Die Arroganz der Gerichte

Heiner Busch. Für eine Personenkontrolle reichten laut Basler Justiz «ausländisches Aussehen» für den Verdacht auf illegalen Aufenthalt aus. Der Jurist Tarek Naguib von der Allianz gegen Racial Profiling kommentiert im Gespräch drei neue Urteile zu rassistischen Polizeikontrollen.

Mohamed Wa Baile hat sich im Februar 2015 einer Polizeikontrolle im Bahnhof Zürich verweigert. Am 6. März 2018 hat das Bundesgericht seine Verurteilung wegen Nichtbefolgens einer polizeilichen Anordnung bestätigt. Hat Sie das Urteil erstaunt?

Sie müssen Sich um den weiteren Inhalt lesen zu können. Sie können Sich hier registrieren.

Verfolgt wegen der politischen Arbeit

Ralf Streck. Die 42-jährige Katalanin und ehemalige CPU-Abgeordnete Anna Gabriel ist aus Spanien nach Genf geflüchtet. Sie stammt aus einer einfachen Familie mit anarchistischen und kommunistischen Wurzeln. Im Gespräch mit dem vorwärts nennt sie die Gründe und spricht auch über die Situation in Katalonien und Spanien.

Sie sind einer Vorladung des spanischen Richters Pablo Llarena nicht gefolgt und haben sich Ende Februar in die Schweiz begeben. Sehen Sie sich als Flüchtling?
Guten Teilen der Presse im spanischen Staat gefällt es, mich als Geflüchtete vor der Justiz zu bezeichnen. Ich bin aber vor der Ungerechtigkeit geflüchtet, da ich für meine politische Arbeit verfolgt werde. Ich suche Gerechtigkeit und es war eine sehr schwere Entscheidung. Ich glaube aber, dass es ein wichtiger Entscheid war, um über die aktuelle Lage im spanischen Staat aufzuklären.

Sie müssen Sich um den weiteren Inhalt lesen zu können. Sie können Sich hier registrieren.

Viele Fragen an Andrea N.

Peter Nowak. Die Schweizerin Andrea N. wurde wegen mehrerer Brandstiftungen und des Verursachens einer Explosion zu einer bedingten Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Die militanten Aktionen soll sie in Berlin zwischen 2007 und 2010 verübt haben.

Die Schlagzeile in der Tageszeitung «Blick» von Anfang Oktober klang martialisch. «Linksextreme Berlinerin setzt Berlin in Flammen», hiess es da. Berichtet wurde über die Verurteilung der angehenden Lehrerin Andrea N., die in der Schweiz geboren, aber lange Zeit in Deutschland gelebt hat.

Sie müssen Sich um den weiteren Inhalt lesen zu können. Sie können Sich hier registrieren.

«Sie ist raus!»

Nekane mit ihrem Anwalt Oliver Peter kurz nach der Freilassung.

Ralf Streck. Es war ein nervenaufreibendes Hin und Her. Aber Nekane Txapertegi kam frei, auch wenn die Schweizer Behörden versuchten, ihre Freilassung zu verhindern. Nekana braucht nun Zeit, aber sie wird weiterkämpfen.

Diesen Tag wird weder Nekane Txapartegi jemals vergessen noch ihre FreundInnen, die Familie und alle, die sich dafür eingesetzt haben, dass die Baskin nicht an Spanien ausgeliefert wird. Zwar kursierten schon vor diesem ereignisreichen 15. September im baskischen Hochland Gerüchte, die 44-jährige Journalistin der kleinen Gemeinde Asteasu werde bald freikommen, doch viele wollten daran nicht glauben. Zu oft gab es Hoffnungen, die Schweiz werde sie freilassen, ihr Asyl gewähren oder die Ausschaffung an Spanien ablehnen. Doch stets wurden sie enttäuscht.

Sie müssen Sich um den weiteren Inhalt lesen zu können. Sie können Sich hier registrieren.

Zwischen uns keine Grenzen

Amanda Ioset. Die Zwangsmassnahmen gegen Personen ohne geregelte Aufenthaltsbewilligung nehmen ständig zu. Es ist notwendig, Gegensteuer zu geben. So haben verschiedene Organisationen eine Kampagne lanciert mit dem Ziel, eine oft verkannte Realität aufzuzeigen.

Am 7. September hat die togoische Diaspora in der Schweiz eine Pressemitteilung verschickt, die bei den Medien auf wenig Interesse gestossen ist. Informiert wurde über eine unhaltbare Situation: Ein Bauingenieur aus Togo, dessen Asylantrag vom Staatssekretariat für Migration abgelehnt wurde, befindet sich seit dem 19. Mai 2017 in Ausschaffungshaft im «Centre LMC» in Granges im Kanton Wallis. Seit dem 21. August 2017 ist nun Kossi Parfait Siabi in den Hungerstreik getreten, um gegen seine Inhaftierung und seine Ausschaffung zu protestieren. In seinem Heimatland droht ihm grosse Gefahr wegen seines politischen Engagements. » Weiterlesen

«Die ethnische Justiz Spaniens»

Hier die Infos zu den Aktionswochen

 

Free Nekane. Nekane Txapartegi – Feministin, Revolutionärin, Baskin. Sie sitzt seit April 2016 in zürcherischen Gefängnissen in Auslieferungshaft. Wegen ihrer politischen Arbeit wurde sie in Spanien gefoltert. Obwohl die Folter gut belegt ist, soll sie durch die offizielle Schweiz wieder an ihre PeinigerInnen übergeben werden. Weshalb die spanische «Justiz» diesen Namen nicht verdient, erklärt sie in einem ihrer «Gefängnisbriefe».

Nein, ich habe die Begriffe nicht verwechselt, ich meine «ethnisch», nicht «ethisch». Ethik ist im spanischen Staat weder in der Politik noch in der Justiz auszumachen. Gerade wird die Bildungsreform Lomce durchgesetzt, die den Ethikunterricht streichen und die religiöse Erziehung ausbauen will.
Mit dem folgenden Beispiel möchte ich aufzeigen, wie die spanische Justiz je nach ethnischer Identität von verurteilten Personen unterschiedlich agiert. Es geht um zwei Personen, die beide im Baskenland geboren wurden. Auf der einen Seite ist da Iñaki Urdangarin, geboren in Goierri, er hat eine spanische Identität. Auf der anderen Seite bin ich, Nekane Txapartegi Nieve, geboren in Tosaldea, ich identifiziere mich als baskische Frau. Aktuell halten wir uns beide in der Schweiz auf. Ich bin bekanntlich in Zürich in Auslieferungshaft, Iñaki wohnt zusammen mit seiner Frau Cristina, der Tochter des früheren Königs Juan Carlos I. am Genfersee. Wir beide wurden von der spanischen Justiz verurteilt, aber die Auswirkungen davon könnten unterschiedlicher nicht sein.
Ich wehre mich zusammen mit vielen anderen BaskInnen gegen die Kolonisierung des Baskenlandes und die Repression durch den spanischen und französischen Staat. Ich wurde aus diesem Grunde verhaftet und in den spanischen Kerkern gefoltert und vergewaltigt. Iñaki dagegen, der sich entschied, Freund von den franquistischen Erben zu sein, wurde der rote Teppich bis zum Palast der Bourbonischen Monarchie ausgerollt. Er heiratete eine Tochter des Königs, der notabene von Diktator Franco als Nachfolger auserkoren wurde. Mein ganzes Leben wehrte ich mich gegen die Ungerechtigkeit, die ich als weibliche, baskische Arbeiterin in den Folterkellern erlebt habe. Ich kämpfe für die Freiheit meines Landes, während Iñaki seinen üppigen Lebensunterhalt mit der Spekulation darüber verdiente. Über uns beide wurde von der Audiencia Nacional ein Urteil verhängt, aber mit zweierlei Mass.
Ich wurde als Baskin in einem politischen Prozess verurteilt. Einziger Beweis im Prozess: Aussagen, die ich unter Folter während der fünftägigen Incomunicado-Haft in den Händen der Guardia Civil ablegte. Ich wiederrief die erfolterten Aussagen sofort. Während des Gerichtsprozesses erkannte und benannte ich mehrere meiner Folterer und Vergewaltiger, aber das Gericht interessierte sich nicht dafür. Gegen die Folterer wurde nicht ermittelt. Das Ziel war es einzig und allein, meine baskische politische Dissidenz zu bestrafen und ein Exempel zu statuieren. Nachdem ich zu 11 Jahren Haft verurteilt wurde (später wurde das Urteil auf 3 Jahre und 6 Monate reduziert), flüchtete ich. Auf keinen Fall wollte ich in die Hände meiner Peiniger zurückkehren. Nach mehreren Jahren im Exil zusammen mit meiner Tochter wurde ich in Zürich erneut verhaftet. Diese Verhaftung kam nur zustande, weil die spanische Polizei ein Jahr lang illegal auf Schweizer Boden nach mir gefahndet hat. Die Schweizer Behörden interessieren sich jedoch nicht für die Aufklärung dieser illegalen Aktivitäten in ihrem Territorium. Während vielen Monaten muss ich die harten Bedingungen der Schweizer Auslieferungshaft nun schon über mich ergehen lassen. Die Beamtin, die mich im Asylverfahren befragt hat, scheint ein grosser Fan des spanischen Staates zu sein. Für sie ist alles legitim, was die Folterer machen und die spanischen Gerichte entscheiden. Die Verfolgung, die ich als Baskin erleide, die gut dokumentierte Folter und die sexualisierte Gewalt, die ich als Frau erlitten habe, das politisch motivierte und unverhältnismässige Urteil gegen mich – all dies scheint ihr keine angemessene Begründung für politisches Asyl zu sein.
Gleichzeitig wurde Iñaki von der Audiencia Nacional wegen Korruption zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Aber Iñaki hat keine Angst, eingeknastet zu werden, er muss nicht flüchten, da die spanische Justiz seine ethnische Identität nicht verfolgt. So lebt Iñaki aktuell in einer Villa am Genfersee, sein Bankkonto ist voll und er hat keinerlei Angst, ausgeliefert zu werden. Man kann die Zukunft nicht voraussagen, aber ich behaupte jetzt mal, dass der spanische Staat die Auslieferung von Iñaki nicht anfordern wird. Auch nicht, wenn das Oberste Gericht ein endgültiges Urteil gesprochen hat. » Weiterlesen

Schweiz ignoriert Folter

Ralf Streck. Das Bundesstrafgericht lehnte den Rekurs der in Spanien misshandelten Baskin Nekane Txapartegi ab, sie soll ausgeliefert werden. Der Fall liegt nun beim Bundesgericht. Bei Nekane löste der Entscheid eine Panikattacke aus.

Die Empörung im Baskenland ist gross, da die Schweiz die Baskin Nekane Txapartegi nach Spanien ausliefern will. Als das Bundesstrafgericht ihren Rekurs abgelehnt hatte, wurde sofort in ihrer Heimatgemeinde Asteasu demonstriert. Am Samstag, 17. Juni fand in Zürich eine Solidaritätsdemo statt, an der rund 300 Menschen teilnahmen, am Montag, 17. Juli versammelten sich erneut FreundInnen und Angehörige der 44-jährigen Nekane vor dem Schweizer Konsulat in Bilbao.

Sie müssen Sich um den weiteren Inhalt lesen zu können. Sie können Sich hier registrieren.

Präventiv ist immer gut?

Die Schweiz führt bundesweit zum 1. Januar 2018 die Fussfessel ein. Haftstrafen sollen dann optional als Hausarrest mit Fussfessel verbüsst werden können. Auch als Instrument zur Durchsetzung von Rayonverboten, etwa Stadionverboten für «Hooligans», sind sie im Gespräch.

Es hat schon seine Gründe, weshalb der Science-Fiction-Roman «1984» wieder über die Ladentheken geht und in den Feuilletons besprochen wird. In George Orwells Buch aus dem Jahr 1948 kommen zum Beispiel sogenannte Gedankenverbrechen vor. Dafür bestraft wird, wer von den Behörden als gefährlich fürs System eingestuft wird, auch wenn er oder sie gar keine Straftat im herkömmlichen Sinne verübt hat. Erfunden hat Orwell das nicht. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er sich für die BBC mit dem faschistischen Japan befasst. Von 1941 bis 1945 gab es dort eine Gedankenpolizei, die «GedankenverbrecherInnen» allein aufgrund einer regimefeindlichen Einstellung inhaftieren konnte, auch wenn keine politisch motivierte Straftat begangen wurde.

Vage «GefährderInnen»

Heute erwägen einige westliche Staaten, darunter die Schweiz, genau diese paranoide Bestrafungsform einzuführen. Deutschland hat am 1. Februar einen ersten Schritt in diese Richtung getan. Seit diesem Tag können sogenannten GefährderInnen Fussfesseln angelegt werden. Beschlossen wurde eine entsprechende Gesetzesänderung von Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister Heiko Maas. Sie bezieht sich auf das Bundeskriminalamt (BKA). De Maizière drängt darauf, dass die einzelnen Bundesländer nachziehen und den Landeskriminalämtern (LKA) die gleichen Kompetenzen erteilen. Die meisten sogenannten GefährderInnen sind im Visier der LKA, nicht des BKA. Als Beispiele für «GefährderInnen» werden meist IslamistInnen genannt.

Der Begriff ist aber so vage, dass er alle möglichen Menschengruppen treffen könnte. «GefährderInnen» sind nach dem ehemaligen deutschen Innenminister Hans-Peter Friedrich «Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie erhebliche Straftaten begehen könnten». Eine genauere und justiziablere Definition ist kaum zu finden. Kann es überhaupt eine geben, die mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist? Oder mit der in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschriebenen Unschuldsvermutung? Zur Erinnerung: «Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.» Die MinisteriumsjuristInnen werden sich hoffentlich die Zähne daran ausbeissen.

Was genau ist eigentlich eine Fussfessel? Es handelt sich dabei um einen Apparat, den eine Person am Fussgelenk trägt und der mit Hilfe eines Peilsenders Signale an eine Überwachungsanstalt schickt. Fussfesseln waren in Deutschland bislang für Menschen vorgesehen, die nach der Verbüssung einer Haftstrafe von den Behörden noch als gefährlich eingestuft wurden. Das betraf zum Beispiel manche SexualstraftäterInnen. Die Bewegungen dieser Personen werden rund um die Uhr überwacht. Sie können einer Art Hausarrest unterliegen. Es wird ihnen meist untersagt, ein bestimmtes Gebiet zu verlassen oder bestimmte Gebiete zu betreten. Bei Zuwiderhandlung werden sie per SMS zum Rückzug aufgefordert. Leisten sie dem nicht Folge, wird die örtliche Polizei kontaktiert.

Outsourcen, Kosten sparen

Die Schweiz führt die Fussfessel bundesweit zum 1. Januar 2018 ein. Haftstrafen zwischen zwanzig Tagen und zwölf Monaten sollen dann optional als Hausarrest mit Fussfessel verbüsst werden können. Ausser Acht bleiben dabei Erfahrungen, die in Frankreich gemacht wurden. Dort ist der Einsatz einer Fussfessel auf maximal sechs Monate beschränkt, da es in einer Testphase nach diesem Zeitraum öfter zu «Ausfällen» gekommen sei, die Bewegungseinschränkung häufiger verletzt wurde. Als Grund dafür gilt, dass der oder die Gefangene sich mangels realer Gitter, WärterInnen und Gefängnismauern den Freiheitsentzug tagtäglich selbst vorschreiben muss. Man kann sich vorstellen, wie gross der psychische Aufwand dieser Selbstdisziplinierung ist. Die Repressionsarbeit wird zu einem Grossteil an die bestrafte Person outgesourct, was auch Kosten spart. Ein Tag Fussfesselgefangenschaft kostet den Staat dem Vernehmen nach etwa 70 Franken, ein Tag Haft dagegen 300 Franken. Doch nicht nur Haftstrafen sollen in der Schweiz auf diese Art ersetzt werden. Fussfesselkontrollen sind auch als Instrument zur Durchsetzung von Rayonverboten, etwa Stadionverboten für «Hooligans», im Gespräch. Man braucht nicht viel Fantasie dafür, sich vorzustellen, wie immer grös-sere Gruppen von «GefährderInnen» per Fussfessel von einer immer grösseren Anzahl von Orten ferngehalten werden.

Ob Fussfesseln jemals eine Straftat verhindert haben, ist schwer zu eruieren. Leichter festzustellen sind die vielen Fälle, in denen sie nutzlos waren. Zum Beispiel war einer der beiden Islamisten, die vor einem halben Jahr im französischen Saint-Étienne-du-Rouvray einen Priester getötet und einen Kirchgänger schwer verletzt haben, mit einer Fussfessel überwacht worden.

Eine Vorlage ist unterwegs

Während kürzere Haftstrafen in der Schweiz also künftig als Hausarrest mit Fussfessel verbüsst werden können, werden in Sachen «GefährderInnen» andere Saiten aufgezogen. Auch andere als in Deutschland. Für so genannte GefährderInnen wird die Einführung einer «Präventivhaft» erwogen. Sie wird auch euphemistisch überall so genannt. Präventiv klingt ja immer gut und sinnvoll. Der «Tages-Anzeiger» schreibt: «Für Hans-Jürg Käser, Präsident der Konferenz kantonaler Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD), genügt es nicht, dass Jihadisten vom Nachrichtendienst und kantonalen Staatsschutzorganen überwacht werden. Es müsse auch die Möglichkeit geben, jemanden präventiv in Haft zu setzen, sagte Käser gegenüber der Sendung ‹10 vor 10›.» Eine Gesetzesvorlage hat der Bundesrat laut «NZZ» bereits in Aussicht gestellt. Mitte Jahr werde mit einer Vernehmlassungsvorlage gerechnet: «Wie weit er die Strafbarkeit ins Vorfeld von eigentlichen Terrorakten verlegen will, bleibt aber offen.»

In Umfragen kommt die «Präventivhaft» gut an. Umso wichtiger sind jetzt die, die noch einen rechtsstaatlichen Riecher dafür haben, wo «Vorfeld» aufhört und wo «Terrorakt» anfängt.

Aus dem vorwärts vom 17. Februar 2017 Unterstütze uns mit einem Abo.

Rassistische Polizeikontrollen

stadt-polizei-zuerich-mit-einem-30706Am 7. November stand Mohamed Wa Baile vor dem Bezirksgericht Zürich, weil er sich anlässlich einer rassistischen Polizeikontrolle nicht kooperativ verhielt. Der Fall steht exemplarisch für die erniedrigende Erfahrung Tausender in der Schweiz. Die Allianz gegen Racial Profiling wehrt sich dagegen.

Es war der 5. Februar 2015, als Mohamed Wa Baile von seinem Wohnort Bern nach Zürich unterwegs war, wo er als Bibliothekar an der ETH arbeitet. Als er um 7 Uhr morgens den Zürcher Hauptbahnhof durchquerte, wurde er mitten im PendlerInnenstrom noch in der Haupthalle von drei Beamten der Stadtpolizei Zürich angehalten, da er seinen Blick von ihnen abgewendet hätte. Da Wa Baile die Kontrolle aber als rassistisch motiviert empfand, weigerte er sich, sich auszuweisen. Erst als die Polizisten bei ihm einen AHV-Ausweis fanden, konnte er zur Arbeit gehen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Wa Baile aufgrund seiner Hautfarbe ins Visier der Polizei geriet, aber das erste Mal, dass er dieses erniedrigende Prozedere nicht schweigend hinnahmen. Die «Belohnung» für seinen Widerspruch bekam er postwendend in Form einer Busse von 250 Franken wegen «Nichtbefolgen einer polizeilichen Anordnung». Was für die meisten von uns eine Erfahrung ist, die nur die wenigstens je machen werden, ist es für viele andere in diesem Land eine alltägliche Lebensrealität, die in Fachkreisen auch als «Racial/Ethnic Profiling» bekannt ist. «Racial Profiling» bedeutet, dass eine Personenkontrolle nicht etwa aufgrund eines objektiven Verdachtsmoments passiert, sondern lediglich wegen äusseren Merkmalen wie etwa der Hautfarbe oder der religiösen Kleidung.

Allianz gegen Rassismus

Bei der neu gegründeten Allianz gegen Racial Profiling handelt es sich um einen Zusammenschluss von AktivstInnen, WissenschaftlerInnen und Kulturschaffenden sowie Fachpersonen und Menschenrechtsorganisationen, die sich zum Ziel gesetzt haben, sich gegen den institutionellen Rassismus in den Schweizer Polizeikorps zur Wehr zu setzen. So kritisiert die Allianz die Willkürlichkeit von Polizeikontrollen und dass Betroffene unverhältnismässig oft kontrolliert und von bestimmten Orten weggewiesen werden, ohne dass dafür sachliche Gründe vorliegen. Für die Allianz gegen Racial Profiling stellen diese Kontrolle gar eine gravierende Verletzung des verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Verbots rassistischer Diskriminierung dar. So fordert das Bündnis unter anderem den Gesetzgeber auf, juristische Rahmenbedingungen zu schaffen, die einen rechtlichen Schutz vor rassistischer Diskriminierung durch die Polizei gewährleistet.
Tatsächlich gibt es so einiges an der Polizeiarbeit zu kritisieren. Gerade in den urbanen Zentren könnte man durchaus den Eindruck bekommen, unter Besatzung zu leben. Polizeiliche Omnipräsenz und junge Uniformierte aus ländlichen Regionen und fremden Kantonen, die in den Städten wie Süsswasserfische in einem Salzmeer wirken. Genauso problematisch ist, dass schon beim kleinsten Widerspruch gleich fleissig Strafbefehle verteilt werden und bei jeder Nichtigkeit mit Gummiparagraphen wie «Nichtbefolgen einer polizeilichen Anordnung» und «Hinderung einer Amtshandlung» hantiert wird. Aufmüpfige und kritische ZeitgenossInnen werden so systematisch kriminalisiert, eingeschüchtert, und bei Polizeiübergriffen kommt es durchaus vor, dass kurzerhand – für den Fall der Fälle – schon mal präventiv das Opfer verzeigt wird. Missstände, die schon seit Jahren bekannt sind und in der Vergangenheit immer und immer wieder kritisiert wurden; an der Praxis hingegen hat sich bis heute nichts geändert. Eine nur auf dem Papier existierende Gewaltentrennung, ein Korpsgeist, der uniformierte TäterInnen schützt, sowie nicht existierende, unabhängige Instanzen, sind da nur einige Stichwörter von vielen. Die viel beschworene BürgerInnennähe jedenfalls sieht anders aus.

Spiegelbild der Gesellschaft

Letztlich bedürfte es in den Polizeikorps einen tiefgreifenden Mentalitätswechsel. Die allgegenwärtigen rassistischen Kontrollen sind letztlich eben nicht nur Ausdruck eines tief verankerten, institutionellen Rassismus, sondern ein Spiegelbild der heutigen Gesellschaft. Selbst ein Antirassismusgesetz verkommt zum Papiertiger, solange eben kein gesellschaftliches Bewusstsein für Rassismus vorhanden ist und ein stillschweigender Konsens existiert. Da greift die Kampagne Allianz gegen Racial Profiling zu kurz und überfordert den durchschnittlichen Gölä-Schweizer wohl auch ein wenig. Rassistische Polizeikontrollen jedenfalls sind schon seit Jahren ein Dauerthema, das sehr vielen Betroffenen unter den Fingernägeln brennt. Von daher trifft die Allianz gegen Racial Profiling durchaus einen Nerv. Ob aber auf juristischem Weg, mit Bildungsarbeit und Workshops, institutioneller Sensibilisierung und einer gewissen Autoritätsgläubigkeit effektiv etwas an den rassistischen Verhältnissen in diesem Land geändert werden kann, darf bezweifelt werden. Ach ja, erwartungsgemäss wurde die Busse gegen Wa Baile vom CVP-Einzelrichter Maira bestätigt, da er sich auf den Standpunkt stellte, dass er nicht darüber zu urteilen hätte «ob in der Stadtpolizei rassistische Stereotypen institutionell verankert sind», sondern einzig, ob ein «Nichtbefolgen von polizeilichen Anordnung stattgefunden hat». Effektiv gibt es bis heute keinen einzigen Fall, worin je einE PolizistIn wegen einer rassistisch motivierten Personenkontrolle verurteilt wurde, trotz gesetzlich verankertem Diskriminierungsverbot. Was nicht sein darf, ist auch nicht. Und so verwundert es höchstens, dass die Allianz gegen Racial Profiling noch keine Strafanzeige wegen Verstosses gegen die Antirassismus-Strafnorm erhalten hat und Wa Baile nicht wegen übler Nachrede und Beamtenbeleidigung verzeigt wurde. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Aus dem vorwärts vom 18. November 2016 Unterstütze uns mit einem Abo.

«Ziviler Ungehorsam ist Pflicht»

Im Kanton Waadt unterstützen solidarische BürgerInnen und PolitikerInnen Flüchtlinge, um sie vor der Rückführung zu bewahren und ihnen die Möglichkeit zu geben, in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen. Der Staat reagiert mit Hausdurchsuchungen und Repression darauf.

«Sie sind in die WG gestürmt, haben alle aufgeweckt und jedes einzelne Zimmer durchsucht», berichtet Pierre Conscience. Der Gemeinderat und politische Sekretär der linken Partei solidaritéS erhielt am 15. September frühmorgens Besuch von der Kriminalpolizei des Kantons Waadt. Gleichzeitig betroffen waren Léonore Porchet, Präsidentin der Grünen Partei von Lausanne, und Céline Cerny, eine waadtländische Schriftstellerin. Alle drei gehören zum «Collectif R». Das Kollektiv ist ein 200 Personen zählendes Netzwerk, das sich gegen das Dublin-Abkommen und die Praxis der Rückschaffungen wehrt. Diesen Frühling hat das Kollektiv rund 25 prominente PolitikerInnen und KünstlerInnen zusammengetrommelt, die sich um die vorliegenden Fälle kümmern. Sie bringen Flüchtlinge während der Rückschaffungsfrist von sechs Monaten unter und sorgen dafür, dass die Behörden die Asylsuchenden nicht als «untergetaucht» registrieren. So steigt die Chance, dass sie trotz Dublin-Abkommen in der Schweiz ein Asylverfahren bekommen. Läuft die Überstellungsfrist nach sechs Monaten ab, beendet das SEM das Dublin-Verfahren und eröffnet ein nationales Asylverfahren, das es wie ein Erstgesuch behandelt. Einige Wochen vor den Hausdurchsuchungen wurden zwei andere Flüchtlinge, die mit Unterstützung des Kollektivs in der Kirche Mon-Gré Unterschlupf fanden, auf offener Strasse von zivilen PolizistInnen verhaftet. Der eine wurde nach Frankreich ausgeschafft, der andere nach Kroatien; zwei Länder, die bereits stark mit der Flüchtlingskrise überfordert sind. «Seit einiger Zeit werden immer mehr Menschen, die von ‹Dublin› betroffen sind, unter Hausarrest gestellt, um sie für die Rückschaffung einfacher zu sammeln», erklärt Pierre Conscience. Personen unter Hausarrest sind gezwungen, jeden Abend nach Hause zurückzukehren, andernfalls machen sie sich strafbar und/oder werden als untergetaucht behandelt, was ernsthafte Konsequenzen für ihr Verfahren nach sich zieht, erklärt der Aktivist.

Der Bund droht dem Waadt

Polizeirazzien, Verhaftungen, Hausarrest. Seit einigen Monaten nimmt die Zahl solcher Vorfälle, die das Kollektiv als «Einschüchterungsversuche» bezeichnet, zu. Aber sie lassen es sich nicht einfach gefallen. Die Presse wurde informiert, eine Petition mit 1500 Unterschriften konnte innerhalb kürzester Zeit gesammelt werden und eine Interpellation, die von dreissig Ratsmitgliedern unterschrieben worden ist, wurde dem Kantonsparlament vorgelegt. «Es findet ein Frontalangriff auf das Asylwesen statt», entrüstet sich Conscience. Diese Verschärfung führt der Kommunalpolitiker auf den 5. Juni zurück, als die Schweizer Stimmberechtigen für die 11. Asylgesetzrevision gestimmt haben. «Ein paar Tage später zeigte Bundesrätin Simonetta Sommaruga mit dem Finger auf den Kanton Waadt und warf ihm Laschheit in Bezug auf Rückschaffungen vor.» Und Ende August wurden finanzielle Drohungen ausgesprochen, die der Bund dem Kanton aufbürdet. Auf den 1. Oktober wurde das Inkrafttreten eines «Monitoring des Wegweisungsvollzugs» angekündigt. «Kommt ein Kanton seiner gesetzlichen Vollzugsverpflichtung nicht oder nicht genügend nach, kann der Bund neu von der Ausrichtung von Pauschalabgeltungen absehen oder bereits ausgerichtete Pauschalen zurückfordern», heisst es in einer Medienmitteilung des Bundesrats.

«Es handelt sich um eine Infragestellung der Politik des Waadts. Der Kanton hatte aufgrund einer starken Mobilisierung der Bevölkerung schon immer eine tiefere Rückführungsrate. Heutzutage ist die Solidarisierung infolge des Drucks von oben zurückgegangen», analysiert Conscience. Gegenüber «le Courrier» versicherte Philippe Leuba von der FDP, der in der Kantonsregierung für die Asylpolitik verantwortlich ist, dass es keinen Druck gebe. Es gehe darum, «ein Gesetz, das vom Volk angenommen wurde und dem alle gleichermassen unterworfen sind», anzuwenden.

«Falls ein Gesetz inhumane Konsequenzen hat, ist ziviler Ungehorsam Pflicht», erwidert Conscience, der daran erinnert, dass das «Collectif R» den Flüchtlingen nur hilft, in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen, mehr nicht.

«Besser, sie bleiben»

David Payot, PdA-Regierungsrat der Stadt Lausanne, der ebenfalls zum Netzwerk des Kollektivs gehört und einen Flüchtling beherbergt, äusserte gegenüber dem «Gauchebdo» seine Besorgnis: «Dieser Druck des Bundes und der Wille der Kantonsregierung, ihm nachzukommen, sind beunruhigend.» Wagt er es als Mitglied der Stadtregierung, auch zum zivilen Ungehorsam aufzurufen? «In Situationen, in denen Gesetze nicht mit der Realität in Einklang sind, tragen auch die Städte Verantwortung. Die Menschen werden auf ihrer Flucht blockiert, man zwingt sie, zu bleiben oder in ein Land zurückzukehren, das sie nicht aufnehmen kann. Dadurch bringt man sie in eine prekäre Lage und sie stecken in Massen an den Grenzen oder in urbanen Gebieten fest. Es wäre besser, man würde sie aufnehmen, als sie in ganz Europa hin- und herzuschicken», erklärt Payot. Für ihn muss die bisherige Politik des Kantons Waadt ausgedehnt werden, statt sie zu unterdrücken.

Pierre Conscience pflichtet bei: Der Kanton muss «sich weigern, gewisse Rückführungen durchzuführen, auch wenn es ihn finanziell etwas kostet», fügt er in Bezug auf die Drohungen der Schweizer Regierung hinzu.

Aus dem vorwärts vom 7. Oktober 2016 Unterstütze uns mit einem Abo.

Unterwegs in Richtung Überwachungsstaat

überwachungAm 25. September werden wir über das neue Nachrichtendienstgesetz (NDG) abstimmen. Das neue Gesetz gibt dem Geheimdienst verschiedene weitreichende Kompetenzen und Mittel in die Hand, welche die Grundrechte auf unverhältnismässige Weise tangieren. Ein Nein zum NDG ist daher Pflicht.

Das breit aufgestellte «Bündnis gegen den Schnüffelstaat» macht derzeit mobil für die Abstimmung vom 25. September über das neue NDG. Angehörige verschiedener Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen warnen eindringlich vor den katastrophalen Folgen bei einem Ja. «Die massiven Eingriffe in die Privatsphäre führen zu gläsernen Bürger und Bürgerinnen, öffnen der Willkür des Nachrichtendienstes Tür und Tor und bringen uns der Vision einer totalen Überwachung einen grossen Schritt näher», erklärt Tamara Funiciello, Präsidentin der Juso Schweiz. Auch der langjährige Experte und Nationalrat Balthasar Glättli (Grüne) ist alarmiert: «Mit dem neuen NDG würde die Zusammenarbeit mit befreundeten Diensten weiter zunehmen. Was die Schweiz im Bereich der Armee bisher strikt abgelehnt hat, nämlich eine militärische Kooperation mit anderen Ländern, soll nun im Geheimen möglich werden.» Die Folgen? Glättli: «Dies käme einer schrittweisen Abschaffung der Neutralität durch die Hintertür gleich – über welche die Öffentlichkeit aber nicht einmal in den Grundzügen informiert wurde.»

Die NSA lässt grüssen

Tatsächlich würde ein Ja am 25. September viele grundrechtlich äusserst bedenkliche Punkte gesetzlich verankern. Hier eine kleine Auswahl: Die Umkehrung der Beweislast und die Aufhebung der Unschuldsvermutung, der automatisierte Informationsaustausch mit ausländischen Geheimdiensten, das Anheuern von InformantInnen, die sogenannte Kabelaufklärung, verdeckte Durchsuchungen, der Einsatz von privaten Firmen zur Überwachung, Cyberspionage, der Ausschluss der Bundespolizei vom Öffentlichkeitsprinzip. Und besonders pikant: «Organisationen mit öffentlichen Aufgaben» (Spitäler, Schulen, Post, AutovermieterInnen oder etwa die SBB) können zu Auskünften gezwungen werden! Auch Telekommunikationsunternehmen müssen künftig mit dem Nachrichtendienst eng kooperieren, sei es, dass sie private Daten liefern oder die Verschlüsselung aufheben müssen, um nur ein paar Punkte zu nennen. Besonders umstritten ist unter anderem die sogennante Kabelaufklärung, was letztlich nur ein beschönigender Begriff für die Massenüberwachung darstellt. Dass das Parlament an der Massenüberwachung durch den Schweizer Geheimdienst festgehalten hat, ist nicht nur rechtlich äusserst fragwürdig, sondern auch scheinheilig und skandalös. Zuerst empört sich die politische Öffentlichkeit unisono über die masslosen Datensammelwut einer NSA, dann kapituliert sie vor der Realität und installiert selber – unter völliger Missachtung des Schutzes auf Privatsphäre – ein Nachrichtendienstgesetz nach Vorbild der NSA. Wie heikel das Nachrichtendienstgesetz aus grundrechtlicher Sicht ist, verdeutlicht Rechtsanwalt Viktor Györffy: «Mit der sogenannten Funk- und Kabelaufklärung, die in der Praxis zwangsläufig auch Inländer betreffen würde, müsste jede Person damit rechnen, dass ihr gesamter Internetverkehr mitgeschnitten wird. Es ist klar grundrechtswidrig, die Kommunikation zahlreicher Personen zu überwachen, ohne dass diese irgendeinen konkreten Anlass dazu gegeben haben.»

Kontrolle als Illusion

Zwar wurde das Referendum von grossen Teilen der Bevölkerung mitgetragen und viele sind besorgt über die aktuellen Entwicklungen in Richtung Überwachungsstaat, aber angesichts der angespannten weltpolitischen Lage und dem gesteigerten Sicherheitsempfinden, steht die Grundrechtsbewegung wohl vor ihrem schwierigsten Abstimmungskampf.

Wir leben heute in Zeiten, wo die Terrorgefahr zwar durchaus real ist. Gerade aber die mörderischen Anschläge der vergangenen Monate haben uns schmerzlich vor Augen geführt, dass es keine totale Sicherheit gibt. Praktisch alle Täter befanden sich seit längerem auf dem Radar der Geheimdienste, waren einschlägig bekannt, mussten sich teilweise täglich bei den Behörden melden oder trugen gar Fussfesseln. Geknallt hat es trotzdem. Gerade weil die Geheimdienste aufgrund moderner Technologien und Überwachungsmöglichkeiten sprichwörtlich in der Datenmenge ertrinken. Das neue NDG ist letztlich vor allem eine illusionistische Beruhigungspille für Angsthasen und schaukelt eine trügerische Sicherheit vor. Und treffen wird das neue Gesetz sicherlich nicht die, die gemeint waren.

Aus dem vorwärts vom 9. September 2016 Unterstütze uns mit einem Abo.

«Bärn dräit düre»

03_WarmbaechliNach einer Sauvage im Berner Stadtteil Ausserholligen nahmen sich in der Nacht vom 21. Mai rund 1000 Jugendliche die Strasse. Was folgte, war eine Woche der Hysterie.

«Bärn dräit düre», heisst es im Intro eines Berner Rap-Songs. Und auch wenn ursprünglich nicht so gedacht, trifft dieser Satz den Kern dessen, was die Woche nach dem Tanzumzug in Bern mit sich brachte. Der mediale Diskurs reichte von Billigbier und Revolver über Gurkensalat bis hin zu Überwachung. Aber erst einmal alles von Anfang an. Es war Samstagabend, der 21. Mai. Bereits in den Tagen zuvor war auf Facebook unter einem Pseudonym für die Gruppe Exarchia zum «Interplanetar-Kosmosolidarischen Sauvage-Rave» mobilisiert worden. Zweck des Festes sei es, die Solidarität «mit den von Flüchtenden und AktivistInnen besetzten Häusern in Athen kund zu tun», hiess es seitens der OrganisatorInnen. Seit mehreren Monaten werden im Athener Stadtteil Exarchia, der «Hochburg der Autonomen», Häuser besetzt und als Unterkünfte an Geflüchtete übergeben. «Damit schaffen sie einen Wohn- und Rückzugsraum für Tausende, die ansonsten auf der Strasse leben müssten», schrieben die VeranstalterInnen der Berner Soli-Sauvage in einer Mitteilung. Die Einnahmen des Festes sollten daher nach Griechenland gehen.

Tanz gegen das Migrationsregime

Gegen 21.30 Uhr wurde klar, wohin die Berner Jugend an diesem Abend schwärmen würde: auf die Warmbächli-Brache in Ausserholligen. Mehrere hundert Personen fanden sich im Verlaufe der Nacht auf dem Gelände der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage ein, um zu feiern und Konzerte zu hören. Gegen 01.30 Uhr wurde angekündigt, dass man nicht bleiben würde. Kurz darauf bewegte sich ein Demonstrationszug, begleitet von Musikwagen, in Richtung Stadtzentrum. Beim Kaufmännischen Verband kam es zu einer ersten Blockade durch die Polizei. Um die Konfrontation zu vermeiden, schlug der Demonstrationszug einen anderen Weg ein. Als die Protestierenden in der Länggasse unvermittelt auf eine weitere Polizeieinheit trafen, wurden sie mit Tränengas, Gummischrot und Wasserwerfer zurückgedrängt. Es kam zu Auseinandersetzungen, später löste sich die Demonstration auf. Zurück blieben Blessuren, Schriftzüge an den Wänden und ein paar zerbrochene Scheiben.

Rund 1000 «linksradikale Krawallmacher» hätten in Bern «randaliert», war dann im Nachgang etwa im Blick und in der bernischen Boulevardzeitung, der BZ, zu lesen – wobei offensichtlich sein dürfte, dass das Gros der Menschen, die sich an der Tanzdemonstration beteiligt hatten, weder einen radikalen politischen Hintergrund haben noch militant in Erscheinung getreten sind. Tatsächlich dürfte es vielen gar nicht erst bewusst gewesen sein, was der eigentliche Grund für den Demonstrationszug war: Es ging an diesem Abend nämlich weniger um die eigenen Freiräume, wie etwa beim «Tanz dich frei», sondern «um ein Zeichen gegen die menschenverachtende Migrationspolitik der Schweiz und der EU», wie die OrganisatorInnen in einer Mitteilung auf Indymedia schrieben. Der Hintergrund der Demonstration interessierte die Medien indes erst gar nicht, es wurde schlicht von einem «Saubannerzug» gesprochen, womit einmal mehr ignoriert wurde, dass einem Protest stets reale politische Missstände zugrunde liegen.

Billigbier und Gurkensalat

Stattdessen übte man sich in den darauffolgenden Tagen lieber in Skandalisierung, die zuweilen absurde Züge annahm. So berichtete der Blick am 23. Mai etwa, dass sich die Sauvage-BesucherInnen vor der Demonstration mit «Billigbier aufgeputscht» hätten. «Extremismusexperte» Samuel Althof beschwor derweil das Bild des «brutaler» und «organisierter» werdenden «Linskextremismus» und erklärte gegenüber 20 Minuten, dass man sich in der «Szene» mittlerweile gar mit «Revolvern» bewaffnen würde, wie ihm Kontakte zugetragen hätten.

Als die Diskussion dann ab Tag Drei nach der Tanznacht zur üblichen «Linksextremismus»-Debatte zu verkommen drohte, trumpfte ein gewiefter Journalist der Berner Zeitung mit einer neuen Geschichte auf (die leider mittlerweile grundlegend umgeschrieben wurde und im Original nicht mehr abrufbar ist): So sei das Berner Rapkollektiv «Chaostruppe» an der Sauvage aufgetreten, eine Truppe, die «aus dem Staat Gurkensalat machen» wolle und ausgerechnet am Berner Stadtfest im August einen Auftritt haben würde. Man witterte einen Skandal und bastelte dafür kurzerhand die Schlagzeile: «Stadt Bern gibt militanten Musikern eine Bühne.» Die BZ bewies damit einmal mehr, wie ihr Journalismus zu funktionieren scheint: Man nehme Gurkensalat und mache daraus Militanz – Hauptsache, die Schlagzeile ist «sexy», ob sie der Wahrheit entspricht, interessiert da nicht.

In derselben Manier war auch dem lokalen Fernsehsender «Telebärn» die Geschichte einen Beitrag wert und holte sich dafür Sicherheitsdirektor Reto Nause höchstpersönlich vor die Kamera. Zu welchem Zweck genau, das scheint diesmal sogar dem Politiker ein Rätsel gewesen zu sein und so freute er sich im Beitrag vor allem auf das anstehende Konzert von ACDC. Der erhoffte Nachrichtenstoff für die kommenden Tage blieb somit aus.

Reto Nauses Überwachungstraum

Ein Thema, das Sicherheitsdirektor Nause in der Woche nach der Sauvage weitaus mehr beschäftigte als die Musik der «Chaostruppe», war – einmal mehr – das Thema Überwachung. So forderte er die Bevölkerung etwa dazu auf, «Bilder und Filme von der Demonstration der Polizei zur Verfügung zu stellen». Das weckt Erinnerungen an die Ermittlungen zum «Tanz dich frei» von 2013. Damals wurde das zusammengetragene Fotomaterial von der Polizei zur Fahndung an einem Internet-Pranger veröffentlicht. Ob sich dies nun wiederholen soll, ist offen.

Sicher ist hingegen Reto Nauses Wunsch nach dem ausgebauten Überwachungsstaat: Um die Aktivitäten von radikalen Linken zu unterbinden – oder wie es Nause nennt: «den ausgesprochen gewaltbereiten Kreis der Täter jetzt auszutrocknen» – fordert der Sicherheitsdirektor «alle Fahndungsmethoden zuzulassen, die es gibt und braucht».

Damit sind auch solche gemeint, für die es bis anhin keine rechtlichen Grundlagen gibt und selbst über das geplante Büpf hinausgehen würden. «Das Büpf brauchen wir auf jeden Fall, aber es reicht nicht aus», so Nause. Doch es sei eine rechtliche Grundlage nötig, «um auch bei Fällen von Gewaltextremismus Handys abhören und den E-Mail-Verkehr kontrollieren zu lassen». Hierfür seien die Hürden momentan zu hoch. Um dies zu ändern, sieht Nause den Bund gefordert. So müsse sich etwa der Bundesnachrichtendienst dieser «Problematik» annehmen. Darüber hinaus, soll auch die Polizei «die nachrichtendienstlichen Möglichkeiten erhalten, die sie braucht». Unterstützung erhofft sich der Berner CVP-Politiker dabei von seinen Kollegen auf kantonaler und kommunaler Ebene. So soll das Thema an der kommenden Konferenz der Polizeidirektoren behandelt werden. Da klingt Gurkensalat doch gleich noch viel verlockender.

Aus dem vorwärts vom 3. Juni 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Der Protest der jenischen Fahrenden

Protestaktion Fahrende Kleine AllmendDass der Hass auf jene, die scheinbar nicht Schweiss für UnternehmerInnen vergiessen, um ihre Leben zu bestreiten, schlug in Bern einmal mehr in offene Repression um. Über 500 jenische Fahrende besetzten vom 22. bis 24. April in Bern die Kleine Allmend. Ihr Ziel: Die schweizweite Schaffung von neuen Durchgangs- und Standplätzen. Die Stadt setzte den Besetzenden nach zwei Tagen ein Ultimatum und liess die Besetzung tags drauf durch Polizeigewalt räumen.

Gegen das repressive Grossaufgebot der Polizei, einen Hebekran und zig Abschleppwagen halfen weder die gewaltlosen Blockadeaktionen der Jenischen noch die mediale Empörung von Amnesty International oder linksparlamentarischen Parteien. Die Räumung der Kleinen Allmend, die der anstehenden Gewerbemesse BEA als Parkplatz dient, war wichtiger als die Interessen einer seit Jahrhunderten unterdrückten Minderheit. Noch am selben Abend konnten sich die Behörden und die Lokalprominenz über die Tänze der «leichtfüssigen Latinos» (Berner Zeitung) freuen, die die BEA gemäss dem Messemotto «wild» im geordneten Rahmen eröffneten.

Eine Geschichte der Unterdrückung

Die Besetzung ist Ausdruck einer seit langem angestauten Wut. Bis in die 1970er Jahre war es ein erklärtes Ziel der Politik, durch Wegnahme der Kinder aus jenischen Familien «die fahrende Lebensweise zu beseitigen». Die bekannteste Aktion war jene des Hilfswerks «Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute. Zwischen 1926 und 1973 wurden über 600 Kinder von ihren Eltern getrennt und in Pflegefamilien, Heimen oder Institutionen platziert, um sie zu zwingen, sich den gesellschaftlichen Normen zu unterordnen.

Als die offizielle Schweiz in den 1990er Jahren begann, sich für die Unterdrückung zu entschuldigen und die Jenischen als Minderheit anerkannte, setzte eine neue Ära der Unterdrückung ein. Den Jenischen wurde der Lebensraum strittig gemacht. Während für die rund 5000 in der Schweiz lebenden jenischen Fahrenden vor zehn Jahren noch mehr Plätze bestanden, gibt es heute noch 15 Standp- und 45 Durchgangsplätze. Nötig wären laut der Gruppe mindestens 40 Stand- und 80 Durchgangsplätze. Die ihnen vor Jahren versprochenen 30 neuen Plätze sind bisher Versprechen geblieben. «Irgendeinmal muss man sich wehren und aufstehen. Wir haben genug, wir wollen Plätze, jetzt!» sagt Kurt Gerzner vom Verein «Bewegung Schweizer Reisenden» gegenüber Radio Bern.

Antiziganismus im Kapitalismus

Wie den Romas und Sintis wird auch den jenischen Fahrenden seit jeher nachgesagt, ihren Lebensunterhalt statt mit «ehrlicher Arbeit» hauptsächlich durch Betteln, Stehlen und Wahrsagen zu bestreiten und durch ihr «hausieren» und unbändiges Spielen, Tanzen und Musizieren, die Ruhe und Ordnung zu stören. Solche antiziganistische Vorstellungen erhielten ab dem 16. Jahrhundert eine besondere Bedeutung.

Mit der aufkommenden kapitalistischen Produktionsweise musste sich eine neue Haltung gegenüber dem Arbeiten durchsetzen. Die Arbeit wurde zum absoluten Selbstzweck stilisiert, Fleiss und Disziplin galten zunehmend als zentrale gesellschaftliche Tugenden. Hierzu stellten die vermeintlich parasitären ZigeunerInnen einen Widerspruch dar. Sie verkörperten die Möglichkeit eines Lebens ohne Arbeit. Als der Staat und das Unternehmertum begannen, die «Sünde des arbeitsscheuen Leben» zu bekämpfen, wurden auch die Fahrenden kriminalisiert.

Der Antiziganismus richtete sich aber nicht nur direkt gegen Fahrende, sondern stellt eine klare Botschaft an all jene dar, die mit dem kapitalistischen Arbeitsethos ihre Mühe haben. Die Diskriminierung der Jenischen in der Schweiz, sowie die zunehmende Hetze gegen Fahrende überall in Europa zeigen, dass der Antiziganismus nicht an Aktualität eingebüsst hat.

Aus der Geschichte lernen, um sie zu wiederholen?

«Eine Gesellschaft, die sich den unangenehmen Kapiteln ihrer Vergangenheit nicht stellt, läuft Gefahr, dieselben Fehler wieder zu machen», sagte Bundesrätin Sommaruga, als sie sich am 11. April 2013 bei ehemaligen Verdingkindern und Opfern von «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen», darunter auch vielen Jenischen, entschuldigte. Wenn sie ihren eigenen Worten glauben würde, wäre ihr aufgefallen, dass sie nur einige Tage zuvor dafür plädierte, diese historische Tragödie zu wiederholen. Noch am 25. März 2013 warb Sommaruga mit folgenden Worten für die Verschärfung des Asylgesetzes: «In Zukunft sollen Asylsuchende in besonderen Zentren für Renitente untergebracht werden, wenn sie Konflikte auslösen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder den Betrieb der Bundeszentren erheblich stören.»

Die staatlichen Gewaltmassnahmen, die bis in die 1980er Jahren die obgenannten Gruppen trafen, weil diese als «schwierig», «unbequem» oder «aufmüpfig» galten, richten sich heute gegen Asylsuchende. Aktuell reicht ein administrativer Entscheid aus, um diese als sogenannt «renitent» einzustufen und in spezielle Lager zu verbannen. Die Geschichte wiederholt sich…wenn wir sie nicht verändern.

Widersprüche des Widerstands

Die Jenischen kämpfen gegen ihre rechtliche Diskriminierung, Stigmatisierung und sozialen Ausschluss. Ihre Forderung nach mehr Standplätzen ist daher mehr als legitim. Aus emanzipatorischer Perspektive verdient auch die gewählte Widerstandsform der Besetzung die volle Unterstützung. Als Opfer einer spezifischen Unterdrückung erleben sie täglich Ohnmacht und Herabsetzung. Bei vielen leidet darunter der Selbstwert. Direkte Aktionen wie diese Besetzung stellen eine Möglichkeit dar, sich (wieder) als selbstbestimmt und politisch handlungsfähig wahrzunehmen. Zudem setzte der Widerstand kaum auf Machtdelegation und Scheindialoge, sondern machte Interessenskonflikte unmittelbar sichtbar und somit bearbeitbar.

 

Freiheit und Papiere für O.!

01_liberty for O_webDer Fall von O., einem schwulen Flüchtling aus Nigeria, macht zur Zeit das wahre Gesicht der schweizerischen Asylpolitik? sichtbar: Homosexualität wird faktisch nicht als Asylgrund anerkannt. Dadurch wird die Unterscheidung von echten und unechten Flüchtlingen zementiert.

Das Asylwesen in der Schweiz hat sich längst selbst pervertiert und kommt einer bitterbösen Satire gleich. Eisern ist die Botschaft, die täglich neue Verbreitung findet: Es gibt echte und unechte Flüchtlinge. Es gibt Menschen, die auf der Flucht vor Gewalt in der Schweiz Asyl beantragen und echte Flüchtlinge sind. Sie haben ein wirkliches Anrecht auf Schutz, aber wenn es zu viele von den wirklich Verfolgten gibt, kontigentiert die Schweiz, wie im Fall des Syrienkrieges, auch die echten Flüchtlinge. Dieses Lotterieverfahren ist schon sehr wichtig, denn würden wir die Grenzen öffnen, kämen alle Menschen aus Afrika oder dem Osten in die Schweiz. Es wäre diesen Menschen dann auch ganz egal, ob sie in der Schweiz eine Arbeit finden würden und sich ein Leben aufbauen könnten – sie kämen einfach mal alle und blieben dann für immer. Diese Menschen übrigens nennen wir unechte Flüchtlinge oder Wirtschaftsflüchtlinge, am besten versteht man aber die Bezeichnung «ScheinasylantIn». Das Selektionieren von Menschen an der Grenze auf hegemoniale Machtansprüche oder gar auf die Einteilung in Rassen zurückzuführen, wäre absurd. Polizei- und Justizministerin Simonetta Sommaruga besitzt als linke Politikerin ein historisches Bewusstsein und weiss, was es bedeutet, Grenzen nur für Auserwählte zu öffnen. Deshalb hilft sie dem BFM, wo sie nur kann, damit die Auswahl der Menschen nach ihrer Herkunft gelingt. 2011 zum Beispiel hat Sommaruga mit Nigerias Aussenminister, Odein Ajumogobia, ein Abkommen unterzeichnet, das die Rückführung von nigerianischen Flüchtlingen in ihr Heimatland regelt. Seit 2013 gilt für die Prüfung von Asylgesuchen nigerianischer Staatsangehöriger ein beschleunigtes Asylverfahren (fast track). Erst kürzlich traf sich eine Delegation der Migrationspartnerschaft Schweiz Nigeria, um «Lösungen der irregulären Migration in die Schweiz zu finden», wie es im online Newsletter der Schweizer Bundesverwaltung heisst.

Der Fall O.

Für die sogenannte Reintegration der Flüchtlinge sichert die Schweiz Nigeria weitgehende Unterstützung bei der Rückführung zu. Gerade solche Entscheide geben dem BFM freilich Zuversicht, hatte sie doch bereits Ende 2010 das Asylgesuch von O. und seinem Freund nach nur einem Monat abgelehnt. Die beiden Männer mussten aus ihrem Dorf im südlichen Teil Nigerias fliehen, nachdem sie sich in der Öffentlichkeit als Paar gezeigt hatten. O.’s Freund ist bereits ausgeschafft worden, die Reintegration mit Hilfe der Schweiz hat perfekt geklappt – O.’s Freund wurde nackt auf einem Anhänger durchs Dorf gezogen, musste exorzistische Rituale über sich ergehen lassen und der gleichgeschlechtlichen Liebe abschwören. O. wird nicht müde zu erzählen, wie alles war, bevor sein Leben 2005 eine krasse Wende nimmt. Als Naturheilpraktiker entwickelt O. eine entzündungshemmende Arznei aus Pflanzen, mit der er sich auch ausserhalb seines Dorfes einen Namen machen kann. Sowohl schwangere Frauen als auch Kranke vertrauen sich ihm an. Nachdem sich aber O. öffentlich zu seinem Partner bekennt, beginnt eine Hetze, deren Anführer O.’s Vater wird, der Pastor des Dorfes. Er prangert seinen Sohn als Sündenbock an und macht ihn für jedes Unglück im Dorf verantwortlich. Eines nachts dringen schliesslich Bekannte in O.’s Haus ein. Sie fesseln das Paar – in letzter Minute gelingt ihnen die Flucht. Die Narben am Rücken O.’s erinnern noch heute an die Messerschnitte. O. und sein Freund fliehen zunächst in die Grossstadt Lagos, wo sie in der Anonymität ein neues Leben aufbauen, ohne sich als Paar zu erkennen zu geben. Nach vier Jahren finden Bekannte ihren Aufenthaltsort heraus, sodass sie erneut fliehen müssen. Sie bezahlen Schlepper und werden auf einem Transporter durch die Wüste nach Marokko gefahren. Von dort aus geht die Flucht in einem Schlauchboot weiter nach Spanien. O. berichet, wie er glaubte, dass er auf offenem Meer sterben werde, da zeitweise der Motor ausfiel.

Illegalisierung und Solidarität

Ende 2010 gelangt das Paar dann in die Schweiz, wo es einen Erstasylantrag stellt. Bereits nach einem Monat schmettert das BFM ihr Gesuch ab, mit der Begründung, ihr Fluchtgrund sei nicht glaubwürdig. Seitdem lebt O. illegalisiert und ohne Papiere in der Schweiz. Das Wiedererwägungsgesuch, welches Dank dem CCSI (Centre de Contact Suisses-Immigrés) Fribourg 2013 eingereicht werden kann, wird erneut abgelehnt. Das BFM zweifle die sexuelle Orientierung O.’s nicht an, heisst es im zweiten Negativentscheid, sie sei aber im Rahmen des Gesuchs unwichtig, da es für O. möglich sei, in Nigeria zu leben, wenn er seine Homosexualität diskret lebe. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) legt jedoch gerade fest, dass von Asylsuchenden nicht verlangt werden dürfe, ihre sexuelle Orientierung im Herkunftsland verdeckt zu halten. Inzwischen steht diese Regelung auch auf dem Handout für die GutachterInnen des BFM. Grundsätzlich ist die Schweiz aber nicht an den EuGH gebunden, was ein krasser Missstand darstellt, dem O. zum Opfer fällt. Auch das Bundesverwaltungsgericht sieht im Fall O. keinen Handlungsbedarf. Mittlerweile hat sich die homophobe Gesetzeslage (14 Jahre Gefängnis) in Nigeria weiter verschärft. Wer sich weigert, eine LGBT–Person zu denunzieren, läuft selbst Gefahr, sich strafbar zu machen. Lynchjustiz und Gewaltübergriffe haben keine rechtlichen Konsequenzen, so werden zum Beispiel lesbische Frauen vergewaltigt, um sie zu «heilen». Im Süden Nigerias wird die Hatz von evangelikalen Christen geschürt, was die katholische Bischofskonferenz Nigerias unlängst zur Gratulation veranlasste. Ende März 2014 wird O. wegen illegalem Aufenthalt in Bern in Haft genommen. Ihm droht die Ausschaffung. Innert kürzester Zeit haben sich Menschen in Bern mit O. solidarisiert und fordern nun die sofortige Freilassung und die Annahme seines Asylgesuches.

Wegdada

Abgesagte Kuscheljustiz-Demo Bern 2014Am 1. Mai 2011 führte die Zürcher Polizei über 500 «?Personenkontrollen?» durch und sprach etliche Wegweisungen aus. Gemäss Polizei hätten nur ­dadurch Ausschreitungen und Sachschäden verhindert werden können. Doch einige der weggewiesenen Personen wehren sich seitdem auf dem Rechtsweg gegen die sogenannte Personenkontrolle und sie haben nun vor Bundesgericht teilweise Recht bekommen.

Gegen 550 Frauen und Männer wurden am 1. Mai 2011 auf dem Helvetiaplatz und auf dem Gelände der Kanzlei von der Stadt- und der Kantonspolizei Zürich eingekesselt und etwa zweieinhalb Stunden dort festgehalten. Bis zu dreieinhalb Stunden verbrachten sie darauf in den Zellen der Kaserne – dieses Vorgehen wurde von der Polizei als Personenkontrolle bezeichnet. Zuletzt erhielten die «kontrollierten» Personen eine Wegweisungsverfügung mit Rayonverbot, weil sie, so der Text der Verfügung, «die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet» hätten. Sie mussten sich für 24 Stunden von den Stadtkreisen 1, 4 und 5 und damit auch vom 1. Mai-Fest fernhalten. Die Stadtpolizei mit Vorsteher Daniel Leupi freute sich: Endlich sei ein Rezept gegen die Ausschreitungen am 1. Mai gefunden.

Bundesgericht sagt?: Es war ein Freiheitsentzug

Eine Gruppe von elf Betroffenen hat sich bereits kurz nach dem 1. Mai 2011 zu einem Kollektiv formiert und sich mit Unterstützung des Zürcher Anwalts Viktor Györffy auf dem Rechtsweg gegen das Vorgehen der Polizei gewehrt. Das Kollektiv betrachtet die ganze Aktion als widerrechtlichen Freiheitsentzug, die zudem die Aushebelung der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum bedeutet. Damit ein derartiges Vorgehen seitens der Polizei nicht zur allgemeingültigen Strategie im Umgang mit öffentlichen Veranstaltungen wird – auch nicht an einem 1. Mai – hat das Kollektiv zunächst Beschwerden bei der Stadt- und der Kantonspolizei erhoben. Diese wurden abgewiesen und das Kollektiv rekurrierte. Der Rekurs durchlief mehrere Verwaltungsinstanzen, bis er schliesslich beim Bundesgericht landete. Seit dem 29. Januar steht dessen Antwort fest: Das Bundesgericht wertet zwar die Einkesselung auf dem Helvetiaplatz und dem Kanzleiareal für sich allein nicht als Freiheitsentzug, wohl aber das mehrstündige Festhalten in den Zellen der Kaserne und damit die ganze Ak­tion. Es gibt die Beschwerde zurück an das Zwangsmassnahmengericht Zürich, das es davor abgelehnt hatte, sich überhaupt damit zu befassen. Nun muss es den Fall doch auf Rechtswidrigkeit prüfen, und es dürfte schwierig werden, die sogenannte Personenkontrolle in der Kaserne anders zu bewerten als das Bundesgericht.

Kleiner Triumph der Weggewiesenen

Weil der Rechtsweg nicht billig ist – die Kosten für den Instanzenzug und den Anwalt betragen bis jetzt bereits über 10?000 Franken, – hat das Rekurs-Kollektiv nur drei Fälle exemplarisch weitergezogen. Während der vergangenen drei Jahre hat das Kollektiv Geld gesammelt, zum Beispiel mit Soli-Partys und Soli-Tombolas. Zudem erhielten zwei Rekurrierende unentgeltliche Rechtspflege, die sie im Falle einer Niederlage aber zurückzahlen müssten. Mit vereinten Kräften war die Finanzierung bisher also knapp möglich. Die Sache ist noch nicht ganz ausgestanden, aber ein Teilerfolg ist erzielt. Es kann nicht sein, dass gegen 550 Menschen, bloss weil sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einem bestimmten Platz aufhalten, stundenlang festgehalten werden. Es ist rechtsstaatlich äusserst bedenklich, wenn die Polizei ein ganzes Quartier zum Sperr­gebiet erklären kann. Fast drei Jahre nach den präventiven Massenverhaftungen haben die Rekurrierenden einen kleinen Triumph errungen. Es ist zu hoffen, dass es so weitergeht.

Gegen Repression und Ausschaffung

lagerpolitik_stinkt_2Letztes Wochenende wurde das Duttweiler-Areal in Zürich West für drei Tage besetzt. Betroffene und AktivistInnen verschiedener Gruppierungen wollen das an dieser Stelle geplante Lager für Asylsuchende bekämpfen, mit dem der Staat die Durchführbarkeit seiner neuen Strategie in der Asylpolitik testen will. Diese will vor allem eines?: Beschleunigung der Verfahren.

Aus dem vorwärts vom 24.Mai. Unterstütze uns mit einem Abo.

Während die StimmbürgerInnen zu Hause sitzen und von dem grauen Zettel mit dem leerem Rechteck nach einem Ja oder Nein zur Asylgesetzrevision gefragt werden, sind in Zürich etwa 150 AktivistInnen zur Tat geschritten. Sie haben letztes Wochenende drei Tage lang das Duttweiler-Areal zwischen der ehemaligen Toni-Molkerei und den Geleisen besetzt, um gegen das dort geplante Testlager für Asylsuchende zu protestieren. Laut ihrer Mitteilung setzen sich die BesetzerInnen der Aktion «Smash the Camps» aus «direkt Betroffenen und Solidarischen, Einzelnen und Gruppierungen» zusammen, die «das Migrationsregime als Ganzes ablehnen und deshalb das Bundes-lager (als Teil staatlicher Lagerpolitik) auf dem Duttweiler-Areal verhindern wollen».

«Wir delegieren unsere Macht nicht an Parteien und Asylorganisationen, die sich im Bestreben, die Migration zu lenken und zu kontrollieren grundsätzlich einig sind», heisst es in dem Communiqué der AktivistInnen weiter, «sondern setzen auf Selbst-organisation und Selbstermächtigung. Dazu nehmen wir uns Raum, ohne darum zu bitten, und suchen gemeinsam nach Möglichkeiten, wie wir die Abläufe des Migrationsregimes sabotieren können.»

Die «?verdienen?» doch ein schnelles Verfahren

Im Zuge des Kampfes gegen «jegliche Art von Herrschaft, Ausbeutung, Unterdrückung und Einsperrung» soll das erste «Bundeszentrum» für Asylsuchende verhindert werden, mit dem der Staat ab Januar 2014 die Durchführbarkeit seiner neuen Strategie in der Asylpolitik testen will. Diese Strategie sieht vor allem vor, die Verfahren zu beschleunigen, was gern mit den Interessen der Asylsuchenden begründet wird, die ein schnelles Verfahren «verdienen» würden. In den militärisch durchorganisierten Lagern sollen möglichst schnell die «falschen» von den «richtigen» Flüchtlingen getrennt werden. Erstere werden dann dem Ausschaffungsregime zugeführt, das gleich in der Nähe ebenfalls neue Infrastruktur erhalten soll. Neben der gesteigerten Effizienz des Verfahrens kann mit den Lagern jedoch auch leicht die Anzahl an angenommenen Asylanträgen gesenkt werden.

Das geplante Lager soll 500 Asylsuchende aufnehmen können und unter anderem eine Rechtsberatung, die zuständigen Behörden und die Polizei beherbergen. In der Umgebung sind zudem 700 Ausschaffungshaftplätze, sowie Spezialknäste für «renitente» Asylsuchende geplant. Die geplante Infrastruktur dient den Herrschenden als ein Element im Erhalt ihres Machtsystems. Die BesetzerInnen schreiben: «Diese Strukturen der Unterdrückung und Ausbeutung können nur in einer autoritären Gesellschaft bestehen, welche die herrschenden hierarchischen Machtstrukturen als unantastbaren Status Quo akzeptiert und als Grundlage eines progressiven, demokratischen Systems versteht. Die Herrschenden setzen indes alles daran, diesen scheinheiligen Frieden inmitten eines sozialen Krieges zu bewahren und jede potenzielle Gefährdung wegzusperren.»

Friedliche Besetzung statt grossem Spektakel

Die Besetzung wurde von der Polizei toleriert, was sie den AktivistInnen vor Ort auch explizit mitgeteilt hat. Zwar seien einige ob dieser Milde überrascht gewesen, wie ein Aktivist berichtet. Sogar das Tor zum Areal habe man offen stehen lassen. Anderer-seits sei auch klar, dass man den Protesten gegen das geplante Testlager von Anfang an möglichst wenig Aufmerksamkeit schenken wolle. Auch war der Protest eher symbolischer Natur. In der -öffentlichen Mobilisierung hatten die AktivistInnen bereits erklärt, dass die Besetzung nur bis Montag dauern werde.

Auf ein öffentlichkeitswirksames Spektakel waren die BesetzerInnen sowieso nicht aus – JournalistInnen waren auf dem Gelände unerwünscht. Dafür wurden die ruhigen Tage für ausgiebige Diskussionen über mögliche zukünftige Widerstands-stra-te-gien genutzt. Das sei darum wichtig, meint der Aktivist, weil genügend Gelegenheiten zum Austausch und zur Besprechung des Weiteren Vorgehens zur Verfügung gestanden hätten. Darüber, dass weitere Aktionen nötig sind und auch durchgeführt werden können, waren sich die Teilnehmenden erfreulicherweise einig.

Ebenfalls wurde darüber diskutiert, welcher Grad an Radikalität im Umgang mit den betroffenen Asylsuchenden angemessen ist. Viele forderten etwa, dass man sich vor konkreten Forderungen generell hüten solle, andere waren der Meinung, man solle die Asylsuchenden auch darin unterstützen, kleine Forderungen gegenüber dem Staat zu verwirklichen.

Abgesehen von diesen Details scheinen der breiten Bevölkerungen noch nicht einmal die groben Züge der Lager-Problematik bewusst zu sein. In kleinen Interviews jedenfalls, die der Tagi mit Passanten im Quartier Zürich West aufgenommen hat, werden mehrheitlich Bedenken geäussert, die Kriminalität könnte im ach so hippen Ausgehviertel ansteigen und sowieso seien 500 an einem Ort doch gerade etwas viel. Doch wir können beruhigen: Die Asylunterkünfte können so schnell sie aufgebaut werden auch wieder zu Gewerbeflächen umgenutzt werden. Sie sind eben so flexibel, wie es die Menschenmassen sein sollen, die auf dem Arbeitsmarkt ausgebeutet werden.

Solidarität mit Metin Aydin

Metin Ayden wurde am 1. November aus der Schweiz in die JVA Hohenasperg inDeutschland ausgeliefert (129b).
Er befindet sich im 55 Tag im Hungerstreik und seit ein einigen Tagen (wahrscheinlich 4), im Durststreik.

Demo und Kundgebung in Zürich

Samstag 3. November 2012 Helvetiaplatz Zürich
Besamlung und Kundgebung ab 11.00 Uhr
Demo 14.00 
Schlusskundgebung 16.00 auf dem Helvetiaplatz

Hier der Artikel aus dem vorwärts vom 28.August 2012

Stopp Auslieferung von Metin Aydin

Seit über einem Jahr sitzt der kurdische Politiker Metin Aydin im Kanton Zürich in Auslieferungshaft. Obwohl er in Frankreich als politischer Flüchtling anerkannt ist, droht ihm wegen seinen politischen Aktivitäten ein Strafverfahren in Deutschland.

Metin Aydin ist ein kurdischer Politiker und in Frankreich anerkannter Flüchtling. Als Metin Aydin vor gut einem Jahr in die Schweiz reiste, wurde er von den Schweizer Behörden festgenommen. Seither sitzt er in der Schweiz in Auslieferungshaft. Deutschland hat ein Auslieferungsbegehren gestellt.
Der deutsche Staat führt ein Strafverfahren gegen Metin Aydin, weil er in Deutschland für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) politisch aktiv gewesen sei. Die PKK, welche sich für die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes in der Türkei einsetzt, ist in Deutschland verboten. Aydin soll in Deutschland nun wegen Verstosses gegen die politischen Artikel 129a und 129b bis zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt werden. Diese Gesetzesartikel, welche die Zugehörigkeit an illegalen Organisationen im In- und Ausland unter dem Vorwand der «Terrorismusbekämpfung» unter Strafe stellen, dienen insbesondere dazu, politischen Aktivismus über die «normalen» Strafandrohungen hinaus unter Strafe zu stellen. Strafbar macht sich dabei, wer schon in einer verbotenen Organisation Mitglied ist, ohne jedoch dabei selbst an militanten Aktionen teilgenommen zu haben.
Unter diesen Umständen erhält die Auslieferung auch aus rein rechtlicher Sicht einen höchst fragwürdigen Charakter: In der Schweiz ist die PKK legal, einen Strafartikel wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation existiert in der Schweiz nicht. Die schweizerische Gesetzgebung verlangt jedoch ganz klar, dass eine Tat auch gemäss schweizerischem Gesetz strafbar sein muss, um einem Auslieferungsbegehren entsprechen zu können. Zudem wäre die Auslieferung ausgeschlossen, wenn die Strafverfolgung einen vorwiegend politischen Charakter hat, was im Fall von Metin Aydin dann auch mit Sicherheit der Fall ist.
Es ist davon auszugehen, dass die Auslieferung durch die Schweiz, zu welcher die Schweiz keineswegs verpflichtet wäre, selbst politischen Charakter hat: Ausländische politisch Aktive in der Schweiz sollten mit der Androhung von Auslieferung eingeschüchtert werden. Dies wohl mit dem Ziel, migrantische politische Gruppierungen, insbesondere die in der Schweiz stark vertretenen kurdischen AktivistInnen, von politischem Handeln abzuhalten. Nicht zuletzt versucht die Schweiz damit aber auch, repressiven Drittstaaten wie der Türkei einen Gefallen zu tun.

Drohende Folter in der Türkei
Nach der Verbüssung einer allfälligen Haftstrafe in Deutschland würde Metin Aydin wahrscheinlich in die Türkei abgeschoben werden. Dort droht ihm nicht nur weitere Inhaftierung, welcher er zunächst durch Flucht nach Frankreich entkommen konnte, sondern auch schwerste Folter durch die türkischen Sicherheitskräfte. Folter ist in der Türkei eine weit verbreitete Praxis und speziell im Kampf gegen kurdische Widerständische die Regel. Obwohl die Schweiz darum weiss – die Schweiz konnte deswegen insbesondere nicht den in der Schweiz wohnhaften kurdischen Politiker Mehmet Esiyok an die Türkei ausliefern – verschliesst sie im Fall Aydin davor willentlich die Augen. Im Bewusstsein, dass Metin Aydin in der Türkei gefoltert werden wird, wird er nach wie vor in Auslieferungshaft gehalten.
Das Bundesamt für Justiz verfügte im Februar dieses Jahres die Auslieferung und tat dies auch öffentlich kund. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es der Schweiz eben auch um eine Abschreckungswirkung an andere ausländische Politaktivisten geht. Auf Druck des Anwalts von Metin Aydin, Marcel Bosonnet, musste die Rechtsmittelinstanz jedoch den Auslieferungsentscheid aufheben und zu neuer Beurteilung an das Bundesamt zurückweisen. Dieses muss nun einen neuen Entscheid fällen, welcher in den nächsten Wochen erwartet wird.
Breite Solidarität
Gegen die Auslieferung an Deutschland, welche wohl mit Folter in der Türkei enden würde, hat sich eine breite Solidaritätsbewegung etabliert: Der kurdische Dachverband in der Schweiz FEKAR, welcher sämtliche kurdischen Vereine in der Schweiz repräsentiert, lancierte eine Petition für die Freilassung von Aydin. Diese soll im Rahmen einer Kundgebung an die schweizerischen Behörden übergeben werden. Auch will die FEKAR im direkten Gespräch mit Vertretern des Schweizer Staates auf die Lage von Aydin aufmerksam machen. Weiter fand am 20. Juli vor dem türkischen Konsulat in Zürich eine Kundgebung gegen seine Auslieferung statt. Die Zürcher Polizei machte dabei klar, auf welcher Seite sie steht: Teilnehmende wurden kontrolliert und ohne weitere Begründung wurde ein Transparent beschlagnahmt. Die FEKAR hofft jedoch, durch die Information über die Lage von Metin Aydin genügend öffentlichen Druck auf die Schweiz aufzubauen, damit diese von der Auslieferung und als Folge davon der weiteren Inhaftierung und Folter absieht.

Schuldig?

Das Regionalgericht Bern-Mittelland verhandelte am Dienstag, 10.Septen den ersten uns bekannten Fall im Zusammenhang mit der Demonstration gegen staatliche Repression, welche am 4. Juni 2011 in Bern stattgefunden hatte. Damals wurde der gesamte Demonstrationszug in der Junkerngasse angehalten und eingekesselt. Die knapp 200 Anwesenden wurden verhaftet und von der Staatsanwaltschaft wegen Landfriedensbruch sowie Ungehorsam gegen eine amtliche Verfügung verurteilt. Nach eingereichter Einsprache musste eine junge Frau heute vor Gericht erscheinen.

Das Ergebnis:
In Bezug auf die Anschuldigung des Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung war auch der Richterin klar: Dieser Anklagepunkt kann nicht aufrecht erhalten werden, da die Polizei „entgegen ihren eigenen Angaben“ die für die Strafbarkeit vorausgesetzte Durchsage inkl. Verweis auf den entsprechenden Artikel und seine Strafdrohung nicht gemacht hatte. Die junge Frau wurde in diesem Punkt freigesprochen.

Wenig erstaunlich ist, dass die Richterin die Verurteilung wegen Landfriedensbruch bestätigte, denn es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass der Landfriedensbruch ein juristisches Instrument darstellt, um politisch Aktive pauschal strafrechtlich verurteilen zu können. Dies zeigt sich schon in seiner Ausgestaltung und der aktuellen Praxis dazu: Strafbar ist bereits die Teilnahme an einer sogenannt öffentlichen Zusammenrottung, dass selber Straftaten begangen werden, wird nicht verlangt.

Eigentlich gälte in der Schweiz der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten oder die Angeklagte“  d.h. entgegen den dramatischen Darstellungen in US-amerikanischen Filmen, ginge es hier vor Gericht nicht darum die eigene Unschuld zu beweisen, sondern das Gericht muss die Schuld der beschuldigten Person nachweisen können. In Fällen vorgeworfenen Landfriedensbruchs scheint dieser Grundsatz jedoch ausser Kraft zu treten. Die Polizei brachte auch im genannten Verfahren belastende und teilweise unwahre Tatsachen vor (Beispiel siehe oben). Die Beschuldigte musste darum bemüht sein, Beweise vorzulegen, welche sie entlasten; zahlreiche ihrer gestellten Beweisanträge wurden jedoch abgelehnt. Übrig bleibt eine Verurteilung ohne konkreten Nachweis darüber, dass die angeschuldigte Person sich im Zeitpunkt der begangenen Sachbeschädigungen „welche aus Sicht des Gerichts den Moment des begangenen Landfriedensbruchs darstellt “ überhaupt als Teilnehmerin in der Demo aufgehalten hatte.

Es ist davon auszugehen, dass das heutige Urteil vor Obergericht angefochten werden wird, denn auch auf juristischer Ebene müssen alle zur Verfügung stehenden Mittel gegen die Kriminalisierung politischer Betätigung ergriffen werden.

Aber wie bereits erwähnt, erstaunlich ist das heutige Ergebnis nicht; erst recht nicht, weil die Verfahren rund um die Demo vom Juni 2011 in Bern keine Einzelfälle sind. In den vergangenen Jahren und Monaten häufen sich die Verfahren wegen Landfriedensbruch. Nach den sogenannten Central-Krawallen im September 2011 in Zürich wurden sogar unbeteiligte Zuschauer und Zuschauerinnen von der Staatsanwaltschaft teilweise zu 170 Tagessätzen bedingter Geldstrafe verurteilt. Am 21. Januar 2012 sollte in Bern eine Demonstration gegen das World Economic Forum in Davos stattfinden. Eine Gruppe von ca. 150 Personen wurde (bereits vor Besammlung und Beginn der eigentlichen Demonstration) wiederum eingekesselt und festgenommen. Die Staatsanwaltschaft hat hier in mindestens einem Verfahren die Akten dem Gericht überwiesen und den Antrag gestellt, dass die Umstände auch unter dem Aspekt des „versuchten Landfriedensbruchs“ zu prüfen seien, ein Konstrukt, welches aus juristischer Sicht jeglicher Grundlage entbehrt. Das Gericht hat diesen Antrag jedoch gutgeheissen. Und dies sind nur einige wenige Beispiele der aktuellen Repressionspolitik. Die Strategie scheint klar: Demonstrationen, insbesondere solche ohne behördliche Bewilligung, sind nicht erwünscht. Möglichst hartes Vorgehen gegen Demonstrierende soll politische Aktivitäten schwächen. Wir lassen uns von staatlicher Repression aber nicht klein kriegen, nehmen wir uns weiterhin die Strassen und zeigen wir Solidarität mit jenen, die von Repression betroffen sind.

Für Rückfragen stehen wir Ihnen unter der E-Mailadresse ea@immerda.ch gerne zur Verfügung.

1 5 6 7 8