Die Wut aus dem Bauch lassen!

flo. Kaum wurde die Erhöhung des Rentenalters der Frauen* beschlossen, werden die nächsten Angriffe bereits geplant. Damit steht einer der wichtigsten Abwehrkämpfe der politischen Linken in den kommenden Jahren an.

Man muss die Kommunikationsstrategie des Gewerbeverbands (SGV) nicht verstehen. Vielleicht ist es sogar besser, gar nicht zu versuchen, dahinterzukommen, was der SGV-Direkort Hans-Ulrich Bigler und sein Anhang mit ihrer Medienmitteilung vom 26.September meinen. Der Titel der Mitteilung lautete: «Der linken Lügenkampagne zum Trotz». Dann ist die Rede davon, «das Volk» habe sich mit «der Entscheidung in aller Deutlichkeit gegen die linke Verzögerungstaktik bei der Sanierung der AHV ausgesprochen». Dies alles einen Tag nach dem hauchdünnen Ja zur Konterreform der Renten.

Die AHV soll wegschmelzen
Egal, wo man sich sonst seine Informationen holt, ausser dem Gewerbeverband, der womöglich seine Medienmitteilung voreilig und in Erwartung eines klareren Ergebnisses schon in den Tagen vor der Abstimmung geschrieben hatte, sah niemand ein deutliches Resultat. Es war eine knappe Entscheidung, die an mehreren Bruchlinien Schneisen durch das Land gerissen hat. Keine dieser Bruchlinien bestimmte aber stärker als das Geschlecht, wie jemand bei dieser Abstimmung entschieden hat. Rund zwei Drittel (63 Prozent) der Frauen* sagten Nein zur Vorlage, während bei den Männern* nur ein Drittel (35 Prozent) die Vorlage ablehnte.
Doch nicht nur das mit der «Deutlichkeit» stimmt in der Mitteilung des Gewerbeverbands nicht. Nur einen Tag später entlarvten die Jungfreisinnigen das Gewerbeverbandsgerede von der «linken Lügenkampagne» als rechte Lügenkampagne. So erinnerten die Jungbourgeoisen an ihrer Initiative, die ein Rentenalter 66 für alle fordert. Während des gesamten Abstimmungskampfs hatte die politische Linke gewarnt: Wird diese Vorlage angenommen, werden die nächsten Angriffe kommen. Mit der jungfreisinnigen Initiative ist dieser nächste Angriff schon lanciert. Bei der Einreichung im Juli 2021 stellten die Jungfreisinnige eine Eisskulptur in Form der Buchstaben AHV auf. Man muss ihnen fast zu ihrer Ehrlichkeit gratulieren. Denn sie sprechen zumindest offen aus, was auch ihre politischen Verbündeten im Sinn haben: Die 1.Säule wegzuschmelzen zu lassen.

Imaginierter Reformdruck
Wie es nun weitergehen soll, sieht man auch an der Wortwahl der Regierung und ihre bürgerlichen Vollzugsgehilf*innen: Der «Reformstau» sei gebrochen. Damit muss deutlich sein, dass die Konterreform von Ende September nur ein erster Schritt war. In welche Stossrichtung die nächste AHV-Vorlage gehen wird, mit deren Ausarbeitung der Bund vom Parlament bis 2026 beauftragt wurde, dürfte damit auch klar sein. Ob die Rechten und Eingemitteten, die «Lüge!» schrien, als die Linke im Abstimmungskampf vor weiteren Verschlechterungen warnte, ihren eigenen Versprechungen auch Taten folgen lassen wird, werden wir spätestens in der kommenden Wintersession der Räte erfahren. So wurde den Frauen* Verbesserungen bei der zweiten Säule, den Pensionskassen, versprochen. Angesichts der völligen Untätigkeit von Parlament und Regierung in Sachen Teuerungskrise müssen wir aber davon ausgehen, dass man wieder fahrlässige Gleichgültigkeit gegenüber Armutsbetroffenheit walten lassen wird.

Ideologischer Grund
Dabei ist die AHV der erfolgreichste Teilbereich der Schweizer Altersvorsorge. Während viele Gering-verdiener*innen meilenweit davon entfernt sind, sich mit der 3.Säule ein relevantes Zubrot im Alter aufbauen zu können (was durch die aktuelle Teuerungskrise noch weiter infrage gestellt wird), werfen die Anlagen in der zweiten Säule nicht mehr die Renditen ab, die nötig wären. Bei der unmittelbaren Verhütung von Altersarmut spielen die AHV-Renten, auch wenn sie immer noch viel zu niedrig sind und endlich erhöht werden müssen, eine Hauptrolle. Und allen bourgeoisen Unkenrufen zum Trotz schreibt sie ausser in Ausnahmejahren (2002, 2008, 2015) zuverlässig schwarze Zahlen. Der Grund für die fortdauernden Angriffe auf die AHV durch das Kapital ist nämlich vor allem ein ideologischer: Die Bürgerlichen können die AHV nicht tolerieren, weil sie nach Prinzipien funktioniert, die ihren kapitalistischen Dogmen völlig fremd sind. Und sie können sie nicht tolerieren, weil sie funktioniert.

Wieder richtig wütend werden!
Direkt nach Annahme der Vorlage regte sich Widerstand. Eine Gruppe von empörten Frauen*, unter ihnen Tamara Funiciello, demonstrierten gegen das Ergebnis der Abstimmung (siehe auch Seite 2). Die rechten Kommentator*innen im journalistischen Mainstream empörten sich darüber, dass es Frauen* wagen, mit einem Abstimmungsresultat nicht einverstanden zu sein und dies auch noch kundzutun! Ein paar sozialdemokratische Mandatär*innen bekamen dann im Boulevardblatt Blick auch noch Gelegenheit, darüber zu wettern, wie falsch es sei, dass Funiciello an einem Protest zum erneuten Frauen*streik aufruft.
Spätestens hier wird – neben dem Umstand, dass die Sozialdemokratische Partei in dieser Frage eher den Eindruck einer Schlangengrube macht – deutlich, wie ungelegen den Unterstützer*innen schlechterer Renten eine schlagkräftige und wirkmächtige Bewegung auf den Strassen käme. Eine Bewegung, die infrage stellt, wie im Allgemeinen mit der Hälfte der Bevölkerung und den Renten im Konkreten umgegangen wird.
Und das ist auch der Grund für all die Lügen, die falsche bürgerliche Empörung, die Nebelpetardenmanöver in der Presse: Was die herrschende Klasse in der aktuellen Situation gar nicht gebrauchen kann, ist eine breite Masse der Bevölkerung mit Wut im Bauch, die offensiv den Stand der Dinge infrage stellt und sich nicht mehr mit Abwehrkämpfen zufrieden gibt.

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