Mit Gerichten gegen das Volk 

Der Mindestlohn wurde mit einer beeindruckenden Mehrheit in Zürich und Winterthur angenommen. Bild: GBKZ

flo. In ihrer Deutlichkeit waren die Abstimmungen zur Einführung kommunaler Mindestlöhne in Zürich wie Winterthur überraschend. Für die Wirtschaftsverbände waren die Ergebnisse wohl gar so überraschend, dass sie kaum konfuser reagieren könnten.

Nachdem am Nachmittag des 18.Juni 2023 selbst der eher konservative Wahlkreis Seen in Winterthur mit mehr als 56 Prozent Ja gesagt hatte zur Einführung eines Mindestlohns von 23 Franken pro Stunde in der Eulachstadt, war die Sache beim Abstimmungsfest der Gewerkschaften und linken Parteien im Coopi beim Winterthurer Hauptbahnhof klar: Jetzt würde nichts mehr ein wuchtiges Volks-Ja von fast zwei Dritteln der Bevölkerung aufhalten.
Am Schluss schienen sich die meisten Anwesenden vor allen Dingen noch dafür zu interessieren, ob man in den Zürcher Kreisen 4 und 5 die 80-Prozent-Marke knacken würde. Ganz 80 wurden es dann nicht, doch auch in Zürich war klar: Das Volk will den Mindestlohn. Und zwar mit überdeutlichen 69,4 Prozent noch klarer als in Winterthur – obwohl der Stadtzürcher Mindestlohn mit 23.90 Franken noch höher ist als in Winterthur.
Jetzt müssten die Städte eigentlich «ad Säck», Gesetze formulieren, Kontrollinstanzen schaffen, Schlupflöcher stopfen und so weiter. Konkret: den Volksentscheid umsetzen! Stattdessen wird man sich aber mit den prozessierenden Wirtschaftsverbänden beschäftigen müssen. Diese scheinen nicht nur vom Ergebnis überrascht, sondern in einen derart konfusen, betäubten Stupor geraten zu sein, dass sie nicht mehr wissen, was gut für sie ist.

Schwerhörig und empathielos …
In letzter Instanz haben Verbände wie der Arbeitgeberverband, der KMU-Verband oder der Gewerbeverband ja eigentlich nur eine Aufgabe: Lobbying. Den Löwenanteil davon wird wohl sein, für genügend gefällige Steigbügelhalter:innen für die Interessen des Kapitals in den Parlamenten zu sorgen. Doch auch gegenüber der Masse der Bevölkerung haben diese Verbände des Kapitals dafür zu sorgen, dass Kapitalist:innen der Allgemeinheit nicht als ausbeuterische, elitäre Machtmenschen erscheinen, die auf die Massen und die Demokratie nichts geben, solange sie nur Geld mit der Arbeit anderer verdienen können.
In dieser Sache wird Daniella Lützelschwab, die das Ressort Arbeitsmarkt beim Arbeitgeberverband leitet, ihrer Organisation mit einer Reaktion auf das Ja zum Mindestlohn einen ziemlichen Bärendienst erwiesen haben. Die deutliche Zustimmung zum Mindestlohn bezeichnet Lützelschwab als «Lohndiktat durch die Hintertür». Hintertür? Gibt es überhaupt einen offeneren Vorgang in einer parlamentarischen Demokratie als die Annahme eines Anliegens durch das Mittel des Volksentscheids? Unfreiwillig ironisch echauffiert sie sich dann darüber, dass die Linke das Nein zu einem nationalen Mindestlohn 2014 nicht akzeptiert habe, und nun eben kommunal offensiv würde. Sie vergisst dabei, dass es ihr eigener Verband ist, der jetzt die Ja-Voten vom 18.Juni 2023 nicht akzeptieren will und deshalb gerichtlich gegen sie vorgeht. Argumentiert wird dabei mit einem angeblichen Angriff gegen die Wirtschaftsfreiheit.

… und dann noch historisch blind
Die Argumentation des Arbeitgeberverbands ist deshalb so humorig, weil man anders als die Gewerkschaften und die politische Linke nicht mit Initiativen, sondern der Justiz und Rekursen gegen einen Volksentscheid vorgehen will. Aber auch, weil bei Lützelschwab völlig vergessen zu gehen scheint, dass sich seit der nationalen Mindestlohnabstimmung 2014 die Erde sich doch ein paar Mal um die Sonne gedreht hat und wir nicht mehr in derselben Welt leben.
Schon damals stand der Kapitalismus tief in der Krise. In der Schweiz wähnte man sich aber noch auf der Insel der Glückseligen, während um ihr herum ein Chaos tobt (eine gängige Schweizer Selbstsicht) – doch spätestens seit der Teuerungskrise eine offensichtliche Illusion. Immer mehr Menschen können ihre täglichen Ausgaben nicht mehr bestreiten, am Ende des Monats bleibt immer weniger vom Lohn und trotz der Gefahr von Massenverarmung wird beim Sozialwesen abgebaut und gespart. In so einer Situation verfangen die leeren Drohungen der Verbände der Bourgeoisie immer weniger. Mit ihrem Vorgehen scheinen die Verbände dem Mantra «never change a winning team» zu folgen. Nur hat niemand gemerkt, dass das Team mit der alten Strategie nicht mehr gewinnt.

Wenig Chancen
Noch weniger Sinn macht das Vorhaben, wenn man bedenkt, dass die Aussichten auf Erfolg kaum vorhanden sind. Laut Gutachten von Rechtsexpert:innen, die im Auftrag der Initiant:innen erstellt wurden, ist die vorgeschlagene Variante für die Mindestlöhne durchaus vereinbar mit der Bundesverfassung. Bei der Erhöhung der zulässigen Löhne handle es sich um eine sozialpolitische Mindestgrenze, nicht einen Eingriff in die Verhandlungsfreiheit der Sozialpartner:innen. Ähnlich äusserten sich auch Rechtsprofessor:innen in den grossen Leitmedien. Mit den Normalarbeitsverträgen besteht solch eine Mindestgrenze bereits. Der Unterschied ist, dass man von den vorgeschriebenen Löhnen in Zürich wie Winterthur nun auch tatsächlich leben können soll.
Das Vorgehen der Verbände ist damit kaum erklärbar. Aber vielleicht hofft man ja insbesondere auf den Vorstoss Ettlin (Die Mitte) im Ständerat. Dieser sieht vor, die kantonalen, bereits vom Volk angenommenen Mindestlöhne per Parlament für ungültig zu erklären. Eine Strategie, die man auch nur dann als smart bezeichnen könnte, wenn sich das Kapital Streiks statt Volksabstimmungen wünscht.

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