Das waren meine Lehrjahre

Streikende Arbeiter versammeln sich während des Schweizer Generalstreiks im November 1918 auf einem Platz in Bellinzona. (Archiv)

red. Der Lehrling W. F. erlebte den Landesstreik 1918 unmittelbar in seinem Betrieb. Als Mitglied in der Gewerkschaft und in der Sozialistischen Jugend brannte der junge Revoluzzer während dem Streik vor Begeisterung. Der Bericht eines Zeitzeugen.

Blutjung war ich damals noch. Mit meinen sechzehn Jahren zeigte sich an den Unterlippen noch keine Spur eines Schnurrbartes. Dafür war auf dem eher schmächtigen Körper ein verhältnismässig grosser Kopf voller revolutionärer Gedanken. Mein Vater war ein überzeugter, unbeugsamer Kämpfer, Sozialist und Revolutionär. Keine Spur davon, dass er uns seine eigene Gesinnung irgendwie einhämmern oder aufzwingen wollte. Aber sein mustergültiges Beispiel wirkte mehr als alle Theorien. So trat ich denn meine Berufslehre als Schriftsetzer an, stolz darauf, dereinst Mitglied der damaligen Pionier-Gewerkschaft der schweizerischen Arbeiterbewegung werden zu können.
Das war meine Situation, als zum Generalstreik aufgerufen wurde. Wie immer bestieg ich frühzeitig an jenem Tag den Arbeiterzug, um dann in der Stadt zu vernehmen, was los war. Ich postierte mich mit gehobenem Klassenbewusstsein gegenüber meinem Betrieb – und sah meine Kollegen, einen nach dem andern, in den Betrieb schleichen, wo sie doch nicht so recht den Mut hatten, mit dem Tagewerk zu beginnen und sich beratschlagten. Mir schien die Stunde gekommen, und flugs trieb ich eine patrouillierende Gruppe der Metallarbeiter auf, um sie auf die Situation aufmerksam zu machen. Es ging dann wirklich nicht mehr lang und die Kollegen, die mir hätten ein Beispiel von Mut und Überzeugung sein sollen, standen ebenfalls vor dem Geschäft, in ihrem Ansehen bei mir um einiges gesunken.
An jenem denkwürdigen Tag legten wir nach einer mächtigen Streikversammlung den Weg nach Hause zu Fuss zurück, weil unterdessen auch die Eisenbahn zu fahren aufgehört hatte. Aber fast täglich pilgerten wir in die Stadt, um uns, in Ermangelung des Radios zur damaligen Zeit, über den Lauf der Geschehnisse orientieren zu lassen. Und wir hatten einen mächtig populären Streikführer, einen richtig volkstümlichen, mit der Masse verbundenen Mann an der Spitze, der zu fesseln und zu begeistern vermochte mit seinen einfachen, zündenden Reden, gewürzt mit Humor und einem unverbrüchlichen Vertrauen in die Kraft der Arbeiterbewegung.

Anfang der Kapitulation
Und da, was hörten wir, die wir nahe hinter einem Bahndamm einer Hauptverkehrslinie wohnten, eines morgens? Es fauchte und pustete – und herangeschnauft kam ein langer Güterzug, vorsichtig, in gemächlichem Tempo, fast feige anmutend. Wir rannten an den Bahndamm, rafften Steine zusammen und begrüssten mit ihnen und recht saftigen Schmährufen den Streikbrecher, nicht ahnend, dass das der Anfang der Kapitulation war.
Ein oder zwei Tage darauf schien es uns verdächtig, dass nun fast ein regelmässiger Zugverkehr herrschte. In der Stadt trafen wir einfache Arbeiter mit Tränen in den Augen. Der Generalstreik war durch das Aktionskomitee abgebrochen worden; alle fühlten sich betrogen und verraten. Im Geschäft traf ich, der Stift, als Letzter ein. Die Arbeit hatte schon wieder begonnen. Der Empfang des Nachzüglers durch den Prinzipal war nicht vielversprechend. Ich sah in ein wütendes, eiskaltes Gesicht, dessen Besitzer sichtlich Mühe hatte, sich zu beherrschen und einen wilden Zornesausbruch gegen den jungen Revoluzzer zu unterdrücken. Das Abreagieren der Stimmung wurde auf die nächsten Wochen verteilt. Giftige Bemerkungen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mir gegenüber und Sticheleien zum übrigen Personal wegen mir, wenn ich in die Nähe kam, das war die Quittung für mein senkrechtes Verhalten.
Später lag dem Lehrabschlusszeugnis gleich auch die Kündigung bei, was sonst in unserem Gewerbe zur damaligen Zeit überhaupt nie vorkam. Man liess die frisch Ausgelernten noch einige Franken verdienen, bevor sie auszogen, damit sie sich die notwendigen Anschaffungen machen konnten. Eine Intervention der Gewerkschaft verschaffte mir dann eine halbjährige Galgenfrist zur Sanierung meiner wirtschaftlichen Verhältnisse, ehe ich der Stätte meiner berufliche, gewerkschaftlichen und politischen Schulung den Rücken kehrte.

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