«Wir wollen tiefgreifende Veränderungen bewirken»

Demonstration am 8. März 2023 in Santiago de Chile. Bild: zVg

Sarah Herold. In Chile setzen Feministinnen zusätzlich zu den klassischen Kämpfen wie dem Recht auf Abtreibung oder gegen patriarchale Gewalt eine radikale Infragestellung des neoliberalen Kapitalismus auf die Tagesordnung – und das mit Erfolg. Ein Gespräch mit der Journalistin und Aktivistin Javiera Vallejo.

Die chilenische Politik zeichnet sich durch Individualismus und Neoliberalismus aus. Dies haben feministische Bewegungen jedoch durcheinandergebracht. Handelt es sich um einen echten Bruch oder nur um eine Unterbrechung mit den bisherigen Verhältnissen?
Und welche Wirkung konnten sie in den vergangenen Jahren tatsächlich entfalten?
Meiner Meinung nach lässt sich darin bislang noch kein echter Bruch erkennen. Viele feministische Strömungen in Chile haben sich bislang auf die gesellschaftliche Organisation konzentriert und dabei insbesondere in den letzten Jahren die Sorgearbeit in den Mittelpunkt gestellt. Dabei ging es einerseits um eine Theoriebildung und die Kritik an ursächlichen gesellschaftlichen Strukturen, andererseits aber auch um konkrete Aktionen und Massnahmen zum Thema Nachhaltigkeit. Aus unterschiedlichen Richtungen haben sich Frauenorganisationen und soziale Führungspersonen an dem Prozess beteiligt. Die Akteur:innen kommen aus der Umweltschutzbewegung und der Verteidigung nationaler Souveränität. Sie organisieren sich in Stadtvierteln und setzen sich für den Schutz der indigenen Bevölkerung oder die Sorgearbeit, der Nahrungsmittelsouveränität, dem sozialen Wohnungsbau und die Betreuung von Kindern und Senior:innen ein.
Es gibt eine Geschichte von Frauenkämpfen, die in neoliberaler Lesart als Bereiche individueller Verantwortung verstanden und in den privaten Bereich verbannt werden, die nun jedoch durch die gemeinschaftliche Organisierung vergesellschaftet und durch öffentliche Forderungen ersetzt wurden. Seit mehreren Jahren setzen Feministinnen in Chile zusätzlich zu den klassischen Kämpfen des Feminismus wie dem Recht auf Abtreibung, gegen patriarchale Gewalt und politische Partizipation eine radikale Infragestellung des neoliberalen Kapitalismus kämpferisch auf die Tagesordnung, wobei die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt steht. Frauen, die in der Vergangenheit für einen Grossteil dieser Sorgearbeit verantwortlich waren, fühlten sich dazu aufgerufen, mehr und mehr auf die Strasse zu gehen. So war es am 8.März 2019, als zwischen 900000 und einer Million Menschen aus unterschiedlichen sozialen Organisationen unter massgeblicher Beteiligung von Frauen auf die Strasse gingen. Damit wurde die gängige Kritik widerlegt, der Feminismus sei vor allem ein akademisches und elitäres Projekt wie in bestimmten Kreisen immer wieder zu hören ist. Aus diesem Blickwinkel könnte man also sagen, dass die herrschenden Verhältnisse und die Annahmen hinterfragt werden, auf denen der chilenische Individualismus in seiner radikalsten Ausprägung beruht: dass nämlich die Menschen kein Verlangen danach hätten, sich zu organisieren oder das System zu kritisieren, in dem sie derzeit leben, und sich stattdessen lieber dem Konsum in den grossen Einkaufszentren hingäben. Feministische Organisation oder eher die Feminismen sind sehr divers, organisieren sich aber zumindest in Chile über verschiedene Frauen- und Widerstandsorganisationen, in denen sich ein neues Narrativ herausgebildet hat. Eine radikale Kritik am herrschenden System, in dem wir uns befinden und die Organisationsformen, mit denen traditionelle linke Politik gemacht wurde. Man könnte vor diesem Hintergrund also durchaus von einer historischen Wende reden. Einerseits erleben wir die Entstehung einer sozialen Bewegung, die sowohl die Rechte für die Vertiefung der kapitalistischen, neoliberalen und fundamentalistischen Logik als auch die Linke kritisiert, die in Lateinamerika in den letzten Jahren gescheitert ist. Wir sind von totalitären und rechtsfaschistischen Regierungen umgeben, während die progressive Politik auf dem Rückzug ist. Diese Veränderung ist für sich genommen zwar noch kein Bruch. Man sieht aber, dass sich die Gesellschaft immer weiter polarisiert und die Rechte sowohl in diesem Land als auch in der gesamten Region zunehmend in Richtung Autoritarismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Fundamentalismus abdriftet. Wir befinden uns also gerade in einer wichtigen Phase und erleben eine Öffnung, die zwar noch nicht weit genug geht, uns aber eine Marschrichtung vorgibt.

Sie kritisierten den Kapitalismus und heute sind es gerade Frauen und LGBTIQ-Menschen, die sich besonders stark mit linker oder marxistischer Politik identifizieren. Wie viel Marxismus oder antikapitalistische Kritik steckt heute in den feministischen Bewegungen in Chile?
Der Marxismus ist noch immer äusserst wichtig für unsere Bemühungen. Man muss aber unterscheiden zwischen marxistischer Theorie und marxistischer Kapitalismuskritik auf der einen Seite und den traditionellen Linken auf der anderen Seite, die zwar marxistische Fahnen schwenken und sich als Marxist:innen bezeichnen, in den letzten 20 oder 30 Jahren aber ihren Weg hin zur Institutionalisierung gegangen sind und die Logik der liberalen Demokratie für sich angenommen haben. Um es mit Donna Haraway auszudrücken, ist der Marxismus zwar wichtig, darf sich aber nicht auf blosse Kritik beschränken. Vielmehr muss er über andere mögliche Welten nachdenken. Und genau das tut der Feminismus. Er überlegt, was falschläuft und setzt sich zum Ziel, eine andere Gesellschaft aufzubauen. Dabei dürfen wir uns keineswegs nur auf den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital beschränken, der sehr wichtig ist, aber nicht allein in den Mittelpunkt gestellt werden sollte.
Stattdessen befasst sich der Feminismus zunehmend mit den Themen der unbezahlten Arbeit, der Sorgearbeit und der reproduktiven Arbeit, welche für die feministischen und sozialen Bewegungen Lateinamerikas seit jeher wichtig sind, von der traditionellen Linken aber nicht aufgenommen wurde. Der Schutz und das Bewahren von Umwelt und Natur wurde von der Linken systematisch ausser Acht gelassen und stattdessen in die entwicklungsorientierte wirtschaftspolitische Logik eingefügt. Der Extraktivismus wurde von der Linken nicht hinterfragt, obwohl er vielen Gemeinschaften und Regionen grossen Schaden zugefügt hat. In dieser Hinsicht kann man die traditionelle Linke also durchaus kritisieren. Ich glaube aber dennoch, dass der Marxismus ein wichtiges Feld ist und der marxistische Feminismus ebenfalls eine wichtige Strömung innerhalb eines Feminismus darstellt, der sich zunehmend organisiert und einbringt.
Ein anderes Thema in Lateinamerika ist das Hinterfragen des historischen Subjekts im Kontext der Erwerbstätigkeit, mit dem sich in Chile und Argentinien sowie in Brasilien zahlreiche soziale Bewegungen befassen. Sie verstehen unter Arbeit nicht unbedingt nur bezahlte Arbeit und definieren die Arbeiter:innenklasse nicht ausschliesslich über Lohnarbeit. Man denke etwa an die Kooperativen, die genossenschaftlich organisierten Projekte und den informellen Arbeitsmarkt, auf dem äusserst prekäre Verhältnisse herrschen. Sie begreifen sich als autonom und organisieren sich ebenfalls zunehmend. Tatsächlich entsteht in Argentinien gerade ein Zentrum für diese Beschäftigten. Dort stellt sich die Frage, wie die gesellschaftliche und politische Organisation in diesem Bereich aussehen kann. Dadurch entsteht eine relevante Kritik am Marxismus in seiner klassischen Ausprägung. Ausserdem befasst man sich dort mit der Frage, wie wir die Gesellschaft denken wollen und können. Es geht darum, wie wir die Produktion autonomer organisieren können, ohne uns von Kapital, Unternehmen oder sogar dem Staat abhängig zu machen. Die Organisationen der Arbeiter:innen weisen in dieser Hinsicht Anknüpfungspunkte zur Umwelt- und Frauenbewegung auf, die die reproduktive und unbezahlte Arbeit in den Mittelpunkt rücken. Hier existiert eine interessante Symbiose, die man als Kritik am traditionellen Marxismus auffassen kann. Ohne Zweifel muss diese kritische Auseinandersetzung fortgesetzt werden, die der Marxismus im vergangenen Jahrhundert angestossen hat und die noch immer grosse Relevanz besitzt.

Welche grossen Herausforderungen ergeben sich in der politischen Arbeit aus der Notwendigkeit, unterschiedliche Perspektiven, Persönlichkeiten und Erfahrungen miteinander in Einklang zu bringen?
Die Koordinationsstelle «Coordinadora 8M» ist allein schon deshalb vielfältig, weil sie sich aus unterschiedlichen Individuen zusammensetzt. Es geht weniger um gesellschaftliche und politische Organisationen als um Menschen, die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Organisationen angehören. Auch Vertreter:innen der Parteien sind dabei. Und innerhalb der Koordinationsstelle gibt es unterschiedliche Schwerpunktbereiche. Die Aktionen sind vielfältig. Die Koordinationsstelle ist in einem Feminismus zu verorten, der sich zwar deutlich vom liberalen, institutionalisierten Feminismus abgrenzt, diesen aber nicht verneint. Wir übernehmen die Koordination bei zahlreichen Aktionen mit unterschiedlichen Organisationen, die mitunter viel stärker institutionalisiert und auch liberaler sind. Dabei geht es uns stets darum, gemeinsam Dinge anzustossen, von denen wir überzeugt sind, dass diese gemeinsam angegangen werden müssen. Die Koordinationsstelle steht aber auch ganz allgemein für Kritik an Kapitalismus und Rassismus. Wir lernen stets dazu und betreiben den Kampf gegen Rassismus zunehmend auch aus feministischer und dekolonialistischer Perspektive. Denn man darf nicht vergessen, dass der Kolonialismus auch die Politik der marxistischen Linken geprägt hat. Es herrscht also eine grosse Vielfalt, andererseits geht es aber auch um ein grösseres Ganzes.
Die Vielfalt zeigt sich also in gewisser Weise auch in den unterschiedlichen Gremien und
Ausschüssen, die sich um einzelne Themen kümmern. Andererseits bildet sich ein breiterer Konsens bei anderen Themen heraus.
Das ist ein Lernprozess. Die »Coordinadora 8M« wurde für und mit dem 8.März gegründet. In den letzten zwei Jahren haben die beteiligten feministischen Organisationen aber bemerkt, dass es nicht nur um den 8. März als Datum geht, sondern ein ganzer Prozess angestossen werden muss. So ist das Konzept des Dauerstreiks und des feministischen Generalstreiks entstanden. Man hat erkannt, dass Streiks ein Organisationsprozess und ein ständiger Kampf sind. Aus diesem Grund hat die Koordinationsstelle auch internationale Treffen angestossen, bei denen ein Programm entwickelt wurde.

Das ist eine grosse Aufgabe …
Allerdings. Sie ist anspruchsvoll und hat auch zu Verwerfungen geführt. Einige gehen, andere kommen, manche Organisationen kritisieren uns. Aber Entscheidungen sind immer schwierig. Am liebsten wäre es mir, wenn alle Entscheidungen bereits getroffen wären und wir direkt loslegen und handeln könnten. So sind wir aber gezwungen, uns so zu organisieren, wie es dem gesellschaftlichen und politischen Kontext angemessen ist. Das möchten wir gerne fortführen. Wir wollen tiefgreifende Veränderungen bewirken. Das ist schwierig, bietet aber auch Anlass zur Hoffnung.

Quelle und Erstveröffentlichung: fes.de

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