Kommunalwahlen in der Türkei: Ein Sieg für die kurdische Bewegung

Zürcher Wahlbeobachtungsdelegation. Die kurdische DEM-Partei hat eine internationalistische Delegation eingeladen, die Kommunalwahlen am 31.März in den kurdischen Gebieten in der Südosttürkei zu beobachten. Eine Reportage über die historische Niederlage des Erdogan-Regimes trotz illegitimer Wahlmanipulationen und die wertvollen Begegnungen mit der kurdischen Bewegung.

Amêd (Diyarbak?r), 30.März 2024, 16 Uhr: Aus ganz Europa treffen immer mehr Menschen im Konferenzsaal im ersten Stock des Hotels Demir im Zentrum von Amêd ein. Der Raum ist prunkvoll dekoriert und mit einem roten Teppich ausgekleidet, auf der Bühne steht ein Redner:innenpult und ein Konferenztisch. Zwischen 18 und 70 ist vermutlich jedes Alter vertreten, die Ankommenden tragen Anzug oder Trainerhosen und reden in kleinen Gruppen in diversen Sprachen über den kommenden Tag. Es ist der Vorabend der türkischen Kommunalwahlen, die Aufregung spürbar. » Weiterlesen

Keine Privatangelegenheit

sah. Mit dem Aufruf zur Tour gegen Feminizide im Sommer soll erinnert werden: Jede zweite Woche wird in der Schweiz eine Frau oder weiblich gelesene Person getötet. Mit einer Broschüre steht schon jetzt ein Toolkit dagegen zur Verfügung.

Seit Jahresbeginn wurden bereits sieben Feminizide gezählt. Namen sind meist nicht bekannt. Das Netzwerk gegenfeminizide.ch verspricht, dass die Opfer nicht anonym bleiben werden. Man will nicht nur das Andenken wahren, sondern auch auf die Inkompetenz der Polizei aufmerksam machen und richtige Hilfe anbieten. Es ist nicht einfach, zu wissen, wie man reagieren soll. Sicher ist: Die schlechteste Lösung ist, nicht zu reagieren. » Weiterlesen

Argentinien: Soziale Bewegungen gegen die autoritäre Motorsäge

sit. Getreu seinen Werten hat der «Solifonds» eine Kampagne lanciert, um in Argentinien die Basisbewegungen zu unterstützen im Kampf gegen den «Anarchokapitalist». Wie schlimm die Lage ist und wie sich die Menschen dagegen wehren, erklärt die Aktivistin Susana Moreno in einem Gespräch.

Solifonds hat pünktlich auf den internationalen Tag der Arbeit eine Kampagne lanciert, um in Argentinien die Basisbewegungen im Kampf gegen den «Motorsägen-Präsidenten» zu unterstützen. Doch der Reihe nach. » Weiterlesen

Der Tag des Antifaschismus in Italien

Gerhard Feldbauer / sit. Hunderttausende von Menschen strömten am 25.April auf die Strassen und Plätze des ganzen Landes und sagen das legendäre Lied «Bella Ciao». Die Mobilisierung zum Tag der Befreiung war zugleich eine Kampfansage an die faschistische Regierung von Giorgia Meloni.

Das antifaschistische Italien hat am 25.April den 79.Jahrestag des Beginns des entscheidenden bewaffneten Aufstandes im Jahr 1945, der zum Sieg über das Besatzungsregime der Hitlerwehrmacht und ihrer Verbündeten, die italienischen Faschist:innen unter Führung von Benito Mussolini, führte. Die 256000 reguläre Kämpfer:innen zählende Armee der Partisan:innen, von denen die Kommunistische Partei Italiens (Partito Comunista Italiano, PCI) mit ihren Garibaldi-Brigaden 155000 Kämpfer:innen stellte, eröffnete am 25. April 1945 zwischen Piemont und Venetien auf einer Breite von über 400 Kilometern ihre letzte Offensive.

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Journalist als Terrorist angeschuldigt

Der katalanische Journalist Jesús Rodríguez

Ralf Streck. Der katalanische Journalist Jesús Rodríguez hat sich wegen absurden Anschuldigungen der spanischen Justiz ins Schweizer Exil begeben. Auch die Schweizer Behörden vermuten längst einen «politischen Charakter» hinter dem Vorgehen des spanischen Ermittlungsrichters gegen Katalan:innen.

Mitte April hat der Katalane Jesús Rodríguez angesichts schwerer Anschuldigungen Spanien verlassen, um ins Exil in die Schweiz zu gehen. Die Vorfälle, derentwegen der spanische Ermittlungsrichter García-Castellón auch gegen den Investigativjournalisten des linken Wochenblatts La Directa ermittelt, gehen aufs Jahr 2019 zurück. Der Richter am Sondergericht für schwere Kriminalität und Terrorismus begann plötzlich, Katalan:innen Terrorismus vorzuwerfen. Neben Rodríguez hat sich auch der Schriftsteller Josep Campmajó in die Schweiz «in Sicherheit gebracht», wie er selbst gegenüber den Medien erklärte.

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Mit linkem Fussball gegen die Diktatur

César Luis Menotti

sit. Am 5.Mai verstarb im Alter von 86 Jahren César Luis Menotti. Er führte 1978 Argentinien zum Sieg an der Fussballweltmeisterschaft, verweigerte dann aber dem Präsidenten der Militärjunta den Handschlag. Der Kampf gegen Diktatur und Faschismus findet sich auch im Fussballverein Argentinos Juniors, der 1904 von Revolutionär:innen gegründet wurde.

«Meine Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt», sagte César Luis Menotti in einem Fernsehinterview, kurz nachdem er die argentinische Fussballnationalmannschaft an der Heim-WM von 1978 zum ersten, historischen Weltmeistertitel geführt hatte. Die Fussball-WM 1978 in dem fussballverrückten Land diente der brutalen Diktatur zur Selbstinszenierung und Imagepflege. In die Geschichte geht Menotti aber auch ein, weil er bei der offiziellen Staatsehrung dem damaligen Präsidenten der Militärregierung Argentiniens, General Jorge Rafael Videla, demonstrativ den Handschlag verweigerte. Mit Menotti verlässt uns ein grosser Fussballlehrer und ein überzeugter antifaschistischer Kämpfer – er verstarb am 5.Mai 2024 im Alter von 86 Jahren.

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Zürcher Kirchen und ihre Glocken

Kuratorin 2024: Vera Kappeler

Peter Dürsteler. Vom 15. bis 17.März fand in Zürich das diesjährige «Taktlos»-Festival statt. Kuratorin war Vera Kappeler. Neben Konzerten im Kunstraum Walcheturm im Zeughausareal stand unter dem Motto «Zürcher Glocken – con sordino» ein spezieller Spaziergang zu Kirchen in der Stadt im Mittelpunkt.
Vera Kappeler wollte – gemäss ihren Aussagen im Programmheft – zum einen keine bestehenden Bands oder Projekte und zum anderen möglichst wenig Leute aus ihrem musikalischen Umfeld einladen. Dies, damit es nicht nach «Vera Kappeler lädt ihre besten Freunde ein» aussehe. Dabei habe sie versucht, Leute zu entdecken, die sie zum Teil selber noch gar nicht gekannt habe.

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Held:innen im Krieg

dom. «Civil War», der neuste Film von Alex Garland warnt uns vor den Schrecken des Krieges, lässt aber die Hintergründe unbeleuchtet. Er konzentriert sich lieber auf die Rolle der Kriegsberichterstattung – und stolpert dabei über einen Widerspruch.

Wir befinden uns in den USA, irgendwo in der nahen Zukunft. Das Land ist zerrissen, zwischen einem sich diktatorisch gebarenden Präsidenten und oppositionellen Kräften ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen, das Land versinkt im Chaos. Die oppositionelle «Western Front» rückt entschlossen vor nach Washington D.C., um sich den Kopf des Präsidenten zu holen. Jenseits der Front herrscht Anarchie, es gilt das Gesetz des Stärkeren.

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Kapitalismus macht krank

sit. Maja Hess, die Präsidentin von medico international schweiz, ist die Hauptrednerin am diesjährigen Internationalen Tag der Arbeit in Zürich. Ein Gespräch mit der langjährigen Aktivistin, Ärztin, Psychiaterin und Psychodramatikerin.

Maja, bekommen die Menschen wegen des Kapitalismus den Schnupfen oder gar Fieber?
Die Menschen bekommen weder Schnupfen noch Fieber. Aber sehr viele Menschen, die auf der Schattenseite des Kapitalismus leben, kriegen weltweit einfach zu wenig: zu wenig zum Leben, zu wenig, um ihre Gesundheit zu schützen, zu wenig Sicherheit, zu wenig Bildung, zu wenig Teilhabe an Entscheidungen und an der Gestaltung des sozialen Zusammenlebens. » Weiterlesen

1 zu 0 für die KlimaSeniorinnen

lmt. Im April 2023 führte der vorwärts ein Interview mit Oda Müller, Vorstandsmitglied des Vereins KlimaSeniorinnen. Damals hatten sie gerade den Schweizer Staat am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt. Nun, ein Jahr später, folgte das Urteil. Wir fragten bei der Klimaseniorin nach.

Oda, was ist seit unserem letzten Interview, sprich eurer Reise nach Strasbourg geschehen?
Nach der Anhörung in Strasbourg hatte sich so ziemlich alles verändert. Wir erhielten ganz viele Interview-Anfragen, Einladungen für Podiumsdiskussionen und noch vieles mehr. Ausserdem waren wir ein zweites Mal in Strasbourg für die Anhörung der Jugendlichen aus Portugal. » Weiterlesen

Unser täglicher Einzelfall …

flo. Erneut machen die Beziehungen von JSVP-Führungskadern Schlagzeilen. Die Kontakte zu Neofaschist:innen sind für die Jugend der grössten Schweizer Partei ebenso systematisch, wie die zu Markte getragene Ignoranz, mit der Kritik am Schulterschluss mit ganz Rechtsaussen beantwortet wird.

Dass Führungspersonen der Jungen Schweizer Volkspartei (JSVP) bei Referaten von faschistischen Organisationen herumhängen, die Mutterpartei eben jene Faschist:innen zu Wahlkampfhelfer:innen macht, sorgt inzwischen im Wochentakt für Schlagzeilen. Genauso, wie dass SVP-Altmeister Blocher sich dazu bemüssigt fühlt, die Kontakte zu verteidigen, welche die Parteijugend zu vom Nachrichtendienst überwachten Rassist:innen pflegt.

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Umstrittene Hilfe für die Ukraine

dom. Der Bundesrat hat bekannt gegeben: Die Schweiz soll sich bis 2036 mit insgesamt fünf Milliarden am Wiederaufbau der Ukraine beteiligen. In einem ersten Schritt sollen dafür 1,5 Milliarden aus dem Budget der internationalen Zusammenarbeit (IZA) zur Verfügung gestellt werden – das sorgt für Kritik.

Krieg bedeutet immer auch Wiederaufbau. Und das klingt erst mal gut, klingt nach Erneuerung, nach dem Ende von Leid und Zerstörung. Aber weil sich Wiederaufbau und Krieg im selben kapitalistischen Rahmen abspielen, sind es nur zwei Seiten derselben Medaille. Wiederaufbau unter kapitalistischen Vorzeichen bedeutet die erzwungene Öffnung der Ukraine für ausländisches Kapital.

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Nur vier von 100

lmt. Die Kriminalstatistik der Polizei offenbart nur einen Bruchteil der tatsächlich stattgefundenen Vergewaltigungen. Die enorme Dunkelziffer und geringe Verurteilungsraten entlarven ein sexistisches System.  

1371 Frauen sollen laut der Kriminalstatistik der Polizei (PKS) im Jahr 2023 vergewaltigt worden sein. Doch die Wahrheit ist viel gravierender. In Vergewaltigung steckt bewusst das Wort Gewalt. Denn Gewalt heisst unter anderem: Unrechtmässiges Vorgehen, wodurch jemand zu etwas gezwungen wird. Das Perfide daran ist, dass ein Vergewaltigungsopfer in der Schweiz höchstwahrscheinlich keine Anzeige erstattet.

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Niemand ist gefangen im eigenen Körper

sah. Die Vergangenheit und Zukunft von Transidentität: Elizabeth Duval ist eine junge Intellektuelle der spanischen Linken und hat unter anderem den Grundlagentext «Nach Trans. Sex, Gender und die Linke» verfasst. Laut der 24-jährigen Autorin wird eine Änderung der aktuellen Situation noch lange brauchen.

«Das Ende der menschlichen Zivilisation werden wir wohl eher erleben als das Ende der Geschlechter», sagt Elizabeth Duval. Die im Jahr 2000 geborene Autorin studiert aktuell Philosophie und moderne Literatur an der Sorbonne-Universität in Paris. Sie ist Aktivistin für Transrechte. Zudem hat Duval schon verschiedene Publikationen veröffentlicht: so beispielsweise 2018 die Textsammlung «Cuadernos de Medusa» (Die Hefter der Medusa), den Erzählband «Asalto a Oz» oder die Gedichtsammlung «Excepción» (Ausnahme).

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Die Nelkenrevolution: 50 Jahre nach dem historischen Umsturz

Nelken in den Gewehrläufen der Soldaten wurde zum Symbol der Revolution 1974 in Portugal.

Nicolai Rapit. Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit: Die Arbeiter:innen leiden unter den sich verschlechternden ökonomischen Verhältnissen Portugals. Gleichzeitig zeichnet sich eine politische Rechtsentwicklung ab. Was ist passiert in dem Land, das vor gerade mal 50 Jahren einen sozialistisch geprägten Umsturz feierte?

Am 25.April 1974, unmittelbar nach Mitternacht, erklingt in den Radiosendern von Lissabon das verbotene Lied «Grândola Vila Morena» vom revolutionären Musiker José Afonso. Es ist das geheime Zeichen für den koordinierten Umsturz der längsten faschistischen Diktatur Europas. In den frühen Morgenstunden erobert die Bewegung der Streitkräfte (MFA) die strategischen Punkte der Hauptstadt und wird von der Bevölkerung euphorisch empfangen. » Weiterlesen

Für Nestlé sind nicht alle Babys gleich

sit. Abhängigkeit von Zucker für den Profit? Was der Nahrungsmittelkonzern Nestlé als bestmögliche Babynahrung verkauft, enthält Zucker – oft gar in grossen Mengen. Zwar nicht in der Schweiz, dafür in Ländern mit grosser Armut.

50 Jahre nach dem Skandal «Nestlé tötet Babys» versichert der Weltkonzern aus der Vergangenheit gelernt zu haben, und beteuert sein «ungebrochenes Engagement» für eine «verantwortungsvolle Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten». Doch die Realität ist eine andere: Eine Recherche der NGO Public Eye und dem internationalen Aktionsnetzwerk zur Säuglingsnahrung (Ibfan) zeigt, dass Nestlé in  Ländern mit tiefen Einkommen wie Südafrika oder Indonesien seiner Baby- und Kleinkindernahrung Cerelac und Nido massiv Zucker beimischt – im Gegensatz zur Schweiz. Public Eye schreibt in ihrer Medienmitteilung zum Recherchebericht auch: «Besonders stossend: Nestlé bewirbt diese Produkte in seinen Hauptmärkten in Afrika, Asien und Lateinamerika aggressiv als wichtig für die gesunde Entwicklung von Kindern.» Aber der Reihe nach.

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Unsere Kultur wiederbeleben

sit. Die Arbeiter:innenkultur geniesst heute, falls überhaupt, noch ein Mauerblümchendasein. Das war nicht immer so, und die Kultur der Klasse für die Klasse hatte einen grossen Einfluss auf die Organisation der Lohnabhängigen. Das Verschwinden der eigenen Kultur ist ein Spiegelbild des Zustands der Arbeiter:innenbewegung – oder gar mehr?

Arbeiter:innenkultur. Also Kultur, die von Arbeiter:in-nen für Arbeiter:innen erschaffen wird. Ja, man mag es heutzutage kaum glauben, aber so was gab es mal. In den 1950er- bis 1970er-Jahren besuchten jeweils mehrere hundert Menschen die Anlässe des Vereins Kultur und Volk in Zürich. Heute ist die Arbeiter:innenkultur in der Schweiz kaum mehr zu finden. Das ist kein Zufall, denn auch die Arbeiter:innenbewegung befindet sich nicht in einer Blütezeit. Kann eine Wiederbelebung der eigenen Kultur, also jene der Klasse für die Klasse, dazu beitragen, dass die Bewegung wieder wächst, gar an gesellschaftlichem Einfluss gewinnt? » Weiterlesen

Das 1.-Mai-Komitee und das grösste Polit- und Kulturfest der Schweiz

Sevin Satan. Seit über 40 Jahren organisiert das 1.-Mai-Komitee in Zürich das dreitägige internationalistische Fest rund um den Tag der Arbeit. Doch, wie kam es überhaupt dazu und warum? Der vorwärts sprach mit Anjuska Weil, Theresa Jäggin und Raffaele Spilimbergo, drei Politaktivist:innen, die von Beginn an dabei waren.

Der 1.-Mai-Umzug mit dem dreitägigen Festbetrieb auf dem Zeughaus-Areal war für die Schreibende dieser Zeilen schon als achtjähriges Mädchen, damals frisch in die Schweiz gekommen, absolut das Beste. Es herrschte immer eine Vorfreude. Die Transparente des Demonstrationsumzugs zu tragen, bis die Arme keine Kraft mehr hatten, war super. Womöglich ohne zu wissen, was draufstand. Aber egal, es war cool.
Danach auf dem Zeughaus-Areal, das war wirklich paradiesisch. Wir Kinder sprangen auf den Blasios (grosse Gummimatten), sammelten Flaschen ein, um Pfandgeld zu kriegen und uns leckere Sachen damit zu kaufen. Dann das Kinderschminken, das sonstige Kinderprogramm und natürlich bis in die späten Abendstunden aufbleiben zu dürfen. Was will man als Kind noch mehr? Und das an drei Tagen hintereinander.

Für kulturellen Austausch und bessere Arbeitsbedingungen
Auch dieses Jahr wird wieder an über drei Tagen gefeiert. Das 1.-Mai-Fest mit seinen zahlreichen Veranstaltungen im bunten Rahmenprogramm ist das grösste linke Polit- und Kulturfest der Schweiz. Organisiert wird das Fest vom 1.-Mai-Komitee Zürich, das seit 1982 als Verein konstituiert ist. Er besteht aus mehr als 50 politischen Organisationen, die in der Mitbestimmung gleichberechtigt sind. Auf seiner Website ist zu lesen: «Der Verein bezweckt den kulturellen Austausch und die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Schweizer:innen und Migrant:innen, die Verbesserung der Situation der in- und ausländischen Arbeitnehmer:innen sowie international die Befreiung und Selbstbestimmung der Völker.»
Doch, was sind die Ursprünge des 1.-Mai-Komitees? Was waren die Gründe, es ins Leben zu rufen? Wir sprachen mit drei Politaktivist:innen, die es wissen müssen: Anjuska Weil, Theresa Jäggin und Raffaele Spilimbergo (Raffy). Anjuska ist seit 1971 Mitglied der Partei der Arbeit (PdA) und war von 1980 bis 1993 deren politische Sekretärin. Von 1991 bis 1999 sass sie als Vertreterin der FraP! (Frauen macht Politik!) im Zürcher Kantonsrat. Sie ist Gründungsmitglied des 1.-Mai-Komitees und war dann die folgenden 20 Jahre aktiv dabei. Kurz nach der Gründung stiessen die Aktivistin Theresa und von der damaligen Gewerkschaft Druck & Papier (heute Syndicom) Raffy zum Komitee. Beide sind heute noch aktiv. Drehen wir also das Rad der Geschichte um über vier Jahrzehnte zurück …

Beginnen wir bei den Ursprüngen: Wie ist das 1.-Mai-Komitee entstanden?
Anjuska: 1980 entschied der Vorstand des Gewerkschaftsbundes Stadt Zürich, keinen Demonstrationsumzug mit anschliessender Kundgebung mehr zu organisieren. Es hiess, es kämen zu wenig Leute. Eine Zeit lang war die Teilnahme eine Flaute, Organisationen der Migration nahmen kaum teil.

Theresa: Dies hatte sicher auch damit zu tun, dass der 1.Mai nach der Volksabstimmung in Kanton Zürich ein offizieller Feiertag wurde.

Anjuska: Die SP hatte beschlossen, nur noch eine Saalveranstaltung im Volkshaus zu organisieren. Etliche linke Aktivist:innen fanden aber, das gehe gar nicht. So haben sich SP-Mitglied Peter Münger, Roger Roth von der Gewerkschaft Druck & Papier (heute Syndicom) und Fritz Amsler von der Progressiven Organisation Schweiz (POCH) zusammengetan. Diese drei zentralen Figuren, eine Person von der Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und ich von der PdA waren die erste Kerngruppe. Danach kamen schnell andere Personen dazu, wie Theresa und Raffy.

Raffy: Mehmet Akyol der damaligen Gewerkschaft Textil Chemie und Papier (GTCP), die dann in die Unia integriert wurde, war auch ziemlich von Beginn an dabei.

Theresa: Bald schlossen sich auch Leute von der damaligen Gewerkschaft Bau und Holz, der heutigen Unia, der Gewerkschaft VPOD und der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), wie Angelo Tinari, an.

Wie ist das frisch entstandene Komitee vorgegangen?
Anjuska: Wir organisierten im Kollektiv den Demons-trationsumzug. Kurzfristig entschieden wir, dass wir anschliessend ein Fest machen wollten. So wurde das erste 1.-Mai-Fest in der Roten Fabrik durchgeführt, damals noch nur an einem Tag. Wir haben im ersten Jahr möglichst viele linke Organisationen der Migration eingeladen. Die ersten Treffen fanden im PdA-Sekretariat statt. Damals waren vor allem die italienischen und die spanischen Kommunist:innen aktiv. Als die Organisation breiter geworden war, wurde entschieden, das Fest nach dem Demoumzug in der Bäckeranlage durchzuführen. Bald kamen chilenische, palästinensische, sprich die Palestine Liberation Organization (PLO), sowie türkische und kurdische Organisationen dazu, auch solche aus der Kulturszene. Es war von Anfang an klar, dass nur linke Organisationen eingeladen werden. Die migrantischen Organisationen waren bald in der Mehrzahl, einige Schweizer:innen ertrugen es schlecht, in der Minderheit zu sein. Es war vor allem beim Beschluss der Hauptparole oder des/der Hauptredner:in des Komitees am Fest schwierig, wenn diese sich beispielsweise auf die Türkei bezogen.

Theresa: Es gab sehr lange Sitzungen, ohne Abstimmungen. Es wurde stets nach einem Konsens gesucht, oftmals bis um Mitternacht. Viele Jahre fanden die Vollversammlungen im ehemaligen Cooperativo statt.

Wie haben sich dann das Komitee und das Fest weiterentwickelt?
Anjuska: Nach dem zweiten oder dritten Jahr haben wir gemerkt, dass wir das 1.-Mai-Komitee als Verein konstituieren mussten. Die Reservationen von Lokalitäten, Bands, die ganze Infrastruktur, die wir aufstellten, Tontechnik, Stände usw., damit gingen wir grosse finanzielle Verpflichtungen ein, die wir als Einzelne nicht mehr tragen konnten.

Theresa: In der Bäckeranlage haben wir das Fest auf zwei Tage ausgeweitet. Wir haben über das WC-Reinigen, Aufstellen, Abräumen, Aufräumen bis hin zur Nachtwache, alles selbst gestemmt. Danach gingen wir gemeinsam ins Volkshaus und zählten das Geld. Es war sehr solidarisch.

Anjuska: Wenn es am 1. Mai schlechtes Wetter war, entstand finanziell schnell ein Risiko, um die Kosten zu decken. Die Überlegung war dann, die 1.-Mai-Feier auf drei Tage zu verteilen, um das Wetterrisiko zu reduzieren. Gleichzeitig kamen immer mehr Organisationen dazu, das Programm wurde erweitert und dann wurde das kulturpolitische Fest ins Zeughaus-Areal verlegt.

Was waren die grössten Herausforderungen? Und gab es auch heikle Momente?
Anjuska: Die schlimmsten Auseinandersetzungen waren damals unter türkischen und kurdischen Organisationen, wahrscheinlich um 1982 herum. Da fielen einmal Schüsse und wir mussten vor Ort entscheiden, ob wir jetzt das Fest abbrechen sollten. Wir konnten das nicht, da wir es sonst finanziell nicht hätten stemmen können. So lief das Fest weiter. Das war sehr abstrus. Diese Organisationen wurden vom Platz verwiesen. Das war schon eine ganz krasse Ausnahme.

Theresa: Einmal hat die Polizei Tränengaspetarden, gefüllt mit verbotenem Giftgas, über die Zeughausdächer ins Areal geschossen. Panik und Chaos brach aus.

Raffy: Ich rannte raus zu dieser Polizistin, die da hereingeschossen hatte und rief aus: «Gahts no! Da sind tausende Menschen auf dem Areal, viele Kinder und ältere Personen. Hören Sie sofort auf!» Sie erwiderte, dass alle Chaot:innen im Areal seien. Ich flippte aus und sagte: «Schauen sie mal durch das Gitter hinein, dann sehen sie es selber.» Über Funk wurde sie dann mit den anderen Polizist:innen zurück beordert. Ein älterer Mann hatte einen Herzinfarkt wegen des Tränengases und die Polizei versperrte dem Krankenwagen den Weg. Das war sehr chaotisch.

Anjuska: Eine Tränengasgranate ist direkt vor mir auf den Tisch geprallt. Zunächst habe ich nichts mehr gesehen, so haben meine Augen gebrannt.

Theresa: Am nächsten Tag gab es eine Demo gegen den Polizeieinsatz.
Raffy: Ab Mitte der 1990er-Jahre gab es immer wieder ein Theater mit den Nachdemos. Es nahmen damals auch sehr viele Teenager daran teil. Auch wir wurden wegen den Nachdemos mal eingekesselt. Das 1.-Mai-Komitee ist seitdem immer bei den Eingängen und sagt den Menschen klar, dass sie im Areal bleiben sollen, damit solche Fälle nicht mehr vorkommen. Wegen der Standkosten und -Einnahmen gab es immer wieder Reklamationen innerhalb des Komitees. Dieses Misstrauen machte mich wütend. So haben wir angefangen, alle Kosten offenzulegen. Doch keine dieser Organisationen, die zuvor laut reklamiert hatten, kam dann, um sie zu prüfen. Wir haben fixe Kosten für das Areal, aber es kommt jeweils noch eine hohe Stromrechnung dazu, da der Strom von der Grossverteiler- Anlage bezogen werden muss.

Theresa: Generell ist das Plenum sehr geschrumpft. Viele Organisationen kommen und gehen. Vor allem kommen viele Organisationen erst später in die Vorbereitungen hinein, was die Arbeit erschwert und ein bisschen unsolidarisch ist. In den letzten paar Jahren traten viele vom Vorstand zurück. Dies war eine schwierige Zeit, mit der Frage verbunden, wie es denn weitergehen sollte. Jetzt ist es wieder besser. Es gibt wieder eine engagierte Generation.

Zum Schluss: Welche positiven Ereignisse oder Erlebnisse kommen euch in den Sinn, wenn ihr an das 1.-Mai-Komitee denkt?
Anjuska: Die Stadt Zürich hat damals Integrationsprojekte gemacht, doch ich denke, das 1.-Mai-Komitee war zu jener Zeit das grösste Integrationsprogramm, vielleicht ist es das sogar jetzt noch. Doch wohlgemerkt, wir haben keine städtischen Subventionen erhalten und man hat wirklich auf Augenhöhe zusammengearbeitet. Das finde ich etwas Aussergewöhnliches. Ja, ich denke, es war wirklich das grösste Integrationsprogramm, das die Stadt Zürich hatte. Was ich sehr schön und gut finde, ist, dass der Generationenwechsel schon mehrmals geklappt hat. Und natürlich auch, dass es die 1. Mai-Demonstration und den festlichen Teil auf dem Zeughaus Areal immer noch gibt.

Raffy: Anjuska war und ist immer noch sehr für Vietnam engagiert. Einmal kam der Botschafter Vietnams ans 1.-Mai-Fest und überreichte Anjuska eine goldene Nadel für ihr Engagement. Dies fand ich sehr speziell und schön.

Theresa: Super ist, dass es das 1.-Mai-Komitee nach so vielen Jahren immer noch gibt und sich immer wieder engagierte Leute finden, die dieses grosse Fest organisieren.

Herzlichen Dank für das Gespräch und für eurer Jahrzehnte langes Engagement für den internationalen Tag der Arbeit.

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