Eine Wahl zwischen zwei Übeln

03_Allianz für AsylgesetzrevisionDie Annahme der Revision des Asylgesetzes durch die StimmbürgerInnen wird als Niederlage der SVP gehandelt. Für die Kräfte am linken Rand blieb in der Debatte im Vorfeld wenig Raum. Es gälte grundsätzlich den politischen Fokus zu verschieben.

Treffender als der 20-Minuten-Frontseitenartikel vom Montag nach den Abstimmungen hätte man es nicht ausdrücken können: «Ohrfeige für die SVP (…) grosser Gewinner der Abstimmungen ist der Bundesrat.» Diese Worte zeigen wunderbar die beiden diskursiven Pole der Abstimmung über die Revision des Asylgesetzes auf. Daneben haben wir eine kleine, marginalisierte Linke, welche machtlos versuchte, die Debatten in ihrem eigenen Sinne umzudeuten.

Die Abstimmung über die Revision des Asylgesetzes spaltete die Linke in der Schweiz. Grundsätzlich kann man sagen, je näher eine Organisation an einer Regierungsbeteiligung ist, desto eher stimmte sie der Revision zu, wie die SP, die Grünen und die Juso. Viele andere, so die Bewegung für den Sozialismus, das linke Bündnis BastA und die
Alternative Linke haben sich für ein Nein am
5. Juni entschieden. Was alle einen dürfte, ist, dass niemand so wirklich glücklich mit seiner Entscheidung war. Die Abstimmung zeigt ein klares Problem, dass die Linke in der Schweiz mit ihrem eigenen Verhältnis zur offiziellen Politik hat.

Ja oder Nein?

Ich kann mir hier nicht anmassen die ganze Debatte, die sachlichen Argumente und die juristischen Spitzfindigkeiten repräsentativ wiederzugeben, das wurde auch schon an vielen anderen Stellen viel besser gemacht. Es soll in erster Linie um strategisches, also grundsätzliche Fragen gehen. Dass die SP als staatstragende Partei in einer Koalitionsregierung mit drei anderen, bürgerlichen Parteien ihre Ideale in der Asylfrage immer wieder hintanstellt, überrascht nicht. Zulezt weigerte sich die SP sogar, die Flüchtendenfrage im letztjährigen Wahlkampf zu thematisieren, wohl weil es ein zu unpopuläres Thema war. Die Quittung für ihre (im besten Falle) Halbherzigkeit hat die SP ja damals bereits ausgestellt bekommen. Die parlamentarische Linke marginalisiert sich zusehends im Diskurs. Sogar bei der Ausschaffungsinitiative konnte ihr ein neoliberaler Thinktank wie die Operation Libero die Show stehlen.

Also mal von der SP abgesehen, welche diesen ganzen Quark ziemlich willig mitmacht, sah der Rest von uns sich gezwungen, entweder eine Verschärfung des Asylgesetz zu unterstützen, denn – an diesem Fakt kann man sich nicht vorbei reden – schnellere Verfahren bedeuten hier in erster Linie effizienteres Ausschaffen, oder mit der SVP zusammen dagegen zu ziehen. Nun hätte bei einer Ablehnung der Revision wohl kaum jemand an die kleinen Linken Splittergruppen und ihre Unbeugsamkeit gedacht, sondern dieses Ergebnis in erster Linie als Sieg der SVP und ihrem Wunsch nach einer noch härteren Gangart in der Asylfrage gedeutet. Was wir auch machten, wir machten es nicht richtig. Unter anderem die Jungen Grünen hatten eine moralisch saubere Option gewählt indem sie empfahlen, leer einzulegen. Die politische Wirkung einer solchen Aktion ist wahrscheinlich auf ein bisschen PR wegen kreativer Parolenfindung beschränkt, hat aber schon mal erkannt, das weder die Linke noch Flüchtende von einem Ja oder Nein profitieren werden.

Der falsche Referenzrahmen

Das Grundproblem, an dem fast ausnahmslos alle linken Organisationen mit ihren Positionen scheitern ist die Fixierung auf die offizielle Politik. Damit ist nicht die Beteiligung an Wahlen, Abstimmungen etc. im Allgemeinen gemeint, sondern eine Fixierung auf diese Prozesse als einzige, oder im Falle der linkeren Varianten, zumindest als entscheidende Manifestation politischer Prozesse. Indem diese Prämisse des schweizerischen Kapitalismus akzeptiert wird, mit wie viel Kritik spielt gar keine Rolle, schiebt sich die Linke selbst in unangenehme Situationen wie die jetztige. Ein weiteres Problem, dass der Parlamentarismus mit sich bringt, ist die Isolation der Kritik auf einzelne unliebsame ExponentInnen anstatt auf den Gesamtzusammenhang. In der Juso zum Beispiel war eines der grossen Argumente, Ja zu stimmen, die Furcht, die SVP könnte einen weiteren Sieg erringen. Als ob die rassistische und menschenverachtende Asylpolitik der Schweiz einzig das Kind der SVP wäre. Tatsächlich trugen und tragen alle in der Regierung vertretenen Parteien die Asylpolitik mit, nicht zuletzt die sozialdemokratische Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die ja dem EJPD vorsitzt.

Den Fokus verschieben

Es sind nicht böse Absichten oder offener Fremdenhass, welche die Asylpolitik bestimmen, sondern die Verwertungslogik des Kapitals. Für MigrantInnen, welche weder besonders gutes Ausbeutungsmaterial sind, noch ihr eigenes Vermögen mitbringen, ist in der Festung Europa kein Platz. Sogar diese Logik sprechen die meisten Regierenden nicht aus, aber sie handeln nach ihr, weil sie sich als ökonomischer Sachzwang allen aufdrückt, welche sich der Verwaltung des Kapitalismus und nicht seiner Überwindung widmen. Das Tragische an der Flüchtendenkrise ist, dass die meisten Beteiligten das Leid, das ihre Politik anrichtet zwar sehen und bedauern, aber keinerlei Optionen haben, ihr Handeln zu ändern.

Solange grosse Teile der Linken die menschenverachtende Asylpolitik nicht als logisches Produkt des Kapitalismus und damit auch als notwendigen Sachzwang des kapitalistischen Staates, sondern nur als Fremdeinwirkung rassistischer Kräfte von rechts begreifen, kann keine klare Perspektive in diesem Kampf aufkommen. Die Verwirrung und der Unmut, die heute herrschen, sind ein direktes Produkt einer tiefgreifend falschen Analyse. Anstatt zu versuchen, in den Machtkämpfen der Bürgerlichen zu manövrieren, könnte sich die Linke auch einfach auf die Kämpfe der Flüchtenden, der ArbeiterInnen und der vom Kapitalismus Marginalisierten konzentrieren.

Aus dem vorwärts vom 17. Juni 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Die neuen Genmanipulationstechnologien

gemuese_aus_afrika-e1362385827536In der Schweiz besteht ein Moratorium (befristetes Verbot 2005 – 2017) über die Freisetzung von gen-technisch veränderten Organismen. Trotzdem wird an Genen hardcore rumgefummelt und es gibt Aussaaten von gentechnisch manipulierten Samen. Was ist da los? Teil 1/3

Die Probleme beginnen bereits mit der Definiton eines gentechnisch veränderten Organismus (GMO). Die Legaldefinition darüber, was ein GMO ist, stammt aus den 1980er Jahren. Damals ballerte man mit «Genpistolen» fremde Desoxyribonukleinsäure (DNA) in den Zellkern. Diese DNA nistete sich dort ein und gab neue Befehle heraus. Das war es auch schon: Ein Wesen mit fremder DNA galt als Chimäre oder GMO. Wie die Tomate mit dem Fischgen, die kälteresistent wurde, aber niemandem schmeckte, weshalb sie wieder vom Markt verschwand. Heute ist man viel weiter. Dazu muss man wissen: DNA, auf der die ganze Erbinformation drauf ist, muss im Zellkern bleiben; die Kopie der DNA heisst RNA (Ribonukleinsäure), diese kann durch die ganze Pflanze wandern und Infos verteilen oder Infos an die DNA zurückbringen.

Heute schmuggelt man beispielsweise klitzekleine RNA-Stücke ein, womit sich bereits ein Definitionsproblem ergibt, denn die Definition für GMO spricht von Erbmaterial und meint damit DNA. Ob jetzt RNA auch als Erbmaterial gilt, darüber wird gestritten. Aber es wird nicht nur RNA eingeführt, sondern auch gleich ganze künstliche und synthetische Kopien der DNA oder RNA. Sind synthetische Teile nun auch Fremdmaterial? Darüber wird aktuell debattiert, wobei man sich sagt: «Hey, das sieht genau gleich aus wie das Original!» Ob die ihre goldene Uhr wohl auch so easy gegen eine Fälschung tauschen würden? Hey, sieht doch auch genau gleich aus, nicht?!

Manipulierter Apfel ohne Fremd-DNA

Es gibt schon Bakterien mit künstlicher DNA, die sich sogar vermehren können. Diese brave Bakterie macht genau das, was man von ihr verlangt. Zudem kann man DNA, RNA und weitere Teile einführen, eine Manipulation durchführen lassen und die eingeführten Teile teils wieder entfernen. Das Endprodukt enthält fast keine fremde DNA mehr, ist per Definition kein GMO. Dennoch wurde es manipuliert, und zwar krass. Bei Obstbäumen etwa kann ein normaler Reiser auf einen genmanipulierten Wurzelstock gepfropft werden, die RNA wandert in den Reiser, fummelt dort diskret am Apfelgen herum, und verduftet wieder. Der Apfel kommt voll manipuliert auf den Markt, hat jedoch kein Fremdgen drin. Aber möglicherweise neue Proteine, von denen niemand etwas weiss. Auch bei anderen, neuen Techniken wie Zisgenese und Intragenese wird eingeräumt, dass Fremd-DNA im Produkt verbleibt, dabei hat man derart an der Grenze herumgeschraubt, dass es okay ist so, und nicht als Fremd-DNA gilt, obwohl es welche ist: Erst ab zwanzig Nukleotidpaaren ist es laut neusten EU-Richtlinien eine Fremd-DNA. Damit kann schon mal jede Menge unterm Radar der GMO-Regelungen durchgeschmuggelt werden.

Produkt- oder prozessbezogen bewerten?

Und so geht die Polemik heute hauptsächlich darum, ob man etwas produkt- oder prozessbezogen bewerten soll. Prozessbezogen ist obiges Beispiel ganz klar eine Genmanipulation, weil während des Züchtungsprozesses am Gen rumgefummelt wurde; aber das Endprodukt ist frei von fremder DNA, so gesehen also kein GMO. Wobei das, wie gesagt, nicht ganz stimmt. Wieso das wichtig ist?

Weil, wenn das Produkt, ein Apfel etwa, als GMO bewertet wird, musst du einen Haufen teure Tests damit durchlaufen, ellenlange Anträge stellen, um damit überhaupt auf Feld und Markt zu dürfen und eventuell hast du eine Menge Leute, die deinen Bäumen an den Kragen wollen, weil sie keine GM-Apfelbäume in der Nähe haben wollen, da sie selber Raritäten züchten, und ein Überspringen der Gene befürchten. Und Mist! Koexistenzrichtlinien musst du auch beachten, also beispielsweise Abstände zum Nachbarn und auch eine Haftpflichtversicherung muss abgeschlossen werden. Doch keine Versicherung der Welt bietet für GMO Versicherungen an. Denn Versicherungen müssen echte Risikoanalysen machen und können nicht wie die von den Konzernen unterwanderten Behörden behaupten, es bestehe null Gefahr der Genübertragung. Aber am allerwichtigsten ist, dass du – wenn der Beurteilungsaspekt der Produktbezogenheit gewinnt – deine GM-Äpfel nicht als genmanipuliert kennzeichnen musst. Das heisst, du nutzt Genmanipulationstechniken und verkaufst das Produkt als nicht genmanipuliert, juhee!

Aber wir würden es gerne wissen, wenn das Zeugs genmanipuliert ist, und haben im Gegensatz zu den US-BürgerInnen auch ein Recht darauf. Also wird getrickst, geschummelt und gekauft: Behörden, Wissenschaftler, Unis etc. In der ganzen Diskussion geht es überhaupt nicht darum, was der Konsument gerne hätte, sondern darum, wie die Konzerne ihr Zeugs am billigsten auf den Markt werfen können und am meisten Profit daraus ziehen können. Und am meisten Profit holst du mittels Kontrolle der Verarbeitungskette.

Banken und Konzerne mit totaler Kontrollmacht

Gene sind dabei total interessant. Monsanto etwa packt in seine Patente den Anspruch auf die Produkte der Viecher, die mit ihrem patentierten Saatgut gefüttert werden. Gehört jetzt alles ihnen. Jeder, der an das Gen will, muss die Erlaubnis des Patentinhabers einholen und Lizenzgebühren bezahlen. Wäre ich gläubig, würde ich sagen, dass der Teufel höchstpersönlich dieses System designt hat. Es bedeutet die totale Kontrolle der Nahrung. Und essen musst du, ist nicht wie ein iPhone, das, wenn du es doof findest, einfach nicht kaufst. Und sie sind riesig, diese Konzerne, können Milliarden Schulden machen und kaufen alle Saatgutkonzerne auf, deren sie habhaft werden können. Zack, und all das Saatgut gehört ihnen. Ihnen gehört schon über die Hälfte des weltweiten Saatguts. Und man sollte nicht bloss von Monsanto sprechen, sondern von Hedgefonds und Banken. Sie sind die wirklichen Besitzer. Ihnen gehören die Ländereien, die Maschinen, die Schiffe, die Supermarktketten und die Silos, in denen sie Saatgut nach Bedarf zurückhalten können, um die Preise in die Höhe zu treiben. Diese Hedgefonds besitzen mehr Kapital als ganze Staaten, und ich meine damit keine Entwicklungsländer! Wenn die etwas wollen, kriegen sie es auch. Sie können Produkte unter dem Erzeugnispreis anbieten, nur um Konkurrenten aus dem Rennen zu werfen. Die Ukraine etwa, gekonnt in die Schuldenfalle des IWF und der Weltbank geschickt, muss jetzt, um die Kredite zurückzahlen zu können, die Agrarflächen für Hedgefonds und GMO öffnen. Auch für Fracking übrigens. Alles top organisiert. Und Nahrung ist dabei ein wichtiges Puzzlestück.

Helfen die neuen GM-Technologien?

Wir haben Probleme in der Landwirtschaft, so etwa mit den Resistenzen der Unkräuter und mit Schädlingen oder mit dem Wetter. Werden nun resistente Pflanzen gezüchtet, für die kein Gift gebraucht wird? Träum schön weiter! Clearfield-Sorten etwa basieren auf Mutagenese, eine der Genmanipulationstechnologien, die durch die Maschen der GMO-Regelung fällt. Das ist eine uralte Technik aus den 1950er Jahren. Man manipulierte mit Röntgen- und UV-Strahlung sowie mit Chemikalien ziemlich experimentell am Genmaterial rum, sodass sich Gene veränderten. Es wurde vorwiegend für die Medikamentenforschung und -herstellung benutzt und bekam so eine Ausnahmeklausel von der GMO-Regelung: Wenn du mit Chemikalien oder Strahlung am Gen rumfummelst, gilt das nicht als GMO. Ihr könnt euch ja ausmalen, wie diese Gesetzeslücke die Konzerne geradezu eingeladen hat, all diese lästigen GMO-Regelungen sofort zu umgehen. Wärst ja blöd, es nicht zu tun. Clearfield-Sorten sind herbizidtolerant, sprich: du kannst ein Herbizid (Pflanzenvernichtungsmittel) spritzen, das die Pflanze sonst nicht überleben würde. Alles ausser der genmanipulierten Pflanze geht ein. Das bedeutet, dass du zum Saatgut zusätzlich das Gift kaufen musst – natürlich von der gleichen Firma. Das ist das Ziel: Saatgut und Gift verkaufen. Dass die Giftstrategie wegen der Resistenzen und den Umweltschäden nicht funktioniert, ist denen egal. Die Strategie erlaubt Kontrolle und macht reich, alles andere sind «Externalitäten», wie sie das so schön nennen, also Kosten, die der Allgemeinheit aufgebürdet werden, ergo irrelevant. Wer also fluchend vor dem Regal steht, weil Bio teurer scheint, hat unterm Strich unrecht. Und somit nein, sie züchten kaum nachhaltig kluge, neue Sorten. Zudem hat man null Chance, diese genetischen Veränderungen auszumachen, wenn der Konzern das Betriebsgeheimnis geltend macht. Sollte also etwas schief laufen, ist der Konzern fein raus und hat alle Zeit der Welt, sein Vermögen in Sicherheit zu bringen. Bayer packt in sein Patent auf GM-Soja das exklusive Recht, Saatgut auf Kontamination mit diesen gentechnisch veränderten Soja zu überprüfen. Will ein Bauer also selber abklären, ob seine Ernte kontaminiert ist, darf er das nicht. Interessanterweise ist Bayer genau die Firma, die 2011 rund 750 Millionen Dollar Strafzahlungen an US-ReisbauerInnen zahlen musste, deren Saatgut mit GM-Reis von Bayer verunreinigt war.

Terminatortechnologie durch die Hintertür

Mittels CMS, also cytoplasmatische männliche Sterilität (ist auch ein Mutagenese-Verfahren), kann auch das Verbot der Terminatortechnologie (Technologie zur Saatgutsterilität) umgangen werden. CMS ist schon im Handel. Da tun sie überall ein Rettichgen rein, und die Pflanze ist danach nicht mehr fortpflanzungsfähig. Terminatortechnologie durch die Hintertür. Noch mehr Kontrolle. Die Welternährungsorganisation (FAO) hat in ihrer Datenbank über 2500 durch Mutagenese veränderte Sorten registriert, die vertrieben werden. Aber die Registrierung ist freiwillig. Die neuen Technologien finden sich auch im Biolandbau, daher das grosse Schweigen der Biolandbau-Seite. Diese profitiert bislang vom guten Ruf, keine Gentechnik zu benutzen. Einzig Demeter hat sich von Beginn weg klar auch gegen die neuen GM-Technologien positioniert. Und eigentlich auch der Weltbioverband (IFOAM). Doch vor Ort sagen die Verbände auch mal, es ginge nicht anders. Echt Bio ist sicher schon mal der bessere Weg, aber auch verbesserungswürdig. Auch die Biolandwirtschaft muss sich aus dem Zwang der Monokultur befreien und Menschenrechte mit an Bord holen. Wie weit geht die Nahrungsmittellkontrolle? In den USA darfst du in gewissen Städten keine Obdachlosen «füttern», gibt 2000 Dollar Busse.

Weiterführende Infos: blog.unpatentiert.ch

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Neonazis gegen Kapitalismus?

May Day In Germany: RostockDie heutigen Nazis lassen häufig antikapitalistische und antiimperialistische Töne von sich hören. In Deutschland hat sich der sogenannte Strasserismus in den 90er Jahren durchsetzen können, sodass auch die NPD für eine «antikapitalistische Wirtschaftsordnung» kämpft.

«Sie haben völlig recht», entgegnete vor einigen Jahren ein schulbekannter Neonazi in einer Schule im Berlin-Prenzlauer Berg seiner Lehrerin. «Hitler war ein grosser Verbrecher. Er hat den Nationalsozialismus an das Kapital verraten. Unsere Leit- und Vorbilder sind nicht Hitler, Himmler, Goebbels und andere Grössen des ‹Dritten Reiches›, sondern Gregor und Otto Strasser.» Die Lehrerin war zunächst in zweierlei Hinsicht sprachlos. Zum einen hatte sie während ihrer Ausbildung in der DDR nie etwas über die Faschisten Gregor Strasser (1892–1934) und Otto Strasser (1897–1974) gehört und zum anderen verblüffte sie die völlig unerwartete Ideologie heutiger neonazistischer Gruppierungen in der BRD. Diese Berliner Lehrerin stellt keine Ausnahme dar. Bis in die Gegenwart hinein ist den meisten Menschen in den alten und neuen Bundesländern die geistige und programmatische Metamorphose beachtlicher Teile des bundesdeutschen Neonazismus kaum bekannt. Nach dem Scheitern aller Pläne von Otto Strasser, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre sein in der Weimarer Republik und danach entwickeltes faschistisches Politikkonzept nahtlos auf die BRD zu übertragen, war der Strasserismus bis auf die heute noch in Nordrhein-Westfalen agierende Unabhängige Arbeiterpartei (UAP) weitgehend in der politischen Versenkung verschwunden. Ein zaghafter Wandel machte sich erst wieder in den 70er Jahren bemerkbar, als die Neue Rechte in der Bundesrepublik analog ihrer französischen Gesinnungsfreunde nach neuen Ideen suchten, um die politische wie geistige Isolierung der Rechtsextremen zu überwinden. Während man in der französischen Nouvelle Droite insbesondere Vorstellungen von Antonio Gramcsi von der Eroberung der kulturellen Hegemonie vor einer politischen Machtübernahme aufgriff, suchte der sogenannte nationalrevolutionäre Flügel der westdeutschen Neuen Rechten Anknüpfungspunkte beim angeblich linken Flügel der NSDAP, der besonders von den Gebrüdern Strasser repräsentiert wurde. Diese rechtsextremen sogenannten Nationalrevolutionäre, die sich vom Hitlerismus und dem NS-System, aber nicht von der Idee eines «nationalen Sozialismus» distanzierten, gruppierten sich in den 80er Jahren vor allem um die Zeitschriften «wir selbst» (Koblenz), «Europa Vorn» (Köln) und um die «Deutsch-Europäische Studiengesellschaft» (Hamburg).

«Ethnopluralismus» statt Rassismus

Von den IdeologInnen dieser Kräfte, die sich als «progressive NationalistInnen» verstanden, wurden eine Reihe neuer Begriffe entwickelt, um den Rechtsextremismus besser in der Öffentlichkeit anbringen zu können. So sprach man anstatt von Rassismus jetzt vom Ethnopluralismus, statt Biologismus nur noch von einem Biohumanismus. Nach wie vor blieb aber auch bei ihnen die Überwindung der demokratischen Republik und die Errichtung eines neuen Deutschen Reiches das Ziel, in dem die Grundwerte der Aufklärung, vor allem das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, überwunden und durch eine ethnisch homogene und hierarchische Volksgemeinschaft ersetzt werden sollte. Die Rezeption der Strasser-Vorstellungen in der BRD vollzog sich über verschiedene Phasen, die nicht widerspruchslos abliefen. Bis in die 80er Jahre hinein waren die neuen Strasser-AnhängerInnen in intellektuellen Zirkeln relativ isoliert und politisch wirkungslos. Das änderte sich in dem Masse, wie Michael Kühnen, von den 70er bis Anfang der 90er Jahre wichtigster Repräsentant des bundesrepublikanischen Neonazismus, sich über Positionen der faschistischen Sturmabteilung (SA) dem Strasser-Konzept näherte. Bis zu Beginn der 90er Jahre dominierten dann Strasser-Ideen in fast allen nennenswerten neonazistischen Gruppen der BRD. Zu nennen sind hier insbesondere die inzwischen verbotenen Gruppierungen Nationalistische Front (NF) einschliesslich ihrer diversen Nachfolgegruppen, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und die Deutsche Alternative (DA). Dass die Strasser-Ideen gerade in Ostdeutschland einen beachtlichen Widerhall fanden und finden, hängt mit einer diffusen Nachwirkung des «Sozialismus« in der DDR, der Ambivalenz zu den angeblich antikapitalistischen Vorstellungen der Gebrüder Strasser und der neonazistischen Parole zusammen, dass der Sozialismus an sich eine gute Idee wäre, nur müsse dieser nicht internationalistisch, sondern nationalistisch ausgerichtet sein.

Durchsetzung des Strasserismus

Die Durchsetzung des Strasserismus in den meisten neonazistischen Vereinigungen vollzog sich nicht konfliktfrei. So setzte 1992 der damalige DA-Bundesvorsitzende Frank Hübner den verantwortlichen Redakteur der DA-Zeitung «Brandenburger Beobachter», Frank Mencke, ohne viel Federlesens ab, weil dieser in einem Artikel Hitler als Wahrer der Menschenrechte und den SS-Obergruppenführer und Organisator des Holocaust, Reinhard Heidrich, als Vorbild für die jungen Neonazis hingestellt hatte. In der Begründung seines Handelns erklärte Hübner, dass solche Auffassungen nicht den Positionen der DA entsprächen. Ein anderes typisches Beispiel waren die Auseinandersetzungen über diese Problematik in der neonazistischen NPD und ihrer Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN), die im Sommer 1996 zur Absetzung fast der gesamten Redaktion der JN-Zeitschrift «Der Aktivist – Nationalistisches Infoblatt» führte. Erst in dem Umfang, wie sich der 1995 neugewählte NPD-Vorsitzende Udo Voigt gegen den Flügel des abgesetzten vorherigen Vorsitzenden Günter Deckert durchsetzte, veränderte sich auch der politische und ideologische Kurs der NPD in Richtung auf die Strasser-Linie. Der von Deckert favorisierte geschichtliche Revisionismus (vor allem die «Auschwitz-Lüge») wurde zugunsten der sozialen Gegenwartsprobleme in den Hintergrund gerückt. Wie im Strasserismus wird jetzt auch in der NPD eine hemmungslose nationalistische und rassistische Revolutions- und Sozialismus-Phraseologie betrieben, die durch den Übertritt von Funktionären der Ende 1997 aufgelösten Gruppierung Die Nationalen (NAT) noch verstärkt wurde. Bereits im Mai 1996 fand der 26. ordentliche Bundeskongress der JN in Leipzig unter der heute bundesweit vorgetragenen Losung «Gegen System und Kapital – unser Kampf ist national!» statt. In Distanzierung von bisherigen Praktiken beteiligte sich auch die NPD im August 1997 nicht mehr offiziell an den Gedenkveranstaltungen für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess. Dazu argumentierte die Spitze der NPD, so etwas sei nicht mehr zeitgemäss und würde von der Masse der Bevölkerung nicht verstanden.

Testfeld Osten

Hauptexperimentierfeld für die Durchsetzung des neuen NPD-Kurses ist der Freistaat Sachsen. Hier haben NDP und JN seit dem Ende der 90er Jahre ihre politische Isolierung durchbrochen und zählen jetzt ca. 1000 hauptsächlich junge Mitglieder. 2004 und 2009 konnten Abgeordnete der NPD in den Sächsischen Landtag einziehen, 2014 scheiterte sie knapp an der 5-Prozent-Hürde. Ähnlich wie in Sachsen agieren NPD und JN auch in Mecklenburg-Vorpommern. Bei den neonazistischen Mitgliedern und AnhängerInnen der NPD steht nach wie vor die rassistische Hetze gegen AusländerInnen und eine massive soziale Demagogie im Zusammenhang mit der Massenarbeitslosigkeit und der Lehrstellenmisere im Vordergrund der Tagesagitation. Das verdeutlicht aber noch nicht genügend die veränderte, angeblich antiimperialistische Politik der NPD. Das wird deutlicher, sieht man sich die weitergehenden Positionen der NPD an. So heisst es im aktualisierten Parteiprogramm: «Die NPD lehnt die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung systematisch betriebene Internationalisierung der Volkswirtschaften entschieden ab. (…) Auf der ganzen Welt erteilt der Aufbruch der Völker dem multikulturellen Einheitswahn eine Absage. Grundlage einer europäischen Neuordnung muss das Bekenntnis zum nationalstaatlichen Ordnungsprinzip und zum Prinzip der Volksabstammung sein. (…) Wir fordern die Revision der nach dem Krieg abgeschlossenen Grenzanerkennungsverträge.» Noch deutlicher wird die der NPD nahestehende Zeitung, in der «der Kampf für eine nationale, antikapitalistische Wirtschaftsordnung», eine «Basisdemokratie gegen Bonzenhierarchie» gefordert wird. Das alles wird in den neuen Bundesländern mit einer rechtsextremen Vereinnahmung der DDR und einer Anbiederung an einstige DDR-Funktionsträger verbunden. In einem in Sachsen verbreiteten NPD-Flugblatt wird dazu erklärt: «Wir Mitglieder der NPD stehen zur ganzen deutschen Geschichte und auch zur Geschichte der DDR. Die Mehrheit unserer Mitglieder ist (…) der Meinung, dass die DDR das bessere Deutschland war. Wir wollen deshalb die positiven Erfahrungen der DDR in unsere Politik einbringen.» Aber selbst das reicht der NPD noch nicht. Um an ehemalige Kader der SED heranzukommen, wird in dem zitierten Flugblatt entgegen der geschichtlichen Wahrheit weiter verkündet, dass die NPD «in der Tradition der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung» steht. Ideologisch ist man in diesem Zusammenhang bereit, den bisherigen extremen Antikommunismus zugunsten eines ausgeprägteren Antiamerikanismus zurückzunehmen. All das soll dem Ziel der Schaffung einer «Volksfront von rechts» – oder wie es in dem Sachsenflugblatt formuliert wird – der Installierung einer «neuen Nationalen Front des demokratischen Deutschlands» dienen.

Genauere Analysen

Diese geschicktere pseudopatriotische und systemkritische Demagogie wesentlicher Teile des heutigen bundesrepublikanischen Neonazismus findet nicht nur unter Teilen der Jugend, sondern auch bei älteren BürgerInnen in den neuen Bundesländern Widerhall. So bekannte der Sprecher der Bündnisgrünen in Mecklenburg-Vorpommern, Klaus-Dieter Feige: «Ich bin immer wieder erschüttert, wenn ich mich mit Rechtsextremen unterhalte, in wie vielen Punkten wir in der Kritik am existierenden Kapitalismus übereinstimmen.» Zum Schluss sei hier noch darauf verwiesen, dass sich in Gestalt der Europäischen Synergien, einer Absonderung von den europäischen Neuen Rechten, eine neue internationale Struktur herausbildet, die sich verstärkt mit der Thematik des sogenannten Nationalkommunismus befasst und deren Verbindungen bis zu hohen russischen Militärs in Moskau reichen. Ohne jetzt hier noch weitere Thesen und Praktiken der Strasser-ErbInnen zu erörtern, verdeutlicht schon diese kurze Abhandlung, dass viele linke Analysen des heutigen Rechtsextremismus noch zu sehr in überholten Vorstellungen befangen sind und auch viele Argumente des heutigen Antifaschismus nicht die neuen Entwicklungen reflektieren und daher kaum Wirkung zeigen. Anliegen aller Linken sollte es sein, in ihren Analysen genauer die rechtsextremistische Gegenwart zu untersuchen, um daraus effektivere Argumente und politische Aktivitäten zur Zurückdrängung des zur Zeit immer noch wachsenden Einflusses des Rechtsextremismus in allen seinen Varianten zu entwickeln.

Aus der Printausgabe vom 24. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Lenins Materialismus

leninDas Ziel von Lenin war mit der Arbeit «Materialismus und Empiriokritizismus», eine Gesamtübersicht der philosophischen Strömung des Empiriokritizismus zu geben und ihren Platz zu bewerten. Allgemein sieht er die wissenschaftlichen Aufgaben von MarxistInnen darin, Erkenntnisse der bürgerlichen Tatsachenforschung zu verarbeiten und zu verstehen, dabei aber die reaktionären Tendenzen, die unweigerlich darin auftauchen, zu verwerfen. Wenn spezifisch ein philosophisches System untersucht und beurteilt werden soll, muss danach gefragt werden, wie die theoretischen Grundfragen gelöst werden; welchen Platz das System unter den philosophischen Schulen einnimmt und mit welchen es verbunden ist; für wen Partei ergriffen wird mit dem Inhalt der Lehre; was die SchülerInnen und NachfolgerInnen vertreten; welcher Zusammenhang mit äusseren Entwicklungen besteht. In «Materialismus und Empiriokritizismus», das 1909 erschienen ist, hat Lenin diese Fragen bezüglich des Empiriokritizismus beantwortet.

Zwei Lager der Philosophie

Der Grund für die Untersuchung und gnadenlose Kritik am Empiriokritizismus war, dass er von wichtigen Mitgliedern der Bolschewiki wie Bogdanow und Lunatscharski vertreten wurde. Diese philosophische Strömung ging auf den Naturwissenschaftler Mach und den Philosophen Avenarius zurück, die den Idealismus mit dem Materialismus versöhnen wollten. Die besagten Bolschewiki ihrerseits wollten den Empiriokritizismus in den Marxismus einführen. Lenin deckte auf, dass es sich bei dieser Philosophie um Agnostizismus (siehe unten) handelt, dass sie eng mit der erzreaktionären Immanenzschule verbunden ist und ihre Wurzeln beim Philosophen Berkeley hat. Konsequent durchdacht würde der Empiriokritizismus in den Solipsismus führen (die Welt ist meine Empfindung), und müsste Religion und Gott als valide Theorien zulassen. Rückblickend kann gesagt werden, dass es sich um eine kurzlebige Modephilosophie handelte, wie Lenin richtig voraussagte, die aus der damaligen «Krise der Physik» mit ihren neuen Erkenntnissen zum Aufbau des Atoms entwuchs. Wir wollen uns auch nicht länger damit aufhalten, sondern dem zuwenden, was Lenin dieser Philosophie entgegengesetzt hat: den dialektischen Materialismus.

Alle philosophischen Systeme können grundsätzlich in zwei grosse Lager eingeteilt werden, in Materialismus und Idealismus, wobei solche, die zwischen den beiden schwanken, zum Agnostizismus gezählt werden. Lenin bekennt sich dazu, dass die Philosophie des Marxismus, seine Philosophie, der dialektische Materialismus ist. Die Dialektik ist Methode, der Materialismus die Erkenntnistheorie.

Die grundlegenden Begriffe der Erkenntnistheorie stecken in den Begriffspaaren Sein und Denken sowie Materie und Empfindung. Mit diesen Begriffen wird in den Grundfragen der Philosophie operiert, und genau in der gegensätzlichen Beantwortung dieser Fragen scheiden sich die PhilosophInnen in zwei Lager: Was ist das Verhältnis zwischen Denken und Sein? Was ist die ursprüngliche Quelle der Erkenntnis?

Praxis als Ausgangspunkt

Der Materialismus teilt die «naive Überzeugung» der Menschheit, von der auch die Naturwissenschaften spontan (d.h. ohne das Studium der Erkenntnistheorie) ausgehen, dass die Aussenwelt, die Materie, existiert, und zwar unabhängig existiert vom Denken der Menschen. Die Praxis ist der Ausgangspunkt der materialistischen Erkenntnistheorie und unbedingt Teil ihrer Beantwortung der philosophischen Grundfragen. Die Praxis erlaubt uns, die Richtigkeit unserer Vorstellungen zu überprüfen, und lässt eben nur einen einzigen Schluss zu: Die Natur existiert unabhängig von und existierte bereits vor den Menschen. Umgekehrt ist unsere Existenz und unser Denken von der Natur abhängig. Wir existieren, bevor wir empfinden. Die Natur, die Materie, ist das Primäre; das Denken, die Empfindung, das Sekundäre.

Die Empfindung ist die Quelle unserer Erkenntnis. Aber unsere Empfindung ist blosse Widerspiegelung der objektiven Realität, unsere Ideen sind Abbilder der Materie. Die Materie wirkt auf unsere Sinnesorgane ein und erzeugt Empfindungen, Vorstellungen, Abbilder ihrer selbst. Die Sinnesorgane sind andererseits in ihrer Funktion abhängig vom Gehirn, einem materiellen Organ. Wir erhalten durch sie ein subjektives Abbild der objektiven Welt. Wir können die Welt erkennen, aber unsere Erkenntnis ist nie fertig und ist nicht unveränderlich. Wir erkennen einen relativen Teil des existierenden absoluten Ganzen.

Relativismus in der Dialektik

Unsere Kenntnisse sind relativ, aber die unabhängige Existenz einer objektiven Realität muss vom Materialismus bedingungslos anerkannt werden, weil die Praxis es gebietet und gleichzeitig nur so Praxis möglich ist. Der Einschluss des Relativismus bildet das dialektische Moment des marxistischen Materialismus (die Dialektik reduziert sich aber nicht auf den Relativismus). Wissenschaftliche Theorien haben damit immer nur annähernde Geltung. Unsere Raum- und Zeitbegriffe, unsere Vorstellungen über den Aufbau der Materie können und müssen sich mit neuen Erkenntnissen laufend ändern. Nicht ändern wird sich die Tatsache, dass Raum, Zeit, Materie existieren, dass etwas existiert, dass unsere Vorstellungen über sie hervorruft, dass etwas Existierendes dahinter steckt. Jede wissenschaftliche Wahrheit enthält trotz ihrer Relativität ein Element der absoluten Wahrheit. Ordnung, Zweck, Gesetz, die wir in der Natur erkennen, sind menschliche Konstrukte, aber Konstrukte, mit denen sich Wirkliches verstehen lässt. Wir vereinfachen in unserem Denken den objektiven Zusammenhang der «universellen Wechselwirkung» von Ursache und Wirkung, den Zusammenhang der sich in ständiger Bewegung befindenden Welt. Die Wissenschaft ist die ewige Annäherung daran.

Der materialistische Ansatz überträgt sich auch auf die Gesellschaft. Das gesellschaftliche Bewusstsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein, jedoch immer nur annähernd. Die Aufgabe der MarxistInnen als WissenschaftlerInnen ist das Verstehen der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Aufklärung darüber: die Anpassung des Bewusstseins an das Sein. Denn nur mit der Einsicht in das Funktionieren der Welt, in ihre Gesetze und Notwendigkeiten, können wir frei sein. Grössere Freiheit bedeutet, mit grösserer Sachkenntnis zu entscheiden. Je freier wir entscheiden können, je tiefer unsere Kenntnisse sind, desto notwendiger wissen wir, wie wir entscheiden müssen. Die Praxis ist damit Ausgangs- sowie Endpunkt.

Aus der Printausgabe vom 30. Januar 2015. Unterstütze uns mit deinem Abo

Neonazi-Konzert im Kanton Bern

rechtsextreme-jpgAm kommenden Samstag, dem 11. Oktober 2014, soll in der Bar-Racuda in Radelfingen ein Konzert mit der rechtsextremen Band «Von Glas zu Glaz» stattfinden. Dutzende einschlägig bekannte Neonazis haben bereits ihre Teilnahme angekündigt.

«Von Glas zu Glaz» ist das neue Bandprojekt der Gebrüder Cedric und Alexander Rohrbach, welche zuvor bereits in der Rechtsrockband «Indiziert» gespielt haben und beide Mitglieder der Rechtsextremen Partei Nationalorientierter Schweizer (PNOS) sind. Die Band wurde 2013 gegründet und besteht nebst dem Brüderpaar aus Sascha Berger und Roger Wagner. Mit Roger Wagner findet sich der dritte PNOS-Exponent in der Onkelz-Coverband.
Auch wenn sich „Von Glas zu Glaz“ nach aussen hin unpolitisch gibt, handelt es sich bei den Bandmitgliedern keineswegs um unbeschriebene Blätter. Immer wieder tauchten sie an Aufmärschen und Demonstrationen von Neonazis auf und zumindest drei Personen sind gut integriert in die neonazistische Rechte des Kantons Bern.
So verwundert es nicht, dass bereits diverse Exponent_innen der rechtsextremen Szene ihre Teilnahme an diesem Event angekündigt haben.

Der Betreiber der Lokalität wurde bereits auf diese Problematik hingewiesen, reagierte bis zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht.

Es kann nicht angehen, dass eine Bar, die sich als «familienfreundlich» ausgibt, eine Plattform für solche Veranstaltungen bietet.

Quelle: Antifa Bern

Alle auf die Strasse gegen Nationalismus!

Demo gegen Rassismus und reaktionäre Hetze 4.10.14 // 14:00 // Steinberggasse Winterthur

Am 4. Oktober werden die Nationalist_innen der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (AUNS) eine ausserordentliche Mitgliederversammlung in Winterthur abhalten. In der Parkarena in Hegi, einem Kongresszentrum der evangelikalen Freikirche «Gemeinde von Christen» (Prominentestes Mitglied: Polizeivorsteherin Barbara Günthard-Maier), werden die strammen Patriot_innen nicht allein ihrem hässlichen Wohlstandschauvinismus huldigen: Als Gastredner tritt Nigel Farage auf. Dieser ist Chef der britischen rechts-nationalistischen UKIP (United Kingdom Independence Party), welche in den Europawahlen vergangenen Mai 28% der Stimnmen holte und damit alle anderen Parteien überflügelte.

Dass sich AUNS und UKIP gefunden haben erstaunt uns nicht, vertreten doch beide sehr ähnliche reaktionäre Positionen: Aggressiven Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit bis hin zu offenem Rassismus, Rückbesinnung auf Volk und Nation, Sexismus und Homophobie.

Selbst die EU, bekannt für brutale Repression gegen Flüchtende, ist den Rechten noch zu wenig konsequent.
Im Falle der UKIP wird das nationalistische Geschwafel zudem mit radikalem Neoliberalismus angereichert. Desweiteren bedient sie sich populärer Verschwörungstheorien über «geheime Eliten» und die «Klimalüge».
Die UKIP, die AUNS und viele weitere Organisationen in ganz Europa sind Teil des zur Zeit erstarkenden Rechtsnationalismus, welcher sich gleichermassen gegen Migrant_innen und Asylsuchende als auch gegen die «Eliten» (zu welchen die Führer dieser Bewegungen meist selber gehören) richtet.

Wenn die herrschende Klasse Volk und Nation zu beschwören beginnt, sollten die Alarmglocken läuten! Denn ihre Politik zielt nicht nur gegen Fremde, sondern in ihrer Konsequenz auch auf die Gesamtheit von uns Lohnabhängigen und allen weiteren Marginalisierten der Gesellschaft.

Wir lassen uns das nicht gefallen! Wehren wir uns gemeinsam gegen die menschenverachtenden Ideologien der rechten Hetzer_innen. Zeigen wir den Nationalist_innen dass sie in Winterthur nicht willkommen sind. Gerade in diesen Zeiten von neoliberalen Sparpaketen, allgegenwärtiger rassistischer Hetze und nationalistischen Kriegen ist es wichtig, dass wir geschlossen für Solidarität und eine ganz andere Gesellschaft eintreten.

Kommt deshalb alle am 4. Oktober auf die Strasse! Ob Arbeiter_in oder Student_in, ob jung oder alt, ob mit oder ohne Schweizer Pass: Dieser Kampf geht uns alle an!

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Rechtsextreme auf dem Vormarsch

RASSEMBLEMENT DU FRONT NATIONAL AU PALAIS ROYALMit dem Doppelgesicht Marine, die Tochter, und Jean-Marie, der Vater, präsentiert sich der rechtsextreme französische Front National (FN) seinen WählerInnen seit der Inthronisierung von Marine Le Pen als neue Hoffnungsträgerin der Unterschichten, «qui en ont assez» («welche die Schauze voll haben»). Mit ihrer parteiinternen Strömung «Bleu Marine» und die Anlehnungen an Jeanne d’Arc, die von Gott höchstpersönlich dazu auserwählt sei, la douce France vor den «miesen, fiesen dunkelhäutigen Ausländern» zu retten, hat sie nicht nur eine ganze Männerriga von Le-Pen-Epigonen in der eigenen Partei «links» überholt, sondern den FN zur «stärksten der Partei’n» gemacht. Den Namen der Formation hatte der Parteigründer Jean-Marie Le Pen, in den Sechzigerjahren Führer der Winzigpartei «Parti des Forces nouvelles» und des bedeutungslosen neonazistischen «Ordre nouvau», den vereinigten Kräften der Résistance gestohlen, die schlicht und einfach vergessen hatten, die Bezeichnung unter Rechtsschutz zu stellen!

Und nun scheint der Tochter die Häutung gelungen zu sein. Wenn da nur nicht immer Papa Le Pen dreinfunken würde, der einfach den Latz nicht halten kann! Aber eben, die ollen Gamellen Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und Rassismus bilden halt im proletarischen Prekariat und in ländlichen Gegenden immer noch den «fond de commerce». So sagte er zum Beispiel, er sei gar nicht rassistisch, denn es sei doch logisch, dass Schwarze beim Schnelllauf und Basketball immer gewinnen, mit so langen Beinen! Für die wiederholte Aussage, die Gaskammern, falls sie überhaupt existiert hätten, «seien ein Detail der Geschichte», wurde er mehrmals rechtskräftig verurteilt. Und nun hat er sich mit einem seiner schärfsten Kritiker, mit dem bekannten jüdischen Sänger Patrick Bruel angelegt, aus dem er eine «fournée» machen werde, eine «Ofenladung», womit er an das schreckliche Wortspiel über den früheren sozialistischen Minister Durafour angeknüpft hat, mit dessen Namen er sich das Wortspiel «Durafour crématoire» («le four crématoire», der Verbrennungsofen) angeeignet hat. Papa Le Pen hat auch selbst zugegeben und sich sogar damit gebrüstet, im Algerienkrieg bis 1961 eigenhändige «la manivelle» bedient zu haben. «La manivelle» ist der sarkastische Übername des damals am meisten verbreiteten Folterinstruments gegen den FLN, die algerische Befreiungsbewegung. Ein Apparat mit einer Kurbel, mit dem den Opfern in Verhören Stromstösse, die im schlimmsten Fall tödlich waren, versetzt werden konnten.

 

Der Hitlergurss und andere politischen Frivolitäten…

Aber man soll nicht etwa glauben, es gebe nur im Ausland Sympathisanten von solchen Dreckskerlen. Nein, auch in der schönen Schweiz, von Blochers Sünneli Tag und Nacht beschienen, wimmelt es davon. Im August 2010 zeigte ein Mann auf dem Rütli den Hitlergruss und wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Nun hebt das Bundesgericht die Entscheidung wieder auf: «Der Rechtsextreme habe nur seine Ideologie gezeigt, aber nicht dafür geworben.» Damit ist klar: Die Geste ist in der Schweiz nicht grundsätzlich verboten. In Tschechien, Österreich und in Deutschland gilt der Hitlergruss dagegen als Straftat. Wenn der Neonazi «seine Ideologie nur gezeigt», aber «nicht dafür geworben hat», was wollte er denn zeigen? Für den 1. August dieses Jahres hier ein paar Vorschläge für PNOS-Mitglieder, falls diese in Beweisnotstand kommen, was sie denn da «zeigen« wollten: erstens, wie hoch ihre Sonnenblumen diesen Sommer geworden sind; zweitens, wie hoch der Schnee im Winter im Oberengadin war; drittens, wie hoch ihre bevorzugte Mannschaft bei der Fussball-WM gewonnen hat; viertens, wie gross ihr ältester Sohn jetzt schon ist; fünftens, wie gross das Bier war, das sie vor der Abreise an die 1.-August-Feier getrunken haben.

 

Nazi-Embleme

Desgleichen ist das Tragen von Nazi-Emblemen oder das Schwingen von Hakenkreuz-Fahnen nicht mehr verboten, «wenn nicht damit geworben wird». Strafrechtsprofessor Niggli von der Uni Freiburg dazu: «Ein Skandal!» Denn von nun an steht es im Ermessen jedes Polizisten, ob der Demonstrant auf dem Rütli «das Kreuz mit dem grossen Haken für den kleinen Mann» (Bert Brecht) mitträgt, weil er dafür für die Nazi-Ideologie werben will, oder ob er das doofe Ding einfach so mehr oder weniger zufällig mitschleppt, weil es in der Hohlen Gasse am Strassenrand herumlag. Man kann sich bereits folgenden Dialog vorstellen. Polizist: «Sie tragen das Hakenkreuz durch die Gegend! Tragen Sie die Fahne einfach nur so mit sich herum, oder wollen Sie damit etwas ausdrücken?» Nazi: «Waas? Ich? eine Hakenkreuzfahne?» Er schaut der Stange nach hinauf, erschrocken: «Hol’s der Deibel! Tatsächlich! Welcher Dreckskerl hat mir das miese Teil angehängt?! Warten Sie nur, Herr Oberwachtmeister, dem werd ich’s zeigen, wenn ich ihn erwische!»

 

Nazi als Offiziere in der Swiss Army

Und da aller guten, das heisst schlechten Dinge drei sind, hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass ein Rechtsextremer, der teilweise auch Nazi-Ideen gutheisst, unter der Schweizer Fahne die RS machen darf! Vor einigen Jahren ist eine Bombe geplatzt: Zahlreiche Schweizer Rekruten, die «weitermachen» wollen, sind Neonazis! Ein Kommandant äusserte dazu: «Wenn Sie uns die auch noch wegnehmen wollen, haben wir bald gar keine mehr, die Offiziere werden wollen…» Da könnte man ja gleich das Schweizer Kreuz auf unseren Militärfahnen durch Hakenkreuze ersetzen und unsere Offiziere mit SS-Dolchen mit dem eingeäzten Wahlspruch «Meine Ehre heisst Treue» herumstolzieren lassen. Und das alles, wie zufällig natürlich, pünktlich nach dem Wahlsieg der rechtsextremen Parteien in drei europäischen Ländern. Das erinnert an eine dunkle Epoche unserer Geschichte: Die Schweiz anerkannte schon 1939 voreilig die Franco-Diktatur in Spanien.

 

 

Antifaschismus neu denken

antifaAm 29. März 2014 hätten in Bern auf der einen Seite Rechtskonservative, FaschistInnen und Neonazis, auf der anderen Seite AntirassistInnen und die Antifa demonstrieren sollen. Die Stadt wurde von circa 1000 PolizistInnen ­belagert und am Schluss fand keine Demo statt. Angesichts der Entwicklungen in der Schweiz und in Europa sollten wir uns wieder genauer mit Fragen des Faschismus und des Antifaschismus auseinanderzusetzen.

Ende 2012 versuchte die Gruppe «Stopp Kuscheljustiz» in Bern eine Kundgebung «gegen Ausländerkriminalität und gegen die Ausbeutung der Schweiz [sic!]» durchzuführen. Eine starke antifaschistische Gegenmobilisierung und die Erinnerungen an die Ereignisse rund um das SVP-Familienfest 2007 führten dazu, dass die VeranstalterInnen einen Rückzieher machten und die Kundgebung abgesagt wurde. Am 29. März 2014 versuchten sie erneut eine Kundgebung unter dem Namen «Volksversammlung» zu organisieren. Bewusst distanzierten sie sich diesmal von rechtsextremen Ideologien. Doch ihr Facebook-Auftritt zeigt, dass die Gruppe ein Sammelbecken für rechtskonservative und rechtsextreme Ideologien darstellt. Die «Helvetia» wird zur Heimat der «Eidgenossen» hochstilisiert und populistische Hetzberichte gegen AusländerInnen, Asylsuchende und Kriminelle von Seiten rechtsextremer Parteien wie der PNOS (Partei National Orientierter Schweizer) folgen regelmässig. Und auch Auf­forderungen wie «Schweiz erwache» in Anlehnung an das SA-Kampflied «Deutschland erwache», Aufrufe zu ethnischen Säuberungen oder die Forderung der Todesstrafe gegenüber Andersdenkenden oder MigrantInnen sind die Regel. Häufig findet sich zudem Werbung für die rechtspopulistische SVP. Obwohl sich die SVP von jeglichen rechtsextremen Positionen und Gruppen distanziert, wird damit ersichtlich, dass die SVP auch in diesen Kreisen gewählt wird. Auch die «Volksversammlung» vom 29. März wurde schlussendlich abgesagt. Angekündigte antifaschistische Gegenmobilisierungen im Rahmen von «Bern bleibt Nazifrei» hatten erneut so grossen Druck aufgesetzt, dass die VeranstalterInnen das Demogesuch zurückzogen. Das Polizeiaufgebot blieb jedoch bestehen und so war an jenem Samstag die gesamte Innenstadt von circa 1000 PolizistInnen besetzt. Einzelne rechtsextreme Personen und Gruppen begaben sich trotzdem in die Stadt, ­konnten sich aber nie zu einer Demo formieren. Und die Aktivitäten von «Bern bleibt Nazifrei» konzentrierten sich auf die Reitschule und auf das «FEST gegen Rassismus».

Überall Faschismus??

Es ist mit Sicherheit schwierig, einen Überblick über dieses Amalgam an rechtskonservativen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Positionen und Organisationen zu behalten. Umso schwieriger gestaltet sich die Formulierung eines ideologischen und praxisorientierten Antifaschismus, der sich einerseits über die Historie des Faschismus, des Nationalsozialismus und der antifaschistischen Widerstandsbewegung bewusst ist, andererseits aber nicht alles als Faschismus bezeichnet, was sich im rechten politischen Spektrum positioniert. Gerade in der Schweiz, wo wir weder einen Faschismus kennen, der in Zeiten akzentuierter Klassenkämpfe von der Bourgeoisie als staatstragende Macht eingesetzt wurde, noch eine antifaschistische Bewegung, die sich in einer mehr oder weniger gemeinsamen Tradition sieht, ist das Risiko gross, voreilig für alles die Bezeichnung «Faschismus» zu gebrauchen. Diese Einsicht ändert aber nichts an der Tatsache, dass faschistoide Tendenzen tatsächlich auch in Gruppen und Organisationen zu erkennen sind, die sich von rechtsextremen Positionen distanzieren. Historisch sind solche Züge in den national-konservativen und populistischen Positionen von James Schwarzenbach wiederzufinden, vorwiegend in der Konstruktion einer «generalisierten Masse» (damals die ItalienerInnen), die als Bedrohung für das angeblich Schweizerische definiert wird, von der direkten Demokratie bis hin zu den kulinarischen Gewohnheiten. Genauso verhält es sich bei der Gruppe «Stopp Kuscheljustiz»: Obwohl sich die VeranstalterInnen von rechtsextremen Positionen distanzieren und sich nicht als FaschistInnen oder Neonazis wissen wollen, zieht eine solche «Volksversammlung» sehr wohl offen deklarierte RassistInnen, FaschistInnen und RechtspopulistInnen an. Die faschistoiden Züge der Rechten in der Schweiz haben sich also durch rassistische Komponenten («zu viele AusländerInnen») und den Schutz der eigenen «Identität» und «Tradition» charakterisiert. Und sie sind vor allem auch immer bis in die «Mitte der Gesellschaft» vorzufinden.

Woran anknüpfen??

Die Verhinderung der «Volksversammlung» durch den Aufruf zu einer linken und antifaschistischen Gegendemo hat gezeigt, dass die Antifa «auf der Strasse» eine wichtige Arbeit leistet. Doch die faschistoiden Tendenzen in der «Mitte der Gesellschaft» manifestieren sich heute in der Annahme der Ausschaffungsinitiative von kriminellen AusländerInnen und der Masseneinwanderungsinitiative. Der Umgang mit Faschismus und Antifaschismus in der Antifa und vor allem die Aktualitätsbezogenheit einer antifaschistischen Intervention muss heute darum vermehrt auch die Frage stellen, warum diese faschistoiden Tendenzen bei unseren Nachbarn und ArbeitskollegInnen auf fruchtbaren Boden stossen. Eine Analyse zur Abstimmung am 9. Februar hat gezeigt, dass sich in erster Linie 50- bis 59-Jährige mit obligatorischem Schulabschluss und weniger als 3000 Franken Monatseinkommen aus den städtischen Agglomerationen für die Masseneinwanderungsinitiative ausgesprochen haben. Auch wenn solche Analysen mit Vorsicht zu geniessen sind, zeigen sie auf, dass vor allem ArbeiterInnen, die vom aktuellen Restrukturierungsprozess des schweizerischen Kapitalismus getroffen sind, auf rechtskonservative, rechtspopulistische und zum Teil auch rechtsextreme Positionen aufspringen. Das ist der Ausdruck davon, dass faschistische Tendenzen in der «Mitte der Gesellschaft» existieren. Eine Antifa sollte also dieses Spezifische aufnehmen und im Zusammenhang mit den heutigen Schwierigkeiten der Klassenkämpfe reflektieren. Dies bedeutet aber auch, dass sich die antifaschistische Intervention nicht auf die Strasse beschränken lässt, sondern vermehrt auch in den Quartieren, in den Schulen und an den Arbeitsplätzen anknüpfen muss.

Masslos?

2425604958_5fe2efd1f1Eigentlich hätte man am 9. Februar 2014 darüber abstimmen müssen, ob es mit einem immer absurdere Dimensionen annehmenden Kapitalismus so weitergehen kann wie bisher. -Stattdessen ist es ausgerechnet der SVP, welche zu den glühendsten Verfechtern eines möglichst ungehinderten kapitalistischen Profit- und Wirtschaftswachstums gehört, einmal mehr gelungen, sich zur Heldin im Kampf gegen jene Probleme aufzuspielen, die sie selber verursacht hat. 

Aus der Printausgabe vom 14.März. Unterstütze uns mit einem Abo.

Wenn die SVP – wie sie das in ihrem Abstimmungskampf für die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» getan hat – behauptet, «Masslosigkeit schade», hat sie ja eigentlich recht. Nur müsste es ehrlicherweise heissen: «Kapitalismus schadet». Denn diese Masslosigkeit, dieses unbeirrte Festhalten an der Ideologie eines endlosen Wirtschaftswachstums; das Hin- und Herschieben von Gütern quer über alle Grenzen hinweg zu reinen Profitzwecken, die explodierenden Bodenpreise, Wohnungsmieten und Krankenkassenprämien; die wachsende Zahl von Menschen, die dem steigenden Leistungsdruck nicht gewachsen sind und zu «Sozialfällen» werden; die Abwanderung einer immer grösseren Zahl von Menschen aus Ländern, in denen es überhaupt keine Erwerbsmöglichkeiten gibt, in andere Länder, wo es im Vergleich zur vorhandenen Bevölkerung viel zu viele Erwerbsmöglichkeiten gibt; das damit verbundene, immer drastischere Auseinanderklaffen zwischen Zentren des Reichtums und Zonen der Armut; das rücksichtslose Verprassen natürlicher Ressourcen auf Kosten zukünftiger Generationen; die unaufhaltsame Verbetonierung wertvollsten Kulturlandes; die überfüllten Züge, die verstopften Strassen.

Dies alles ist ja nicht über Nacht zufällig vom Himmel gefallen, sondern ist nichts anderes als die ganz natürliche und logische Folge jenes Wirtschaftssystems, das man Kapitalismus nennt, und das nicht auf soziale Gerechtigkeit und schon gar nicht auf den Respekt gegenüber Mensch und Natur ausgerichtet ist, sondern einzig und allein darauf, mithilfe der Herstellung, des Handels und des Verkaufs einer unablässig wachsenden Menge an Gütern einen möglichst grossen und unablässig wachsenden materiellen Profit zu erzeugen.

Falsche und gefährliche Schuldzuweisung

Das Fatale daran ist, dass ausgerechnet die SVP, die bei jeder Gelegenheit für die grösstmögliche «Freiheit» und Selbstentfaltung einer durch und durch wachstumsorientierten kapitalistischen Wirtschaftslogik eintritt und sich gegen jegliche staatliche Kontrolle oder Einmischung zur Wehr setzt, gleichzeitig aus den zerstörerischen und lebensfeindlichen Auswirkungen dieses Systems am allermeisten politisches Kapital zu schlagen vermag, indem es ihr nämlich immer und immer wieder gelingt, die in der Bevölkerung vorhandenen Sorgen, Ängste und Frustrationen auf eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen, die so genannten «Ausländerinnen» und «Ausländer», umzulenken.

Keine vernünftige Sachpolitik 

Erst eine umfassende und tiefgreifende Analyse der Prinzipien und daraus resultierenden Auswirkungen des kapitalistischen Denk-, Geld- und Wirtschaftssystems kann diesen Schwindel ans Licht bringen. So lange dies nicht erfolgt, kann keine echte Alternative zu jener «Masslosigkeit» in Form der kapitalistischen Wachstumsideologie entwickelt werden, der wir alle zusammen – ob «Linke» oder «Rechte», ob SP oder SVP – gleichermassen unterworfen sind. Einfach gesagt: Wir brauchen eine von Grund auf neue, nicht auf die Bedürfnisse des nach seiner Selbstvermehrung schreienden Kapitals, sondern auf die Bedürfnisse von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschaftsordnung. Alles andere ist reine Symptombekämpfung, Augenwischerei und Selbsttäuschung.

 

Peter Sutter ist Autor des Buches «Zeit für eine andere Welt – Warum der Kapitalismus keine Zukunft hat»

Kapitalismus konkret!

IMG_1360Die Konzentration des Reichtums in immer weniger Händen hat sich mit Hilfe der Regierungen rapid beschleunigt. 85 Personen besitzen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung.

«Eine kleine Elite von 85 Personen besitzt genau so viel Vermögen wie die Hälfte der Weltbevölkerung». Mit diesem Satz beginnt eine am 20. Januar 2014 veröffentlichte Mitteilung von «Oxfam», einer internationalen Vereinigung von humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, die sich der Bekämpfung der Armut in der Welt widmen.

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Ich bin kein Marxist

papa-francescoEr sei kein Marxist, liess der aus Argentinien stammende Papst Franziskus am 15. Dezember in einem Interview in der Sonntagsausgabe der italienischen Tageszeitung «La Stampa» wissen. Er reagierte damit auf Vorwürfe aus rechtskonservativen Kreisen in den USA. Ein US?amerikanischer Radiomoderator hatte nach der Veröffentlichung des jüngsten Apostolischen Sendschreibens «Evangelii gaudium» («Freude des Evangeliums») verbreitet, dass das, was da vom Papst zu hören war, «purer Marxismus» gewesen sei.

In dem Stampa-Interview erklärte Franziskus nun dazu, dass seine Botschaft mit den scharfen kapitalismuskritischen Äusserungen, die nicht nur von konservativen Kirchenkreisen, sondern auch von Vertretern der «Wirtschaft» heftig kritisiert worden waren, in der Soziallehre der katholischen Kirche ihre Grundlage habe. Dass er sich so geäussert habe, mache ihn noch nicht zum Marxisten. Die «Ideologie des Marxismus» sei seiner Ansicht nach «irrig». Doch er fügte auch hinzu: «Ich habe in meinem Leben viele Marxisten getroffen, die gute Menschen waren». Darum fühle er sich durch die gegen ihn geäusserte Kritik «nicht angegriffen». Das Versprechen des Kapitalismus, dass der Reichtum irgendwann auch bei den Armen ankomme, habe sich nicht erfüllt.

Wie aus Kreisen seiner Umgebung aus diesem Anlass mitgeteilt wurde, sei Franziskus zwar nie ein Ultrakonservativer gewesen, aber den Jesuitenpatern in Lateinamerika, die sich von der «Theologie der Befreiung» her marxistischen Ansichten näherten, sei er entschieden entgegengetreten. Anstelle der in den 70er Jahren in Lateinamerika verkündeten «Theologie der Befreiung» habe er eine nichtmarxistische «Theologie des Volkes» verfochten.

In dem Sendschreiben «Evangelii gaudium» hatte der Papst umfangreiche Überlegungen zu einer religiösen und moralischen «Erneuerung» der Kirche in den Mittelpunkt gestellt. Die kritischen Aussagen zu den Missständen des heutigen Wirtschaftssystems waren Teil dieser Modernisierungsbestrebungen. Unter anderem heisst es da wörtlich: «Ebenso wie das Gebot ‹Du sollst nicht töten› eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein ‹Nein zu einer Wirtschaft der Ausschliessung und der Disparität der Einkommen› sagen. Diese Wirtschaft tötet… Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann… Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen».

Vom marxistischen Standpunkt aus ist es eine Frage von nachgeordneter Bedeutung, ob die Kapitalismuskritik ihre Quelle in der katholischen Soziallehre oder in der marxistischen Gesellschaftsanalyse hat. Entscheidend ist, welche Schlussfolgerungen daraus für das heutige Handeln der Menschen zur Überwindung dieser menschenunwürdigen Zustände gezogen werden und ob sich daraus Möglichkeiten eines stärkeren gemeinsamen Vorgehens von Katholiken mit Kommunisten, Sozialisten und anderen Linken ergeben können

Die «grossen Industriellen»

HolcimVor einem Jahr feierte Holcim, das Schweizer Zementunternehmen von Thomas Schmidheiny, sein 100. Jubiläum. In der Schweiz zählt die Familie Schmidheiny zu den vorbildlichsten Industriellen. Doch ob in Indien, Südafrika, Italien oder in der Schweiz: Das Imperium produziert seit jeher Elend und Tod. Ein Blick hinter die Kulisse der Schmidheiny-Dynastie.

Zum 100. Jubiläum von Holcim zögerten die Medien nicht, den grössten Einzelaktionär des Zementunternehmens, Thomas Schmidheiny, als «grossen Industriellen» zu feiern. Durch seine Aktivitäten habe er die «schweizerischen Traditionen und Werte» über Holcim weltweit verbreitet.

Seit 2005 besitzt Holcim die Mehrheit zweier grosser Zementhersteller in Indien (ACC und Ambuja Cement). Nach China ist Indien der zweitgrösste Zementproduzent weltweit. Der Sektor kennt seit einigen Jahren ein jährliches Wachstum von über elf Prozent. Indien stellt also eines der wichtigsten Investitionsfelder des globalen Kapitals dar – und somit auch des schweizerischen Kapitals.

Die lokale Gewerkschaft «Pragapisheel Cement Shramik Sangh» (PCSS) klagt seit mehreren Jahren diese zwei Unternehmen an, weil sie über die Anstellung von befristeten TemporärarbeiterInnen die indischen Mindeststandards unterschreiten: Bezahlung unter dem Mindestlohn, Zwang zur Ausführung der gefährlichsten Tätigkeiten, ständige Drohungen entlassen zu werden. Über 80 Prozent der Beschäftigten arbeiten heute unter solchen ausbeuterischen Bedingungen.

Darüber hinaus werden ganze Bevölkerungsgruppen – vor allem Kleinbäuerinnen und -bauern – aus gewissen Regionen vertrieben (zum Beispiel aus dem zentralindischen Staat Chhattisgarh), weil vermehrt natürliche Ressourcen für den Bergbau entdeckt werden. In den nächsten Jahren soll die Zementproduktion in dieser Region von 13,5 auf 100 Millionen Tonnen jährlich steigen. Dafür werden weitere Produktionszentren aufgebaut .?.?.? und weitere Kleinbäuerinnen und -bauern vertrieben. Holcim rechtfertigt solche Arbeits- und Lohnbedingunen damit, dass die Übernahme der indischen Firmen auch die Übernahme von «Traditionen» und «Gewohnheiten» bedeute. Holcim könne diese nicht von einem Tag auf den anderen ändern.

Die Tradition des Kapitals – ob «schweizerischer» oder «indischer» Herkunft – bedeutet schlicht Ausbeutung. Diese löst aber auch immer Widerstand aus. Einerseits von den Kleinbauerinnen- und Kleinbaur, die Holcim direkt verurteilen, sie für die verlorenen landwirtschaftlichen Gebiete nicht entschädigt zu haben, andererseits durch die ArbeiterInnen der Zementfabriken selbst, welche über die Weitergabe von Aufträgen an Subunternehmen und TemporärarbeiterInnen einem immensen Arbeitsdruck ausgesetzt sind. Arbeitsunfälle und Tod am Arbeitsplatz gehören zum Alltag der indischen ArbeiterInnen.

Das Asbestimperium der Schmidheinys

Hinter Thomas Schmidheiny und der Holcim AG steht eine der einflussreichsten Unternehmerdynastien der Schweiz. Die rheintaler Familie Schmidheiny bereicherte sich über das Geschäft mit dem hochgiftigen Asbeststaub. Letztes Jahr kam es in Italien zu einem Schuldspruch gegen Stephan Schmidheiny. Der Bruder von Thomas (Holcim) wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt. Er ist mitschuldig, in Italien eine Umweltkatastrophe verursacht und Sicherheitsmassnahmen in den italienischen Eternit-Fabriken absichtlich unterlassen zu haben. Bis heute starben allein in Italien über 3000 Menschen an asbestverursachten Krankheiten. Der Reichtum der Schmidheinys scheint seit jeher auf dem Tod von ArbeiterInnen weltweit zu basieren.

Die Geschichte begann 1920 in Glarus, als Ernst Schmidheiny, Urgrossvater von Thomas und Stephan, Anteile der Eternit-Fabrikationsanlage in Niederurnen aufkaufte. In der Schweiz sind bisher 700 Todesopfer bekannt und weitere werden erwartet. Auch die Asbestopfer von Niederurnen reichten gegen die Schmidheinys eine Strafanzeige ein. Das Bundesgericht entschied jedoch im 2003, das Verfahren aufgrund von Verjährung einzustellen. Es wurde lediglich eine Stiftung mit läppischen 1,25 Millionen Franken Stiftungskapital für Asbestopfer geschaffen.

Zur zweiten Generation der Schmidheinys gehören die jungen Erben Max und Ernst junior. Diese entwickelten intensive Geschäftsbeziehungen zu den Nazis und dem Apartheid-Regime in Südafrika. Während des Weltkrieges belegten sie Sitze im -Aufsichts-rat der «Deutschen Asbestzement AG» (DAZAG), die damals massenhaft ZwangsarbeiterInnen ausbeutete. 1941 expandierten die Schmidheinys auch nach Südafrika, wo sie in enger Zusammenarbeit mit dem Apartheid-Regime das Asbestgeschäft zum Florieren brachten. In den südafrikanischen Asbestmienen der Schmidheinys «spotteten die gesundheitlichen und arbeitshygienischen Umstände bis Anfang der achtziger Jahre jeglicher Beschreibung. (…) Arbeiter, die ohne Schutzvorkehrungen knöcheltief im Asbest wateten; offene, vom Wind verwehte Schutthalden, Berge von Produktionsrückständen in unmittelbarer Nachbarschaft von menschlichen Behausungen und Wasserstellen» (Bilanz 2003). 2002 sollte es auch in Südafrika zu -einer Sammelklage kommen, doch der spätere Bundesrat Hans-Rudolf Merz entschärfte die Situation zugunsten der Schmidheinys. Merz ersetzte seinen Busenfreund Stephan Schmidheiny als VR-Präsident der Anova, welche die Auslandinteressen der Schmidheinys vertrat. Zur Kollaboration mit dem Apartheid-Regime behauptete Merz: «Damals war die Apartheid in der Schweiz kein Thema und niemand hat sie verurteilt. (…) Es gab auch viele Leute, die die Apartheid unter dem Aspekt der Erziehung sahen und nicht der Rasse» (Tagesanzeiger, 8. November 2002). Auf dem Höhepunkt des Eternit-Booms beschäftigten die Schmidheinys weltweit über zehntausend MitarbeiterInnen. Obwohl spätestens seit den frühen Siebzigerjahren wissenschaftlich belegt wurde, dass das Einatmen von Asbeststaub zu Krankheit und Tod führen kann, setzten die Schmidheinys ihre ArbeiterInnen noch lange Jahre dem Risiko aus. Da die Krankheit bis zu 30 Jahre nach dem Kontakt mit Asbest ausbrechen kann, werden zu den tausenden Toten noch viele weitere dazu kommen. So viel zu «schweizerische Traditionen und Werte», die Schmidheiny weltweit verbreitet hat.

Demokratie des Kapitals

zio-paperoneMit dem Begriff der Demokratie wird allerhand Unfug getrieben. Jeder und jede darf sich ein wenig ausmalen, was sie oder er darunter verstehen will. Die Angst vor einem Verlust der Demokratie hat aber auch einen reellen Kern in der Restrukturierung der Kapitalakkumulation in der Krise.

Aus der Printausgabe vom 23. August. Unterstütze uns mit einem Abo.

Als gegen Ende des Jahres 2011 die Bewegung «Democracia Real YA!» in Spanien eine «echte Demokratie» einforderte, war sie bereits Ausdruck der offensichtlichen Probleme demokratischer Strukturen in der Krise des Kapitals. Wenn heute allerhand DenkerInnen Reden und Schriften zur Demokratie veröffentlichen, dann ist dies Äusserung einer Besorgnis, die einen reellen Kern hat. Darum findet man in der NZZ eine Folge von Essays über die «Volksherrschaft» unter der Zusammenfassung, dass die Finanzkrise und drohende Staatspleiten die demokratischen Gemeinwesen strapazieren. Und deshalb nennen die beiden Post-Intellektuellen Antonio Negri und Michael Hardt ihr neustes Machwerk «Demokratie! Wofür wir kämpfen». Es scheint, als würde die Demokratie gerade dann zu einem sakrosankten Wert, wenn sie von den Kapitalanforderungen ein ums andere Mal ad absurdum geführt wird.

Diffuse Begrifflichkeit

Unter Demokratie stellen sich die verschiedenen Kräfte sehr verschiedenes vor. Tatsächlich lädt die Unbestimmtheit des Begriffs dazu ein, sich nach eigenem Gusto ein Bild zu machen. Es ist kaum anzunehmen, dass die Demonstrantin auf den Strassen Barcelonas mit echter Demokratie dasselbe meint wie der Journalist in der NZZ-Redaktion, wenn er vom drohenden Verlust der Demokratie schreibt. Der eine betont die Freiheit des Marktes, während die andere die Institutionen, welche Grundrechte – auch für Minderheiten – garantieren sollen, zum Massstab der Demokratie erhebt. Die Vorstellungen reichen dann auch von der repräsentativen Demokratie, in der man alle paar Jahre die VerwalterInnen der Ausbeutungsverhältnisse wählen darf bis hin zu den Vorstellungen der RätekommunistInnen, die sich eine künftige Gesellschaft nach einer Rätestruktur mit demokratischem Verfahren ausmalten. Doch wenn man etwas über die aktuellen Prozesse und Sorgen sagen will, dann muss man sich der Demokratie zuwenden, wie sie heute bei allen Unterschieden in den alten kapitalistischen Zentren vorherrschend ist.

Geschäftsgrundlage des Kapitals

Als sich die bürgerliche Revolution die Parole «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» auf die Fahnen schrieb, nahm sie politisch vorweg, was die ökonomische Struktur ihrer Gesellschaft zumindest an der Oberfläche – wenn man keinen Blick in die Produktion wirft – ausmachen sollte; auch wenn die Brüderlichkeit nicht so recht ins Bild passen wollte. Marx sah dies schon 1867 hellsichtig, als er im ersten Band des Kapitals schrieb: «Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent.» Es wäre falsch allen FreundInnen der Demokratie – etwa den RätekommunistInnen – eine Rettung des kapitalistischen Inhalts vorzuwerfen. Allerdings beschreibt die Parole ziemlich genau die liberalen Geschäftsgrundlagen des Kapitalismus. Entgegen einiger Legenden der ParteikommunistInnen ist der Kapitalismus nicht seinem Wesen nach undemokratisch. Die demokratische Form entspricht zumindest in Prosperitätsphasen in den alten Zentren dem kapitalistischen Inhalt und hat überdies den Vorteil, dass die Proletarisierten ihrer eigenen Vernutzung aktiv zustimmen. Allerdings kann die demokratische Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem eigenen Inhalt – der Akkumulation von Kapital – in Widerspruch geraten.

Kapitalakkumulation und Demokratie

Das ökonomische Schlamassel, in dem sich Europa und ein Grossteil der Welt seit einigen Jahren befindet, ist ein wahres Lehrstück in Sachen Demokratie. Alle Bewegungen und demokratischen Bestrebungen, die Austeritätspolitik zu stoppen – und sei dies mittels des Sturzes einer Regierung wie etwa in Bulgarien oder Slowenien – haben nichts am knallharten wirtschaftlichen Kurs der Krisenstaaten geändert. Dieses Problem lässt sich nicht auf die Sturheit der PolitikerInnen oder das falsche Wahlverhalten zurückführen. Darin kommt vielmehr zum Ausdruck, dass die Staaten als Organisatoren der Nationalökonomie gezwungen sind, die Interessen des Kapitals gegen allen politischen Widerstand durchzusetzen. Wenn in den Krisenstaaten eine linke Regierung an die Macht kommt, sieht sie sich mit der Alternative konfrontiert, entweder die Austeritätsmassnahmen durchzusetzen oder die nationale Ökonomie an die Wand zu fahren – und damit ihre eigene Existenzgrundlage zu unterminieren. Dieser Zwang schlägt sich auch im tendenziellen Umschwenken eines integrativen Kurses hin zum offen repressiven Umgang mit potentiell Widerständigen nieder: Immense Datenbanken und biomterische Sammelwut; Verschärfung des Asyl- und Ausländerrechts, autoritäre Sozialgesetze und Ausbau des allgemeinen Repressionsapparates. Dass selbst in der Schweiz nach reiflicher Analyse des europäischen Kontextes die Armee Einsätze im Inneren probt, komplettiert das Bild eines Staates, der seine menschlichen Ressourcen in Zeiten der Krise besser kontrollieren und verwalten will.

Von der Alternative zum Zwang

Der Staat wird in diesem Prozess gegenüber der Ökonomie nicht geschwächt, wie das Allerwelts-Linke gerne behaupten. Er ist eben nicht dazu da, uns vor der unsichtbaren Faust des Weltmarktes zu retten. Seine Funktion ist vielmehr, für das nationale Kapital die besten Rahmenbedingungen zu schaffen. In Zeiten der Prosperität ergibt sich für den Staat die Möglichkeit eher sozialdemokratisch oder konservativ zu agieren; das Wahlvolk kann ganz demokratisch zwischen verschiedenen Akkumulationsperspektiven wählen. Wenn die Akkumulation aber nicht mehr brummt, rücken diese Alternativen immer enger zusammen. Auch wenn in den Krisenstaaten verschiedene Parteien um die Regierung konkurrieren, stehen sie doch vor der selben unausweichlichen Aufgabe: Die staatlichen Verwertungsperspektiven sind zu einem einzigen Zwang zusammengeschmolzen, der von dieser oder jener Partei exekutiert werden muss. Die liberal-demokratischen Formen entsprechen den autoritären Anforderungen der kapitalistischen Krisenbewältigung in vielen Ländern nicht mehr. Eine Kritik, die nicht hoffnungslos und handzahm bleiben will, muss nebst der politischen Form den kapitalistischen Inhalt in den Fokus nehmen: Die Akkumulation von Kapital, die sich die entsprechenden politischen Verlaufsformen schafft, aber von selben wiederum modifiziert wird.

Kleines Krisen-Update

Finanzminister beraten über Euro-Krise

Die Krise wütet in der Euro-Zone, vom Zweckoptimismus des politischen Personals gänzlich unberührt, weiter.  Ein (zu) kurzer ökonomischer Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand des Schlamassels.

Aus dem vorwärts vom 24. Mai. Unterstütze uns mit einem Abo.

Die litauische Präsidentin, Dalia Grybauskaite, verkündete kürzlich in einem Interview mit der «Deutschen Welle», dass es überhaupt keine Euro-Krise gebe. Ihr Kollege, der EU-Kommissionspräsident José Manuel Borroso, war in Bezug auf die Vergangenheit etwas realitätsnäher, aber auch er erklärte auf dem «WDR Europaforum» kürzlich: «Die existenzielle Krise des Euro ist vorbei». Diese Aussagen deuten entweder auf einen grassierenden Realitätsverlust bei Teilen des politischen Personals hin oder aber sie sollen vor allem eines sein: selbsterfüllende Prophezeiungen. Man möchte die Zuversicht bei den MarktteilnehmerInnen fördern und ignoriert dazu schlicht die reellen Problemen, die sich unvermindert in die Nationalökonomien der Euro-Zone fressen.

Die Proletarisierten können eine Lied vom Ende der Krise singen: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in der Euro-Zone bei rund 24 Prozent; angeführt von Griechenland und Spanien, die mittlerweile mit knapp 60 Prozent Arbeitslosen unter 25 Jahren zu Buche schlagen. Die «Zukunft der Gesellschaft» wächst ohne Zukunft heran. Derzeit werden in Spanien täglich über 500 Familien aus ihren Häusern geworfen; seit Beginn der Krise wurden über 400 000 Räumungen vollstreckt. Die Austeritätsprogramme in den Krisenstaaten sorgen dafür, dass allerorts Betroffene nur schlecht aufgefangen werden und die wohltätigen Suppenküchen kaum dem Ansturm gewachsen sind. Doch auch wenn man den Blick vom zunehmenden Elend der Proletarisierten weg, hin zu den nackten Wirtschaftsdaten lenkt, sieht es nicht wesentlich besser aus.

Krisenphänomene

Die neusten Quartalszahlen der Euro-Zone sprechen von einem Sinken des Bruttoinlandproduktes (BIP) von 0,2 Prozent. Von einer Rezession spricht man im Allgemeinen, wenn das BIP in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen sinkt. Es ist nun aber bereits das sechsts Quartal in Folge, dass die Wirtschaftsleistung der Euro-Zone schrumpft. Das schwache Wachstum der deutschen Nationalökonomie kann diesem Trend nicht entgegenwirken – und ist übrigens nur auf Kosten von Staaten möglich, die deutsche Waren importieren. Für den Krisenstaat Zypern rechnen ExpertInnen 2013 mit einem Einbruch des BIP von 8,7 Prozent. Die Ideologie des beständigen Wachstums, wie sie von ExpertInnen und PolitikerInnen wie ein Mantra beschworen wird, hat ihren wahren Kern, auch wenn sie selber davon keinen Begriff haben?: Das Kapital kann sich nur auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren. Geld muss profitabel investiert werden und der entstehende Mehrwert als Kapital neu in den Produktionsprozess fliessen – alles natürlich bei entsprechenden Profitraten. Eine stagnierende oder gar sich verkleinernde Volkswirtschaft zeigt also nicht weniger an, als dass sich gewisse Kapitale nicht mehr reproduzieren können.

Die wachsenden Staatsschulden hängen natürlich damit zusammen: Nebst der stockenden (momentan aber zumindest kurzfristig wieder etwas besser laufenden) Refinanzierung auf den Finanzmärkten sind vor allem die damit verbundenen sinkenden Steuereinnahmen durch die Unternehmen ein Problem. Die Rezession führt aber auch zu einem Einbrechen der Einnahmen der Massen durch Arbeitslosigkeit. Dies wiederum untergräbt das Steuersubstrat. Zudem wird dadurch die Massennachfrage reduziert, was einige Linke fälschlich zur Ursache der Krise verklären.

Krise des Kapitals

Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht seit einiger Zeit diesen Prozessen mit verschiedenen Massnahmen Herr zu werden: Sie erklärte, dass sie im Krisenfall die betreffenden Staatsanleihen aufkaufen würde. Dies führte dazu, dass die Finanzmärkte wieder etwas Vertrauen fassten und etwa riskante italienische Staatspapiere aufkauften. Bloss: Sollte der italienische Staat, immerhin die drittgrösste Nationalökonomie der EU, tatsächlich Bankrott gehen, ist es mehr als fraglich, ob die monetären Mittel der EZB ausreichen, um die entsprechenden Schrottpapiere aufzukaufen. Ausserdem senkte die EZB den Leitzins auf 0,5 Prozent und versucht so Geld in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen. Die Vorstellung dabei ist, dass dieses Geld in die produktive Wirtschaft fliesst und einen Wirtschaftsaufschwung generiert, der auch die Arbeitslosenzahlen nach unten korrigiert. Blöd nur, dass dieses Geld momentan gerade das nicht macht, sondern in hochspekulative Bereiche abfliesst und die Börsenkurse unabhängig von der sogenannten Realwirtschaft befeuert – was zu allerhand veritablen Blasenbildungen führt. Das Problem ist nicht, dass die Bank-ManagerInnen alle durchgedreht sind. Das Geld wird in der Regel nicht mehr in der sogenannten Realwirtschaft investiert, weil die Profitraten nicht mehr ausreichen, um Unternehmensgewinn und (Bank-)Zinsen in der notwendigen Höhe zu garantieren. Das ist das eigentliche Dilemma: Die EZB pumpt Geld in eine Wirtschaft, die wegen mangelnder Profitraten an Kapitalüberproduktion leidet.

Krisenlösung?

Was Europa als Lösung anstrebt, ist eine aggressive Exportpolitik nach deutschem Vorbild. Diese quasi merkantilistische Politik soll dazu führen, dass durch die Exportüberschüsse die Defizite und schliesslich auch die Staatschulden exportiert werden können. Dies ist aber nur möglich, wenn bei hoher Produktivität die Lohnstückkosten gesenkt werden können – wie das Deutschland mit den Hartz-Reformen gelungen ist – und man das Defizit einfach an zu Schuldnerstaaten degradierte Nationalökonomien auslagern kann. Wie lange diese Staaten überhaupt die Überschüsse aufkaufen können, steht in den Sternen; ihre Wirtschaft wird schlicht und einfach ruiniert (siehe etwa Griechenland). Eine wirkliche Lösung ist dieses Modell auf jeden Fall nicht. Aus dem wirtschaftlichen Dilemma wird es keinen Ausweg geben ausser der massiven Vernichtung von Kapital mit den damit verbundenen Verheerungen für die Proletarisierten. Als kommunistischer Beobachter dieser Prozesse muss man sich nicht so dumm machen lassen wie das politische Personal des Kapitals, sondern kann offen aussprechen, dass der Kapitalismus derzeit in einer Sackgasse steckt.

Die Tote packt die Lebenden

FILE: Baroness Thatcher Dies Aged 87Wenn die Linke den Tod Thatchers feiert, tappt sie in die Falle der Individualisierung, die Thatcher mit aufgebaut hat. Denn auch wenn eine alte Dame gestorben ist, lebt ihre Politik weiter. Etwa in der Form, dass ihre früheren Feinde – die britische Labout Party an vorderster Front – ihre Politik längst übernommen haben.

Aus der Printausgabe des vorwärts vom 10. Mai 2013. Unterstütze uns mit einem Abo!

Der Tod Margaret Thatchers am 8. April 2013 war ein bemerkenswertes Ereignis in mindestens zweifacher Hinsicht. Einerseits wurde die anhaltende Wirkmacht einzelner ideologischer Elemente des Neoliberalismus sichtbar und andererseits bot die Beerdigung ein Beispiel für den bitteren Witz der -Dialektik. Die ehemalige Premierministerin Grossbritanniens (1979–1990) war früh Teil der neokonservativen und neoliberalen Bewegungen. Sie entwickelte ihre Ideologie auf der Grundlage von Werken neoliberaler Intellektueller wie zum Beispiel Friedrich August von Hayek und Milton Friedman. Bekannt wurde sie nicht nur durch ihre antisoziale Politik und den Kampf gegen die Gewerkschaften, sondern auch als jemand, die den Neoliberalismus popularisierte.

Bekannt wurde unter anderem ihr Ausspruch von 1987: «There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families.» («Es gibt nicht so etwas wie Gesellschaft. Es gibt individuelle Männer und Frauen, und es gibt Familien.») Den radikalen Individualismus brachte sie gegen den Sozialstaat in Anschlag. In anderen Bereichen gab es dann sehr wohl Gesellschaft und Staat, insbesondere beim Rückgriff auf Polizei und Armee. Thatcher stieg bald zu einer Art Superindividuum auf. Sie machte den Neoliberalismus, sie zerstörte die Gewerkschaften, sie führte den Falklandkrieg. Bertolt Brecht warnte in seinem Gedicht «Fragen eines lesenden Arbeiters» vor diesen Formen von Individualisierung («Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?»). Wenn also Linke meinen, den Tod Thatchers feiern zu müssen, so tappen sie selber in die Falle der Individualisierung, die Thatcher mit aufgebaut hat.

Langer Kampf gegen den Staat

Thatcher hat schon lange Zeit vor dem Regierungsantritt gegen den Staat gewettert. Im anderweitig bekannten Jahr 1968 verfasst sie ein Pamphlet («What’s Wrong with Politics?»). Darin kombinierte sie die antistaatliche Rhetorik mit der ideologischen Anrufung der Subjekte als «selbstverantwortlich». Staat und Bürokratie sollten mehr oder weniger zum Verschwinden gebracht werden (das ist eines der neoliberalen Hauptthemen). Das Resultat, unter anderem gerade als Resultat von Thatcherismus und Reaganomics ist das Gegenteil: Staat und Bürokratie wurden ausgebaut und vermehrten sich in einem historisch noch nie dagewesenen Mass. Der Staatsausbau ging aber mit einem radikalen Umbau einher: Alle Bereiche des Sozialen wurden drastisch abgebaut, dafür wurde der repressive Staatsapparat und der marktradikale Staat ausgebaut. Soviel zur Dia-lektik kollektiven neoliberalen Handelns. Die Pointe bildet dann das pompöse und millionenschwere Begräbnis Thatchers.

Sich mit Thatcher zu beschäftigen, bedeutete aber auch, sich mit schweren Fehlern der Linken auseinanderzusetzen. Im Sog von 1968 gingen warnende Stimmen unter. Der Ökonom David A. Collard veröffentlichte im Oktober 1968 ein Traktat («The New Right: A Critique»). Er warnte, wie sich später herausstellte, vergeblich vor dem Aufstieg des Neoliberalismus, den Think Tanks sowie einer Schar von Intellektuellen und PolitikerInnen. In die Euphorie dieses Jahres mochte Collard nicht einstimmen, denn seine Sorge bestand darin, dass die Linke erfolgreich von der Neuen Rechten ausgehebelt würde. Was sich leider bewahrheiten sollte.

Von der Dritten Welt lernen

Längst war das neoliberale Feld bestellt. Es begann die Zeit des sukzessiven Umbaus der Gesellschaft (die gibt‘s), der Ideologie, der Moralvorstellungen usw. Und es war nicht zuletzt die Regierung von Thatcher, die das tat, wovon die Linke immer geredet hat: Von der «Dritten Welt» lernen, in diesem Falle konkret von den blutigen Diktaturen in Chile und anderen Ländern Lateinamerikas. Diverse Instrumente und Politiken wurden übernommen, so zum Beispiel die «Schocktherapie», um soziale und solidarische Strukturen zu zerstören.

Wer eine deutliche Kritik des Thatcherismus sucht, sollte sich (wieder einmal) den Film Peter Greenaways von 1989, «The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover», ansehen. Greenaway erklärte, der Film sei eine Allegorie auf die Regierung Thatchers. Der Film verbindet die Kritik am Thatcherismus mit der französischen Revolution, die sich 1989 zum zweihundertsten Mal jährte. Die Errungenschaften der Revolution werden brutal unterdrückt oder beseitigt. Eindringlich werden die neoliberalen Gewalt-formen in einer anderen, sehr eindringlichen und bildstarken Sprache gezeigt. Der Dieb, Albert Spica, tritt einem Mann in die Hoden und meint knapp: «Das ist es, was diese Leute brauchen. Kurze, scharfe Schockbehandlungen.» Lachen kann man über alles, aber nicht über die Ware, und sei diese noch so ausgefallen wie «menschliche Milch». Spica scharf zu Cory, einem Bandenmitglied: «Mach keine Witze. Sie [die menschliche Milch] ist eine kostbare Ware, nicht eine witzige Sache.» Wie aktuell der Film ist, wird deutlich, wenn Spica auf die Qualität zu sprechen kommt. Wir leben ja in einer Zeit, in der es nur so von Qualitätsmanagment usw. wimmelt. Qualität wird garantiert, kontrolliert, ausgewiesen, überwacht. Spica: «Ich repräsentiere Qualität hier herum.» Er bietet «Qualität und Protektion», wie heutzutage Qualitätszertifizierungsinstitutionen.

Individuell betrachtet ist Thatcher tot, gesellschaftlich ist vieles, wofür sie (mit tausenden Anderen) kämpfte und was sie in der Politik umsetzte, allzu lebendig. Erfolg ist, wenn der Gegner von ehedem, sich zu dem gewandelt hat, was man selbst vertrat. In ihre Fussstapfen trat Anthony Blair, und aus Labour wurde New Labour, unter anderem eine Adresse für Privatisierungen. Eine kritische Linke hat vor wie nach Thatchers Tod genug zu tun. Sie sollte sich auf ihre Aufgaben konzentrieren. Wenn sie sich mit Thatcher beschäftigt, so sollte sie sich auch selbstkritisch mit der eigenen Geschichte beschäftigen.

Klassen und Klassenkämpfe

arbeiter_auf_balkenEntgegen der herrschenden Mode versucht der vorwärts mit dem Schwerpunkt «Klassen und Klassenkämpfe» daran zu erinnern, dass der Widerspruch zwischen ArbeiterInnen und Kapital für eine revolutionäre Perspektive nach wie vor zentral ist. Der vorliegende Text will einige Banalitäten zu diesem Themenfeld aktualisieren, die vor Jahrzehnten durch moderne und postmoderne Ideologien verschüttet wurden.

Aus der Printausgabe vom 26. April. Unterstütze uns mit einem Abo.

Es ist längst nicht mehr en vogue, sich auf die alten Begriffe von Klasse und Klassenkampf zu berufen. SoziologInnen und andere staatlich finanzierte IdeologInnen haben den grossen Abschied vom Proletariat längst vollzogen. Aber auch grosse Teile der Linken haben sich abgewandt und mit grossem Eifer auf allerhand Ersatzobjekte gestürzt. Von den BerufsdenkerInnen soll im Weiteren keine Rede mehr sein. Ihre aufwendige Kategorisierung der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft mag man spannend finden oder gar zur Profession machen, für revolutionäre Absichten sind zumindest ihre aktuellen Varianten von untergeordneter Bedeutung.

Der Abschied vom Proletariat

Ein guter Teil der Linken machte sich nebst Oberflächenbeschreibungen kaum die Mühe zu begründen, warum man nun die Klasse als alten Hut ansah, und stürzte sich recht blindlings auf allerhand neue Objekte der Begierde. In jenen Kreisen spricht man heute lieber vom Prekariat, von der Multitude oder man imaginiert sich in eine Front mit irgendwelchen kämpfenden Völkern. Ab und zu sind diese Lieblingsobjekte nach Geschmackskriterien gewählt, wie etwa die liebste Musikrichtung. Doch in welchem Zusammenhang stehen diese mehr oder weniger modernen Subjekte mit der Überwindung des Kapitalismus? Auch jene, die es ein wenig ernster meinen, können diese Frage kaum und nur schlecht beantworten. Nimmt man Abstand von der Klasse (oder ersetzt sie durch bestimmte Fragmente derselben oder durch einen kruden Volksbegriff), bleibt für immer im Dunkeln, wie man die Totalität durch die Aneignung und Veränderung der Produktionsmittel sowie der gesamten Art und Weise der gesellschaftlichen Reproduktion aufheben will.

Der marxistisch verbrämte Abschied von der Klasse führte über ihre nahtlose theoretische Integration ins Kapitalverhältnis. Da verordnete man den Widerspruch zwischen Kapital und ArbeiterInnen als dem Kapitalverhältnis gänzlich immanent und dachte damit die Proletarisierten bloss noch als Anhängsel des Kapitals. Eine andere Variante desselben Irrsinns erklärte, dass mit der reellen Subsumtion – also mit der Unterordnung des Arbeitsprozesses unter das Kapital – jegliche revolutionäre Sprengkraft verloren gegangen sei. In aller Kürze: Beiden Varianten ist eigen, dass sie Arbeit und Arbeitskraft in eines setzen. Die Arbeit als der Prozess, in welchem die Proletarisierten am Arbeitsplatz beschäftigt sind, wird heute tatsächlich komplett vom Kapital bestimmt und ist nicht mehr, wie etwa die Tätigkeit der HandwerkerInnen im Frühkapitalismus, bloss formell subsumiert. Die Arbeitskraft jedoch liegt immer in Gestalt eines Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen vor, die eben der Vernutzung durch das Kapital widersprechen können.

Histomat und Arbeiterbewegung

Es waren häufig dieselben Linken, die vor dem Abschied vom Proletariat dessen glühendste VerfechterInnen waren. Da geisterte der historische Materialismus als Verbürgung der Zwangsläufigkeit der proletarischen Revolution durch allerhand eigentlich recht helle Köpfe. Man stellte sich vor, dass die objektiven Entwicklungsgesetze zur Revolution drängten. Es musste bloss noch die Kommunistische Partei zwischen die Klasse und ihre Befreiung treten. Auch die linken KritikerInnen dieser Vorstellung waren meist nicht wesentlich weiter. Ihre Perspektive unterschied sich vor allem darin, dass die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk nur dieser Klasse sein könne und mit historischer Notwendigkeit auch sein werde. Diesen fixen Ideen machten die faschistische und die stalinistische Konterrevolution einen Strich durch die Rechnung. Dies führte dazu, dass eine ganze Generation kritischer MarxistInnen den Weltenlauf nicht mehr auf die Revolution gerichtet verstanden, sondern hauptsächlich als eine Dialektik von Anpassung und Konterrevolution. Die Abkehr vom Proletariat war in vielen Fällen die Abkehr von metaphysischen Gewissheiten, bei der allerdings auch ein wahrer Kern verloren ging. Die proletarische Sache hatte in ihren eifrigsten VertreterInnen häufig sehr schlecht FürsprecherInnen.

Dazu kam, dass sich die traditionelle Arbeiterbewegung – die von vielen fälschlich mit der kämpfenden Klasse gleichgesetzt wurde – zusehends in die bürgerliche Gesellschaft auflöste. Die «Gesellschaft in der Gesellschaft», die sich auch ausserhalb von Kampfphasen in diversen ArbeiterInnenvereinen und -organisationen kristallisierte, verlor zusehends an Kraft. Die politische Anerkennung, die sozialstaatliche Integration und die sich in oftmals abgetrotzten Lohnerhöhungen manifestierenden Produktivkraftzuwächse leisteten ganze Arbeit. Den alten Zeiten und Strukturen trauern heute noch verschiedene proletarische Gesangsvereine und Folkloretruppen nach und kopieren mit wenig Erfolg all deren Fehler. Es folgte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit der relativen Stabilität, in der die Proletarisierten nebst lebenslangen Arbeits- und Ausbeutungsverhältnissen auch auf Waschmaschine und Kleinwagen zählen durften. Die aktuelle aber latent schon seit den 70ern schwelende Krise und die dazugehörigen materiellen Angriffe auf die Proletarisierten kündigten und kündigen diesen Zustand mit ziemlicher Wucht auf. Darin liegt, bei aller Härte für die Betroffenen, ein Potential – nicht aber eine Notwendigkeit –, das weit über die alte ArbeiterInnenbewegung mit ihrer Identifikation mit der Arbeit und ihren ProtagonistInnen hinausweist und stattdessen die Möglichkeit nach deren Aufhebung in einer klassenlosen Gesellschaft auf die Tagesordnung setzen könnte.

Die Klasse an sich…

Einige besonders kritische KritikerInnen meinen, man habe den Begriff der Klasse ad absurdum geführt, wenn man auf den unscharfen Rändern der Klassen beharrt. Es darf nicht erstaunen, dass in Zeiten von Kleinaktionärin, Manager und arbeitsloser Akademikerin die Begriffe flöten gehen und man sich stattdessen in der bunten Oberfläche der Gesellschaft verliert. Dabei ist es eigentlich relativ einfach: Zur Arbeiterklasse gehören erst mal alle, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen oder müssten, um in dieser Gesellschaft zu leben. Dazu zählen auch jene, die indirekt vom Lohn oder von staatlichen Transferleistungen abhängig sind. Man kann natürlich weiter differenzieren und etwa die Verfügungsgewalt über Kapital oder die bestimmte Stellung zur aktiven Aufrechterhaltung dieser Gesellschaft zum Thema machen. Obwohl die Klasse auf der Seite des Kapitals zusehends abstrakt und auf der Seite der Proletarisierten diffus wird, verlieren die Unklarheiten relativ schnell an Gewichtung, wenn man die Sache zu Ende denkt: Der Kleinaktionär etwa muss trotz seinen paar UBS-Aktien weiterhin Lohnarbeit verrichten, während der hohe Manager nach einigen Jahren gut von seinem erworbenen Kapital wird leben können. Ebenso flach sind die Einwände, dass die MalocherInnen in ihrer grossen Masse heute nicht mehr im Blaumann an der Stanze stehen. Das ist verkehrt, weil die Klasse als globaler Zusammenhang in grossen Teilen immer noch Industriearbeit verrichtet. Auch bleibt ein ultra-flexibilisierter Dienstleistungsangestellter nach wie vor von seinem Lohn abhängig und leistet sogar – entgegen linker Legendenbildung – unter bestimmten Umständen produktive Arbeit. In der ökonomischen Bestimmung der Klasse wird man sich mit den vernünftigeren Zeitgenossen nach einiger Diskussion dann meist auch einig.

Dennoch ist es nicht ganz so einfach. Die Klasse ist keine homogene Masse, sie ist weitestgehend fragmentiert: In ihrer globalen Zusammensetzung gibt es etwa zwischen der Peripherie und den Metropolen massive Unterschiede und es steht auf der Tagesordnung, dass billige Arbeitskräfte aus dem Trikont gegen die Stammbelegschaften in Europa ausgespielt werden. Wer allerdings den Begriff der Klasse ernst nimmt, muss diese als globale Grösse denken. Nur so kann man auch der Falle entgehen, sich in isolationistische und nationalistische Irrwege zu verirren, wie das einigen, vermeintlich kommunistischen, Gruppen im Zuge der Diskussion um die Personenfreizügigkeit passiert ist. Nebst dieser internationalen Fragmentierung ist die Klasse auch entlang von rassistischen oder sexistischen Spaltungslinien geteilt, in ArbeiterIn und Arbeitslose gespalten und in unterschiedlichste Interessensgruppen zersplittert (von denen die berühmte Mittelschicht nur eine der bekanntesten und wirkungsmächtigsten ist). Auch darum ist der Übergang von der Klasse als objektiver Bestimmung zur Klasse als kämpfendem Subjekt so unendlich schwierig. Hier soll der Hinweis genügen, dass in kollektiven Kämpfen zumindest das Potential entsteht, dass man gemeinsam vorherrschende Spaltungen überwindet und aus atomisierten Lohnabhängigen und Arbeitslosen gesellschaftliche Wesen werden, die beginnen, ihr Leben gemeinsam neu zu organisieren.

...und der legendäre Übergang

Die subjektive Seite des Klassenbegriffs ist in den vergangen Jahrzehnten zusehends verschüttet worden. Tatsächlich lässt sich diese Konstitution der Klasse als handelndes Kollektiv nicht mit derselben Genauigkeit aus den ökonomischen Verhältnissen ableiten wie ihre objektive Bestimmung. Man muss sich deshalb aber nicht dumm machen lassen wie einige akademische MarxistInnen, die aus diesem Notstand – dass sich der sprengende Klassenkampf nicht mit derselben Stringenz wie die Wertformanalyse begründen lässt – gleich ihre Kapitulation folgen liessen. Trotzdem: Selbst die Operaisten aus Italien haben mit ihrer Suche nach dem zentralen widerständischen Subjekt und ihrer peniblen Bestimmung der technischen und der politischen Klassenzusammensetzung nach interessanten Anfängen nicht wesentlich mehr erreicht, als die Überstilisierung eines bestimmten (bei Antonio Negri dann nur noch diffusen) Typus‘ des Arbeiters – auch wenn sie das nicht aus dem «Kapital», sondern aus den reellen Arbeitsbedingungen der Klasse ableiteten. Man sollte sich davor hüten, mit zu grosser Sicherheit den Umschlagpunkt zu prognostizieren und ihn aus bestimmten Bedingungen ableiten zu wollen. Allerdings ist es nur vernünftig, die Beweislast umzukehren: Man muss nicht beweisen, dass die Proletarisierten dereinst die Revolution machen. Das wäre im Resultat ein metaphysisches Unterfangen und würde dem alten Histomat alle Ehre machen. Wenn man es aber mit der kommunistischen Revolution ernst meint, dann sollte man sich klar darüber sein, warum man auf die proletarische Insubordination verwiesen ist. Sonst bleibt, und das kann man an den verschiedenen sonderbaren Ausformungen der Linken erkennen, in der Regel nicht viel mehr übrig, als blanker Dezisionismus, hoffnungsloser Aufklärungsidealismus oder krude Zusammenbruchfantasien.

Auch wenn man historisch argumentiert und auf wiederkehrende Kampfwellen der Proletarisierten verweist, kann man nie mit Bestimmtheit sagen, was neben den konkreten Konfliktsituationen die untergründigen Auslöser für die Aufstände waren. Der heisse Mai 1968 in Paris und der lange Mai in Italien haben aber gezeigt, dass Teile der Klasse sehr wohl auch ausserhalb oder sogar gegen die traditionellen Organe der Arbeiterbewegung kämpfen können, und dass sich die Klasse als Subjekt unter widrigsten Umständen konstituieren kann.

Warum die ArbeiterInnen?

Proletarisiert sind heute weltweit so viele Menschen wie noch nie zuvor: Die Menge an Arbeitsplätzen hat weltweit absolut zugenommen. Gleichzeitig wächst die schiere Masse an lebenslänglich Überflüssigen an der Peripherie, aber zunehmend auch in den krisengeschüttelten Metropolen. Die Fähigkeit des Kapitals, die ArbeiterInnenmassen in den Produktionsprozess zu integrieren, wird heute zusehends in Frage gestellt. Damit drängt sich bei vielen Menschen die recht banale Frage auf, wie sie ihr Leben ausserhalb der Reproduktionskreisläufe des Kapitals organisieren können. Die schlichte Masse der von diesem Prozess Betroffenen, wie etwa die Masse der zusehends prekären BesitzerInnen der Arbeitsplätze, macht es gewissermassen unumgänglich, dass sie sich der Revolution anschliessen, soll sie nicht wieder in Bevormundung und Stellvertretertum enden. Oder wie ein bärtiger Mann in einem recht berühmten Agitationsbüchlein geschrieben hat: «Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.» Die Aneignung der Produktionsmittel und ihre Umwandlung in Mittel der Produktion für eine vernünftige und klassenlose Gesellschaft ist ohne jene, die heute diese Maschinerie bedienen, ohnehin undenkbar – auch wenn die Maschinerie für eine vernünftige Gesellschaft in grossen Teilen erst mal geändert werden müsste.

Die ArbeiterInnen, und das ist entscheidend, sind jene Menschen, die das Kapital produzieren und reproduzieren. Nicht nur haben sie als die ProduzentInnen des gesellschaftlichen Reichtums eine grosse Macht gegenüber dem Kapital, sie sind es, die es tagtäglich überhaupt (re)produzieren und die darum auch damit aufhören können – auch wenn ihnen das Kapital als fremde Macht gegenübertritt; als tote Arbeit, die davon lebt, lebendige Arbeit einzusaugen. Ohne die Ausbeutung der ArbeiterInnen kann das Kapital nicht existieren. Es ist schlicht nicht denkbar ohne seinen gesellschaftlichen Gegenpol. Darum sagt der Begriff der Klasse weit mehr über die innere Funktionsweise des Kapitalismus aus, als jede noch so differenzierte Ausmalung der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Die ArbeiterInnen sind als variables Kapital selber Bestandteil des Kapitalverhältnisses, aber sie treten immer in ihrer ganzen Subjektivität in den Arbeits- und Verwertungsprozess ein. Es ist etwa mit dem Verkauf der Arbeitskraft noch längst nicht Intensität und Länge der Ausbeutung bestimmt. Diese Spannung schlug – nebst der täglichen kleinen Verweigerung – in der Geschichte immer wieder in handfeste gesellschaftliche Auseinandersetzungen um. Nicht umsonst ist dem Kampf um die Länge des Arbeitstages im ersten Band des «Kapitals» ein ganzes Kapitel gewidmet. Gerade in der Krise wird deutlich, dass das Kapital immer wieder auf die Ausdehnung des absoluten Mehrwerts angewiesen ist.

Grenzen des Kapitals

Diese furchtbar abstrakten Bestimmungen sind keine bloss theoretische Spielerei. Die Begriffe, mit denen wir die Welt erfassen, haben einen wesentlichen Einfluss darauf, wie wir gesellschaftliche Veränderungen und Kämpfe wahrnehmen. Es wäre also wichtig, die jüngeren Proteste unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes zu analysieren. Auch in ihrer politischen Beschränktheit weisen einige Kämpfe im arabischen Raum oder in den krisengeschüttelten Euro-Staaten ein Potential auf, das über ihren engen politischen Horizont hinausweist. Aber auch die Aufstände der für das Kapital häufig schlicht überflüssigen untersten Segmente der Proletarisierten in den Banlieus in Frankreich oder in London, müssen mit demselben Instrumentarium analysiert werden. Da formiert sich möglicherweise etwas, was von proletarisierten Massen getragen wird und sich objektiv gegen Angriffe auf ihr Lebensniveau richtet – deren Gelingen aber auch davon abhängt, wie man die Inter-essen der ungeheuren Masse an überflüssigen Proletarisierten einbeziehen kann. In der Aufkündigung des alten Konsenses von oben zeichnet sich auch langsam – momentan wieder etwas verstockt – eine Aufkündigung von unten ab. Denn vielen Menschen scheint mittlerweile zu dämmern, dass die Krise für grosse Teile kaum mehr einen Spielraum lässt zwischen dem vollumfänglichen Akzeptieren von Austritätsmassnahmen und der radikalen Umwälzung ihres ganzen Lebens. Wenn man sich diesen Widerspruch vergegenwärtigt, die potentiellen Lernprozesse in den Kämpfen beobachtet und sich nicht wieder in den Führerstand des zum Weltgeist aufgeblasenen Proletariats imaginiert, dann besteht zumindest die Chance, dass KommunistInnen dieses Mal schlaueres zu den kommenden Klassenkämpfen zu sagen und beizutragen haben.

«Kirche und Schwert. Ein Krieg gegen das Matriarchat»

Georges Felix. Bereits zum dritten Mal marschierten fundamentalistische ChristInnen in Zürich auf, um gegen das Recht auf Abtreibung zu demonstrieren. Hinter der Maske der LebensschützerInnen, gären rechtsextreme Ideologien. Eine Hintergrundrecherche.

Aus der Printausgabe 35/36 des vorwärts vom 28/09/12. Unterstützte uns mit einem Abo.

Buchcover des Buchs "Kirche und Schwert" von D. Regli

D. Reglis‘ Buchcover „Kirche und Schwert“

 

2010 beim ersten «Marsch fürs Läbe» demonstrierten lediglich ein paar 100 «ChristInnen», am 15. September 2012 waren es bereits weit über 1000. Gegenüber dem letzten Jahr verdoppelte sich die Teilnehmendenzahl, während sich die 200 GegendemonstrantInnen nicht vermehrten. Die Zahl der FundamentalistInnen muss jedoch relativiert werden. In grosser Zahl wurden AbtreibungsgegnerInnen aus den umliegenden Ländern mit Cars antransportiert.

Über 50 FundamentalistInnen aus Polen fielen besonders auf. Sie trugen Schilder mit makabren Bildern von aufgeschlitzten Barbiebäuchen, Polenfahnen und ein nationalistisches weissrotes Breittransparent, auf welchem in Frakturschrift «Polonia» aufgedruckt war. Ein Herr hatte auf seinem T-Shirt das Templerkreuz mit der Überschrift Jerusalem aufgedruckt. Randbemerkung: Anders Breivik rechtfertigte seine politischen Massenmorde damit, dass er ein «Templer» im christlichen Kampf der Kulturen gegen die Invasion der Kulturmarxisten und des Islams sei.

«Fundamentalistische Gruppen» am Marsch

Der Verein «Marsch fürs Läbe» wurde am 9. Mai 2011 gegründet. Der Vorstand umfasst den Zürcher SVP Gemeinderat Daniel Regli, den Heidi-Schokoladenfabrikbesitzer Jürg Läderach und seinen Sekretär Walter Mannhart, Leiter der freikirchlichen Internatsschule «Domino Servite» (Dienet dem Herren). Beide sind in leitender Funktion bei der Erweckungs-Freikirche «Kwasizabantu» (KSB), welche gemäss der Informationsstelle der reformierten Kirche als fundamentalistische Sondergruppe eingestuft wird. Läderach ist Financier und Chef der KSB Schweiz.

Trotzdem ist der Marsch anhand der Organisationen weniger dem freikirchlichen Spektrum, als eher christlich-rechtskonservativen oder gar christlich-rechtsextremen Strömungen zuzuordnen. Unter den 13 Unterstützungsorganisationen findet sich die Eidgenössische Demokratische Union (EDU) und ein enges Netzwerk aus sechs sich personell überschneidenden Organisationen, in deren Zentrum der Vereinspräsident Daniel Regli steht. Alle diese Organisationen haben sich den Kampf gegen den Islam und für eine rigide Sexualmoral auf die Fahne geschrieben.

Kampf der Kulturen

Ein zentraler Bestandteil heutiger rechtsextremer Theorien und der Organisationen um Regli ist der «Kampf der Kulturen», der eine gesellschaftsfähigere Variante des völkischen «Rassenkampfs» darstellt. Rechtsextremismus baut auf einer sozialdarwinistischen Theorie der Ungleichheit auf, in welcher Völker, Rassen oder Kulturen im unüberbrückbaren Kampf stehen. Ziel ist das Überleben des eigenen «Volkskörpers». Daraus ergeben sich drei Kernmerkmale: 1. Die Auslöschung oder Unterwerfung anderer Kulturen, Rassen oder Völker zum Wohle der eigenen genetisch, kulturell oder historisch überlegenen Gruppe. 2. Die absolute Unterordnung des Individuums unter den Volkskörper. Oftmals anhand einer historisch oder kulturell vorgegeben Rolle. Zum Beispiel die traditionelle biblische Rolle der Frau als Untertanin des Mannes. 3. Der Kampf gegen schädliche Elemente im Innern. Zum Beispiel die Verfolgung von Marxistinnen, Juden oder Homosexuellen.

Christen für die Wahrheit

Der Schokokönig Läderach ist auch Präsident des Schweizer Ablegers «Christians for Truth» (CfT). CfT möchte «eine Nation … nach höchsten christlichen Normen und Werten.» Wie in den USA versucht diese Gruppe Einfluss im rechtskonservativen Lager zu gewinnen. Was christliche Normen und Werte für Läderach und Walter Mannhart bedeuten, sieht man an der KSB-kontrollierten Schule «Domino Servite». Gemäss eines Berichts der NZZ aus dem Jahre 2002 haben die Kinder freches Verhalten zu unterlassen und müssen den Erziehern gehorchen und dankbar sein. Dieser muss ständig wissen, wo sich die Schüler aufhalten. Zweideutige Beziehungen zwischen Knaben und Mädchen sind verboten. Vergehen führen zu strengen Disziplinarmassnahmen. Im Internet finden sich Berichte über körperliche Züchtigung und Haftstrafen in dunklen Wandschränken.

Regli: «Schwule Arschlöcher»

Der SVP-Gemeinderat Regli kämpfte 2009 an vorderster Front mit seiner Organisation «familienlobby» gegen die Europride. Gemäss dem TA schrieb Regli Schmähbriefe an das Pride-OK und bezeichnete diese als schwule Arschlöcher und freute sich über die Zunahme von HIV-Infizierungen in der Gay-Community. In einem Video-Interview sagt Regli: «Homosexualität ist eine psychische Störung … ein moralisches Defizit.» Nach den politischen Massenmorden Anders Breiviks schreibt Regli 2011, dass «Europa erst möglich geworden sei, durch die Tat so genannter <Antiislamisten>» und «die westliche Welt hätte längst keinen Bestand mehr ohne kämpferische <Anti-Jihadisten>.» Er bezieht sich hier nicht auf Breivik selbst aber konstruiert ein kulturkämpferisches Weltbild des Abendlands, welches auf Karl Martell zurückgeht. Dieser besiegte 732 n.Ch. die Mauren. In Reglis Buch «Kirche und Schwert» werden auf dem Titelbild zwei blutverschmierte Schwerter in Kreuzgestalt dargestellt. Es handelt davon, dass «die Zukunft der europäischen Nation … vom beherzten Einsatz von Christen abhängt, die sich an die Macht wagen.»

«Meine Damen… Wollen Sie Frieden oder Krieg?»

2008 schreibt Regli im Artikel «Gummizelle oder Fruchtblase» von den Horden Mohammeds, welche seit 1300 Jahren Europa einzunehmen versuchten. Dies weil die «matriarchale Herrschaft», welche zusammen mit den 68er Marxisten die Macht im Staat haben, das Volk seiner Abwehrkräfte beraubt und es zu einem gefundenen Fressen für äussere und innere Feinde macht. Feministinnen führen nach Regli einen Krieg. Dies sehe man an den über 10000 Toten, welche jedes Jahr alleine in der Schweiz wegen des Feminismus durch Abtreibung verursacht würden. So fragt er die Frauen: «Wollen Sie Frieden oder Krieg?» Aber für Regli ist ohnehin klar, dass jede Gesellschaft nur überleben und zur Blüte gelangen könne, wenn sie ihre Frauen (Matronen) entmachtet. Und dieser innere Kampf eilt: «Die Hyäne Mekkas hat ihre Horden längst losgeschickt.»

 

 

Trafigura: Giftmüllskandal mit Schweizer Beteiligung

Amnesty International und Greenpeace Niederlande fordern die britische Regierung auf, Ermittlungen gegen den multinationalen Rohstoffkonzern Trafigura wegen der illegalen Entsorgung von Giftmüll in der Elfenbeinküste einzuleiten. Sechs Jahre nach der Tragödie muss der Konzern endlich zur Verantwortung gezogen werden. Er hat seinen operativen Sitz in der Schweiz.

Der Bericht «The Toxic Truth» ist das Resultat dreijähriger intensiver Recherchen über den Giftmüllskandal, bei dem 2006 mehr als 100’000 Menschen gesundheitlich zu Schaden kamen. Die tragische Kette von Fehlentscheidungen, die zur medizinischen, politischen und ökologischen Katastrophe führten, wurde dabei einer akribischen Überprüfung unterzogen. Der Bericht belegt im Detail, wie bestehende Gesetze zur Verhinderung solcher Tragödien missachtet wurden und wie mehrere Regierungen es versäumten, die Verfrachtung des Giftmülls zu stoppen.
Der Bericht hinterfragt auch die Rechtmässigkeit eines aussergerichtlichen Vergleichs zwischen Trafigura und der ivorischen Regierung, der dem Unternehmen ermöglichte, sich der Verantwortung für seine Rolle zu entziehen.

«Sechs Jahre sind seit dieser schrecklichen Tragödie bereits vergangen. Es ist an der Zeit, dass Trafigura dafür endlich die volle rechtliche Verantwortung übernehmen muss», sagt der Generalsekretär von Amnesty International Salil Shetty. «Das sind wir den Menschen schuldig, die wie hier in Abidjan zu unschuldigen Opfern eines internationalen Konzerns werden, dem Profit wichtiger ist als die Gesundheit von Menschen.»

Der Geschäftsleiter von Greenpeace international Kumi Naidoo fügt hinzu: «Dies ist eine Geschichte über Unternehmenskriminalität, über die Verletzung von Menschenrechten und das Versagen von Regierungen, das eigene Volk und die Umwelt zu schützen. Es ist eine Geschichte über das wiederholte Versagen der Systeme zur Durchsetzung internationalen Rechts, wenn es um die Kontrolle von Konzernen geht, die transnational arbeiten. Und es ist die Geschichte über ein Unternehmen, das Gesetzeslücken und juristische Unstimmigkeiten zu seinem Vorteil ausgenutzt hat – mit verheerenden Folgen.»

Der Skandal ereignete sich im August 2006, als toxischer Abfall an Bord des Frachters «Probo Koala» an die Elfenbeinküste gebracht und dort von einer eben erst zugelassenen kleinen Entsorgungsfirma in der Nähe von Wohnquartieren in Abidjan entsorgt wurde. Obwohl dies schlimme Folgen für das Leben von Menschen hatte, konnte sich Trafigura bis heute der rechtlichen Verfolgung für ihre Rolle bei der Entsorgung des Giftmülls entziehen.

Der Bericht von Amnesty International und Greenpeace Niederlande wirft – basierend auf Aussagen von Betroffenen und medizinischen Experten – ein neues Licht auf die Folgen des Giftmüllskandals für die Menschen in Abidjan und ihren anhaltenden Kampf für Gerechtigkeit.

Die beiden Organisationen haben umfassende Empfehlungen für die Internationale Gemeinschaft erarbeitet, damit sich eine solche Tragödie in Zukunft nicht wiederholen kann. Diese enthalten auch Richtlinien, wie transnational tätige Konzerne wegen Menschenrechtsverstössen und Umweltverschmutzung zur Rechenschaft gezogen werden können. Ausserdem fordern Amnesty International und Greenpeace Niederlande die britische Regierung auf, eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung über die Rolle Trafiguras in dem Giftmüllskandal einzuleiten. Viele der Entscheidungen, die zu der Tragödie führten, wurden nämlich vom britischen Zweig der Trafigura Corporate Group getroffen.

Hinweise an die Redaktionen:
Trafigura ist eines der Fallbeispiele der von Amnesty International, Greenpeace, der Erklärung von Bern und rund 50 weiteren NGOs in der Schweiz geführten Kampagne  «Recht ohne Grenzen» . Darin werden Bundesrat und Parlament aufgefordert dafür zu sorgen, dass internationale Firmen mit Sitz in der Schweiz weltweit Menschenrechte und Umwelt respektieren. Im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte hat der Bundesrat eine nationale Strategie  beschlossen, die darauf hinziehlt, dass Schweizer Unternehmen ihre soziale und ökologische Verantwortung auch bei ihren Auslandsaktivitäten wahrnehmen.
In Genf treffen sich vom 25 .- 28. September 2012 die Vertragsparteien des «Basler Übereinkommens über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung». Diese könnten darauf hinwirken, dass nie wieder Giftmüll aus Industrieprozessen an Bord von Schiffen in ärmere Länder verfrachtet und dort entsorgt werden kann.

Quelle: Medienmitteilung Greenpeace vom 24. September 2012

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