Die Wirklichkeit wird verdrängt

«Nur Namibia und Singapur sind ungleicher als die Schweiz». Prekarisierung, Verteilung des Wohlstands oder Demografie, überall wird die Wirklichkeit zugunsten falscher Ansichten verdrängt. Davon ist Ueli Mäder überzeugt. Im GZ Riesbach zeigte der Soziologe vor den GenossInnen der PdA Zürich an deren Basar auf, was man aus wissenschaftlicher Sicht dagegenhalten kann. Aus der aktuellen Ausgabe des vorwärts. Unterstütze uns mit einem Abo.

Ein Genosse im Plenum wollte es von Ueli Mäder dann doch noch genauer wissen. Schliesslich hatte sich dieser am Schluss seines Vortrags etwas gar kurz ausgedrückt, obwohl es da um seine Schlussfolgerungen fürs politische Handeln ging. Er hatte vom Wiederaufkommen des politischen Liberalismus, von Umverteilung und dem Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit gesprochen, nicht aber von grundlegenderen Veränderungen. Das war dem Genossen zu ungenau. Umso erfreuter war er jedoch, als Mäder sich als standhaften Sozialisten outete: «Ich bin einer von denen, die das <Kapital> nicht nur einmal gelesen haben», verkündete er. Auf dem Gesicht des Genossen machte sich ein Lächeln breit.

Die PdA Zürich hatte Mäder, der eine Professur für Soziologie an der Uni Basel inne hat, an ihren Basar ins GZ Riesbach eingeladen, um übers Thema «Prekariat» zu sprechen. In seinem Referat konzentrierte sich Mäder darauf, zu erklären, wie es in der Schweiz seit den Siebzigerjahren zu einer zunehmenden Prekarisierung kommen konnte. Noch Anfang der Siebziger lag die Arbeitslosenquote in der Schweiz nahe bei null Prozent. «It’s getting better all the time», diese Zeilen der Beatles drücken für Mäder aus, wie man damals über die wirtschaftliche Lage gedacht hat. Aufwärts ging es auch weiterhin, nur nicht für alle.

Die Prekarisierung nimmt zu, 

aber wie kam es dazu?

Mäder zeigt drei entscheidende Gründe dafür auf: Erstens habe sich das Machtzentrum der Welt durch die Globalisierung zuerst westwärts verschoben und dann als solches aufgelöst. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt sei verschärft worden, wodurch der Druck angestiegen sei, die Arbeit zu rationalisieren. Zweitens sei auf den politischen Liberalismus der Siebziger, der die Gleichbehandlung von Kapital und Arbeit vorsah, das Modell des angelsächsischen Finanzkapitalismus gefolgt. Mäder spricht im Sinne Antonio Gramsci von einer Überlagerung. Wie er anhand verschiedener Beispiele ausführt, prägt diese Verschiebung die allgemeine Meinung massgeblich. Drittens hinkten die Sozialsysteme der Entwicklung der Lebenswelt hinterher.

Mäder präsentierte allerhand Zahlen. Zum letzten Punkt etwa diese: In Zürich leben gerade mal noch 15 Prozent der Menschen in einer klassischen Kleinfamilie. Zwar komme das Bundesamt für Statistik (BFS) dieser Tatsache entgegen, indem mit Haushalten statt mit Familien gerechnet würde. «Will man zum Beispiel die Zahl der <Working Poor> bestimmen, ist diese Art zu rechnen aber trügerisch, weil oft mehrere Menschen von einem Haushaltsbudget leben müssen», sagt Mäder. Das BFS kommt auf 200 000 «Working Poor», Mäder auf über eine halbe Million.

 

Immer mehr prekäre Arbeitsverhält-

nisse, «aber wo ist das Problem?»

Für sein letztes Buch «Wie Reiche denken und lenken» hat Mäder neben statistischer Arbeit auch Interviews mit Reichen geführt. «Als ich Daniel Vasella mit den wachsenden Zahlen an Erwerbsarmut und prekären Arbeitsverhältnissen konfrontiert habe», erzählt Mäder «hat er mir sofort zugestimmt und angefügt: ‹Aber wo ist das Problem?›» Die Anekdote spiegelt für Mäder auch eine Verschiebung in der allgemeinen Meinung zu diesen Themen. Eine zunehmende Akzeptanz der Prekarisierung ist die Folge.

Bezüglich des Verhältnisses von Kapital und Arbeit herrsche in Thinktanks derzeit die Meinung vor, das Kapital sei gegenüber der Arbeit deutlich zu begünstigen. «Ich stelle aber fest, dass diese Ansicht gerade unter sehr reichen Leuten zunehmend relativiert wird», sagt Mäder. Viele der Reichen, die Mäder für sein Buch interviewt hat, sähen eine zunehmende Gefahr in den grossen sozialen Ungleichheiten. Es sei durchaus aussagekräftig, wenn sich bei denjenigen, die viel zu verlieren haben, solche Meinungsänderungen zeigten.

So viele Studien, aber welche 

ist die richtige?

Auch mit der Verwendung von Statistiken spiegeln sich solche Verschiebungen. Eine neue OECD-Studie etwa, die zu zeigen versuche, dass die Lohnunterschiede in der Schweiz gar nicht so hoch sind, werde von den meisten Medien unreflektiert zitiert. Dies, obwohl die Studie noch weiter gehe als die von Economiesuisse. Zu falschen Schlüssen kämen aber beide, weil sie mit Nominallöhnen statt mit verfügbaren Löhnen rechneten. «Die untersten Löhne haben seit den Neunzigerjahren um etwa zwanzig Prozent abgenommen», hält Mäder dagegen.

Auch was die Sozialversicherungen angehe, herrschten oft falsche Ansichten vor. Auch die GenossInnen der PdA Zürich bleiben davor nicht verschont und fallen auf Mäders Fangfrage herein, ob in der Schweiz mehr Leute über 65 Jahre oder mehr unter 20 Jahre alt seien. Letzteres ist richtig. Auch treffe die von der Regierung immer wieder beschworene Verschuldung der AHV nicht zu, in Wahrheit sei sie bisher immer zumindest kostendeckend gewesen. «Nächste Woche spreche ich an der Universität St. Gallen und werde da die Zahlen dazu präsentieren», meint Mäder. «Die sind dann jeweils überrascht, wenn ich sage, dass die AHV eigentlich hochrentabel ist.»

 

Die Reichen ahnen, dass sie 

in Gefahr sind

Aus sozialistischer Sicht seien die Besitzverhältnisse schlussendlich aber am wichtigsten. Und in dieser Frage ist die Schweiz global das beste Beispiel: Das Vermögen pro Kopf ist mit Abstand am höchsten, jedeR zehnte MilliardärIn der Welt wohnt hier und gleichzeitig sind die Vermögen so ungleich verteilt wie fast nirgendwo sonst. «Nur in Namibia und Singapur ist der Reichtum noch ungleicher verteilt als in der Schweiz». Die 300 Reichsten Menschen besitzen hier zusammen 470 Milliarden Vermögen. Ihr kleiner Verlust von 10 Milliarden während der Finanzkrise ist längst wettgemacht.

Dass sogar die Reichen selbst dies langsam gefährlich finden, konnte man aus Anlass der grossen Krise vermehrt beobachten. Leute wie George Soros haben in den USA höhere Steuern für Reiche gefordert. «Vielen der Reichen, mit denen ich gesprochen habe, befürworten zum Beispiel die Abschaffung der Pauschalbesteuerung, obwohl sie davon profitiert haben», sagt Mäder. Viele dieser Leute sähen ein, dass nur eine Rückkehr zum politischen Liberalismus die Stabilität der Gesellschaft und damit ihren Status sichern könne. Es ist durchaus plausibel, dass dies nicht gelingt. Dass sich daraus auch Chancen ergeben, liegt für uns auf der Hand.

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Ein Kommentar

  • Uwe

    Mehr als 30 Jahre Neoliberaler wandel hinterlassen Spuren die sich im laufe der ZEit in alle Bereiche des Menschlichen Lebens gedrängt haben.

    In der Regel ungefragt und als ungebetener Gast haben die Verfechter des Neoliberalen Argumente besetzt, Fragen beansprucht und beantwortet, Alternativen diffamiert und ausgeschlossen, Debatten mit ihrer Ideologie geflutet und alle andersdenkenden mit dem dahinter steckenden Kapital und mit einer ausgesprochen listigen Logik daherkommenden Argumentationsketten alles erschlagen…

    Viele glauben heute das der Mensch primär ein Homo Oeconomicus ist. Darwins Biologilehere wurde zu eienr Oekonomischen Ideologie verklärt und als Fundament des Argumentariums verwendet. Zahlreiche verfechter habend as übernommen und argumentieren nun schon genauso wie es die Theorien erklären…

    Umgebaut wurde eigentlich alles was wir gestern, heute und eben auch morgen als unseren Lebensraum wahrnehmen und in dem wir uns aufhalten.

    Alles was Profite bringt gilt als erhaltenswert, alles andere nicht. Alles profitable muss privatisiert werden da dies als entgangene und staatliche behinderte Profitmöglichkeit angesehen wird.

    Eliminiert muss alles werden was Profite in irgendeiner Art und Weise behindert, mindert oder verhindert. Die so entgangenen Profite können bei den Staaten eingeklagt werden und diese sind Schadensersatzpflichtig… Profit und Renditeschädigend sind etwa Umweltschutzgesetze, Arbeitsgesetze, Streik und Demonstrationsrecht, Sozialversicherungen, Rentensysteme, Steuern sowieso…

    All dies steht in Varianten in den WTO Handelsverträgen dei seit mitte der 90′ Jahre ausgehandelt, unterzeichent und ratifizeirt worden sind. Je nach innenpolitischer Situation können die vertragspartner bestimtme segmente davon ausschliessen. Auf lange Sicht aber besteht die Pflicht dem geist der verträge anchzukommen… Dazu gehört etwa auch die völlige Privatisierung jeglichen Gemeinnschaftseigentums… wie Spitäler, Schulen, Kindergärten, Schwimmbäder, Verkehrssysteme wie die SBB, Telekom und Postbetriebe, Wasser und Strom Produktion und Lieferung, Kultur und vieles mehr…

    30 Jahre Wandel in diesem, Neoliberalen Sinn, haben spuren hinterlassen, Leider meist ziemlich hässliche die nun vermehrt zu Tage treten…

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