Ruhmreiche Tage des grossen Streiks

Marino Bodenmann. Vom 12. bis 14. November 1918 fand der Landesgeneralstreik statt. Dieser Streik war der grösste und bedeutungsvollste Kampf seit dem Bestehen einer organisierten ArbeiterInnenbewegung in der Schweiz. Während dem Streik fehlte es der ArbeiterInnenklasse jedoch an einer ihr ergebenen und kampfentschlossenen Führung.

Der Landesgeneralstreik wuchs aus einer Stimmung der Unzufriedenheit, die die gesamte Arbeiterschaft erfasste. Diese Unzufriedenheit hatte ihre Hauptursache in den ständig sich verschlechternden Lebensbedingungen des werktätigen Volkes. Die Teuerung stieg am laufenden Band, von Juli 1914 bis im Sommer 1918 um mehr als das Doppelte, während der Bundesrat den Schwarzmarkt gewähren liess. Der Reallohn sank immer tiefer. Für Familien mit kleinem Einkommen waren selbst Kartoffeln kaum mehr erschwinglich. Auch die Mietpreise gingen ungehindert in die Höhe. Während grosse Teile des Volkes in eine immer schwierigere Lage gerieten, führten die KriegsgewinnlerInnen und SpekulantInnen ein Prasserleben.
Dem Generalstreik gingen eine grosse Zahl von Kampfaktionen voraus. Teuerungsdemonstrationen, halbtägige Generalstreiks mit grossen Kundgebungen in den wichtigsten Städten, Streiks in Zürich, im Tessin, in Genf, in Chippis (VS) und vielen anderen Orten fanden Zustimmung und Sympathie im ganzen Lande. Die Zürcher Frauen marschierten unter der Führung der Genossin Rosa Bloch in einer mächtigen Demonstration vor das Rathaus. Zürich war überhaupt das Zentrum der kämpferischen Bewegung. Streiks der KellnerInnen, der Bankangestellten, Protestkundgebungen mit 15 000 bis 20 000 TeilnehmerInnen, Demonstrationen, Aufrichtung von Barrikaden, Zusammenstösse mit der Polizei, der Sturm auf die Munitionsfabriken signalisierten die Stimmung, wie sie sich in der Zürcher Arbeiterschaft entwickelt hatte.
Der Bundesrat, unfähig, die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu erschwinglichen Preisen zu versorgen und die legalen Belange des Volkes zu schützen, antwortete mit Zeitungsverboten, Einschränkung der Versammlungsfreiheit, Verhaftungen und Militäraufgebot. Diese und andere provokatorische Massnahmen waren nicht geeignet, Beruhigung in die Reihen der ArbeiterInnenklasse zu tragen.

Der Arbeiterkongress in Basel
Die Empörung steigerte sich, und mit ihr der Kampfwille der ArbeiterInnen. Das Oltener Aktionskomitee, bestehend aus den führenden Leuten der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und der Gewerkschaften, wurde gebildet. Es stellte eine Reihe von Forderungen und Begehren an den Bundesrat, die dieser ausweichend oder ablehnend beantwortete. Am Allgemeinen Arbeiterkongress in Basel vom 27. und 28. Juli 1918 manifestierte sich der Wille zum einheitlichen Handeln. Der Kongress betrachtete die Antwort des Bundesrats auf die an ihn gerichteten Eingaben als völlig unbefriedigend, ja, als Herausforderung. An diesem Kongress sprachen 30 RednerInnen für die sofortige Auslösung des Generalstreiks. Die Leitung (Robert Grimm, Konrad Ilg) manövrierte und vertrat den Standpunkt, man solle mit dem Bundesrat weiter verhandeln, allerdings mit der Zusicherung an den Kongress, wenn der Bundesrat die Forderungen nicht bewilligte, sei der unbefristete Generalstreik auszulösen. Für diesen Fall wurde die Leitung und Durchführung des Streiks dem Oltener Aktionskomitee übertragen. Das Aktionskomitee setzte den Antrag durch, der besagte, es sei mit dem Bundesrat nochmals in Verhandlungen zu treten, doch heisst es in dem Beschluss des Kongresses: «Für den Fall, dass der Bundesrat nicht unverzüglich genügende Zugeständnisse macht, beschliesst der Kongress die Verhängung des allgemeinen Landesstreiks.»
Es wurde ein Forderungsprogramm aufgestellt. Schon am 1. März hatte Robert Grimm Vorschläge für die Durchführung der Streikaktion unterbreitet. Diese lauteten in ihren wichtigsten Teilen: «Zweck des allgemeinen Landesstreiks ist, durch die Stilllegung der Betriebe und die Desorganisation des wirtschaftlichen Lebens die Behörden zur Annahme der Arbeiterforderungen zu zwingen (…). Im Falle der Mobilisation oder des militärischen Generalmarsches sollen sich die Wehrmänner dem Einrückungsbefehl nicht widersetzen, dagegen sind sie aufzufordern, den Gehorsam zu verweigern, wenn sie zum Ausrücken oder zu Gewaltmassnahmen gegen die Streikenden beordert werden (…). Dieser Streik unterscheidet sich von den befristeten Streiks durch die Unbestimmtheit seiner Dauer und der daraus hervorgehenden Folgen. Von Sieg und Niederlage begleitet, keineswegs nur eine einmalige Aktion, die mit der Niederlage endigt, mit dem Sieg überflüssig wird, richtet sich die Streikparole in ihrer letzten Konsequenz gegen den Bestand des bürgerlich-kapitalistischen Staates überhaupt. Der Sturz der bürgerlichen Herrschaft ist das Ziel.» Das reaktionäre Bürgertum, seine Presse sowohl als auch des Bundesrat bezeichneten die Vorschläge Grimms als «Bürgerkriegs-Memorial». Sie nannten die Grimmsche Plattform, die erst nach der Beendigung des Streiks bekannt wurde, ein historisches Dokument der RevolutionsmacherInnen.
Der Bundesrat machte nur Scheinkonzessionen. Das Aktionskomitee schwankte; es kam zu keinem eindeutigen Entscheid. Kundgebungen, Demonstrationen und Streiks wurden immer zahlreicher. In mehreren Fällen ist das Militär aufgeboten worden. Mit der Polizei kam es oft zu Zusammenstössen.

Zürich von Truppen besetzt
Es folgten die Novembererreignisse in Zürich, die für die Arbeiterschaft des ganzen Landes alarmierend wirkten und die die Auslösung des Landesgeneralstreiks unvermeidlich machten. Am 6. November 1918 liess General Wille die Stadt Zürich mit Truppen besetzen. Diese Herausforderung erfolgte mit der Begründung, dass die Zürcher ArbeiterInnen Vorbereitungen getroffen hätten, das Zeughaus zu besetzen und auszurauben, die kantonale Regierung zu verhaften, die Revolution durchzuführen und die helvetische Sowjetrepublik auszurufen.
In der Nacht vom 6. auf den 7. November wurden die Grossbanken in Zürich von den Truppen besetzt. Der Zürcher Regierungsrat verlegte sein Hauptquartier in die Militärkaserne. Genosse Jakob Herzog wurde in Haft gesetzt. Am gleichen Tag, an dem Zürich von Truppen besetzt wurde, beschloss das Aktionskomitee, am 9. November einen 24-stündigen Proteststreik durchzuführen, der auf zwanzig Städte beschränkt bleiben sollte. Die schwankenden Haltung der Führung äusserte sich in einer ersten Abstimmung, bei welcher der Streik abgelehnt wurde. Erst als die Minderheit erklärte, sie werde den Kampf dennoch auslösen, fand sich in einer zweiten Abstimmung eine Streikmehrheit. Am 8. November beschloss der Bundesrat, die diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion abzubrechen, und die Angehörigen der Gesandtschaft wurden auf Autos verladen und an die Grenze gestellt. Am 10. November, es war Sonntag, ist in Zürich in aller Frühe ein Flugblatt verteilt worden mit der Parole: «Der Streik geht unbestimmte Zeit weiter.» In diesem Aufruf an die Arbeiterschaft waren folgende Forderungen enthalten: «Befreiung der Stadt von dem Truppenaufgebot; Wiedereinführung der Versammlungsfreiheit; Abwendung der Massregelungen; Freilassung der politischen Gefangenen; Anerkennung der Sowjetgesandschaft.»

Die Parole des Landesstreiks
Am Nachmittag des 10. Novembers fand auf dem Fraumünsterplatz in Zürich eine vom Bundesrat verbotene Protestkundgebungen statt, an der gegen 20 000 Personen teilnahmen. Das Militär ging in brutaler Weise gegen die VersammlungsteilnehmerInnen vor. Endlich, am folgenden Tag, gab das Oltener Aktionskomitee die Ausrufung des Landesgeneralstreiks bekannt. Sein Beginn wurde auf den 11./12. November, nachts um zwölf Uhr, festgelegt. Der Aufruf enthielt die bekannten neun Forderungen, einen Appell an die gesamte Arbeiterschaft und zugleich eine Aufforderung an die Soldaten, in der gesagt wurde: «Ihr werdet nicht zu Henkern der eigenen Angehörigen und Volksgenossen werden. Zur Vermeidung blutiger Konflikte fordern wir euch auf, in allen mobilisierten Einheiten Soldatenräte zu bilden.»
Der Aufruf zum Landesgeneralstreik fand bei der Arbeiterschaft in der ganzen Schweiz herum begeisterte Zustimmung. Es war die erlösende Parole, auf welche die Massen gewartet hatten. Sie ist in glänzender Weise befolgt worden. Gegen 400 000 ArbeiterInnen und Angestellte nahmen am Streik teil. Diese Zahl besagt, dass auch ein Grossteil der gewerkschaftlich nicht organisierten ArbeiterInnen sich am Kampf beteiligt hatte. Der Streik wurde mit grosser Disziplin durchgeführt. Zu Zwischenfällen kam es nur dort, wo die Polizei oder das Militär provozierend eingegriffen hatten. Die prachtvolle Kampfbewegung war von einer gehobenen Stimmung getragen.

Dann kam der Verrat
Ohne Abbröckelung dauerte der Landesgeneralstreik vom 12. bis 14. November über. Schon in der Nacht vom 13. November beschloss das Oltener Aktionskomitee in seiner Mehrheit, den Streik für den 15. November für beendigt zu erklären. Warum dieser Rückenschuss gegen die kämpfende Arbeiterschaft? Dem Bundesrat war die schwankende und unentschlossene Haltung der Mehrheit der Streikführung nicht verborgen geblieben. Er stellte den starken Mann heraus und machte keinerlei Konzessionen. Im Gegenteil! Er drohte mit noch massiveren Truppenaufgeboten, mit der Militarisierung der streikenden Bundesbediensteten und mit der Verhaftung des gesamten Aktionskomitees. Diese Drohungen veranlassten das Aktionskomitee, welches nur widerwillig zu den Kampfmitteln gegriffen hatte, zur bedingungslosen Kapitulation. Die Nachricht vom bedingungslosen Streikabbruch wurde von der Arbeiterschaft vielerorts zunächst als eine Provokation und Falle ihrer GegnerInnen angesehen. Als die Echtheit des Beschlusses feststand, durchlief die Arbeiterschaft eine nie dagewesene Enttäuschung und Erbitterung gegen eine Führung, die versagt hatte. An einzelnen Orten wurde der Streik am 15. November noch fortgesetzt. Weit gespannte Hoffnungen der ArbeiterInnen gingen nicht in Erfüllung, eine ausgezeichnete Kampfstimmung wurde gebrochen.

Der Kampf war nicht nutzlos
Wenn auch die herrschende Klasse und ihr Bundesrat im Moment des Streiks zu keinen Konzessionen bereit waren, so hat dieser Kampf dennoch Früchte getragen. Schon die Tatsache, dass es gelungen ist, die Arbeiterschaft, von der ein grosser Teil weder politisch noch gewerkschaftlich organisiert war, einheitlich in diese grosse Aktion einzugliedern, war ein einmaliger Erfolg. Einige Forderungen des Generalstreiks sind nachträglich realisiert worden, so vor allem der Achtstundentag. Die Bourgeoisie hat aus diesem Kampf allerhand Lehren gezogen. Die Verdienstausfallentschädigung während des zweiten Weltkriegs, der MieterInnenschutz, die Preiskontrolle, die rechtzeitige Rationierung der Lebensmittel, eine andere Behandlung der Wehrmänner usw. sind Schlussfolgerungen, die die KlassengegnerInnen aus den Kämpfen der Arbeiterschaft während und nach dem ersten Weltkrieg gezogen haben.
In den ruhmreichen Tagen des grossen Streiks fehlte es der ArbeiterInnenklasse an einer ihr ergebenen und kampfentschlossenen Führung. Bei standhafter Leitung hätten die aufgestellten Forderungen, die keinen umwälzenden Charakter trugen, durchgesetzt werden können. Das Schweizer Volk hätte nicht dreissig Jahre auf die AHV, vierzig Jahre auf die Invalidenversicherung und noch länger auf die Gleichberechtigung der Frauen und eine gerechte Steuerpolitik zu warten brauchen. Hier liegt eine entscheidende Lehre für die schweizerischer Arbeiterschaft.

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