leid, das Elend in ihren Ländern zu ertragen, das Fehlen an Möglichkeiten, die würdelosen Lebensbedingungen. Sie tun sich zusammen, weil sie nicht genug Geld haben, um einen Schlepper zu bezahlen. Sie haben verstanden, da es weniger gefährlich ist, gemeinsam zu reisen.»

«Das Leben ist Scheisse hier»
In Guatemala schliessen sich weitere Leute der Karawane an, trotz der Unsicherheit, ob sie ihr Ziel erreichen werden. Der Menschenrechtsaktivist Israel Macario, Mitarbeiter des Netzwerks Plataforma Agraria, meint, die meisten MigrantInnen hätten keine Alternative: «Entweder sie geben alles für den Versuch, in die USA zu kommen und von dort Geld nach Hause zu schicken, oder sie bleiben hier, ohne Chance, da sie eines Tages ihre Kinder gesund aufwachsen sehen. Deshalb nehmen sie das Risiko auf sich. Sie sind sich sehr bewusst, da sie durch die Wüste gehen müssen, da sie in die Hände der Drogenkartelle fallen können, da sie womöglich von den Behörden deportiert werden. Und sie wissen, da sie in den USA nicht frei leben können, da sie sehr hart arbeiten müssen. Die Menschen wissen das alles und gehen trotzdem.»
Unterdessen haben sich vor der Tür des Haus des Migranten einige junge Frauen zusammengefunden. Schüchtern klopfen sie an. Sie bitten um Windeln für ihre Kleinkinder und ein wenig Milch. Minuten später reicht eine ältere Freiwillige zwei Pakete Plastikwindeln heraus, einen Topf heisses Wasser und eine Tüte Milchpulver.
Der junge Mann Alberto beobachtet die Szene. Ihm wird klar, dass er die Nacht auf der Strasse schlafen wird. Familien mit Kindern werden zuerst reingelassen. Danach wird für ihn kein Platz mehr sein. Alberto kennt das Leben in den USA. Er ist dort aufgewachsen, bevor ihn die Migrationsbehörde im letzten Sommer nach Guatemala deportiert hat, in das Land, in dem er zur Welt gekommen ist. «Ich gehe zurück nach Norden, weil ich in Guatemala nicht arbeiten kann», sagt er. «Statt Arbeit gibt es hier gefährliche Banden. Selbst die Polizei will dein bisschen Geld haben. Das Leben hier ist Scheisse. Das ist kein Leben. Ich will nur arbeiten. 23 Jahre lang war ich in den USA, bevor sie mich deportiert haben. Mein Leben ist dort, nicht hier.»
Alberto hat in Texas gelebt. Er weiss, wie man dort Arbeit findet. Er wird es schaffen, sich ein neues Leben aufzubauen, da ist er sich sicher: «Dort im Norden, wenn man arbeiten will, dann sagt dir jemand: ‹Du willst arbeiten? Na dann komm! › Da gibt es nicht diesen ganzen Kram mit Dokumenten und Nachweisen, so wie hier in Guatemala. Ausserdem verdienst Du hier in der Landwirtschaft nur 800 Quetzales für zwei Wochen Arbeit. Das ist ein Monatslohn von 200 Euro. Das reicht nicht für Essen, Strom, Wasser, all das.»

Berichte, die Hoffnung machen
Neben Alberto sitzt sein Cousin Jaime. Der kennt die USA nur aus Erzählungen und Hollywoodfilmen. Im Radio hat er gehört, dass es sehr schwer sein wird, ins Land zu kommen, solange Donald Trump Präsident ist. «Wie lange wird Donald Trump noch an der Macht sein? Zwei Jahre. Dann muss ich wohl zwei Jahre lang in Mexiko bleiben, bevor ich rüber komme. Aber wie machen das all die anderen Leute, die es rein schaffen?»
Das ist die grösste Sorge der meisten MigrantInnen: Werden sie es schaffen, die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überqueren? Die guatemaltekische Journalistin Michelle Mendoza berichtet seit der ersten Karawane für den Sender CNN: «Ich denke, zumindest einige Familien werden es schaffen. Ich weiss von Familien aus den ersten beiden Karawanen, die aus Chicago, New York, Los Angeles angerufen haben. Sie sagen: ‹Wir sind drin. Wir sind glücklich. Wir müssen uns verstecken, aber wir sind drin.›»
Solche Berichte machen dem Salvadorianer Edgar Hurtado Hoffnung. Am Tag vor der Abreise hat er seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Viele seiner Jugendfreunde waren nicht dabei, weil sie sich schon längst nach Norden aufgemacht haben. Er ist in El Salvador geblieben, weil er dort ein ordentliches Auskommen hatte, einen kleinen Laden. Doch seitdem Mitglieder einer Jugendbande fast wöchentlich Schutzgelder von ihm erpressen, reicht sein Verdienst nicht mehr zum Überleben. «Früher sind die Leute allein losgezogen. So geht das jedes Jahr. Sie gehen in vielen kleinen Gruppen. Jetzt sind die Gruppen grösser. Aber eigentlich ist es wie immer. Seit es Menschen gibt, migrieren sie in andere Länder, auf der Suche nach neuen Horizonten.»

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