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Gaudenz Pfister. Lenins Schrift zum Imperialismus ist ein Meisterwerk der angewandten Dialektik, weil sie aus dem Wust der Informationen die grundsätzlichen Tendenzen herauszieht. Einzelne Aussagen sind überholt, aber wir können von ihrer Methodik und ihren politischen Schlussfolgerungen profitieren.
Ungläubig, konsterniert, wütend – alles passt, wenn wir zuschauen müssen, wie Donald Trump und seine Milliardärskumpel in der Weltpolitik herumfuhrwerken. Aber verstehen? Die Personen und ihre Psychen können nicht den Ausschlag geben, wir müssen verstehen, welche Kräfte sie an die Schalthebel gebracht haben. Zum Glück können wir auf Lenins Schrift «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» zurückgreifen, die er in einer ähnlich konfusen und kontroversen Zeit geschrieben hat. Lenin argumentiert von den ökonomischen Grundlagen her. Er trägt sehr viel Material zusammen, aber seine grosse Leistung besteht darin, wie er dieses Material ordnet, um «den Zusammenhang und das Wechselverhältnis» der wesentlichen Faktoren «in aller Kürze und in möglichst gemeinverständlicher Form darzustellen.» Mit seinem Gerüst können wir weiterarbeiten.
Das Finanzkapital verschmilzt mit den grossen Industrien
Lenin verdichtet die geschichtliche Entwicklung so, dass wir sehen, wie eines zum anderen führt. Es beginnt mit der kapitalistischen Konkurrenz. Der freie Wettbewerb zwischen den Firmen führt zu Monopolen, die Kapitalist:innen fressen einander gegenseitig und die Firmen werden grösser, bis in jeder Branche nur noch einige wenige übrigbleiben, die sich gegenseitig in Ruhe lassen, bis einer an Kraft verliert und von den anderen angegriffen wird. Die Schweiz hat Tausende von Firmen, aber die Kleinen sind von wenigen Grossen abhängig. Je bedeutender eine Branche ist, umso mehr gibt es Start-Ups, Kleinfirmen, die gegründet werden, damit sie an einen Grossen verkauft werden können, wenn sie erfolgreich sind. Die zentralen Branchen, die Lenin im Blick hatte, Kohle, Stahl, Eisenbahn, wurden abgelöst durch die Verarbeitung von Daten, Pharma oder die Fertigung von Mikrochips.
Nicht nur die Firmen, die Waren oder Dienstleistungen herstellen, müssen wachsen und werden weniger, bei den Banken geschieht dasselbe. In der Schweiz gibt es nur noch vier Banken, die so gross sind, dass sie als systemrelevant eingestuft werden. Diese sind nicht einfache Darlehensgeber, sondern mischen sich aktiv ein, damit ihre Kredite auch genügend Profit abwerfen, und werden so zu Kontrolleuren. Es gibt kaum eine Firma, die nicht zugrunde gehen würde, wenn ihr die Bank den Kredithahn zudrehen würde.
Lenin schildert an vielen Beispielen, wie das Finanzkapital mit den grossen Industrien verschmilzt, so dass am Schluss eine Handvoll (damals ausschliesslich) Männer, eine eigentliche Finanzoligarchie, eine gesamte Volkswirtschaft kontrolliert. Schaut man sich die Organigramme der Schweizer Wirtschaft Ende des letzten Jahrtausends an, sah es genauso aus und illustrierte Lenins Schlussfolgerung: Das «verankert die Herrschaft der Finanzoligarchie und legt der gesamten Gesellschaft einen Tribut zugunsten der Monopolisten auf.» Kapitalismus ist ein Gewaltverhältnis mit Abhängigkeiten. Die Banken, aber auch Firmen wie Amazon oder Microsoft nehmen eine zentrale Stelle ein, an der alle anderen «vorbeikommen» müssen wie früher an den feudalen Zahlstellen.
Die Aufteilung der Welt
Als drittes Merkmal nennt Lenin den Kapitalexport, der in seiner Bedeutung den Warenexport ablöst. Was zu seiner Zeit noch bemerkenswert war, ist heute Allgemeinwissen. Kapital fliesst in den verschiedensten Formen: Direktinvestitionen, Staatsschulden, Fonds, die in bestimmten Ländern investieren, Gründung von Tochterfirmen. Staatsschulden wirken wie Würgeseile, es wird weitere «Schuldenkrisen» wie in Argentinien und Griechenland geben. Das vierte Merkmal ist die Aufteilung der Welt unter die Kapitalist:innenverbände. Dieses Merkmal ist heute nicht mehr so markant. Weltweit geltende Absprachen, wie es die OPEC für die Ölförderung macht, existieren bei den Firmen weniger. Es mag wohl offene oder verdeckte Absprachen geben, aber diese sind labil, weil Firmen, die sich auf einem Monopol ausruhen, von unerwarteter Seite angegriffen werden können. Die grossen Autohersteller liessen sich mehr oder weniger in Ruhe, bis Tesla sie mit den Elektromobilen unter Druck setzte. In den nächsten Jahren werden elektrisch betriebene Unterhaltungszellen aus China wohl auch die Strassen in Europa auffüllen.
Lenins fünftes Merkmal, die Aufteilung der Welt in Einflusssphären und Kolonien, braucht ein Update. Es schien lange so, als sei die aggressive Phase des Imperialismus nach 1945 durch eine friedlichere Kooperation abgelöst worden. Die Zeit, in welcher die grossen Mächte in Weltkriegen um Kolonien und Herrschaftssphären kämpfen, schien hinter uns zu liegen. Die politische Unabhängigkeit der früheren Kolonien eröffnete den US-amerikanischen Firmen den Zugang zu diesen Gebieten. Multilaterale Gremien (politisch die UNO, wirtschaftlich der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, militärisch die Nato) waren von den USA dominiert und fixierten ein Kräfteverhältnis zwischen den USA und den europäischen Mächten. In der Schweiz kennen wir ein ähnliches System zwischen den grossen Parteien. Konkurrenz und Kooperation erzeugen ein Ungleichgewicht, bei dem der Stärkste dominiert aber den anderen auch etwas übriglässt. Wird die Konkurrenz schärfer, wirkt ein solches Arrangement als Fessel. Trumps Politik, so tapsig sie daherkommt, geht sehr zielstrebig in die Richtung einer wieder verschärften Konkurrenz – wie ein Boxer, der einen Schritt zurück macht, um besser zuschlagen zu können.
Faule Parasiten oder dynamische Kapitalist:innen?
Fäulnis und Parasitismus sind zwei Begriffe, die Lenin häufig mit dem Imperialismus in Verbindung bringt. Er skizziert, gestützt auf damalige bürgerliche Ökonomen, das Bild eines Europas von Rentiers, die von den Erträgen des Kapitals leben, das sie in den Kolonien investiert haben. Auch alle Waren kommen von dort. In Europa würde nur noch die Produktion von Frischwaren und Heerscharen von Dienstboten übrigbleiben. Das ist sehr überspitzt, aber so kann er zeigen, worauf der Imperialismus hinausläuft: aus jedem Winkel der Welt Tribute auszupressen. Um diese Tribute ist ein scharfer Kampf entbrannt. Neben den Banken hat sich eine neue Schicht Kapitalist:innen entwickelt, die produktive Firmen kaufen, die Ausbeutung verschärfen, zerlegen, neu zusammensetzen, verkaufen. Neben den grossen Investmentfonds wie Blackrock gibt es auch kleine, die wie Hyänen die Brocken schnappen, die den Löwen zu klein sind.
Wäre es nicht möglich, diese Parasiten einfach abzuschaffen? Die Frage ist einleuchtend und Lenin kommt mehrmals darauf zurück. Er hat aufwendig dargestellt, wie die kapitalistische Konkurrenz zwangsläufig zum Monopol führt und über die Konzentration der Banken oder anderer Finanzkapitalist:innen zur Finanzoligarchie. Es macht wenig Sinn, zur freien Konkurrenz der produzierenden Firmen zurückkehren zu wollen, wenn das wieder zum Zustand von heute führt.
Werkhof Imperialismus
Verfault ist aber nicht nur der Imperialismus, sondern auch diejenigen Arbeiter:innen und Organisationen, die sich von ihren Kapitalist:innen bestechen lassen. Lenin machte sich da keine Illusionen. Die Extraprofite der imperialistischen Mächte erlauben es, den am besten organisierten Teil der Arbeiter:innen besser und damit ruhig zu stellen. Lenin kritisierte diese Arbeiter:innenaristokratie und ihre Organisationen, die opportunistischen Gewerkschaften und ihre Führer, scharf. Heute werden die Gewerkschaften nicht mehr von verkleinbürgerlichten Arbeiter:innen angeführt, sondern haben sich zu aktionistischen Apparaten entwickelt, mit denen Kleinbürger:innen einen Einfluss auf proletarische Schichten gewinnen wollen. Gerade verhandeln «radikale» Gewerkschafter um SGB-Präsident Pierre Maillard mit der europafreundlichen Grossbourgeoisie in der Frage der Bilateralen. Trumps Vizepräsident J. D. Vance, der aus der verarmten Arbeiter:innenaristokratie stammt, ist das perfekte Gesicht für diese Politik der Illusionen. Es sind aber auch die rechten populistischen Parteien Europas oder «linke» wie das Bündnis Sarah Wagenknecht, die diese Schicht verkleinbürgerlichter Arbeiter:innen zur Unterstützung ihrer eigenen Imperialist:innen gewinnen wollen.
Von ganz links bis ganz rechts wird der Imperialismus kritisiert, und teilweise recht scharf. Wie sollen wir da kleinbürgerlich-rückschrittliche von proletarischen Positionen unterscheiden? Lenin gibt uns dazu Fragen mit. Richtet sich die Kritik gegen einzelne Übertreibungen oder versteht man, dass der Imperialismus zwangsläufig auf seine aktuelle Form von Gewalt und Krieg hinausläuft? Sind es die Imperialist:innen anderer Länder, die kritisiert werden, oder die im eigenen Land? Denkt man an alle Arbeiter:innen in der Schweiz unabhängig von ihrer Herkunft, oder nur an eine organisierte Schicht, die ins politische System der Schweiz eingebunden ist?
Offene Zukunft
So turbulent und unübersichtlich wie es in der Welt zugeht, ist die Versuchung gross, über mögliche Entwicklungen zu spekulieren. Lenin warnt deutlich davor, eine einzelne Tendenz herauszugreifen und diese einfach linear in die Zukunft zu verlängern. Seine Lektüre von Bankzeitungen und Statistiken kann er nun als Munition gegen die Opportunist:innen in der Arbeiter:innenbewegung einsetzen: «Ihr schwatzt oberflächlich über den Imperialismus, denn ihr versteht nicht oder wollt nicht verstehen, wie tief die Widersprüche zwischen den Imperialisten zwangsläufig sind. Frieden ist eine Etappe zwischen Kriegen, Handelskriege können in militärische Konfrontationen umschlagen, die Hoffnung auf eine harmonische Entwicklung ist ein Trugbild.» Schon zu Lenins Zeit war die Welt in ein paar grosse Wirtschaftsgebiete aufgeteilt, und Lenin versucht, sie anhand verschiedener Kriterien wie Stand der kapitalistischen Entwicklung, Finanzkraft, politische Konzentration und Bevölkerungszahl einzuordnen – nicht um daraus Prognosen abzuleiten, sondern weil die Ungleichmässigkeit der Entwicklung zu ständigen Spannungen führt, die zu seiner Zeit in einen Weltkrieg ausgeartet waren.
Lenin schrieb nicht nur möglichst einfach, sondern auch für möglichst viele Leser:innen in Russland. Für den legalen Vertrieb musste seine Schrift durch die zaristische Zensur. Das zwang ihn zu einer «unpolitischen» Argumentation. Seine Thesen tarnte er als Auswertung aus Daten. Praktische Schlüsse finden wir deshalb auch nicht im Text, sondern in seiner damaligen Praxis. In der Zimmerwalder-Konferenz 1915 brachte er die Kriegsgegner zusammen, die nicht den aktuellen Krieg beenden, sondern die Wurzel dieser Kriege angehen wollten. Ihr Aufruf: Die Imperialisten im eigenen Land angreifen.
Die Zukunft nach dem Imperialismus lag damals näher, aber der Schluss von Lenin gilt immer noch. Die hohe Produktivitität, die weltweite Vernetzung, die Transparenz über Rohstoffe, Warenflüsse, Bedarfsprognosen hat auch ihr Gutes: damit lässt sich eine Welt realisieren, in der alle genug haben.