«Wir sind alle in der Pflicht»

Redaktion. Ende März reichte die Fraktion der Partei der Arbeit und der Alternative Linke eine Motion ein, welche die Stadtberner Regierung zum «Widerstand gegen die unmenschliche Asylpolitik von Bund und Kanton» verpflichten wollte. Wir veröffentlichen sie aus Platzgründen in gekürzter Form. Wieso erst jetzt? Weil nun die Antwort der Regierung bekannt wurde.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat in der Schweiz zu einer Welle der Solidarität geführt. Alle scheinen an einem Strick zu ziehen, um die Menschen aus der Ukraine, die hier bei uns Schutz suchen, unterzubringen, sie so gut es geht an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Mit dem Schutzstatus S können diese direkt ab der Ankunft bei Gastfamilien wohnen, in der Kantonszuteilung zeigt sich das Staatssekretariat für Migration (SEM) plötzlich auch sehr flexibel. Und das ist gut so, das ist menschlich, richtig und müsste für alle gelten.

Weder nachvollziehbar noch gerechtfertigt
Dem ist jedoch leider nicht so. Die Situation für viele geflüchtete Menschen in der Schweiz ist untragbar. Sie kommen in die Schweiz, in der Hoffnung, vor Krieg, Folter, Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung geschützt zu werden. Leider wird den wenigsten dieser Menschen so menschlich begegnet, wie dies bei den Geflüchteten aus der Ukraine der Fall ist. Die private Unterbringung von Geflüchteten ab ihrer Ankunft in der Schweiz ist praktisch unmöglich und wird von den Bundesbehörden auch nicht gefördert. Für Menschen, die in der Schweiz im «regulären Asylverfahren» stehen, wird bei der Kantonszuteilung zudem nur die Kernfamilie berücksichtigt. Damit sind Ehepartner*innen und deren minderjährigen Kindern gemeint. Geschwister, Tanten, Onkel, Bekannte oder Freund*innen werden nicht berücksichtigt, wenn es darum geht, diese Geflüchteten in den Kantonen unterzubringen. (…)
Das sind nur einige Beispiele, um zu zeigen, wie der Umgang zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und solchen aus anderen Regionen der Welt sich unterscheidet. Diese eklatante Ungleichbehandlung ist weder nachvollziehbar noch gerechtfertigt. Die neuen Möglichkeiten, die sich nun plötzlich ergeben haben, die vom Staatssekretariat für Migration (SEM) neu gefundene Flexibilität darf nicht den Ukrainer*innen vorbehalten sein. (…)

An den Rand getrieben
Denn die Realität sieht in der Schweiz für die meisten Geflüchteten anders aus. Der Kanton Bern nimmt dabei eine besonders unrühmliche Stellung ein. So sieht die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) in den Rückkehrzentren des Kantons die UNO-Kinderrechtskonvention verletzt: «Die Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche in den RZB Aarwangen und RZB Biel-Bözingen sind nicht vereinbar mit den in Art. 27 und Art. 31 der UNO-Kinderrechtskonvention verankerten Rechten auf angemessene Lebensbedingungen, auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemässe aktive Erholung.»
Weiter wird auch die Nothilfe von acht Franken pro Tag für eine Einzelperson als zu tief kritisiert. Mit acht Franken pro Tag sollen Menschen in den Rückkehrzentren die Bedürfnisse des täglichen Lebens abdecken: Nahrung, Kleidung, Hygiene, Handy und auch den öffentlichen Verkehr bezahlen, den sie, aufgrund der Strecken, die die Menschen zurücklegen müssen, um in eine Stadt zu gelangen, Freunde zu treffen oder eine Rechtsberatungsstelle zu besuchen, nicht ansatzweise bezahlen können.
Gleichzeitig werden viele Menschen, auch im Kanton Bern und auch hier in der Stadt Bern, illegalisiert und so an den Rand der Gesellschaft, in die Unsichtbarkeit getrieben. Für Menschen ohne Papiere werden für uns alltägliche Handlungen verunmöglicht, die Teilhabe an der Gesellschaft so verwehrt. Ein Handyabo lösen, eine Geburtsurkunde beantragen, einen Kitaplatz finden, sich gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz wehren oder etwa einen Diebstahl melden: All das ist für solche Menschen mit enormen Hürden verbunden, wenn es überhaupt möglich ist. Medizinische Unterversorgung, verunmöglichte Teilhabe, Rayonverbote, Beschäftigungsverbote und ein Leben in extremer Armut sind Verhältnisse, die kein Mensch ertragen müssen sollte. (…)

Um ein Vielfaches erschwert
Auch mit einem F-Ausweis ist das Leben in der Schweiz prekär. Die vorläufig aufgenommenen Geflüchteten müssen sehr schnell sozialhilfeunabhängig sein. Der F-Ausweis ist eine Anwesenheitsregelung und wird so der Realität nicht gerecht, da fast die Hälfte der vorläufig Aufgenommenen bereits über sieben Jahre in der Schweiz leben. Immer mit dem Wissen und der Angst, dass ihnen dieser Titel jederzeit entzogen werden könnte. Auch die Mobilität für Menschen mit F-Ausweis ist enorm eingeschränkt. Grundsätzlich müssen sie im vom Staatssekretariat für Migration zugewiesenen Kanton bleiben, auch wenn sie etwa Geschwister in anderen Kantonen haben. Das Recht auf Familie wird also nur beschränkt gewährt.
Arbeiten ist für Menschen mit einem F-Ausweis zwar grundsätzlich erlaubt, faktisch jedoch mit enormen Hürden verbunden: Arbeitgeber*innen müssen ein Gesuch stellen, um solche Menschen bei ihnen arbeiten zu lassen, zudem hält der vermeintlich nur vorläufige Aufenthalt potenzielle Arbeitgeber davor ab, vorläufig aufgenommene Menschen einzustellen. Die Arbeitsmarktintegration wird ihnen so um ein Vielfaches erschwert. So auch der Familiennachzug, denn wer seine*n Ehepartner*in oder die Kinder im Kriegsland zurücklassen musste, muss Sozialhilfe unabhängig sein, mindestens seit drei Jahren vorläufig aufgenommen sein und eine bedarfsgerechte Wohnung haben. (…) Auch das Reisen in andere Länder ist für Menschen mit einem F-Ausweis sehr schwierig, wenn nicht unmöglich. Kriegs- und Gewaltvertriebene, was Menschen mit F-Ausweis alle sind, erhalten nur in der Schweiz und in Liechtenstein keinen Schutzstatus. (…)

Klare Forderungen
Wir sind alle in der Pflicht, jetzt Verantwortung zu übernehmen! Wir als Mitglieder des Stadtrates wie auch der Gemeinderat. Unsere Aufgabe ist es, öffentlich Stellung zu nehmen, mehr dafür zu machen, dass diese Menschen, die durch unsere Politik an den Rand der Gesellschaft getrieben werden, nicht vergessen gehen. (…)
Deshalb fordern wir den Gemeinderat dazu auf:
1. Der Gemeinderat bezieht selbst Position und umgeht Vorgaben auf kantonaler- und Bundesebene, um den Geflüchteten Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
2. Der Gemeinderat arbeitet eine Strategie aus, die es den Menschen aus dem Bundesasylzentrum in Bern, die in Nothilfe rutschen, ermöglicht, in Wohnungen – private und städtische – in der Gemeinde Bern unterzukommen. Damit soll verhindert werden, dass geflüchtete Menschen in den unmenschlichen Rückkehrzentren leben müssen. Familien mit Kindern und unbegleitete Minderjährige haben dabei Vorrang.
3. Der Gemeinderat Bern widersetzt sich dem Nothilfesystem, welches die Menschen in die Armut treibt und zahlt allen betroffenen Menschen in der Gemeinde Bern Sozialhilfe aus.
4. Der Gemeinderat ermöglicht es allen geflüchteten Menschen in Bern zu arbeiten, wie dies mit dem Schutzstatus S beispielsweise für alle Ukrainer*innen auch der Fall ist und unterstützt diese bei der Arbeitsmarktintegration.
5. Der Gemeinderat unterstützt alle geflüchteten Menschen beim zusammenführen ihrer Familien aus anderen Kantonen oder aus anderen Ländern.

Bern, 31.März 2022. Erstunterzeichnende: Matteo Micieli, Eva Chen
Mitunterzeichnende: Tabea Rai

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