Unsere Kultur wiederbeleben

sit. Die Arbeiter:innenkultur geniesst heute, falls überhaupt, noch ein Mauerblümchendasein. Das war nicht immer so, und die Kultur der Klasse für die Klasse hatte einen grossen Einfluss auf die Organisation der Lohnabhängigen. Das Verschwinden der eigenen Kultur ist ein Spiegelbild des Zustands der Arbeiter:innenbewegung – oder gar mehr?

Arbeiter:innenkultur. Also Kultur, die von Arbeiter:in-nen für Arbeiter:innen erschaffen wird. Ja, man mag es heutzutage kaum glauben, aber so was gab es mal. In den 1950er- bis 1970er-Jahren besuchten jeweils mehrere hundert Menschen die Anlässe des Vereins Kultur und Volk in Zürich. Heute ist die Arbeiter:innenkultur in der Schweiz kaum mehr zu finden. Das ist kein Zufall, denn auch die Arbeiter:innenbewegung befindet sich nicht in einer Blütezeit. Kann eine Wiederbelebung der eigenen Kultur, also jene der Klasse für die Klasse, dazu beitragen, dass die Bewegung wieder wächst, gar an gesellschaftlichem Einfluss gewinnt?

Wissen ist Macht – Macht ist Wissen
Der Ursprung des Begriffs «Kultur» liegt im lateinischen Wort «colere», was pflegen, hegen bedeutet. Damit war die Kultivierung des Bodens gemeint. Die Arbeit ist also die Grundlage aller Kultur. So hat sich die Arbeiter:innenbewegung von Beginn an auch als Kulturbewegung verstanden. Davon zeugen die Worte von Clara Zetkin: «Die Lebensbedingungen, welche die kapitalistische Gesellschaftsordnung ihren Lohnsklaven schafft, sind kunstfeindlich, ja kunstmörderisch. Kunstgeniessen und noch mehr Kunstschaffen hat zur Voraussetzung einen Spielraum materieller und kultureller Bewegungsfreiheit, einen Überschuss materieller Güter, leiblicher, geistiger und sittlicher Kräfte über das Notwendige hinaus. Aber materielle Not und damit auch Kulturarmut sind das Geschick der Ausgebeuteten und Beherrschten gewesen, seitdem Klassengegensätze die Gesellschaft zerklüften.» Und von Wilhelm Liebknecht stammt die Weisheit: Wissen ist Macht – Macht ist Wissen. Er sprach diese Worte vor dem «Dresdner Arbeiterbildungsverein» im Jahr 1872. Liebknecht meint dabei gar, dass die «Arbeiterschaft» die «Trägerin der modernen Kultur» sei.

Eine Perspektive, eine Vision
«Zur Kultur gehört, dass wir wissen, woher wir kommen, dass wir wissen, was früher war, dass wir wissen, was sich seit den Zeiten des Frühkapitalismus geändert hat. Wir müssen wissen, was gestern war, um zu begreifen, was heute ist», lautet These 6 in Walter Köppings Schrift «Thesen zur Arbeiterkultur», die er Ende der 1980er-Jahre verfasste. Und in der Folgenden ist zu lesen: «Eine grosse und oft übersehene Kulturleistung der Arbeiterbewegung liegt darin, dass sie die Proletarier organisierte. Sie führte notleidende und oft verzweifelte Menschen zusammen und gab ihnen durch diesen Zusammenschluss neue Lebenshoffnung. Die Arbeiterbewegung machte aus dem «Pöbel» das «Proletariat». Durch die Solidarität wurden den Arbeitern Ziele und Aufgaben gegeben, und es wurde Hoffnung auf sie übertragen. Dadurch erhielt das proletarische Schicksal eine Perspektive, eine Vision.»
Walter Köpping, der Verfasser der Thesen, ist wohl den wenigsten bekannt. Geboren 1923 in Altenburg/Thüringen folgte nach der Volksschule eine kaufmännische Ausbildung. Im Krieg kam er in amerikanische Gefangenschaft. Ab 1947 arbeitete er im Kohlenbergbau in Herne im Ruhrpott. Ab 1954 wurde er Sekretär bei der IG Bergbau und Energie, zuletzt war er Leiter der Bildungsabteilung. Walter Köpping war Herausgeber zahlreicher Anthologien und ein unermüdlicher Förderer der Arbeiter:innen-Literatur. Sein grösstes Verdienst war die Zusammenstellung des umfangreichen Standardwerkes (544 Seiten) «100 Jahre Bergarbeiter-Dichtung». Walter Köpping starb 1995 in Essen. 25 Jahre nach seinem Ableben erschien «Wir fürchten nicht die Tiefe», eine Veröffentlichung der Literaturkommission für Westfalen. Das im Nachlass Walter Köppings aufgefundene Typoskript ist eine umfassende Kulturgeschichte des deutschen Bergbaus. «Diese letzte Monografie Köppings stellt gewissermassen die Summe seiner Bemühungen um die Bergarbeiterdichtung dar. ‹Wir fürchten nicht die Tiefe› besticht vor allem durch (…) Texte und Quellen sowie die Querverweise auf Kultur- und Sozialpolitik, etwa den Kampf gegen den Abriss von Zechensiedlungen», sind auf der Website des Aisthesis Verlags über das Buch zu lesen.

Im Gegensatz zum bürgerlichen Kulturverständnis
Köpping hält in seinen «Thesen zur Arbeiterkultur» fest, dass der Kulturbegriff des Bürgertums durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: Ersten werde Kultur «rein geistig und intellektuell verstanden», was einer «Überbewertung von Ausbildungsabschlüssen und von Teilhabe an Kulturveranstaltungen wie Theater, Konzerte, Museen» sei. Zweitens werde «Kultur» auf den Einzelmenschen bezogen. So werde ignoriert, dass «der Mensch ein soziales Wesen ist». Drittens beziehe der bürgerliche Kulturbegriff die Arbeit, den Beruf nicht mit ein. Der Raum einer so verstandenen Kultur sei die Freizeit, das Privatleben der Menschen. Aus so verstandener «Kultur» sei «die Politik ausgeklammert». Köpping kommt zum Schluss: «Diese ‹Kultur› dient in erster Linie der Zerstreuung, der Unterhaltung, der Ablenkung (bis hin zur Weltflucht).»
Die Arbeiter:innenkultur steht laut Köpping «im Gegensatz zu diesem Kulturverständnis». Er schreibt: «Hier geht es um den ganzen Menschen, nicht allein oder vorrangig um dessen intellektuelle Fähigkeiten. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen von Mensch zu Mensch, die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Solidarität als Gegenbegriff zum bürgerlichen Individualismus).» Und der ehemalige Bergbauarbeiter unterstreicht: «Die Arbeiterkultur bezieht die Arbeitswelt mit ein. Auch die Politik gehört dazu. Arbeiterkultur dient der Sammlung, nicht der Zerstreuung. Sie zielt nicht auf Ablenkung, sondern auf Hinlenkung auf die sozialen und politischen Probleme.»
Heute sind wir mit einer Mainstream-Kultur konfrontiert, die genau dieser «Zerstreuung» dient. Eine Kultur, die im Grunde genau das erreicht, was 1849 der damalige preussische Kultusminister Karl Otto von Raumer forderte: «Das Volk darf nicht weiter unterrichtet werden, als es zu seiner Arbeit passt.» Das Volk möglichst dumm und kulturarm zu halten, war also schon immer im Interesse der Herrschenden, der Bourgeoisie. Früher erreichte sie ihr Ziel, indem sie den Arbeiter:innen den Zugang zu Bildung und Kultur stark erschwerte, oder gar verbot. Heute erreicht die herrschende Klasse ihr Vorhaben mit einer Überflutung der Massen an «kulturellen Angeboten», die zur kompletten «Zerstreuung» dienen. Denn, so wie früher gilt auch heute noch: Je grösser die «Zerstreuung» im Volk, desto kleiner das Risiko für die Bourgeoisie, dass Kultur «zur Sammlung und zur Hinlenkung auf die sozialen und politischen Probleme» dient.

Nicht kopieren, neu schaffen
Welche Schlüsse können gezogen werden? Das Verschwinden der Kultur der Klasse für die Klasse ist nicht nur ein Spiegelbild des Zustands der Arbeiter:innenbewegung. Viel mehr ist das Wegfallen der eigenen Kultur mit ein Grund – wo möglich gar ein wesentlicher –, dass die Arbei-ter:innenbewegung heutzutage mit dem Rücken zur Wand steht.
Kann also eine Wiederbelebung der Arbeiter:innen-kultur dazu führen, dass die Bewegung wieder stärker wird? Die Antwort lautet: Nur mit einer eigenen Kultur können die Lohnabhängigen an gesellschaftlichem Einfluss gewinnen. Ohne wird es ganz schwierig, wie die aktuelle Realität beweist. Bei der notwendigen Wiederbelebung geht es jedoch nicht um das Kopieren von ausschliesslich aus Männern bestehenden ehemaligen Arbeiterchören, die im Hinterzimmer von verrauchten Arbeiterkneipen proben – um es etwas polemisch auf den Punkt zu bringen. «Die Tradition erhalten – das bedeutet nicht Fortsetzung des Bestehenden, nicht Bewahrung alter Formen, sondern die Entwicklung neuer Formen und neuer Aktivitäten. Die gesellschaftlichen Bedingungen haben sich verändert, und sie werden sich weiter verändern», schreibt Walter Köpping in seiner 20. und letzten These zur Arbeiter:innenkultur – und so auch der Weg, den es einzuschlagen gilt.

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