Im Westen wird wieder gekämpft

Protestaktion der Arbeiter:innen von Micarna vor der Migros in Lausanne.
Bild: Unia

flo. Micarna im Waadtland, Lehrer:innen und Bodenpersonal des Flughafens in Genf – in den letzten Wochen kam es wieder zu Arbeitskämpfen in der Westschweiz. Die Bereitschaft der Kolleg:innen in der Romandie ist aber auch für die Deutschschweiz ein Gradmesser für die Entwicklung des Klassenkampfs.

Es ist eine Binsenwahrheit: Herr und Frau Schweizer sind mit die streikfaulsten Europäer:innen. Vielleicht mag im Vatikan oder Liechtenstein noch weniger gestreikt werden, doch die Eidgenossenschaft findet sich regelmässig bei Studien zum Thema ganz unten auf der Liste der Anzahl Streiktage. Und aktuell sieht selbst Deutschland – ebenfalls ein Land mit relativ wenigen Arbeitskämpfe n– mit den aktuellen Streiks bei der Lufthansa und der Deutschen Bahn im Vergleich zu seinem südlichen Nachbar aus wie ein Kernland des Arbeitskampfs.

Streiks in der Romandie
Doch innerhalb der Schweiz gibt es bei dem Thema Streikwilligkeit grosse Unterschiede. So zeigen aktuell die Romands, dass in der Schweiz durchaus gestreikt wird. Den Anfang machten schon im Dezember 2023 das Bodenpersonal des Genfer Flughafens, es folgte der Streik der Lehrer:innen Anfang Februar in derselben Stadt. Und das aktuellste Beispiel stammt von der Migros-Tochter Micarna, wo die Fleischfabrik in Ecublens im Kanton Waadt bestreikt wurde. Grund für den Arbeitskampf: Der Standort soll im Frühling 2025 geschlossen werden. Für die 84 Mitarbeiter:innen wurde nur ein ungenügender Sozialplan aufgestellt, dessen Inhalt den Mitarbeitenden grösstenteils vorenthalten wurde. Die Gewerkschaft Unia (mit der die Betriebsleitung trotz Verhandlungsmandats der Belegschaft nicht verhandeln will) publizierte eine ihr zugespielte Fassung des Sozialplans: In praktisch allen Bereichen unterschreitet der Konzern die Mindestforderungen der kämpfenden Belegschaft. Am 29.Februar traten die Arbeiter:innen des Werks in Ecublens deshalb in den Ausstand.
Micarna hat dabei bereits in der Vergangenheit am Standort im Waadtland mit mangelhaften Arbeitsbedingungen zu reden gegeben. So seien laut einem Angestellten, der mit der Unia-Zeitung «work» gesprochen hatte, Tagesarbeitszeiten von bis zu 14 Stunden Realität gewesen. Hoher Druck und ein gefordertes Arbeitstempo steigern das Verletzungsrisiko.

Lausige Bedingungen
2016 geriet der Produktionsstandort im toggenburgischen Bazenheid in die Medien, nachdem dort Verstösse und schlechte Arbeitsbedingungen publik wurden. So seien die Angestellten oft schon früher heimgeschickt worden, wenn sie die Arbeit bereits vor Schichtende vollendet hatten. Dadurch sei es zu Minusstunden gekommen, die den Kolleg:innen vom Lohn abgezogen wurden. Das Arbeitstempo erhöhen und dann die Arbeiter mit weniger Lohn heimschicken, wenn sie deshalb früher fertig werden? Solcher Zynismus wird eigentlich nur darin übertrumpft, dass Micarna in Bazenheid Angestellten kündigte, die wegen Krankheit nicht mehr das gewünschte Tempo vorlegen konnten. Doch die schweren Arbeitsbedingungen in der Fleischverarbeitung führen oft zu berufsbedingten Gesundheitsproblemen. Aber Micarna liess über ihren Mediensprecher verlauten, dass die Bedingungen gar nicht so schlimm seien. Dabei hatte der Kassensturz die Vorwürfe von Angestellten und Gewerkschaften an die Adresse der Migros-Tochter belegt.
Und auch im Standort in der Romandie werden Mindestnormen und Regeln missachtet. Dass der Konzern trotz Verhandlungsmandat der Gewerkschaft nicht in Verhandlungen eintritt und vier Gesprächsangebote ignoriert hat, bedeutet einen Bruch der verfassungsmässig garantierten Koalitionsfreiheit. Die Migros argumentiert, dass die Unia keine ihrer Sozialpartner sei. Eine absurde Situation: Ein Konzern masst sich an, für seine Belegschaft zu entscheiden, durch wen sie vertreten werden sollen. Obwohl die Schliessung von Standorten bei mehr als zehn Entlassungen an den Kanton hätte gemeldet werden müssen, wurde die Schliessung bis zum 6.März nicht gemeldet.

Druck mit Demo
Um Micarna und damit die Migros an den Verhandlungstisch zu bekommen, machten Belegschaft und Gewerkschafter:innen mit einer Protestaktion vor einer Migrosfiliale in Lausanne Druck. Mit dabei war auch Unia-Präsidentin Vania Alleva, aus deren Rede die «work»-Zeitung zitierte: «Es ist unglaublich, mit welcher Verachtung die Migros ihren Mitarbeitenden begegnet.» Man erwarte, dass die Migros sich nicht wie ein unsozialer, internationaler Grosskonzern verhalte. Der Vorwurf kommt nicht von ungefähr: Obwohl der Einsatz von temporären Angestellten als Streikbrecher laut dem Personalverleih-GAV verboten ist, setzte Micarna in Ecublens Temporärangestellte vom Unternehmen Valjob ein, das im Bereich der Stellenvermittlung tätig ist. Vor dem Genfer Arbeitsgericht wurde Valjob 2023 wegen einer missbräuchlichen Kündigung schuldig gesprochen und erhielt eine Rüge für die Geschäftspraxis. Die Gewerkschaften haben deshalb bereits Beschwerde bei der paritätischen Kommission eingelegt.
Und der Druck scheint gewirkt zu haben: Nach fünf Tagen Streik lenkte Micarna zumindest teilweise ein und trat auf Verhandlungsaufforderungen der Unia ein. Davor war die kantonale Schlichtungsstelle von der Waadtländer Regierung hinzugezogen worden, da im Streik keine Einigung in Sicht war. Während der Verhandlungen wird der Arbeitskampf ausgesetzt. Der Gipfel der Dreistigkeit an der ganzen Geschichte ist, dass die Migros gerne damit angibt, was für eine soziale Arbeitgeberin sie doch sei. In Ecublens heute und so wie vor ein paar Jahren in Bazenheid zeigt sich aber, dass das für das Tochterunternehmen Micarna nicht zu gelten scheint.

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