Von der Schlägerei zum Atomschlag?

Matin Baraki. Seit Anfang Mai lassen China und Indien zusätzliche Truppen entlang der gemeinsamen Grenze aufmarschieren. Von der Weltöffentlichkeit wegen der Corona-Pandemie unbemerkt, entwickelt sich eine gefährliche Hochspannung am Himalaja zwischen den beiden Atommächten VR China und der Republik Indien.

Das Grenzgebiet liegt in 4000 Metern Höhe in Ladakh, das Indien als Teil Kaschmirs ansieht. China besetzte östlich von Ladakh das indische Gebiet und benannte es einfach in «Aksai Chin» um. Der Grenzverlauf, ein Erbe der britischen Kolonialmacht, ist nicht nur hier, sondern an vielen Punkten im Himalaja umstritten. Der von beiden Seiten nolens volens tolerierte Verlauf der Grenze wird als die «Line of Actual Control» (LAC) bezeichnet.

Von einer Massenprügelei…
Indien und China haben sich immer wieder gegenseitig vorgeworfen, die jeweils andere Seite durch unzulässige Patrouillen und Übertritte der Grenzlinie zu provozieren. Am 5.Mai gab es am Ufer des Sees Pangong in Ladakh ein Gerangel zwischen chinesischen und indischen Grenzsoldaten, bei dem diese sich mit blossen Fäusten gegenseitig traktierten. Am 25.Mai verschärften sich die Spannungen zwischen beiden Ländern. Es kam zu einer schweren Prügelei, bei der bis zu 250 Soldat*innen verletzt wurden.
Nach indischen Angaben sollen chinesische Truppen im Galwan-Tal bis zu drei Kilometer auf indisches Territorium vorgerückt sein. India Today berichtete am 27.Mai über eine Verlegung von 5000 Soldat*innen der Volksbefreiungsarmee nach Ladakh. Indien werde entsprechend drauf reagieren, wenn China die Zahl seiner Truppen erhöhe. Nach Angaben der Presseagentur Reuters bauen beide Seiten Verteidigungsanlagen auf. Die chinesische Regierung lässt auch weiteres Material in die Region transportieren. Dies wird als ein Hinweis darauf gedeutet, dass sich die Regierung in Peking auf einen längeren Konflikt mit Indien eingestellt zu haben scheint.
Die chinesische staatliche Global Times veröffentlichte hingegen einen Bericht, in dem von mehreren «illegalen Verteidigungsanlagen», die Indien errichtet habe und die in chinesisches Territorium reichten, die Rede ist. Die Verteidigungstruppen hätten damit keine andere Option gehabt, als mit Truppenbewegungen zu reagieren. Indien trage die volle Verantwortung für das Risiko einer Eskalation.

… zum bewaffneten Konflikt
Politische Beobachter*innen vor Ort sprachen von einer «noch nie da gewesenen Situation». Sie warnten vor einer weiteren Verschärfung des Konflikts, die mit dem Tod von 20 indischen Soldaten im Juni an der indisch-chinesischen Grenze eingetreten zu sein scheint. Den indischen Angaben zufolge gab es auch auf chinesischer Seite Opfer. Die Regierung in Peking bestätigte dies nicht, doch twitterte der Chefredakteur der chinesischen Global Times, dass auch Chines*innen umgekommen seien. Brahma Chellaney, Experte für strategische Studien am Centre for Policy Research in Delhi, sprach im indischen Fernsehen von einem Wendepunkt der Beziehungen. «Nach diesem Vorfall wird Chinas Verhältnis zu Indien nie mehr so sein wie vorher», sagte er. Das klang düster, denn schon jetzt herrscht in der Tat grosses gegenseitiges Misstrauen.
Am 26.Mai berief Indiens Premier Modi eine Krisensitzung der Generäle und seinen Sicherheitsberater Ajit Doval ein, auf der «Indiens militärische Bereitschaft» das Hauptthema war. Die Nachrichtenagentur PTI stellt fest: «Chinas Strategie, militärischen Druck auf Indien auszuüben, wird nicht funktionieren.»
Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping reagierte umgehend. Sein Land werde die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf erhöhen. Kurz vor Xis Äusserung hatte der Sprecher des chinesischen Aussenministeriums hervorgehoben, dass China eine «konsistente und klare Haltung» im Grenzkonflikt mit Indien vertrete und es die Pflicht der chinesischen Volksbefreiungsarmee sei, Chinas Territorium und seine nationale Souveränität verteidigen zu wollen. Jetzt wird der Ton rauer. Die chinesische staatliche Global Times berichtete von mehreren «illegalen Verteidigungsanlagen» der indischen Seite, von wo aus chinesisches Territorium erreicht werden könne. Daraufhin habe die VR China mit Truppenbewegungen begonnen. Für eine mögliche Eskalation trage die indische Republik die alleinige Verantwortung. Am 26.Mai kündigte die Regierung in Peking an, sie werde Anfang Juni mit der Evakuierung der chinesischen Staatsbürger*innen, darunter Studierende, Tourist*innen und Geschäftsleute aus Indien beginnen.

Doppelter Druck auf Indien
Indische Militäranalysten wiesen bereits Mitte Mai auf die Frage des Timings hin. Der pensionierte indische General Ajay sprach von «aggressiv anmutenden Manövern» des chinesischen Militärs am Himalaja, die an das Verhalten der chinesischen Flotte im südchinesischen Meer erinnere. Die Zeitung Financial Express berief sich auf den indischen Sicherheitsexperten Ajey Lele mit den Worten: «Warum geschieht dies jetzt, inmitten der Covid-19-Krise?» Lele hält es für möglich, dass China die Entschlossenheit des indischen Militärs austesten wolle, jetzt, da die Regierung in Delhi so sehr mit dem Corona-Virus beschäftigt sei. Auch der ehemalige indische Diplomat Phunchok Stobdan warnte im Indian Express davor, dass China die indischen Streitkräfte weiter nach Westen zurückdrängen wolle, um auf diese Weise näher an den strategisch wichtigen Siachen-Gletscher heranzurücken, auf dem sich indische und pakistanische Truppen gegenüberstehen. Pakistan und die VR China sind militärische und strategische Verbündete und versuchen doppelten Druck auf Indien auszuüben.
Die Regierung in Peking wiederum hatte zuvor Kritik am Bau einer indischen Strasse nahe des Sees geübt und seinerseits die Zahl der Patrouillenboote auf dem Gletschersee verdreifacht. In Rahmen dieser Projekte sollen bis Ende 2020 immerhin 66 neue Strassen entlang der Grenze gebaut werden, als eine Antwort Indiens auf Chinas zahlreiche Infrastrukturprojekte bezüglich seiner Initiative Neue Seidenstrasse. Die VR China weitet seit Jahren ihren Einfluss in der Region Südasien und Südostasien aus. Unter anderem auch in Gebieten, die Indien lange als seine strategische Interessensphäre betrachtet. In diesen abgelegenen Gebieten werden Indien und die VR China durch die 3488 Kilometer lange LAC getrennt.

Wie weiter?
Da sowohl die chinesische als auch die indische Regierung in den letzten Jahren die nationalistische Karte zu innenpolitischen Zwecken genutzt haben, können sie sich jetzt schwer ohne Gesichtsverlust und Anzeichen der Schwäche von der selbst gestellten Falle befreien. Die Aussenminister beider Atommächte wollen jedoch eine sofortige «Abkühlung» des Konflikts an der Grenze der beiden Länder. Beide Seiten sprachen in einer Telefonkonferenz miteinander. Sie einigten sich, mit den Ereignissen im Galwan-Tal «fair umzugehen» und eine Lösung des Konflikts anzustreben.
Bleibt zu erwähnen, dass die US-Administration seit Jahren versucht, Indien als strategischen Partner gegen die VR China zu gewinnen und das Land gegen China zu instrumentalisieren. Schon US-Präsident Bill Clinton hat nicht den engsten und langjährigen US-Verbündeten, die Atommacht Pakistan, sondern Indien als alleinige Atommacht in Südasien anerkannt. Die Regierung in Peking warnt jene in Neu-Delhi, sich im China-USA-Streit in Taiwan und im Hongkong-Streit von der Trump-Administration instrumentalisieren zulassen. Ist zu hoffen, dass die politische und militärische Elite Indiens selbstbewusst und klug genug ist, um von den USA nicht zum blossen Gehilfen degradiert zu werden.

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