Die Nelkenrevolution: 50 Jahre nach dem historischen Umsturz

Nelken in den Gewehrläufen der Soldaten wurde zum Symbol der Revolution 1974 in Portugal.

Nicolai Rapit. Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit: Die Arbeiter:innen leiden unter den sich verschlechternden ökonomischen Verhältnissen Portugals. Gleichzeitig zeichnet sich eine politische Rechtsentwicklung ab. Was ist passiert in dem Land, das vor gerade mal 50 Jahren einen sozialistisch geprägten Umsturz feierte?

Am 25.April 1974, unmittelbar nach Mitternacht, erklingt in den Radiosendern von Lissabon das verbotene Lied «Grândola Vila Morena» vom revolutionären Musiker José Afonso. Es ist das geheime Zeichen für den koordinierten Umsturz der längsten faschistischen Diktatur Europas. In den frühen Morgenstunden erobert die Bewegung der Streitkräfte (MFA) die strategischen Punkte der Hauptstadt und wird von der Bevölkerung euphorisch empfangen. Nelken werden als Zeichen der Begrüssung in die Gewehrläufe der Soldaten gesteckt, was der Revolution den symbolträchtigen Namen «Nelkenrevolution» einbringen wird. Es gibt vier Tote, als regimetreue Polizisten vom Sitz der portugiesischen Geheimpolizei PIDE auf unbewaffnete Demonstrant:innen feuern. Dann übernehmen die Truppen der MFA, begleitet von der jubelnden Bevölkerung, die Macht.

80 Prozent der Banken verstaatlicht
Die zentralen Errungenschaften der Revolution waren die Entkolonialisierung, das Ende einer 42-jährigen faschistischen Herrschaft, die Einführung demokratischer Rechte und Freiheiten und die Erkämpfung sozialer Reformen und Rechte. Die Beseitigung diktatorischer Organe ebnete in der Periode der Revolution den Weg für neue massendemokratische Einrichtungen. Arbeiter:innen erlangten Kontrolle über ihre Arbeitsplätze, während sich Bürger:innenversammlungen den alltäglichen Problemen annahmen. Diese kontinuierliche direkte Volksbeteiligung demonstrierte, wie Arbeiter:innen eine moderne Wirtschaft führen können. Bis zum Höhepunkt der Revolution wurden 80 Prozent der Banken verstaatlicht, Neubesetzungen in den Führungsposten der öffentlichen Verwaltung, den Medien und den Streitkräften vorangetrieben und die Agrarreform umgesetzt. Insgesamt wurden in dieser Periode 1,15 Millionen Hektaren Land besetzt, 71776 Landarbeiter:innen erhielten einen Arbeitsplatz und 380 selbst verwaltete Fabriken, 500 Kooperativen und 330 landwirtschaftliche Kollektive wurden geschaffen.
Die Sozialistische Partei (PS) unter Mario Soares spaltete sich 1970 von der Kommunistischen Partei (PCP) ab und schwenkte auf einen sozialdemokratischen Kurs ein. Ihr Wahlsieg und ihre Kooperation mit den bürgerlichen Kräften markierten den Beginn der Konterrevolution. Zugleich lieferte die Nelkenrevolution ein anschauliches Beispiel für die Grenzen nationaler revolutionärer Befreiungsstrategien. Nato und EG-Staaten stellten von Anfang an klar, dass sie die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in Portugal nicht akzeptieren würden. Kredite und Wirtschaftshilfen würden erst gewährt, wenn die politische Krise beigelegt, die Forderungen der bürgerlich-sozialistischen Parteien akzeptiert und die Regierungsbildung ohne Kommunist:innen erfolgen würde. Portugal war diesen Bedingungen ausgeliefert: Der portugiesischen Ökonomie fehlte die Basis für einen autonomen nationalen Kurs.

Zwischen Neoliberalismus und Linksreformismus
Blickt man nun auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, ergibt sich ein düsteres Bild für die arbeitende Bevölkerung. Im Jahr 2012 erreichte die Staatsverschuldung 209 Milliarden Euro, was 126,3 Prozent des Bruttosozialprodukts (BIP) entsprach. Infolgedessen sah sich Portugal gezwungen, ein Rettungspaket in Höhe von 78 Milliarden Euro unter den Bedingungen der EU, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Währungsfonds (IWF) anzunehmen, wodurch die Verschuldung weiter rapide anstieg.
Die Amtszeit der Regierung von Antonio Costa (Sozialistische Partei) begann im November 2015 mit dem Ziel, den harten Sparauflagen von EU und IWF zu entkommen. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern, die in dieser Zeit einen neoliberalen oder rechtspopulistischen Kurs einschlugen, verfolgte Portugal einen gewissen progressiven Kurs und wurde zu einem Hoffnungsträger für linksreformistische Bewegungen in Europa. Die Regierung stoppte die Privatisierung des öffentlichen Nahverkehrs in Lissabon und Porto, führte Wasser wieder in öffentliches Eigentum über und nahm frühere Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst zurück.
Im Privatsektor wurden Sozialversicherungsbeiträge reduziert, was zu höheren Nettolöhnen führte, ohne die späteren Renten oder Sozialversicherungen zu beeinträchtigen. Die Streichung von vier gesetzlichen Feiertagen wurde rückgängig gemacht und es wurden kontinuierliche Erhöhungen des Mindestlohns vorgenommen, um die Armut zu bekämpfen. Darüber hinaus führte die Costa-Regierung kostenlose Schulbücher ein und setzte die 35-Stunden-Woche für Staatsbedienstete um. Obwohl die europäischen Institutionen Druck ausübten, wurden keine weiteren Kürzungs- und Liberalisierungsmassnahmen erzwungen, abgesehen von Privatisierungen im krisengeschüttelten Bankensektor.

Wohnungsmarkt komplett ausgeschlachtet
Trotz der Bemühungen der Costa-Regierung weitere Sparmassnahmen zu vermeiden, konnte Portugal, wie andere südeuropäische Länder, in den letzten zehn Jahren kaum Fortschritte bei Wirtschaftswachstum, Produktivität und Investitionen verzeichnen. Die Covid-19-Pandemie traf die ohnehin schwache portugiesische Wirtschaft hart und bedeutete das Ende des bisherigen sozialpolitischen Kurses. Seit Beginn der Pandemie wird die wirtschaftliche Erholung durch gezielte Deregulierung und Massnahmen zur Förderung ausländischer Investitionen vorangetrieben. Nach der bereits 2012 aufgehobenen Mietpreisbremse, welche in der Nelkenrevolution eingeführt wurde und 40 Jahre lang stabile Mieten garantierte, wurde nun der Wohnungsmarkt komplett ausgeschlachtet. Für Immobilienkäufe ab 500000 Euro gab es ein «Goldenes Visum» für unbeschränkten Aufenthalt in Portugal beziehungsweise der EU. Gleichzeitig beträgt der monatliche Mindestlohn momentan 820 Euro, wobei 50 Prozent der Bevölkerung weniger als 1000 Euro im Monat verdienen. Die Menschen werden aus den touristischen Zentren verdrängt und finden keinen bezahlbaren Wohnraum mehr, während in Lissabon derzeit 48000 Häuser und in ganz Portugal 750000 Häuser leer stehen.

Abfluss der Fachkräfte
Die Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie die Armutsrate in Portugal gehören heute zu den höchsten in Europa. Gemäss der World Inequality Database (WID) besitzen die obersten zehn Prozent der Erwachsenen 36 Prozent des Gesamteinkommens im Land, während die untersten 50 Prozent nur 19 Prozent erhalten. Das oberste eine Prozent erhält zehn Prozent des gesamten persönlichen Einkommens. Portugal hat mit 23 Prozent die vierthöchste Jugendarbeitslosenquote aller EU-Staaten.
Die niedrigen Löhne und die hohe Arbeitslosigkeit haben die Auswanderung weiter vorangetrieben. Über die letzten zehn Jahre hinweg sind rund 20000 Pflegefachpersonen ins Ausland abgewandert – ein beispielloser Abfluss medizinischer Fachkräfte. In seiner Analyse zur Entwicklung der Profitraten verdeutlicht Ökonom Michael Roberts, dass die Rentabilität des Kapitals in Portugal seit vier Jahrzehnten auf miserablem Niveau stagniert. Trotz der zugesagten EU-Finanzmittel für Infrastruktur und Dienstleistungen ist es deshalb unwahrscheinlich, dass die kommende Regierung in den kapitalistischen Sektor investieren wird, um Beschäftigung zu fördern und die Löhne zu steigern.
Die Austeritätspolitik der EU in den letzten zwei Jahrzehnten und besonders seit Beginn der Pandemie hat erneut grosse Protest- und Streikwellen ausgelöst. Im Dezember 2022 starteten die führenden Lehrergewerkschaften eine Reihe von Streiks, an denen auch andere Bereiche des Schulpersonals teilnahmen. Diese Streikbewegung wurde durch eine Vielzahl von Massendemonstrationen im Winter verstärkt, bei denen über 100000 Menschen in Lissabon protestierten. Die Mitarbeitenden der nationalen Eisenbahngesellschaft führten einen landesweiten Streik durch, die Fluggesellschaft TAP war im vergangenen Jahr ebenfalls mehrmals von Streiks betroffen. Zusätzlich drohten zahlreiche andere Branchen, darunter Lebensmittelverteilung und Justizangestellte, mit Arbeitsniederlegungen.

Rechtsruck und Blick nach vorne
Inmitten der tiefen und vielschichtigen Krise des Kapitalismus und der Unfähigkeit der bestehenden Regierungen, diese zu bewältigen, gewinnen nun auch in Portugal rechte und neofaschistische Bewegungen erstmals seit dem Ende der Diktatur wieder grossflächige Unterstützung in der Bevölkerung. Die jüngsten Parlamentswahlen spiegeln diese besorgniserregende Entwicklung wider: Nach acht Jahren unter der Führung der PS entfiel mehr als die Hälfte der Stimmen auf rechte Parteien. Das konservative Bündnis Aliança Democrática (AD) wurde mit rund 29,5 Prozent zur stärksten politischen Kraft gewählt, während die rechtsextreme Partei Chega mit 18 Prozent der Stimmen und fast 50 Sitzen im Parlament nun drittstärkste Kraft ist. Die Sozialistische Partei ist mit 28,7 Prozent nur noch zweitstärkste Kraft. Die PCP und der linksradikale Linksblock (BE) erreichten mit 3,3 Prozent (PCP) und 4,3 Prozent (BE) ihre historischen Tiefststände.
Ein Abdriften in Protektionismus und rechtspopulistische, faschistische Politik wird die Krise in Portugal mit Sicherheit verstärken und die Grundlage für einen Ausbau von Repression sowie die weitere Umkehrung der revolutionären Errungenschaften zur Folge haben. Die portugiesische Wirtschaft unterliegt dem globalen kapitalistischen Weltmarkt und kann sich diesem innerhalb der bestehenden Machtverhältnisse nicht entziehen. Ohne radikale Umstrukturierung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse auf globaler Ebene werden weder die ökonomischen noch die sozialen noch die ökologischen Krisen behoben werden können. Dabei könnte das vielseitige Erbe der Nelkenrevolution hilfreich sein: Wenn auch der grösste Teil ihrer Errung-enschaften im Zuge reaktionärer Politik rückgängig gemacht wurden, ist sie doch über verschiedenste Bereiche ins gesellschaftliche Bewusstsein eingedrungen und bis heute in Form von Kunst, Musik, Literatur und politisch-kulturellen Netzwerken erhalten geblieben.
Die Nelkenrevolution liefert nicht nur ein lehrreiches Beispiel für die Ansätze einer sozialistischen Transformation in einer spätkapitalistischen Gesellschaft, sondern betont auch die Bedeutung der Vereinigung von Arbeiter:innen- und Jugendbewegungen, dem ideologischen Kampf gegen Faschismus und Liberalismus, der Bildung von Kommissionen und Räten von unten, der genossenschaftlichen Produktion durch Arbeiter:innen, der Demokratisierung der Wirtschaft und die Bildung einer Volksmacht für die Gestaltung einer egalitären Gesellschaft. Diese Prozesse, die für die Errungenschaften der portugiesischen Revolution verantwortlich waren, sollten darum ins Zentrum des politischen Bewusstseins rücken, auf die bestehenden ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse übertragen werden und uns mit einer internationalistischen Strategie als Wegweiser dienen.

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