«Bärn dräit düre»

03_WarmbaechliNach einer Sauvage im Berner Stadtteil Ausserholligen nahmen sich in der Nacht vom 21. Mai rund 1000 Jugendliche die Strasse. Was folgte, war eine Woche der Hysterie.

«Bärn dräit düre», heisst es im Intro eines Berner Rap-Songs. Und auch wenn ursprünglich nicht so gedacht, trifft dieser Satz den Kern dessen, was die Woche nach dem Tanzumzug in Bern mit sich brachte. Der mediale Diskurs reichte von Billigbier und Revolver über Gurkensalat bis hin zu Überwachung. Aber erst einmal alles von Anfang an. Es war Samstagabend, der 21. Mai. Bereits in den Tagen zuvor war auf Facebook unter einem Pseudonym für die Gruppe Exarchia zum «Interplanetar-Kosmosolidarischen Sauvage-Rave» mobilisiert worden. Zweck des Festes sei es, die Solidarität «mit den von Flüchtenden und AktivistInnen besetzten Häusern in Athen kund zu tun», hiess es seitens der OrganisatorInnen. Seit mehreren Monaten werden im Athener Stadtteil Exarchia, der «Hochburg der Autonomen», Häuser besetzt und als Unterkünfte an Geflüchtete übergeben. «Damit schaffen sie einen Wohn- und Rückzugsraum für Tausende, die ansonsten auf der Strasse leben müssten», schrieben die VeranstalterInnen der Berner Soli-Sauvage in einer Mitteilung. Die Einnahmen des Festes sollten daher nach Griechenland gehen.

Tanz gegen das Migrationsregime

Gegen 21.30 Uhr wurde klar, wohin die Berner Jugend an diesem Abend schwärmen würde: auf die Warmbächli-Brache in Ausserholligen. Mehrere hundert Personen fanden sich im Verlaufe der Nacht auf dem Gelände der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage ein, um zu feiern und Konzerte zu hören. Gegen 01.30 Uhr wurde angekündigt, dass man nicht bleiben würde. Kurz darauf bewegte sich ein Demonstrationszug, begleitet von Musikwagen, in Richtung Stadtzentrum. Beim Kaufmännischen Verband kam es zu einer ersten Blockade durch die Polizei. Um die Konfrontation zu vermeiden, schlug der Demonstrationszug einen anderen Weg ein. Als die Protestierenden in der Länggasse unvermittelt auf eine weitere Polizeieinheit trafen, wurden sie mit Tränengas, Gummischrot und Wasserwerfer zurückgedrängt. Es kam zu Auseinandersetzungen, später löste sich die Demonstration auf. Zurück blieben Blessuren, Schriftzüge an den Wänden und ein paar zerbrochene Scheiben.

Rund 1000 «linksradikale Krawallmacher» hätten in Bern «randaliert», war dann im Nachgang etwa im Blick und in der bernischen Boulevardzeitung, der BZ, zu lesen – wobei offensichtlich sein dürfte, dass das Gros der Menschen, die sich an der Tanzdemonstration beteiligt hatten, weder einen radikalen politischen Hintergrund haben noch militant in Erscheinung getreten sind. Tatsächlich dürfte es vielen gar nicht erst bewusst gewesen sein, was der eigentliche Grund für den Demonstrationszug war: Es ging an diesem Abend nämlich weniger um die eigenen Freiräume, wie etwa beim «Tanz dich frei», sondern «um ein Zeichen gegen die menschenverachtende Migrationspolitik der Schweiz und der EU», wie die OrganisatorInnen in einer Mitteilung auf Indymedia schrieben. Der Hintergrund der Demonstration interessierte die Medien indes erst gar nicht, es wurde schlicht von einem «Saubannerzug» gesprochen, womit einmal mehr ignoriert wurde, dass einem Protest stets reale politische Missstände zugrunde liegen.

Billigbier und Gurkensalat

Stattdessen übte man sich in den darauffolgenden Tagen lieber in Skandalisierung, die zuweilen absurde Züge annahm. So berichtete der Blick am 23. Mai etwa, dass sich die Sauvage-BesucherInnen vor der Demonstration mit «Billigbier aufgeputscht» hätten. «Extremismusexperte» Samuel Althof beschwor derweil das Bild des «brutaler» und «organisierter» werdenden «Linskextremismus» und erklärte gegenüber 20 Minuten, dass man sich in der «Szene» mittlerweile gar mit «Revolvern» bewaffnen würde, wie ihm Kontakte zugetragen hätten.

Als die Diskussion dann ab Tag Drei nach der Tanznacht zur üblichen «Linksextremismus»-Debatte zu verkommen drohte, trumpfte ein gewiefter Journalist der Berner Zeitung mit einer neuen Geschichte auf (die leider mittlerweile grundlegend umgeschrieben wurde und im Original nicht mehr abrufbar ist): So sei das Berner Rapkollektiv «Chaostruppe» an der Sauvage aufgetreten, eine Truppe, die «aus dem Staat Gurkensalat machen» wolle und ausgerechnet am Berner Stadtfest im August einen Auftritt haben würde. Man witterte einen Skandal und bastelte dafür kurzerhand die Schlagzeile: «Stadt Bern gibt militanten Musikern eine Bühne.» Die BZ bewies damit einmal mehr, wie ihr Journalismus zu funktionieren scheint: Man nehme Gurkensalat und mache daraus Militanz – Hauptsache, die Schlagzeile ist «sexy», ob sie der Wahrheit entspricht, interessiert da nicht.

In derselben Manier war auch dem lokalen Fernsehsender «Telebärn» die Geschichte einen Beitrag wert und holte sich dafür Sicherheitsdirektor Reto Nause höchstpersönlich vor die Kamera. Zu welchem Zweck genau, das scheint diesmal sogar dem Politiker ein Rätsel gewesen zu sein und so freute er sich im Beitrag vor allem auf das anstehende Konzert von ACDC. Der erhoffte Nachrichtenstoff für die kommenden Tage blieb somit aus.

Reto Nauses Überwachungstraum

Ein Thema, das Sicherheitsdirektor Nause in der Woche nach der Sauvage weitaus mehr beschäftigte als die Musik der «Chaostruppe», war – einmal mehr – das Thema Überwachung. So forderte er die Bevölkerung etwa dazu auf, «Bilder und Filme von der Demonstration der Polizei zur Verfügung zu stellen». Das weckt Erinnerungen an die Ermittlungen zum «Tanz dich frei» von 2013. Damals wurde das zusammengetragene Fotomaterial von der Polizei zur Fahndung an einem Internet-Pranger veröffentlicht. Ob sich dies nun wiederholen soll, ist offen.

Sicher ist hingegen Reto Nauses Wunsch nach dem ausgebauten Überwachungsstaat: Um die Aktivitäten von radikalen Linken zu unterbinden – oder wie es Nause nennt: «den ausgesprochen gewaltbereiten Kreis der Täter jetzt auszutrocknen» – fordert der Sicherheitsdirektor «alle Fahndungsmethoden zuzulassen, die es gibt und braucht».

Damit sind auch solche gemeint, für die es bis anhin keine rechtlichen Grundlagen gibt und selbst über das geplante Büpf hinausgehen würden. «Das Büpf brauchen wir auf jeden Fall, aber es reicht nicht aus», so Nause. Doch es sei eine rechtliche Grundlage nötig, «um auch bei Fällen von Gewaltextremismus Handys abhören und den E-Mail-Verkehr kontrollieren zu lassen». Hierfür seien die Hürden momentan zu hoch. Um dies zu ändern, sieht Nause den Bund gefordert. So müsse sich etwa der Bundesnachrichtendienst dieser «Problematik» annehmen. Darüber hinaus, soll auch die Polizei «die nachrichtendienstlichen Möglichkeiten erhalten, die sie braucht». Unterstützung erhofft sich der Berner CVP-Politiker dabei von seinen Kollegen auf kantonaler und kommunaler Ebene. So soll das Thema an der kommenden Konferenz der Polizeidirektoren behandelt werden. Da klingt Gurkensalat doch gleich noch viel verlockender.

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Frankreichs ArbeiterInnen machen mobil

06_FrankreichNach Demonstrationen und Militanz kommt jetzt der Arbeitskampf: Um die drohende Reform des Arbeitsgesetzes zu verhindern, treten Frankreichs ArbeiterInnen in den Ausstand. Streiks legen Raffinerien und Häfen lahm, der öffentliche Verkehr soll folgen.

Streikunterstützung heisst Volltanken. Dieser Auffassung ist jedenfalls eine wachsende Zahl von UnterstützerInnen der französischen Sozialprotestbewegung. Ökologisch motivierte Bedenken gegen den motorisierten Individualverkehr seien vorläufig einmal zurückgestellt: Jetzt muss ein Autotank her, den man möglichst voll macht, und wenn es geht, auch noch ein paar Kanister dazu. Denn der Streik, der rund um den 20. Mai in den französischen Raffinerien begonnen hat, soll möglichst schnell seine Wirkung zeigen.

Mit dem Arbeitskampf in der petrochemischen Industrie werden nun von Seiten der Gewerkschaften und der Sozialprotestbewegungen andere Saiten aufgezogen – und zugleich eine Perspektive geschaffen, um aus dem Dilemma herauszukommen, das wochenlang darin bestand, zwischen folgenlosen «Latschdemonstrationen» – nach deren Ende man brav nach Hause geht – einerseits, und militanten Kleingruppenaktionen mit strategischer Ausrichtung auf «Glasbruch» andererseits, wählen zu müssen.

Härtere Repression gegen Proteste

Beide Optionen haben längst ihre engen Grenzen gezeigt. Auf Demonstrationen reagiert die Regierung unter dem rechten Sozialdemokraten Manuel Valls ganz offensichtlich nicht. Stattdessen hat sie, unter Rückgriff auf einen Verfassungstrick (die Anwendung des Artikels 49-3, die es erlaubt, die Sachdebatte zu einem Gesetz durch das Stellen der Vertrauensfrage zu unterbinden), die parlamentarische Opposition kurzerhand ausgeschaltet. Die Militanz der Aktionen von kleinen Gruppen ihrerseits ist indes nicht mehr steigerbar, sowohl aufgrund der brachialen Antworten des Staatsapparats als auch wegen der Notwendigkeit, unvertretbare Gewaltübergriffe auf Personen zu vermeiden. Am 18. Mai zündeten einige Individuen am Rande einer Spontandemonstration einen Streifenwagen an. Darin sassen zu diesem Zeitpunkt ein schwarzer Polizist und eine Kollegin. Der männliche Polizist zückte zunächst seine Waffe, beherrschte sich jedoch und steckte sie wieder ein, obwohl er zum selben Zeitpunkt Schläge abbekam. Am Freitag darauf wurde er, vor laufenden Kameras zu Tränen gerührt, für sein Verhalten mit einer Auszeichnung versehen. Es dürfte unschwer zu erkennen sein, wer aus dieser Aktion als politischer und moralischer Sieger hervorging.

Umgekehrt spart der Staatsapparat nicht mit ins Extreme gesteigerten Repressionsmitteln. Gegen eine Studentin, Manon Chelmy, Mitglied der Jugendorganisation der Französischen Kommunistischen Partei, forderte die Staatsanwaltschaft eine fünfjährige Haftstrafe ohne Bewährung. Bei der Räumung eines besetzten Saals in Amiens hatte sie mit ansehen müssen, wie einer ihrer Freunde von PolizistInnen gewalttätig behandelt wurde und spontan ein Saalmikrophon durch den Raum geworfen. Dieses fiel zu Boden, niemand wurde verletzt. Das irrsinnige Strafmass, das durch die Staatsanwaltschaft gefordert wurde, führte zu Petitionen und Protestbriefen.

Auch gegen die Gewerkschaften wird die Repression weiter ausgebaut. In mehreren Fällen wurden Gewerkschaftsräume polizeilich durchsucht, um im Anschluss an Demonstrationen TeilnehmerInnen zu ergreifen. Am 24. Mai drangen PolizistInnen in Räumlichkeiten der Gewerkschaft CGT in Fos-sur-Mer ein und setzte gegen die anwesenden Personen Tränengas ein. Bis dahin hatte die Polizei noch faktisch die Unverletzlichkeit von Gewerkschaftsräumen respektiert.

ArbeiterInnen im Ausstand

Die Mehrwertproduktion zu stören, indem Transportmittel oder die Treibstoffversorgung beeinträchtigt werden, erweist sich jedoch als geeigneter Ausweg aus dem Dilemma. Streiks und Blockaden in der petrochemischen Industrie erweisen sich dabei als am wirkungsvollsten.

Am Vormittag des 24. Mai erklärte die CGT, alle acht französischen Grossraffinerien würden inzwischen bestreikt. Weil die Staatsmacht aufgrund der strategischen Bedeutung der Petrochemie das Personal – unter Androhung einer Haftstrafe – jedoch zur Arbeit verpflichten könnte, wurden die Raffinerien und Treibstoffdepots vielerorts zudem von externen UnterstützerInnen blockiert. Etwa durch die HafenarbeiterInnen in Le Havre und Mitglieder der Platzbesetzerbewegung «Nuit debout».

Daraufhin löste die Polizei die Blockaden im südfranzösischen Fos-sur-Mer, und am nächsten Tag, am 25. Mai, im nordfranzösischen Douchy-les-Mines auf. Gleichzeitig entschied sich jedoch das Personal des Ölterminals am Hafen von Le Havre, über den fast die Hälfte des Rohölimports in Frankreich laufen, mit 95 Prozent Zustimmung, ebenfalls in den Streik zu treten. Am nächsten Tag folgten die Hafenbediensteten in Marseille.

Premierminister Manuel Valls mahnt seitdem dazu, nicht «der Panik» zu verfallen und keine Hamsterkäufe zu tätigen, während die soziale Opposition dazu aufruft, genau dies zu tun. Auch unsere LeserInnenschaft sei, sofern sie sich in der Nähe zur französischen Grenze befindet, etwa im Raum Basel, ausdrücklich zum Volltanken auf der westlichen Seite der Grenze aufgefordert!

Rückhalt in der Bevölkerung

Am 25. Mai wurde vermeldet, dass ein Drittel der französischen Tankstellen inzwischen vollständig oder teilweise trocken liegen würden. Bei einer Reportage in den Warteschlagen am südlichen Stadtausgang von Paris fand die liberale Pariser Abendzeitung «Le Monde» zur selben Zeit allerdings keine Personen, die auf die Gewerkschaften schimpften. Vielmehr erklärten die Befragten, dass die eben erforderlich seien, um sich durchzusetzen.

Auch in den Umfragen der bürgerlichen Meinungsforschungsinstituten vom 24. und 25. Mai gab stets eine deutliche Mehrheit von über 60 Prozent der Regierung und den Kapitalverbänden die Schuld an der «Blockadesituation». Im Vorgriff auf die am 10. Juni beginnende Fussball-Europameisterschaft, deren Eröffnung empfindlich gestört werden könnte, machen 61 Prozent bereits jetzt die Regierung für eine Beeinträchtigung verantwortlich und lediglich eine Minderheit von 37 Prozent die Gewerkschaften.

Am Wochenende vom 28./29. Mai wurde zunächst vermeldet, die Situation an vielen Tankstellen habe sich entspannt. Dies erklärt sich damit, dass die Regierung im Laufe der Woche die – normalerweise für Armeezwecke bestimmten – «strategischen Reserven» angezapft hat und alle Blockaden vor Treibstoffzwischenlagern hat räumen lassen. Die daraus resultierende Atempause für die TreibstoffanbieterInnen wird jedoch nicht ewig dauern: Ab dem 31. Mai wollen die EisenbahnerInnen in den unbefristeten, und alle vierundzwanzig Stunden in Personalabstimmungen verlängerbaren, Streik treten. Ab dem 2. Juni werden ihnen die Beschäftigten der Nahverkehrsbetriebe RATP – also der Métro- und Buslinien im Raum Paris – folgen. Vom 3. bis 5. Juni sollen zudem die Lohnabhängigen der Fluggesellschaften und Flughäfen in den Ausstand treten. Premierminister Manuel Valls hat derweil angekündigt, er würde dennoch eisern durchhalten. Der Kampf geht weiter.

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Entsorgbare BürgerInnen

01_demo-bernDer 19-jährige Christian I. wird ausgebürgert, weil er dem «Ansehen der Schweiz» schadet. Es ist das erste Mal seit 70 Jahren, dass diese Form der Ausbürgerung zur Anwendung kommt. Damit beugen sich die Behörden vorzeitig der SVP, die den Automatismus in der Justiz durchsetzen will.

In der Schweiz sind Ausbürgerungen normal. Der SBB-Mitarbeiter A. aus Angola heiratete 1998 eine Schweizerin aus Hütwangen. Im Rahmen der erleichterten Einbürgerung erhielt er ein paar Jahre später den Schweizer Pass. Die Ehe verlief nicht gut und ging 2007 in die Brüche. Als Scheidungsgrund nannte die Frau die Persönlichkeitsentwicklung ihres Ehepartners, nachdem er einer Freikirche beigetreten war. Der Präsident ihrer Wohngemeinde stellte nach der Trennung eine Anzeige wegen «Scheinehe». A. wurde vom Amt für Migration ausgebürgert. Er ist nicht der einzige. In den letzten zehn Jahren wurde 567 Menschen das Bürgerrecht aberkannt, meist wegen Verdachts auf «Scheinehe» und «falschen Angaben» bei der Einbürgerung.

«Unwürdige Elemente»

Am 10. Mai 2016 eröffnete das Staatssekretariat für Migration ein Verfahren gegen Christian I., um ihm das Schweizer Bürgerrecht zu entziehen. Der Fall von Christian I. stellt ein Novum des Schweizer Regimes im Umgang mit dem Bürgerrecht dar: Zum ersten Mal seit siebzig Jahren wird eine Person wegen «sicherheitspolitischer oder rufschädigender Vergehen gegen die Schweiz» ausgebürgert. Der 19-jährige Doppelbürger mit italienischem Pass ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Eingebürgert wurde Christian I. im Alter von acht Monaten. Der junge Mann gilt in den Medien als «Jihadist». Er soll sich 2015 dem Islamischen Staat angeschlossen haben und im syrischen Bürgerkrieg an Kampfhandlungen beteiligt gewesen sein. Sein gegenwärtiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Gegenüber dem Schweizer Fernsehen sagte der Journalist Kurt Pelda, dass der Mann umgekommen sei.

Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und darüber hinaus galt in der Schweiz das Vollmachtenregime: Mit Bundesratsbeschlüssen wurden NazisympathisantInnen ausgebürgert. Henri Guisan, Oberbefehlshaber der Schweizer Armee während des Zweiten Weltkriegs und Nationalheiliger, forderte die Ausbürgerung von «unwürdigen Elementen», die im Ausland gegen die Schweiz agierten. Der Staat müsse sich damit «vor der ausländischen Infiltration schützen». Die Ausbürgerung war ein Mittel zur politischen Säuberung und um sich unerwünschten Personen zu entledigen.

Einbürgerungsverbot für KommunistInnen

Ein Mittel, das jedoch sehr viel häufiger zu Anwendung kam, war die Verhinderung der Einbürgerung. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs konnte dies für die Verfolgten des Naziregimes tödliche Folgen haben: Achtzig Prozent der aus politischen Gründen abgewiesenen BewerberInnen damals waren zwar mutmassliche Nazis, den Rest bildeten aber KommunistInnen und GewerkschafterInnen.

In Zürich beantragte der FDP-Stadtrat Joachim Hefti 1933 zunächst erfolglos, KommunistInnen generell vom Bürgerrecht auszuschliessen. 1957 wurde schliesslich hinter verschlossenen Türen ein Antrag, der wiederum von der FDP stammte, angenommen, womit «die Aufnahme von aktiven Kommunisten ins Bürgerrecht» prinzipiell abgelehnt wurde. Das Einbürgerungsverbot blieb bis 1966 bestehen. Im Gegensatz zu den KommunistInnen gab es für Nazis nie ein offizielles Einbürgerungsverbot.

Heutzutage können die Behörden den Artikel 48 des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 nutzen. Dieser legt fest, dass einer Person das Bürgerrecht entzogen werden kann, wenn ihr Verhalten «den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nachteilig ist». In Grossbritannien ist diese Praxis schon länger üblich. Seit 2006 kann der britische Innenminister eine Staatsbürgerschaft für nichtig erklären, wenn dies «dem öffentlichen Wohlergehen» diene. Seither wurden mindestens 27 Personen aus Sicherheitsgründen ausgebürgert. Theoretisch würde sich der Entscheid anfechten lassen. Bisher hat nur Hilal A. Beschwerde eingereicht. Er hatte nach seiner Ausbürgerung geklagt, ohne britischen Pass werde er staatenlos. Die britischen Behörden änderten daraufhin das Gesetz kurzerhand. Neu wird Staatenlosigkeit durch Ausbürgerung in Kauf genommen. Hilal A. verlor sein Bürgerrecht 2013 ein zweites Mal.

Justiz aushebeln

Mit der Ausbürgerung von Christian I. entledigt sich die Schweiz ihrer Verantwortung. Christian I. ist in diesem Land aufgewachsen und wurde von dieser Gesellschaft geprägt. Es ist die schweizerische, «abendländische» Kultur, die diesen jungen Mann in den «Jihad» getrieben hat.

Mit der Ausbürgerung kommen die Behörden den Forderungen der antidemokratischen SVP nach. Es ist die Fortsetzung des Prozesses, der zuletzt in der zum Glück verhinderten «Durchsetzungsinitiative» gipfelte, um die Justiz auszuhebeln und unter die Kontrolle des von der SVP dominierten Parlaments zu bringen

SVP-Präsident Toni Brunner forderte Ende letzten Jahres mit einer parlamentarischen Initiative, dass «schweizerisch-ausländischen DoppelbürgerInnen, die in der Schweiz oder im Ausland extremistische Gewalttaten verüben oder an Kampfhandlungen teilnehmen, das Bürgerrecht zwingend aberkannt wird». Man dürfe den Vollzugsbehörden dabei keinen Ermessensspielraum geben. Der Nationalrat hat die Initiative angenommen, im Ständerat wurde sie kürzlich abgelehnt – der geplante Automatismus war einer der Gründe für die Ablehnung.

Angesichts dieser Entwicklung erklärt die Tageszeitung «Der Bund» richtig: «Wer mehr als einen Pass besitzt, lebt offenbar ein Stück unsicherer. Das Ausbürgerungsgesetz schafft zwei Kategorien Bürger: einfarbige, denen nichts passieren kann, und bunte, die entsorgbar sind.»

 

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Free Nekane!

01 Nekane Txapartegi spricht auf einer Demonstration gegen Folter 2006 in Donostia San SebastianNeun Jahre befand sich Nekane Txapartegi auf der Flucht, bevor sie in Zürich verhaftet wurde. Die ehemalige Stadträtin aus der Kleinstadt Asteasu sitzt nun in der Limmatstadt im Gefängnis. Von dort aus versucht die 43-Jährige mit ihrem Anwalt, ihrer Familie und UnterstützerInnen zu verhindern, an Spanien ausgeliefert zu werden, wo ihr erneut Folter droht.

Nekane Txapartegi lebte unter falschem Namen in Zürich. Am 6. April wurde sie verhaftet, nachdem sie ihre siebenjährige Tochter zur Schule gebracht hatte. Spanien behauptet, Txapartegi sei Mitglied der baskischen Untergrundbewegung ETA und hat auf der Grundlage eines internationalen Haftbefehls ein Auslieferungsgesuch gestellt. Die Aktivistin der linken Unabhängigkeitsbewegung wurde erst 2012, fünf Jahre nach ihrer Flucht, zu einer der «meistgesuchten ETA-TerroristInnen» gestempelt. Das erstaunte, da die ETA ein Jahr zuvor den bewaffneten Kampf «definitiv» im Rahmen eines internationalen Friedenskongresses eingestellt hatte. Sie hatte ihre Heimat verlassen, da ihr in einem Massenprozess eine Haftstrafe von elf Jahren drohte. 47 Personen, darunter auch Txapartegi, wurden 2007 vom Sondergericht «Audiencia Nacional» verurteilt, die Politik in legalen Organisationen gemacht hatten. Organisationen, die wie die ETA für ein unabhängiges, vereintes und sozialistisches Baskenland eintraten und dann verboten wurden, da sie angeblich «im Dienste der ETA» gehandelt haben sollen. Dieses Konstrukt diente zur Kriminalisierung einer ganzen Bewegung. 2009 senkte der Oberste Gerichtshof in Madrid die Strafen aller Verurteilten und sprach neun frei. Txapartegi erhielt nun sechs Jahre und neun Monate.

In den Händen der Guardia Civil

Zu diesem Zeitpunkt befand sich die baskische Aktivistin bereits seit zwei Jahren auf der Flucht. Und dies angesichts der Gefahr, erneut gefoltert zu werden, so wie 1999 von der Guardia Civil in der berüchtigten «Incomunicado»-Haft: Fünf Tage lang war sie mit der «Tüte» immer dem Erstickungstod nahe gebracht sowie mit Schlägen und Tritten traktiert worden. Auf dem Weg nach Madrid gab es eine Scheinhinrichtung. Dabei kam es auch zu sexuellen Übergriffen, die in einer Vergewaltigung gipfelten. Gedroht wurde auch, Angehörige und FreundInnen zu verhaften und ebenfalls zu misshandeln. Sie sei auch «gemeinsam mit einem verhafteten Freund gefoltert worden, was besonders schlimm war», berichtete Txapartegi in einem Interview. Die Folter sei Tag für Tag härter geworden, bis ihr «alles egal» gewesen sei. Sie habe verschiedene Geständnisse auswendig lernen müssen, sich und andere beschuldigt. «Ich war der letzte Teil eines vorbereiteten Puzzles, das passend gemacht werden musste.» Als sie nach sechs Tagen einem Haftrichter des Sondergerichts vorgeführt wurde, wiederrief sie alle Aussagen und zeigte die Folter an. Ihr «Glück» war, dass der Aufnahmearzt im Gefängnis Folterspuren dokumentierte. Mit dem Bericht hatte Txapartegi etwas in der Hand, was selten der Fall ist. Aber auch das führte nicht dazu, ihre Folterer vor Gericht zu bringen und zu bestrafen.

Ihr Fall sorgte international für Aufmerksamkeit. Amnesty International führte ihren Fall im Jahresbericht auf. Für das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) war auch ihr Fall ein Anlass, sich 2001 Zugang zu Gefangenen nach Verlassen der Folterkeller zu verschaffen. «Trotz der verstrichenen Zeit konnten die Delegation der Ärzte in vielen Fällen noch Verletzungen feststellen, die sich mit den angezeigten Vorgängen decken«, schrieben die CPT-ExpertInnen. Gerügt wurde und wird Spanien auch immer wieder wegen der Straffreiheit, da Ermittlungen gegen Folterer meist sehr schnell eingestellt werden. Der Strassburger Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Spanien deshalb immer wieder. 2015 hat der UN-Ausschuss gegen Folter beanstandet, dass «kaum» etwas von dem umgesetzt wurde, worauf zuletzt 2009 gedrängt worden sei. Gefordert wurde die Aufzeichnung «aller Vorgänge in den Polizeidienststellen oder andern Orten nach der Festnahme einer Person per Video» und eine «unabhängige medizinische Überprüfung» der Betroffenen. Und dies so lange bis die «Incomunicado»-Haft bestehe.

«Free Nekane»

Txapartegi kämpft nun gegen die Auslieferung. Auf ihre Familie, die sie kürzlich besuchen konnte, habe sie einen «stabilen, starken und kämpferischen Eindruck» gemacht, erklärten Familienmitgliedern dem vorwärts. Sie will mit ihrem Anwalt alle Rechtsmittel ausschöpfen. Sie bedankte sich für die Solidarität, die sie jeden Tag erfahre. Eine Grussbotschaft richtete sie auch an die Demonstration am 1. Mai in Zürich. Txapartegi erklärte, Teil «einer kollektiven Dynamik im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, Kapitalismus, Imperialismus und Patriarchat» zu sein. Alle «Folter, Gefängnis und Exil haben es nicht geschafft, meinen Willen zu brechen».

Im baskischen Hochland fordern ein Dutzend BürgermeisterInnen von der Schweiz, die Auslieferung abzulehnen. In Txapartegis Heimatstadt Asteasu gibt es immer wieder Demonstrationen. Die Schweiz entscheide, ob sie ein Folteropfer erneut der Folter aussetzt oder mit der Verweigerung zu einer Friedenslösung beizutragen, ist die Ansicht vieler in Asteasu. In der Schweiz hat sich zu ihrer Unterstützung die Gruppe «Free Nekane» gebildet. Das oberste Ziel ist, die Auslieferung an Spanien zu verhindern. Keine Auslieferung des Folteropfers an ihre Peiniger! Die Gruppe wird dafür mit Informationen und solidarischen Aktivitäten an die breite Öffentlichkeit gelangen.

Kontaktadresse: freenekane@immerda.ch

 

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Syngenta: Ein Beispiel des helvetischen Imperialismus

syngenta03Mitte April 2016 ist das Buch «Schwarzbuch Syngenta. Dem Basler Agromulti auf der Spur» erschienen. Von Basel über Pakistan bis nach Brasilien geht MultiWatch den Auswirkungen von Syngentas Geschäftspraktiken nach und stellt sich die Frage, was gegen die zerstörerischen Machenschaften des Agromultis getan werden kann.

Seit 2005 führt die konzernkritische NGO MultiWatch Kampagnen gegen einige Schweizer Multis, darunter Nestlé, Glencore, die Credit Suisse, Triumph, Holcim oder Novartis. Das Beispiel Syngenta steht für viele unter ihnen, wie es in der Einleitung zum «Schwarzbuch Syngenta» heisst.

Die Natur des helvetischen Imperialismus beschäftigt die intelligente Öffentlichkeit schon lange, wenn auch noch nicht so lange, wie die wirtschaftlichen und politischen Realitäten dieses Landes beinahe oppositionslos auf die Schaffung von optimalen Bedingungen für das globalisierte Kapital ausgerichtet ist. In diese Geschichte gehört die Geschichte von Syngenta, wie die Geschichte der Schweiz überhaupt seit dem Zeitalter des Imperialismus.

Das schöne und eindrückliche Buch geht detailliert auf eine lange Reihe der Kollateralschäden von Syngenta ein, klagt an, wo dies bitter nötig ist, lässt aber leider den grossen historischen und politisch-ökonomischen Faden zu sehr unbelichtet.

Geld heckendes Geld

Hinter der «philantropischen Fassade von Syngenta versteckt sich ein knallhartes Geschäftsmodell (…), das für Menschen, Tiere und Umwelt gravierende Auswirkungen hat und die Menschenrechte auf Leben, Gesundheit und Ernährung beeinträchtigt». Die philantropische Fassade wird hierzulande eifrig gepflegt, wie man auf der Homepage von Syngenta und in den Prospekten der Syngenta-Stiftung für nachhaltige Landwirtschaft sehen kann. Die politischen Behörden, darunter der Bundesrat und die rot-grüne Regierung von Basel-Stadt, tun alles, um diese Fassade propagandistisch abzustützen. Sie forcierten 2015 die Teilnahme von Syngenta – und Nestlé – an der Weltausstellung in Mailand, die unter dem Motto der Ernährungssicherheit stand, mit einem Schweizer Pavillon. Dies war der Anlass für die Gruppe rund um das «Schwarzbuch Syngenta», im Frühjahr 2015 in Basel eine erfolgreiche Tagung zu organisieren, die hinter die lügnerische Fassade der Konzernpropaganda blicken liess.

Dabei traten unter anderem AktivistInnen aus Pakistan, Indien, Brasilien, Paraguay, Hawaii, der Schweiz oder den Niederlanden auf, die ihren Kampf gegen die Macht der Agromultis, darunter vor allem gegen Syngenta, schilderten. Dabei werden sie oft mit schweren Repressalien bedroht, die bis zur Ermordung führen können, wie 2007 der gewaltsame Tod des Aktivisten Valmir Mota de Oliveira von der brasilianischen Landlosenbewegung MST zeigte, dem das Buch gewidmet ist.

Vergiftung und Auslaugung der Böden, Verarmung kleinbäuerlicher Familien, Vergiftung von KleinproduzentInnen und von KonsumentInnen, Zerstörung der Wasserreserven und des biologischen Gleichgewichtes, Stärkung von korrupten und repressiven politischen Systemen, Förderung der Verarmung der Landbevölkerung und der Mangelernährung: dies das Resultat der zerstörerischen Aktivitäten des agroindustriellen Komplexes, wovon Syngenta als weltgrösster Pestizid und drittgrösster Saatgutfabrikant ein massgeblicher Faktor ist. Resultate, die im diametralen Widerspruch stehen zu den frechen Behauptungen des Konzernes, der Basler Behörden und des Schweizer Bundesrates. Das «Schwarzbuch Syngenta» zeigt hier mannigfaltig und gut recherchiert auf, was wirklich Sache ist.

In der längere Zeit andauernden Debatte um eine Übernahme von Syngenta durch Monsanto oder die ChemChina-Gruppe ging es vordergründig «vornehmlich um den Preis beziehungsweise die Prämien für die Syngenta-AktionärInnen. Niemand schien sich für die Landwirtschaft und die Produkte von Syngenta zu interessieren, geschweige denn für die Welternährung oder die Syngenta-Belegschaft» oder die Opfer der Machenschaften des Konzerns. Geld heckendes Geld eben, wie Marx die innere Logik der kapitalistischen Produktionsweise beschreibt, der der Nutzen der erzeugten Produkte für die menschliche Entwicklung bestenfalls gleichgültig, oft aber geradezu lästig ist.

Was tun?

«Eine sozial gerechte, wirtschaftlich tragbare und umweltverträgliche Landwirtschaft gelingt nur über koordiniertes Handeln von sozialen Landbewegungen im Bündnis mit engagierten Bewegungen aus der Zivilgesellschaft, welche die Ziele der Kleinbauernbewegungen unterstützen. (…) Wenn wir die Hauptursachen von Hunger, Armut, Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht an der Wurzel packen und das von den Konzernen kontrollierte Nahrungssystem abschaffen, bleibt jeder Fortschritt begrenzt», schreiben die AutorInnen dazu.

Das Buch enthält Beiträge von AktivistInnen im internationalen Kampf gegen den agroindustriellen Komplex und versteht sich selbst als Teil dieses Kampfes. Richtig so! Aber welche politischen Antworten sind in der Schweiz, einer zentralen Operationsbasis, einer wichtigen Kommandozentrale für die multinationalen Konzerne, nötig? Immerhin gibt es seit über zwanzig Jahren in vielen wichtigen Kantonen und Städten, darunter in Basel, sogenannte links-grüne Mehrheiten in der Regierung und gelegentlich auch im Parlament, die diesen Konzernen mit einer sogenannten Standortpolitik speichel-leckend zu Diensten stehen. Hierzu fehlen im Buch Hinweise für eine überzeugende politische Antwort. Vielmehr scheint es, dass dem Buch ein antipolitischer Grundton zugrunde liegt. Ist es keiner Rede wert, dass alle linken Organisationen in Basel, inklusive der Gewerkschaften, die Kandidaturen von SP und Grünen – Guy Morin ist grüner Stadtpräsident, Anita Fetz, einzige Ständerätin vom Kanton Basel-Stadt, ist in der SP – vorbehaltlos unterstützen?

Dem Buch ist hoch anzurechnen, dass es sich mit den kleinbäuerlichen Widerstandsbewegungen, insbesondere von «La Via Campesina» solidarisiert und dadurch eine internationalistische Perspektive eröffnet. Allerdings bleibt es dabei auf halbem Weg stecken. Die Internationalisierung des politischen Widerstandes gegen die brutale Durchsetzung der internationalen Arbeitsteilung nach dem Gesichte der Warenform, unter der Profitlogik, deren wichtigste Exekutorinnen die multinationalen Konzerne sind, ist zugegebenermassen kaum mehr existent. Aber die pragmatische Rückwendung zum Lokalen, wie er im Buch empfohlen wird, ist eher eine Orientierung aus Verzweiflung und hat gerade heute eine politisch eher rechte, nationalistische Note. Hier wären weiterreichende Überlegungen angebracht gewesen.

 

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Monopole – Finanzkapital – Imperialismus

vladimir_lenin_cc_img_0Die Bildungsgruppe der Partei der Arbeit Zürich hat Lenins bedeutendes Werk «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» gelesen. Bei der gemeinsamen Lektüre wurden die Zusammenhänge mit der heutigen Entwicklung des Kapitalismus diskutiert.

Die abgeschlossene Lektüre der Bildungsgruppe politische Arbeit und Theorie (BG PAT) der Partei der Arbeit Zürich war Lenins Werk «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» gewidmet. Vor hundert Jahren schrieb Lenin diesen Text, der das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt. Mithilfe der dialektischen Methode zeichnet Lenin präzis die Entwicklungslinien in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nach. Es ist frappant, wie aktuell das Werk dieses revolutionären Denkers heute noch ist. Nachstehend folgen kurze Zusammenfassungen der einzelnen Abende, im Sinne eines Logbuchs zur Anregung.

Hungerdasein der Massen

An der ersten Zusammenkunft am 8. März wurden die Vorworte und das erste Kapitel «Konzentration der Produktion und Monopole» besprochen. Darin werden detailreich Aspekte der Entwicklung des Kapitalismus aufgezeigt: Das ungeheuer rasche Wachstum der Industrie, die Konzentration der Produktion in immer grösseren Betrieben, die Bildung von Kartellen und schliesslich die Monopole, die den Kapitalismus zum Imperialismus werden lassen.

Am 22. März standen die Kapitel II und III zur Diskussion, in denen die Banken und ihre Rolle sowie das Finanzkapital und die Finanzoligarchie thematisiert sind. Vieles, wenn nicht das meiste, erinnert an die heutigen Entwicklungen in Wirtschaft und Politik – abgesehen von den Zahlen, die vor hundert Jahren naturgemäss bescheidener aussahen. Der Anfang des 20. Jahrhunderts bildet den Wendepunkt in Bezug auf das Wachstum der Monopole und das Anwachsen des Finanzkapitals. Heute haben sich die Gewichte zum Teil verschoben, zumal auch global agierende Konzerne die Macht von Banken ausfüllen, wenn nicht gar übertreffen; an der Entwicklung der Machtkonzentration, die Lenin vorausgesehen hat, hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil, sie spitzt sich zu.

Die dritte Zusammenkunft am 5. April war einmal mehr sehr lebhaft. Wir diskutierten die Kapitel IV, V und VI: War im alten Kapitalismus der Export von Waren kennzeichnend, so sind es beim neuen der Export von Kapital; die volle Herrschaft der freien Konkurrenz wurde von der Herrschaft der Monopole abgelöst. Kapitalismus, so Lenin, ist «Warenproduktion auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung, auf der auch die Arbeitskraft zur Ware wird». Der Kapitalismus wäre nicht Kapitalismus, wäre die Ungleichmässigkeit der Entwicklung – wie das Hungerdasein der Massen – nicht eine wesentliche, unvermeidliche Voraussetzung dieser Produktionsweise. «Solange der Kapitalismus Kapitalismus bleibt, wird der Kapitalüberschuss nicht zur Hebung der Lebenshaltung der Massen in dem betreffenden Lande verwendet – denn das würde eine Verminderung der Profite der Kapitalisten bedeuten –, sondern zur Steigerung der Profite durch Kapitalexport ins Ausland, in rückständige Länder.»

«Nicht Freiheit, sondern Herrschaft»

Bei der Lektüre sind wir Konzernen begegnet, die bereits vor hundert Jahren global agierten. Zwei Elektromächte, General Electric Co. und die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft teilten sich 1907 vertraglich die Welt auf und schalteten damit die Konkurrenz aus. Beim Kampf um die Teilung der Welt spielten die Standard Oil Co. von Rockefeller und Baku-Öl der Herren Rothschild und Nobel die weiteren Hauptrollen; sie gingen enge Verbindungen ein und installierten eine Monopolstellung in der Petroleumindustrie. Immer dabei oder in der Nähe befindet sich – bis heute – die Deutsche Bank.

In jener Epoche des Finanzkapitals verflechten sich private und staatliche Monopole miteinander und stellen einzelne Glieder in der Kette des imperialistischen Kampfes zwischen den grössten Monopolisten um die Teilung der Welt dar. Nach Lenin geht es um das Wesen das Kampfes, das sich, solange es Klassen gibt, nicht ändern kann, im Gegensatz zu dessen Form. Klar wird darüber hinaus, in welchem Masse die Teilung der Welt um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts «beendet» war. Ausser China wurden alle unbesetzten Gebiete des Erdballs von den Mächten Europas und Nordamerikas erobert. Die grundlegende Besonderheit des modernen Kapitalismus ist die Herrschaft der Monopolverbände der GrossunternehmerInnen, kurz: «Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft.»

In den Kapiteln VII und VIII geht es um den Imperialismus als besonderes Stadium. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die grössten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.

Beruf: Müssiggang

Viel Raum in diesem Kapitel von Lenins Werk nimmt die Auseinandersetzung bezüglich der Definition des Imperialismus mit Karl Kautsky ein, dem führenden marxistischen Theoretiker der Epoche der zweiten Internationale. Kautsky versteht unter Imperialismus nicht eine Phase oder Stufe der Wirtschaft, sondern eine Form der Politik. Für den Imperialismus ist nicht das Industrie-, sondern das Finanzkapital charakteristisch, sagt Lenin. Für ihn ist Kautskys Definition unmarxistisch. In Wirklichkeit bedeute Kautskys Argumentation eine «feinere, verhülltere Propaganda einer Versöhnung mit dem Imperialismus und laufe auf bürgerlichen Reformismus und Pazifismus hinaus».

Zum Schluss fragt sich Lenin: «Welches andere Mittel konnte es auf dem Boden des Kapitalismus geben ausser dem Krieg, um das Missverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits und der Verteilung der Kolonien und der Einflusssphären des Finanzkapitals anderseits beseitigen?»

Im Kapitel VIII wird der Parasitismus, der dem Imperialismus eigen sei, in den Blick genommen und dessen Ursachen und Wirkungen mit relevanten Beispielen illustriert. Die ungeheure Anhäufung von Geldkapital in wenigen Ländern begünstigt das ausserordentliche Anwachsen einer Gruppe von Personen, die isoliert vom Produktionsprozess vom «Kuponschneiden« leben; der Beruf dieser «Rentnerschicht» (d.h. InvestorInnen, KapitalanlegerInnen) ist der Müssiggang. Der Begriff «Rentnerstaat» oder Wucherstaat wird daher in der ökonomischen Literatur über den Imperialismus allgemein gebräuchlich; der Rentnerstaat ist der Staat des parasitären, verfaulenden Kapitalismus.

Aus heutiger Sicht, vor dem Hintergrund der Europäischen Union, ist nachstehende, vor hundert Jahren angestellte Betrachtung mehr als beeindruckend: «Die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Europa in der heutigen, imperialistischen Situation ist hier (von Hobson) richtig bewertet. Man müsste nur hinzufügen, dass auch innerhalb der Arbeiterbewegung die Opportunisten, die heutzutage in den meisten Ländern vorübergehend gesiegt haben, sich systematisch und beharrlich gerade auf dieses Ziel ‹zubewegen›. Der Imperialismus, der die Aufteilung der Welt und die Ausbeutung nicht allein Chinas bedeutet, der monopolistisch hohe Profite für eine Handvoll der reichsten Länder bedeutet, schafft die ökonomische Möglichkeit zur Bestechung der Oberschichten des Proletariats und nährt, formt und festigt dadurch den Opportunismus. Nur darf man die dem Imperialismus im allgemeinen und dem Opportunismus im besonderen entgegenwirkenden Kräfte nicht vergessen, die der Sozialliberale Hobson natürlich nicht sieht.»

Das Monster namens Neoliberalismus

Zu den Besonderheiten des Imperialismus gehört die abnehmende Auswanderung aus den imperialistischen Ländern und die zunehmende Einwanderung (Zustrom und Übersiedlung von ArbeiterInnen) in diese Länder aus rückständigeren Ländern mit niedrigeren Arbeitslöhnen. In England beispielsweise hatte der Imperialismus die Tendenz, die ArbeiterInnen zu spalten, den Opportunismus unter ihnen zu stärken und «ein zeitweilige Fäulnis der Arbeiterbewegung hervorzurufen». Und: «Marx und Engels verfolgten jahrzehntelang systematisch diesen Zusammenhang des Opportunismus in der Arbeiterbewegung mit den imperialistischen Besonderheiten des englischen Kapitalismus. Engels schrieb z.B. am 7. Oktober 1858 an Marx, ‹dass das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so dass diese bürgerlichste aller Nationen es schliesslich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings gewissermassen gerechtfertigt›.»

Die fünfte und letzte Zusammenkunft der BG PAT zu diesem Thema fand am 3. Mai statt, wir besprachen die Kapitel zur Kritik des Imperialismus und über den Platz des Imperialismus in der Geschichte.

Diese beiden Kapitel münden in eine Art Zusammenfassung der vorangehenden Kapitel und stellen die Frage, ob eine Änderung des Imperialismus durch Reformen möglich sei, ins Zentrum der Abhandlung. Schlüssig werden tragende Elemente des Finanzkapitals mit Beispielen aufgezeigt, und wir reiben uns immer wieder die Augen, wie weitsichtig dieser scharfsinnige Analytiker war. Alle uns bekannten Tricks sind bereits vor hundert Jahren bekannt: Ob Kartell, Monopol oder Freihandel – stets das gleiche Lied der «friedlichen Demokratie». Die ergötzliche Spiessermoral ist geblieben, das Monster führt heute einen anderen Namen: Neoliberalismus. Die tiefsten und fundamentalsten Widersprüche des Imperialismus werden heute wie damals vertuscht: «Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen.»

Ausblick

Am 31. Mai startet die BG PAT eine neue Lese-runde: Wir werden den ersten Teil des Werks «Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft», kurz «Anti-Dühring», von Friedrich Engels lesen und diskutieren. Vordergründig kritisiert Engels dabei einen pseudosozialistischen Philosophen seiner Zeit, gleichzeitig gibt er damit aber auch eine vollständige Darlegung der Grundlagen des Marxismus. «Die negative Kritik an Dührings ‹System› verwandelte sich in eine positive Darstellung des Marxismus.» Meisterhaft wendet Engels hier die von Marx und ihm ausgearbeitete Methode der materialistischen Dialektik an. Und insbesondere mit dieser materialistischen Dialektik, die die Grundlage des Marxismus und jeder Wissenschaft bildet, wollen wir uns in den kommenden Monaten beschäftigen.

Wer: In der BG PAT treffen wir uns vierzehntäglich zu ausgewählten politischen Themen. Ein spezielles Vorwissen ist nicht nötig. Alle sind herzlich willkommen.

was: Anti-dühring, bis zum kaptitel IV,

link: bit.ly/1Xws4t4

Wann: Ab dem 31. Mai jeden zweiten Dienstag, jeweils um 19:30 Uhr

Wo: Im Sekretariat der Partei der Arbeit Zürich, Rotwandstrasse 65, 8004 Zürich

 

Aus dem vorwärts vom 20. Mai 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Sexuelle Rechte und politische Nippel

02_NippelrevolutionIst es nicht selbstverständlich, dass wir unsere Sexualität ausleben und gemeinsam mit anderen, die es wollen, unseren Wünschen und Fantasien freien Lauf lassen? Dass wir von unserem Recht auf Lust und Vergnügen, auf sexuelle Selbstbestimmung und auf unser Recht zu lieben, wen immer wir wollen, Gebrauch machen? Eine rhetorische Frage, denn sexuelle Rechte sind alles andere als selbstverständlich und Sexualität – besonders die weibliche – ist ein komplexes und hochpolitisches Thema.

In der Schweiz werden sexuelle und reproduktive Rechte bis heute kaum diskutiert, geschweige denn umgesetzt. Beispielsweise ist eine umfassende und fortschrittliche Sexualaufklärung nötig. Und eine Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen. Um die öffentliche Diskussion rund um Rechte im Zusammenhang mit Sexualität anzukurbeln, hat die Menschenrechtsorganisation Terre des femmes Schweiz die feministische Aktivistin Zawadi Nyong‘o aus Kenia zu einer Speaking Tour eingeladen. Vom 23. bis 28. Mai spricht Nyong’o in verschiedenen Städten über Sexualität, Selbstbestimmung und Gewalt. Die 35-Jährige engagiert sich seit 15 Jahren für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte und prägt als Online-Aktivistin die feministische Bewegung Ostafrikas massgeblich mit.

Wem gehört der Frauenkörper?

Kürzlich zerrte ein kenianisches Boulevardblatt ein unverfängliches Instagram-Bild von Nyong’o an die Öffentlichkeit, das sie im Jogging-anzug zeigt. Absichtlich präsentiere sie ihre Nippel, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Doch man sucht vergeblich nach einer skandalösen Pose. Bei genauem Hinschauen entdeckt man schliesslich die Abdrücke ihrer Nippel auf ihrem T-Shirt. Sex sells – auf Biegen und Brechen, ein Vorgang, der auch in der Schweiz an der Tagesordnung ist. Selten setzt sich eine Betroffene zur Wehr, auch weil ihr die nötigen öffentlichkeitswirksamen Mittel fehlen. Nicht so Zawadi Nyong’o. Sie nahm die an den Haaren herbeigezogene Story zum Anlass, über Körperpolitik zu sinnieren. Auf «Digital Ubuntu», ihrem Forum für eine verantwortliche digitale Kultur in Afrika, fragt sich Nyong’o, warum die körperliche Integrität indigener Frauen, die sich in Kenia auch heute noch oben ohne in die Öffentlichkeit begeben, irgendwie doch respektiert wird, während eine urbane Frau nicht einmal beim Joggen von den strengen Regeln befreit ist, denen sie ihr Äusseres zu unterwerfen hat. Als Antwort auf die öffentliche Enteignung ihres Körpers initiierte Nyong’o mit einem Aufruf an ihre weiblichen Follower, Bilder von ihren Nippeln online zu stellen, eine Nippelrevolution.

Frauen werden zum Schweigen gebracht

Die Selbstverständlichkeit, mit der das persönliche Recht von Frauen auf ihren eigenen Körper weltweit und tagtäglich verletzt wird, mündet in Gewalt gegen Frauen, oft in sexualisierter Form, weil diese wiederum die Machtverhältnisse am effektivsten aufrechterhält und Frauen mundtot macht. Besonders offenkundig wird dies im Internet. Während sich der soziale digitale Graben etwas geschlossen hat, tut sich ein neuer auf: Zunehmend sind Frauen von derart massiver Cybergewalt betroffen, dass sie sich aus der digitalen Öffentlichkeit zurückziehen. Für die Generation, die mit digitaler Technologie aufgewachsen ist, fühlt sich das so an, als würde sie aus dem öffentlichen Leben verbannt. Betroffene sind davon traumatisiert und strukturell bedeutet es, dass sich andere, aus Furcht davor Opfer zu werden, gar nicht mehr mit ihrer Meinung vorwagen. Der Titel eines Beitrags von Fiona Martin im «Guardian» bringt es auf den Punkt: «Frauen werden online zum Schweigen gebracht, wie im echten Leben.» Dasselbe Medium wertete jüngst 70 Millionen Online-Kommentare aus, das Ergebnis spricht Bände: Von den zehn am meisten gemobbten AutorInnen waren acht Frauen. Die beiden Männer dunkelhäutig. (Weisse) Männer würden laut Fachleuten wegen ihrer Meinungen attackiert, nicht weil sie Männer seien. Vergewaltigungsandrohungen und -wünsche, die jede Frau kennt, die sich öffentlich pointiert äussert, sind gegen Männer kaum üblich.

Zawadi Nyong’o hält nichts von der Regel, über Sexualität zu reden sei unafrikanisch und unmoralisch. Indem sie sich mit ihrem Engagement erst noch für Frauen und LGBTI stark macht, setzt sie sich Cybergewalt aus mehreren Lagern aus. «Es fühlt sich an, als würdest du von Tausenden von unsichtbaren Kobolden vergewaltigt und du kannst überhaupt nichts dagegen tun, ausser warten, bis sie sich langweilen und weiterziehen.»

Wichtige Schritte auf dem internationalen Parkett – und Verluste

1994 wurden an der Weltbevölkerungskonferenz von Kairo reproduktive Gesundheit und Rechte als Menschenrecht auf Familienplanung aufgenommen. Seither gelten sie als massgebend bei der jährlichen Überprüfung der Menschenrechtslage der Nationen. Damit wurden feministische Diskurse um sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit in globale Strategien integriert. Eine wichtige Errungenschaft, um die AktivistInnen im Kampf gegen Vergewaltigung, häusliche Gewalt und körperliche Autonomie jahrzehntelang rangen. Was mit diesem internationalen Mainstreaming jedoch auf der Strecke blieb, ist die feministische Analyse der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, die sich in der Sexualität wie in kaum einem anderen Thema derart unmittelbar offenbaren. Die kulturellen Praktiken, die auf die Kontrolle des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität abzielen, sind in allen Gesellschaften weitverbreitet. Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsverheiratungen oder weibliche Genitalverstümmelungen gehören dazu. Aber auch die Selbstregulierung, die sich in den kapitalistischen Gesellschaften als wesentlicher Aspekt des Frauenbilds etablierte: Frauen scheinen sich selbst zu kontrollieren, sie normieren ihre Körper und finden ihre sexuelle Erfüllung angeblich im Begehrt werden1nicht im Begehren. Auch die chirurgische Normierung ihrer Vagina wollen sie selber.

Ohne das Verständnis für die fundamentalen Machtunterschiede zwischen den Geschlechtern, besonders auch in intimen Beziehungen, ändern die internationalen Bemühungen nichts am Status quo der Frau, nichts an den Geschlechterstereotypen. Tatsache ist: Der weibliche Körper und seine Sexualität ist politisch wie eh und je.

Vom 23. bis 28. Mai wird mit der Kenianerin Zawadi Nyong‘o eine feministische Ikone Ostafrikas in verschiedenen Schweizer Städten mit lokalen Gesprächspartnerinnen über Sexualität, Selbstbestimmung und Gewalt diskutieren. Die Veranstaltungsreihe organisiert Terre des femmes Schweiz.

 

Aus dem vorwärts vom 20. Mai 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

10 000 Menschen setzen Zeichen der Solidarität

IMG_549810 000 Menschen haben am 1. Mai in Zürich demonstriert. Unter dem Motto «Wir sind alle Flüchtlinge» wurde ein starkes Zeichen der Solidarität mit allen Menschen auf der Flucht gesetzt. Auf dem Kasernenareal wurde das ganze Wochenende das internationale Volksfest gefeiert.

Das Zürcher 1.-Mai-Komitee ist mit dem diesjährigen 1. Mai zufrieden. 10 000 Menschen haben trotz des schlechten Wetters in Zürich an der offiziellen 1.-Mai-Kundgebung demonstriert. Die Kundgebung ist ein starkes Zeichen für die linke Bewegung in Zürich. Unter dem Motto «Wir sind alle Flüchtlinge» wurde kämpferisch und bunt gegen die europäische Flüchtlingspolitik demonstriert. Damit setzten die Demonstrierenden ein Zeichen gegen eine Politik, die Flüchtlinge abweist und kriminalisiert. Der 1. Mai steht für Solidarität und Menschlichkeit.

Feleknas Uca spricht für die Menschenrechte

Als Hauptrednerin sprach die türkisch/kurdische HDP-Politikerin Feleknas Uca für das 1.-Mai-Komitee. Im Zentrum ihrer Rede stand der weltweite Kampf für die Menschenrechte. Sie kritisierte die Politik der Türkei und deren Staatschef Erdogan, welcher die Immunität aller kurdischen PolitikerInnen aufheben will. Uca wies aber auch auf die Rolle der EU hin und kritisierte deren Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Sie forderte ein Stopp aller Waffenexporte und offene Grenzen für alle Menschen. «Die Kundgebung und all die Menschen hier in Zürich haben mir Mut gemacht in der Türkei weiterzukämpfen», sagte Uca abschliessend. Zwischen 1999 und 2009 war Feleknas Uca Europaabgeordnete der deutschen Partei Die Linke.

Für den Gewerkschaftsbund des Kantons Zürich sprach die SP-Nationalrätin Mattea Meyer. Auch sie rief zu mehr Solidarität mit allen Menschen auf: «Mauern als Antwort auf Millionen von Menschen auf der Flucht ist die niederträchtige Kapitulation vor den Folgen unseres globalisierten Kapitalismus.»

 

Aus dem vorwärts vom 6. Mai 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Bedingungslose Kapitalsubvention?

geldDie Schweizer StimmbürgerInnen werden am 5. Juni 2016 über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) abstimmen. Sollte die Initiative wider Erwarten angenommen werden, wird künftig die ganze Schweizer Bevölkerung, vom armen Schlucker bis zur Milliardärin, ohne Auflagen Geld vom Staat erhalten. Die betreffende Verfassungsänderung ist sehr vage gehalten. Es soll lediglich verankert werden, dass der Bund ein bedingungsloses Einkommen einführt, das «der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben» ermöglicht. Zudem besagt der Artikel: «Das Gesetz regelt insbesondere die Finanzierung und die Höhe des Grundeinkommens.» Alles andere wird offen gelassen. Alle Erläuterungen des Initiativkomitees im Abstimmungskampf sind unverbindliche Vorschläge. Die konkrete Umsetzung der Vorlage würde letztlich vom Schweizer Parlament bestimmt.

Vage Vorschläge

Als Richthöhe für das BGE schlägt das bunt gemischte Initiativkomitee 2500 Franken für Erwachsene und 625 Franken für Kinder vor. Das klingt erst mal nach viel. Man muss sich aber vor Augen führen, dass der Schweizer Medianlohn für Männer über 6000 Franken beträgt und man heute im Falle der Arbeitslosigkeit als Alleinstehender 70 Prozent Lohnfortzahlung für rund 400 Tage erhält. Das BGE soll einen Teil der heutigen Institutionen des Sozialstaates ersetzen: Invalidenrente, Arbeitslosengeld und AHV würden laut Komitee wegfallen. Jene Sozialleistungen, die über das Grundeinkommen hinausgehen, sollen aber weiterhin bestehen bleiben, schlagen die InitiantInnen vor. Das Parlament kann dies befolgen oder auch nicht. Ein Kritikpunkt der Linken im Nationalrat ist dann auch, dass das Verhältnis des neuen Einkommens zum bestehenden Sozialstaat nicht geklärt sei. Auch die Finanzierung ist weitgehend unklar. Die Kosten werden auf rund 208 Milliarden Schweizer Franken geschätzt; immerhin rund 33 Prozent des Schweizer Bruttoinlandproduktes. Rund 70 Milliarden Franken würden durch Abbau bestehender Transferleistungen erzielt, der grösste Teil der verbleibenden 138 Milliarden sei in den «bestehenden Einkommen enthalten», bloss der Restbetrag müsse «durch Steuern oder durch eine Verlagerung im heutigen Staatshaushalt aufgebracht» werden, erklärt das Komitee.

Ersetzung der Einkommen

Die Feststellung, dass das BGE in den bestehenden Einkommen enthalten sei, haben zwei Basler Unternehmer und Mitinitiatoren in einer ökonomisch recht schiefen Broschüre ausgeführt, in der sie auch Milton Friedmann zu Ehren kommen lassen und dem Klassenkampf eine Absage erteilen. Zusammengefasst kann man die Resultate beim Initiativkomitee nachlesen: «Für die meisten Personen ist das Grundeinkommen kein zusätzliches Geld, sondern ersetzt heutige Einkommen.» Das heisst, dass künftig ein Teil der Reproduktionskosten der Lohnabhängigen durch den Staat übernommen wird. Wer also seinen Angestellten heute 4000 Franken bezahlt, müsste künftig nur noch 1500 Franken auszahlen. Die restlichen 2500 Franken würde der Staat übernehmen. Das läuft auf eine gigantische Subvention der Unternehmen hinaus; gerade wenn man bedenkt, dass die Finanzierung unklar ist und die Besteuerung von Kapital in Zeiten von Krise und verschärfter internationaler Konkurrenz mehr als schwierig ist. Zudem wird damit die ganze Lohnstruktur, die in der Schweiz in vielen Branchen von Gesamtarbeitsverträgen bestimmt wird, aufgebrochen. Die beiden Basler Initiatoren rühmen sich dessen und verweisen darauf, dass individuell bessere Verträge geschlossen werden könnten. Etwas taucht in der ganzen Debatte aber nicht auf: Wie hoch das Einkommensniveau der Lohnabhängigen am Ende ausfällt, hängt vom Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ab. Und da sieht es in der Schweiz recht düster aus, gerade auch wenn man die Bedenken ernst nimmt, dass das BGE einer weiteren Vereinzelung Vorschub leisten könnte. Entsprechend ist nicht nur zu befürchten, dass mit dem Projekt das Kapital subventioniert wird, sondern auch, dass unter dem Strich für den Grossteil der Lohnabhängigen keine Verbesserungen drin liegen – im Gegenteil.

Parlament und Debatte

Letztlich bestimmt das Schweizer Parlament die Höhe und die Finanzierung des BGE sowie das Verhältnis zu den bestehenden sozialstaatlichen Institutionen. Es gibt am Grundeinkommen einiges grundsätzlich zu kritisieren, aber in der aktuellen Situation ist das drängendste Problem, dass sich die Umsetzung aus linker Sicht als Katastrophe herausstellen könnte. Das Kräfteverhältnis im nationalen Parlament ist so gelagert, dass selbst die InitiantInnen ahnen könnten, dass ihr Vorschlag den Sozialabbau beschleunigen dürfte.

Es bleibt wenigstens zu hoffen, dass die Debatte im Vorfeld der Abstimmung drängende Fragen auf die Tagesordnung setzt. Das BGE greift schliesslich ein wichtiges Problem auf: Die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Oder einfacher gesagt: Es werden voraussichtlich weltweit immer mehr Menschen längerfristig arbeitslos, während immer mehr Lohneinkommen kaum zum Leben reichen. Leider wird – vom Alarmismus der GegnerInnen mal abgesehen – die Debatte über diese Probleme nur in verzerrter Form geführt. Weil der Vorschlag nicht mit der kapitalistischen Gesellschaft brechen kann und will, bleibt die Debatte «innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten» (Karl Marx). Denn eine angemessene Beteiligung aller Menschen «an den Früchten der Maschinenarbeit», wie es das Komitee fordert, ist nur ausserhalb der Logik des Kapitals und seiner rechtlichen Bedingungen denkbar.

 

Aus dem vorwärts vom 6. Mai 2016 Unterstütze uns mit einem Abo!

Provokation: Explosion in einem Schliessfach

pla_zh_12.19Gemäss Polizeiangaben explodierte am Sonntagmorgen um 06.30 Uhr ein Feuerwerkskörper in einem Schliessfach am Bahnhof Enge. Das auf dem Schliessfach angebrachte Kürzel «RAZ» deutet für den Tagesanzeiger auf unsere Organisation als Täterschaft hin. Abgesehen davon, dass wir dieses Kürzel nie verwenden: Sprengkörper auf Bahnhofsarealen oder öffentlichen Plätzen gehören zu den Terrorinstrumenten von reaktionären Kräften, wir erinnern an Bombenanschläge auf den Bahnhof von Bologna oder das Oktoberfest in München. Eine revolutionäre Organisation wendet niemals Gewalt an, die sich gegen die Bevölkerung richtet. Wir verurteilen den hinterhältigen Versuch der bürgerlichen Medien und von Polizei- und Staatsschutzkreisen, uns dafür verantwortlich zu machen.

Revolutionärer Aufbau Schweiz, 2. Mai 2016