Kurdischer Frühling

kurdenWährend sich halb Europa über Erdogans Umgang mit Satire und Pressefreiheit empört, führt die AKP-Regierung in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei Krieg. Eine Reportage zur Situation in den kurdischen Gebieten und dem Widerstand der kurdischen Bevölkerung gegen den Staatsterror der Regierung Erdogan.

Nachdem das linke Oppositionsbündnis HDP am 7. Juni 2015 die Zehnprozent-Hürde bei den Wahlen grosszügig schaffte und die AKP das absolute Mehr verfehlte, war es definitiv vorbei mit dem versöhnenden Ton der islamistischen Partei gegenüber den KurdInnen. Erdogan tobte, erzwang Neuwahlen und setzte alles daran, diese zu gewinnen. Alles, das bedeutete in erster Linie massive Repression gegen die linke und kurdische Bewegung. Innerhalb von drei Monaten wurden über 1500 Menschen festgenommen. Bereits Anfang September wurden die ersten Ausgangssperren ausgerufen und Sondereinheiten in den Südosten geschickt, um TerroristInnen zu neutralisieren, so die Bezeichnung der Regierung für das Töten von KämpferInnen oder Zivilpersonen. Und neutralisiert wurden dabei oft selbst kleine Kinder. Erdogan versprach im Herbst noch, dass alles wieder ruhig werde, sobald die Wahlen so ausfallen, wie es ihm gefällt. Doch nach den Neuwahlen vom 1. November 2015, bei denen die HDP ihren Wahlanteil im Grossen und Ganzen halten, die AKP jedoch ihr Mehr auf Kosten der rechtsextremen MHP erreichen konnte, kam nicht die versprochene Stabilität, sondern erst recht Krieg.

In den Worten Erdogans klingt das so: Entweder ihr senkt eure Köpfe oder ihr verliert sie. Figuen Yüksekdag, Co-Präsidentin der HDP, konterte: «Unsere Köpfe tragen wir unter dem Arm und laufen weiter, ein türkisches Sprichwort über Menschen, die sich vor nichts fürchten. In allen Provinzen, die mit grosser Mehrheit für die HDP stimmten, gilt nun seit Monaten der Ausnahmezustand; Ausgangssperren wurden über Tage, Woche oder gar Monate verhängt.

Newroz unter Bombendrohung

Wir reisten als kleine Delegation aus Zürich nach Amed (türkisch: Diyarbakir), um am Newroz-Fest am 21. März teilzunehmen. Das kurdische Frühlingsfest, das seit Jahren auch als politisches Symbol des Widerstandes gilt, wurde dieses Jahr in vielen Städten verboten – und mit massiver Repression versuchten Polizei und Militär, die Verbote durchzusetzen. In Amed wurde das Fest zwar erlaubt, doch kursierte das Gerücht, dass der IS Selbstmordanschläge plane. Viele Menschen trauten sich nicht zu der Feier, zu frisch sind die Erinnerungen an die Anschläge auf die Wahlveranstaltung in Amed am 5. Juni 2015 (mindestens 3 Tote), auf die Solidaritätsbewegung mit Kobanê am 20. Juli 2015 in Suruç (34 Tote) und auf die Friedensdemo am 10. Oktober 2015 in Ankara (102 Tote). Die Drohung hatte also etwas sehr Reales; die Angst und die Anspannung waren deutlich spürbar. Dennoch sind über eine halbe Million Menschen zum Fest gekommen. Etwa halb so viel wie in den vergangenen paar Jahren, aber immer noch beeindruckend viele. Die Anspannung liess allmählich nach, die Sonne schien und die Stimmung war gut; die Menschen tankten Kraft für die kommenden Kämpfe, denn Amed befindet sich, wie viele andere Städte im Südosten, seit einigen Monaten im Kriegszustand.

Bereits im vergangenen August verkündeten kurdische Räteversammlungen, Erodgans Zivilputsch nicht anzuerkennen, und riefen mancherorts die Selbstverwaltung aus. Die Antwort des Staates kam postwendend: Es marschierten Panzer und Sondereinheiten ein; das Auftreten des türkischen Staats gebärdet sich mehr und mehr wie eine Besatzungsmacht. Mit Unterstützung der Quartierbevölkerung bauten junge Frauen und Männer zuerst Barrikaden, mit der Zeit bewaffneten sie sich und gründeten im Januar 2016 die Zivilverteidigungseinheiten YPS, die genauso wie die PKK einen starken Rückhalt in der Bevölkerung geniessen. In Sur, dem Altstadtbezirk von Amed, kämpften sie über 110 Tagen gegen die zweitstärkste Armee der Nato. Auch in anderen kurdischen Orten wird und wurde gekämpft. Nur, dass diesmal die Fernsehteams aus der ganzen Welt fehlen…

Landnahme als Aufstandsbekämpfung

Ausgerechnet am 21. März, am Tag des Newroz-Fests, hat der türkische Staat beschlossen, 82 Prozent der Altstadt von Amed zu enteignen. Die restlichen 18 Prozent gehören bereits der staatlichen Wohnbaubehörde TOKI oder dem türkischen Staat. Somit wird nach der Landnahme alles der AKP-Regierung gehören, die dann ihr langersehntes Projekt umsetzen kann: aus der Altstadt von Amed ein neues Toledo zu machen. Die AKP hat bereits einen kleinen Film ins Netz gestellt, der die Zukunft dieses Ortes zeigt: steril sieht es aus. Künstlich und leblos. Disneyland wäre wohl zutreffend. Bei seinem Besuch in Sur am 1. April, unter massivsten Sicherheitsvorkehrungen und vor einer kleinen Schar ausgewählten Fans, betonte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, dass der Charakter der Stadt erhalten bliebe und meinte zu seiner Frau, dass sie sich doch ein Haus im neuen Sur kaufen sollten. Alleine diese Bemerkung zeigt, wohin der Wind weht: Etwa 95 Prozent der jetzigen Bevölkerung von Sur ist arm – also wohl nicht die Nachbarschaft, die sich Davutoglu für seine Residenz vorstellt.

Nebst lukrativen Einnahmen für die Entourage von Erdogan zielt diese kapitalistische Landnahme darauf ab, soziale Netzwerke zu zerschlagen, in der Hoffnung, so den Widerstand zu brechen. Da die Panzer sich nicht durch die engen und verwinkelten Gassen winden können, wird alles platt gemacht. Wir konnten Lastwagen voller Bauschutt sehen, die aus den gesperrten Quartieren fuhren. So lassen sich auch die Spuren von Kriegsverbrechen wunderbar vertuschen. Die Stadt Cizîr (türkisch: Cizre), die im Herbst und Winter zweimal unter längeren Ausgangssperren stand, ist für Aussenstehende gar nicht und für die BewohnerInnen nur mit Einschränkungen zugänglich. Auch hier sollen über 2700 Häuser enteignet werden, mit der Begründung, dass sie einsturzgefährdet seien. Es wurden verschiedene Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentiert, doch die AnwältInnen, die sich darum kümmern, wurden verhaftet (etwa Ramazan Demir) oder sogar umgebracht. Der bekannte Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi wurde am 28. November 2015 während einer Pressekonferenz in Sur auf offener Strasse erschossen, gerade in dem Moment, als er dabei war, davor zu warnen, dass die mehrere Jahrtausende alte Altstadt von Amed und ihr einzigartiger multikultureller, multireligiöser und multiethnischer Charakter von Zerstörung bedroht sind.

Gemäss der linken kurdischen Zeitung «Gündem» plant die AKP-Regierung, nun elf Kasernen in Sur zu bauen, um dauerhaft für Sicherheit zu sorgen. Bereits bis heute wurden alleine in Sur fünfzehn Schulen geschlossen und in provisorische Kasernen umfunktioniert. Das weckt schlechte Erinnerungen, wie Baris Yavuz von der türkischen Menschenrechtsorganisation TIHV erklärt: In den 90er-Jahren hätten Spezialeinheiten das alte Gefängnis als Folterzentrale benutzt. 18000 Menschen seien dazumal verschwunden, sprich extralegal hingerichtet worden.

Die Vergangenheit aufarbeiten

Dass die sozialen und kulturellen Netzwerke zerstört werden sollen, zeigt sich auch an der Tatsache, dass die Kirchen beschlagnahmt wurden. In Sur steht die grösste armenische Kirche der Region, die aus dem 14. Jahrhundert stammt und erst vor kurzem – in enger Zusammenarbeit zwischen der kurdischen Lokalbehörden und der armenischen Diaspora – sorgfältig renoviert wurde. Vor 1915 lebten über 100000 ArmenierInnen in Sur und standen somit in der Mehrheit. Die kurdische Bewegung ist sich der Mittäterschaft der KurdInnen am Genozid von damals sehr wohl bewusst. Deshalb liegt das Thema der heutigen Generationen am Herzen. In einem Interview für die arabische Zeitung «Al Monitor» erklärt Aline Ozinian, Doktorantin der Philospohie an der Universität Eriwan, dass die Wiedereröffnung der Kirche im Jahr 2011 die NachfahrerInnen der ArmenierInnen, die islamisiert worden waren, ermutigte, ihre Vergangenheit zu erforschen. Dies soll nun offensichtlich unterbunden werden. Die Politologin meint, dass dies auch als eine Bestrafung der ArmenierInnen gelesen werden könne, dafür, dass viele von ihnen die HDP gewählt hätten. Sie fügt hinzu, dass Sur im Jahr 1915 von ArmenierInnen gesäubert wurde und dasselbe nun mit den KurdInnen passieren solle.

Die Bevölkerung von Sur will diese Pläne aber nicht widerstandslos hinnehmen. Sowohl die linke Stadt- und Provinzregierung als auch viele BewohnerInnen werden Einsprache einlegen und alles unternehmen, um die Enteignung zu verhindern. AnwältInnen haben dazu eine kostenlose Anlaufstelle eingerichtet. Die Anzahl von Vertriebenen wird von der Stadtregierung für Sur auf rund 45 000 Personen geschätzt. Die meisten Menschen sind bei Verwandten in der Stadt Amed oder in den umliegenden Dörfer untergekommen. Die Frauennachrichtenagentur «Jinha» berichtet, dass die Mieten in Amed in die Höhe schiessen und viele bisherhigen BewohnerInnen sich diese ohnehin nicht mehr leisten können. Fatma Dinler ist eine dieser Menschen, die aus Sur fliehen mussten. Sie ging nach Baglar, einem anderen Bezirk, der dann aber ebenfalls mit einer Ausgangssperre belegt wurde und Dinler war, zusammen mit ihren fünf Kindern, erneut zur Flucht gezwungen. Da sie nicht mehr wusste wohin, baute Dainler ein Zelt am Strassenrand ausserhalb der Stadt auf. Dort will sie nun bleiben und Gemüse und Früchte anpflanzen, um sie zu verkaufen. «Wir werden nicht in den Westen der Türkei fliehen. Wir werden Widerstand leisten indem wir uns unbewohntes Land nehmen und hier unsere Zelte aufbauen», so Dinler gegenüber der Jinha-Reporterin.

«Wir bleiben hier»

«Wir werden nicht gehen, wir bleiben hier», das bekommen wir immer wieder zu hören. Die Menschen fürchten um ihr Leben, doch aufgeben, den Kopf hängen lassen, das kommt für sie nicht im Frage. Sie betonen oft, dass sie sich mit den Kämpfenden solidarisch fühlen, auch deshalb wollen sie nicht weg. Und die Menschen sind sich sicher: Auch wenn es zurzeit sehr schwierig ist, auch wenn der Frieden, der vor einem Jahr noch zum greifen nahe war, nun in weiter Ferne scheint, wird die kurdische Bewegung, wird das Streben nach Freiheit und Emanzipation, letztlich gewinnen. Denn im Gegensatz zur Erdogan, der nach immer mehr autokratischer Macht strebt und auf Krieg und Vernichtung setzt, hat die kurdische Bewegung konkrete Vorschläge für eine gute Zukunft für alle: Selbstbestimmung und demokratische Autonomie, nicht nur in den kurdischen Gebieten, sondern für die ganze Türkei. Eine Gesellschaft, die auf Selbstverwaltung, Gleichberechtigung und Mitverantwortung setzt. Das sind keine abstrakten Begriffe; die Konzepte werden bereits im Kleinen umgesetzt. In den Quartieren, in den Frauenzentren – oft mit der Unterstützung der Verwaltung – werden seit ein paar Jahren basisdemokratische Projekte aufgebaut. Das wird sich – da sind sich die Menschen in Amed sicher – auf längere Sicht durchsetzen. Sie können zwar die Blumen ausreissen, doch den Frühling können sie nicht verhindern.

Für aktuelle News und Hintergrundinformationen zur Situation in der Türkei und den kurdischen Gebieten auf Deutsch siehe auch:

Civaka Azad (Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit)

www.civaka-azad.org

ISKU (Informationsstelle Kurdistan)

www.isku.blackblogs.org/

Tatort Kurdistan (Hintergrundinfos zur demokratischen Autonomie und zur Selbstverwaltung in den kurdischen Gebieten)

www.tatortkurdistan.blogsport.de

Aktuelle News auf Englisch:

Jinha (Kurdische Frauennachrichtenagentur):

jinha.com.tr/en

Firatnews Agency (Kurdische Nachrichtenagentur)

www.anfenglish.com

 

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Wir sind alle Flüchtlinge

Refugees-welcome-Still ist es im Lande der Eidgenossen. Still, im Vergleich zu den wenigen Wochen, als sich die so genannte Zivilgesellschaft mobilisierte. Ach, wie wurde sie gelobt. Nicht ganz zu unrecht, das muss man zugeben. Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich gegen die Ausschaffungs-Initiative der SVP auf die Hinterbeine gestellt. Schliesslich zielte der Angriff der PopulistInnen erstens direkt auf den Rechtsstaat, und zweitens wären vor allem Secondos besonders stark vom rassistischen Vorhaben der SVP betroffen gewesen. Also Menschen, die schon lange hier in der Schweiz leben oder gar hier geboren wurden, und das war der so genannten Zivilgesellschaft doch zu viel. Immerhin. Aber weiss die so genannte Zivilgesellschaft, dass am 5. Juni wieder eine Abstimmung über die Bühne geht, die wieder den Rechtsstaat und wieder ganz direkt Menschen betrifft? Es scheint nicht der Fall zu sein, wohl weil es um den Rechtsstaat für Flüchtlinge geht. Rechtsstaat ist nicht gleich Rechtsstaat für Alle, und Mensch ist nicht gleich Mensch bei allen – die Gefahr, ganz bitterbös zynisch zu werden, ist verdammt gross! Hinzu kommt, dass man als so genannte Zivilgesellschaft am 5. Juni eh nur alles falsch machen kann, also schweigt sie lieber. Denn es stellt sich wieder einmal die Frage nach dem «kleineren Übel» – falls man da überhaupt von einem «kleinen Übel» sprechen kann: Sagt man Ja, stimmt man der Verkürzung der Rekursfristen, den Bundeszentren und weiteren Verschärfungen zu. Sagt man Nein, kippt man die kostenlose Rechtsberatung für Flüchtlinge und ein paar weitere positive Punkte aus der Revision. Legt man leer ein, oder stimmt gar nicht ab, ist dies sicher eine hübsche Art zu protestieren gegen diese Wahl, die gar keine ist. Aber gelöst hat man damit das Dilemma bei Weitem auch nicht.

Am diesjährigen 1. Mai in Zürich wird unter dem Slogan «Wir sind alle Flüchtlinge» demonstriert. In diesem Jahr sind bereits mehr als 400 Menschen an den Aussengrenzen Europas gestorben, und in den letzten Jahren ist das Mittelmeer zum grössten Friedhof der Welt geworden. So ist in der diesjährigen Zeitung des Zürcher 1.Mai-Komitee zu lesen: «Der Slogan soll die Solidarität mit allen Menschen auf der Flucht zum Ausdruck bringen. Er ist eine Kritik an der europäischen Grenzpolitik, die Flüchtlinge abweist und kriminalisiert.» Und weiter: «Wir fordern ein Umdenken und die Aufhebung aller Grenzen und Mauern! Am 1. Mai zeigen wir Solidarität! Wir kämpfen für eine gemeinsame Welt!» Dem kann und muss man sich anschliessen – ohne Wenn und Aber! Doch der Slogan geht weiter, als «nur» Solidarität zu zeigen. Er ist auch – ja sogar vor allem – die Aufforderung, die Grenzen und Mauern in den eigenen Köpfen zu sprengen und nicht bei der einfachen, wenn auch wahren, Feststellung stehen zu bleiben, dass «Wir» ja keine Flüchtlinge sind! Der Slogan fordert auf, Grenzen und Mauern zwischen dem «Wir» und «den Anderen», den Flüchtlingen, den Fremden zu überwinden. Er fordert auf, sich die Frage zu stellen, wer überhaupt das «Wir» definiert, anhand von was das «Wir» definiert wird und wer darüber bestimmt, wer zu diesem «Wir» dazugehören darf und wer davon ausgeschlossen wird. Oder ganz einfach: Wer ist «Wir» und warum? Dann wäre es sinnvoll, nicht hier stehen zu bleiben. Sich zu überlegen, ob es für die Zukunft eine andere Definition vom «Wir» geben kann, ja gar geben muss. Ein «Wir», das zum Beispiel nicht über ein Stück Papier wie etwa einen Pass oder eine Aufenthaltsbewilligung geregelt und bestimmt wird. Ein «Wir», das sich nicht in Einheimischen und AusländerInnen spalten lässt. Ein «Wir», in dem alle einen Platz haben, die zu diesem «Wir» dazu gehören wollen. Ein «Wir», das Werte wie Solidarität, Respekt und Toleranz als Grundlage hat. Der Slogan «Wir sind alle Flüchtlinge» ist mehr als «nur» ein Slogan, er ist die simple Aufforderung, nicht stehen zu bleiben, weiterzudenken und zwar über das aktuell Bestehende und Herrschende hinaus. «Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen», lehrt uns Rosa Luxemburg. In diesem Sinnen sollten wir am 1. Mai kurz inne halten und überlegen, wie ein «Wir» entstehen kann, das gemeinsam gegen die Barbarei des Kapitalismus kämpft!

 

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Die Zukunftsstadt

Riace2Das Dorf Riace in Süditalien lag auf dem Sterbebett und wartete auf den Tod. Doch dann kamen die MigrantInnen und alles änderte sich: Die Häuser wurden renoviert, Werkstätte und Arbeitsplätze geschaffen, ja selbst eine Parallelwährung wurde eingeführt. Das «Unmögliche» wurde möglich!

Riace? «Riace ist das Symbol der Utopie der Normalität», erklärt der Bürgermeister Domenico Lucano. Riace ist ein Dorf in Kalabrien, in der Provinz Reggio Calabria, ganz im Süden Italiens. Ein klassisches kalabresisches Dorf in den Hügeln gebaut, mit einem atemberaubenden Blick auf das Ionische Meer und mit einer Geschichte, die typisch ist für die Dörfer in der ärmsten Region Italiens. Ab den 1960er Jahren begann der Exodus in die grossen Städte Norditaliens wie Turin und Mailand, nach Deutschland und in die Schweiz. Arbeitslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven zwangen die Menschen dazu. Von den einst 4000 EinwohnerInnen blieben gerade mal 500 Selen, meist RentnerInnen, in Riace: «Unser Dorf war ein sterbender Patient, der nur noch auf den Tod wartete», sagt der Bürgermeister Demenico Lucano. Doch dann kam alles anders: 1998 landete ein Boot an der Küste, praktisch vor der Haustür von Lucano. An Bord waren 350 KurdInnen, geflohen vor dem Massaker der türkischen Armee. «Ich wusste sofort, dass ich etwas machen musste», erzählt Lucano. «Weniger aus Humanität, sondern aus politischer Solidarität. Aus einer politischen Überzeugung, weil sich für mich die Frage der KurdInnen und der PalästinenserInnen mit einem politischen Ideal verbindet, das die Basis meines sozialen und kulturellen Engagements ist. Das war der Ausgangspunkt, die Geburt einer Idee, um eine Vision zu entwickeln.» Provisorisch brachte Lucano die Schiffbrüchigen im Pilgerhaus unter. Wenige Tage später fragte einer von ihnen: «Domenico, habt ihr hier auch Krieg? Eure ganzen Häuser stehen leer.» Eine Frage, die der Beginn einer Geschichte war, die am besten mit den Worten von Che Guevara beschrieben werden kann: «Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.»

Bob Marley und Che auf den «Geldscheinen»

Lucano gründete den Verein «Città Futura» (Zukunftsstadt), nahm einen Kredit auf, und zusammen begannen KurdInnen und Riacesi die Häuser zu renovieren. Häuser, die jenen Menschen gehören, die selbst mal migrieren mussten. Lucano hatte sie persönlich angerufen, jeden Einzelnen. Keiner lehnte ab. Fünfzehn Liegenschaften waren es, mietfrei für zehn Jahre – im Gegenzug für die Renovierung der halb zerfallenen Häuser. Über hundert leere Häuser hat «Città Futura» mittlerweile übernommen, in denen jetzt MigrantInnen leben. Mit der Pauschale des Staats für die Asylsuchenden, zahlt Lucano Miete an die EigentümerInnen. Entstanden sind auch eine Glasmanufaktur, eine Stickerei, eine Schreinerei und eine Weberei. In ihnen arbeiten überwiegend Frauen, während die Männer im Gartenbau der Gemeinde beschäftigt werden und Orangen-, Pfirsich- oder Mandelplantagen bewirtschaften. Dazu plant Lucano eine Schokoladenmanufaktur. Insgesamt wurden 75 neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Flüchtlinge bekommen 250 Euro im Monat. Das ist aber kein «echtes» Geld. Riace hat eine Parallelwährung, den «Bonus» eingeführt. Auf den bunten Spielgeld-Scheinen prangen die Köpfe von Che Guevara, Bob Marley, Martin Luther King und Gandhi. Sie werden im Lebensmittelladen, in der Café-Bar, beim Bäcker, beim Friseur, von den Bauern, die auf der Piazza Tomaten und Melonen verkaufen und vom marokkanischen Billigklamotten-Händler akzeptiert. Der Grund für diese Parallelwährung erklärt Antonio Petrolo, Mitglied des Gemeinderats: «Der Bonus ist als ein Kredit zur Überbrückung gedacht. Denn es dauert oft acht Monate und länger, bis das Innenministerium das Geld für die Flüchtlinge endlich überweist.» Die Geschäftsleute können die Scheine in regelmässigen Abständen gegen Euro eintauschen. Natürlich kommt es auch zu Streit, wie überall. «Nur menschlich», meint dazu Domenico Lucano, die Wogen würden sich jeweils schnell wieder glätten. Heute zählt das Dorf Riace 1800 EinwohnerInnen, davon 400 MigrantInnen aus 22 verschiedenen Nationen. TouristInnen und JournalistInnen aus aller Welt kommen angereist; neugierig, das Unmögliche zu sehen, das möglich wurde, unter anderem dank eines Mannes, der von sich sagt: «Ich hab nichts Besonderes gemacht. Ich bin nur der Bürgermeister eines kleinen Dorfs.»

Veranstaltung mit Domenico Lucano im Rahmen des 1.Mai-Festes in Zürich:
29. April 2016, 20.00 Uhr, im Zeughaus 5, Kasernenareal, 8004 Zürich

 

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Die Festung Europa überwinden – nur wie?

mittelmeer-fluechtlinge-rettungSeit Anfang März sitzen Menschen auf dem Weg nach Europa fest, nicht nur in Idomeni, dem griechischen Festland, auf den Inseln oder in der Türkei, sondern auch in Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich. Ja, eigentlich überall. Wirklich? Und vor allem: Wie lange?

Mit immer brachialeren Mitteln versuchen die Behörden, die Leute von der Überquerung ebenjener Grenzen abzuhalten, die vor zwei Monaten semipermeabel, vor einem halben Jahr ganz und gar durchlässig waren. Dabei zögern die eigentlichen Verantwortlichen für dieses Elend, PolitikerInnen aller Couleurs und ihre mandatierten Sicherheitskräfte, nicht, die vielen Freiwilligen, die seit Monaten deren Arbeit machen, als AnstifterInnen der Proteste und Durchbruchsversuche, als Feinde der Demokratie hinzustellen. Die Frage wird ihnen aber überall gestellt: Wieviel müssten wir sein, um den Sommer 2015 zu wiederholen? Und so ist es auch kein Wunder, dass kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht von Protesten, Durchbruchsversuche, Hungerstreiks oder einer Besetzung aus Griechenland und anderswo unterrichtet werden. Tatsache ist, dass sich die Mehrheit der Freiwilligen davon distanziert. Ohne jedoch den Zurückgebliebenen eine Alternative zu bieten. Jenu, gehen wir dem selbst nach.

Das Nadelöhr

Es gibt, tatsächlich, neue Wege, um legal nach Europa und auch in die Schweiz zu gelangen. Gemäss den beiden 2015 verabschiedeten Relocation programs sollten 160 000 Personen von Griechenland und Italien in andere EU-Staaten, Schweiz inklusive, umgesiedelt werden. Tatsächlich haben bisher insgesamt knapp 7000 Menschen von diesem Programm profitiert, die Hälfte davon aus Italien, 413 landeten schliesslich in der Schweiz. Wobei allein in den letzten drei Monaten mehr als 150 000 Personen nach Griechenland gelangten. Es dürfen denn auch nur Menschen aus Syrien, dem Irak, Eritrea, der Zentralafrikanischen Republik, dem Jemen, Swaziland oder Bahrain daran teilnehmen. Die eigentliche Crux ist aber, dass kein einziger Staat zu deren Übernahme verpflichtet ist. So verpuffen die vollmundigen Worte der EntscheidungsträgerInnen wie warme Luft, und mit ihnen die Hoffnungen der meisten MigrantInnen. Registrierte SyrerInnen in der Türkei dürfen zudem gemäss EU-Türkei-Deal ein Resettlement beantragen und direkt ab Istanbul in ein europäisches Land fliegen, sofern sich ein solches findet (siehe oben). Allerdings ist nach wie vor ziemlich alles unklar diesbezüglich, und geschafft haben es so bisher lediglich 79 Personen – von 2,75 Millionen AnwärterInnen! Dazu gibt es zu sagen, dass auch SyrerInnen mittlerweile eines Visums bedürfen, um in die Türkei einzureisen, und gewöhnlich auf der anderen Seite der neu gebauten Mauer an der Grenze zum syrischen Konfliktgebiet zurückgehalten oder gar dorthin zurückgebracht werden. Besonders fürchten müssen schliesslich die Staatsangehörigen derjenigen Länder, die ein Rückübernahmeabkommen mit der Türkei besitzen, unter anderem Belarus, Kirgisistan, Moldawien, Nigeria, Pakistan, Russland, eben Syrien, aber auch die Ukraine und der Jemen. Ausser SyrerInnen haben Menschen, die nicht aus Europa stammen, keine Möglichkeit, die Türkei um Asyl zu bitten. Das Land feilscht zudem zurzeit mit folgenden Ländern um weitere Rückübernahmeabkommen: Iran, Irak, Afghanistan, Algerien, Bangladesch, Kamerun, Eritrea, Marokko, Ghana, Myanmar, die Republik Kongo, Somalia, dem Sudan und Tunesien. Die Türkei ist also für die meisten weit davon entfernt, ein sicheres Land zu sein, auch wenn sie dies in amtlichen Papieren bescheinigt und in Schnellverfahren umsetzt.

Mauern, Mafia, Vigilantes

Viele Alternativen entlang der Balkanroute wurden letztlich hierzulande kolportiert. Tatsache ist, dass offensichtlich bisher keine davon zu überzeugen vermochte. Nicht umsonst avancierte letzten Sommer die mazedonisch-griechische Grenze zum Haupteintrittstor nach Europa. Was die meisten verschweigen oder vielleicht gar nicht wissen: Davor war die Situation in Südosten Europas auch nicht anders. Die Leute blieben jahrelang stecken: in knastähnlichen Strukturen, als Sans-Papiers in der Landwirtschaft oder Gastronomie oder aber, den Nazis ausgesetzt, unter freiem Himmel. Noch nie war Albanien zum Beispiel eine Alternative zu den Lastwagen-Containern in Patras und Igoumenitsa. Ganz einfach aus dem Grund, dass das Land einen der gefährlichsten Mafia-Clans auf der Welt beheimatet, der zudem eng mit den staatlichen Strukturen verknüpft ist. Das wissen die Leute, und drum meiden sie Albanien. Und das ist gut so. Bulgarien wird offenbar neuerdings von denjenigen genutzt, die in Serbien steckengeblieben sind und es nicht nach Ungarn oder Kroatien schaffen. An Bulgariens Grenzen haben sich mittlerweile sogenannte Vigilantes, paramilitärische Bürgerwehren, gebildet, die Eingereiste jagen, festnehmen, schlagen…. Im Süden verfügt das Land bekanntlich über einen EU-finanzierten Stacheldrahtzaun, der auch von Schweizer GrenzwächterInnen mit bewacht wird. Obwohl die Einreisezahlen im letzten Quartal entgegen den Vorhersagen von PolitikerInnen und ExpertInnen um 20 Prozent zurückgingen, rüstet die dortige Armee gegen den offensichtlich ausbleibenden «Einmarsch der Elenden» auf, wozu auch die Schwarzsee-Flotte eingebunden wurde. Bulgarien ist schliesslich Dublin-Erstasylland, die Asylstrukturen desolat, die Gefahr gross, Opfer von Menschenhandel zu werden. Wohin also, wenn nicht legal oder über Südosteuropa?

Wer kann, fliegt

Anzeichen gibt es anscheinend, dass zurzeit grössere Bootsfahrten aus dem Süden der Türkei direkt nach Italien vorbereitet würden. Diese Ansicht widerspricht komplett der Tatsache, dass die Türkei, zumindest bis zum Eintritt in die Schengenzone diesen Sommer, absolut kein Interesse daran hat, den Deal mit der EU zu torpedieren. Das totalitäre Regime von Ankara hat seit Jahresanfang selbstredend beinahe achtmal mehr Personen an der Überfahrt gehindert als im ersten Vorjahresquartal und scheint tatsächlich gewillt, Menschen weder über Land noch Wasser unkontrolliert nach Europa reisen zu lassen. Wer kann, fliegt also, und zwar in ein Land, für das er oder sie kein Visum braucht oder eines leicht ergattern kann. Letzthin las ich von einem, der es über Brasilien und Französisch-Guayana nach Europa schaffte. Das dürfte die Ausnahme bleiben. Zeigt aber, wie überlegen ein einzelner Mensch gegenüber einem Staat, ja Staatenbund, sein kann oder ist. Zurück zum Mainstream. Zugenommen haben in den letzten Wochen zum Beispiel die 1500 Kilometer langen Bootsüberfahrten von Flüchtlingen aus Ägypten nach Italien. Dort wurde im November 2015 ein neues Gesetz eingeführt, dass illegale Ein- und Durchreisen mit Gefängnis bestraft. Die Grenzkontrollen wurden vor allem im Süden verstärkt: Allein im Dezember wurden gemäss der Regierung 22 026 Personen geschnappt. Doch zu ihrem Verbleib und dem derjenigen, die sich einer Kontrolle entziehen konnten, gibt es kaum verlässliche Informationen. Kein Wunder: Nichtregierungs- und ganz besonders Menschenrechtsorganisationen werden dort immer stärker verfolgt; viele existieren gar nicht mehr, deren ExponentInnen wurden gebüsst, verhaftet, angeklagt, verurteilt, mehrere gefoltert und einige sind gar spurlos verschwunden.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Wie alle anderen nordafrikanischen Staaten haben auch Ägypten und Libyen selbst für SyrerInnen einen Visumszwang eingeführt. In Libyen warten bekanntlich seit Jahren Abertausende von MigrantInnen auf die Überfahrt nach Italien, viele von ihnen in Gefängnissen, sei es von der sogenannten Übergangsregierung, dem IS, der SchmugglerInnen oder sonst irgendwelcher Clans, die von ihrem Elend profitieren wollen. Wer empört ist über den EU-Türkei-Deal, sollte gefälligst auch nach Libyen schauen: 2009 schloss der damalige italienische Ministerpräsident Berlusconi mit dem damaligen libyschen Staatschef Ghaddafi ein Rückübernahmeabkommen, das als Vorläufer des heutigen Deals mit der Türkei gelten kann und nur deshalb nicht mehr funktioniert, weil Ghaddafi 2011 aus dem Land gebombt und umgebracht wurde. Seitdem herrscht Krieg, der damalige Transfer an Know-how und technischen Hilfsmitteln wird nun im Konflikt eingesetzt. Dennoch lässt die EU im Hintergrund keine Gelegenheit aus, um in diesem Chaos die Migration aus Libyen zu steuern zu versuchen. Kaum ist der EU-Türkei-Deal unter Dach und Fach, denkt zum Beispiel Deutschland im Ernst darüber nach, Libyen zu einem sicheren Drittstaat zu deklarieren, und strebt dabei nach einer Übereinkunft mit einer soeben durch westlichen Druck eingesetzten Einheitsregierung, die prophylaktisch bereits angefangen hat, abfahrende Flüchtlingsboote abzufangen und die Reisenden zu inhaftieren.

Was tun?

Bleibt also noch der Weg über Marokko, dem eigentlichen Prototypen des EU-Türkei-, beziehungsweise des Italien-Libyen-Deals. Das erste Rückübernahme-Abkommen mit Marokko unterzeichnete Spanien 1992, doch erst zwanzig Jahre später begann es, zu greifen. Ab Mitte der 90er-Jahre nahmen die EU-Staaten Marokko mittels Freihandelsabkommen in die Zange, 1999 erarbeiteten sie einen «Aktionsplan Migration», der erstmals auch die Übernahme von «Staatsangehörigen von Drittländern und Staatenlosen» vorsah, «die nach ihrer Ankunft aus Marokko in das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten illegal eingereist oder dort illegal verblieben sind». Tatsächlich sind die Aurseisezahlen nach Europa dort zusammengebrochen. «Pushbacks» sind an den Enklaven von Ceuta und Melilla an der Tagesordnung, nur wenige Boote wagen es über die Gibraltar-Meerenge oder zu den Kanarischen Inseln. Razzien in Treffpunkten und Aufenhaltsorten von MigrantInnen sowie Haft und Deportationen in den Süden des Landes bis hin zur Grenzek, haben in Marokko massiv zugenommen. Was tun? Meine persönliche Einschätzung ist, dass die Grenzen in Südosteuropa zurzeit zu militarisiert und propagiert sind, als dass dort heuer eine Wiederholung der Ereignisse von letztem Sommer möglich wäre. Was wir aber wissen: Was die MigrantInnen letztes Jahr da erreichten, kann durchaus anderswo gelingen. Wir werden die Behörden also weiterhin genau beobachten und dann überraschen.

 

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«Heuchlerisch, mörderisch und diskriminierend!»

flüchtlingeErneut steht in der Schweiz eine Abstimmung über das Asylgesetz vor der Türe. Eine Abstimmung, die für viele Linke ein Dilemma ist, da es einmal mehr die «Wahl» zwischen dem kleineren Übel ist – falls man überhaupt von einem kleinen Übel reden kann. Der «vorwärts» sprach mit Amanda Ioset (26), seit zwei Jahren Geschäftsführerin von Solidarité sans frontières (Sosf), über die Abstimmung sowie über die schweizerische und europäische Asylpolitik.

Beginnen wir mit der Aktualität: Am 5. Juni wird über die Asylgesetzrevision abgestimmt. Man hört und liest bisher wenig darüber. Um was geht es konkret?

Es ist das Ergebnis der «Neustrukturierung» des Asylwesens, die offiziell das Verfahren beschleunigen soll und in drei Teilen, praktisch in drei verschiedene Pakete, aufgeteilt wurde. Das erste Paket mit der Einschränkung des Flüchtlingsbegriffs und des Familiennachzugs wurde im Dezember 2012 vom Parlament verabschiedet. Dagegen wurde kein Referendum ergriffen. Diese Vorlage ist von der Abstimmung vom 5. Juni daher nicht betroffen. Das zweite Paket wurde vom Parlament im September 2015 gutgeheissen. Es beinhaltet die Kürzung der Rekursfristen und die Konzentration der Verfahrensabläufe in den grossen Bundeszentren für Asylsuchende. Insgesamt ist es daher eine Verschärfung des Asylgesetzes. Es sind jedoch auch positive Punkte vorgesehen: Zu nennen ist die kostenlose Rechtsberatung, die den Flüchtlingen in den Bundeszentren und am Flughafen zur Verfügung stehen. Weiter zu nennen sind die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Minderjährigen, die ohne Eltern oder Begleitung von Erwachsenen auf der Flucht sind, sowie die Pflicht der Kantone, Kinder und Jugendliche einzuschulen, die sich in den Bundeszentren befinden. Das dritte Paket beinhaltet die «dringlichen Massnahmen» im Asylgesetzt, die im Juni 2013 von den Stimmberechtigten angenommen wurden, nachdem das Referendum dagegen ergriffen wurde. Diese «dringlichen Massnahmen» sollen nun fester Bestandteil des Asylgesetzes werden. Dabei ist zu unterstreichen, dass die «dringlichen Massnahmen» auch bei einem Nein am 5. Juni in Kraft bleiben werden und zwar bis 2019.

Sosf empfiehlt ein «kritisches Ja» zur Revision. Warum?

Die Linke hat gegen diese Revision kein Referendum lanciert. Und soweit mir bekannt ist, wurde diese Option nicht mal ernsthaft geprüft. Der Abstimmungskampf gegen die «dringlichen Massnahmen», bei dem wir gerade mal 21 Prozent erreicht haben, hat uns geschwächt. Für eine Organisation, die sehr beschränkte finanzielle Mittel zur Verfügung hat, ist es schwierig regelmässig ein Referendum zu lancieren und dies erst noch im Wissen, dass keine Chancen auf einen Sieg bestehen. Als die SVP das Referendum ergriff, über das am 5. Juni abgestimmt wird, hatten wir intern lange Diskussionen darüber, ob wir es unterstützen sollen. Es kam schon vor, dass wir die gleiche Abstimmungsparole wie die SVP hatten. Dies war bei der Ratifizierung des Schengen/Dublin-Abkommens von 2004 der Fall. Wir waren die einzige linke Organisation, die es wagte, Nein zum Abkommen zu sagen. Doch heute ist die Ausgangslage eine völlig andere: Wir müssen in Betracht ziehen, was die Folgen eines Neins wären. Eines Neins, das hauptsächlich als ein Sieg der SVP interpretiert würde. Und wir können davon ausgehen, dass das Parlament sehr schnell eine neue Revision verabschieden würde, die in den Grundzügen gleich bleibt (und somit auch die «dringlichen Massnahmen» beibehält), aber auch von der SVP mitgetragen würde. Das heisst konkret, dass die kostenlose Rechtsberatung kippen würde, die eine der ältesten Forderung von schweizerischen Flüchtlingsorganisationen ist.

Von links wird eure Position teilweise nicht verstanden, gar kritisiert.

Ehrlich gesagt, unsere Position hat keine grosse Kritik ausgelöst. Der Diskussionsprozess, der unserem Ja zugrunde liegt, ist für die Menschen nachvollziehbar, auch wenn nicht alle zum selben Schluss kommen wie wir. Wir stehen wirklich vor einem Dilemma, das einmal mehr die Grenzen der «direkten Demokratie» aufzeigt, auf welche die Schweiz so stolz ist: Wir sind gezwungen, uns für das «kleinere Übel» zu entscheiden und somit widerspiegelt keine der Möglichkeiten, die wir am 5. Juni haben, unsere Überzeugung. Doch innerhalb der Linken gibt es eine Art Konsens: Egal welche Parole für die Abstimmung vom 5. Juni beschlossen wird und unabhängig des Ausgangs der Abstimmung, muss in den kommenden Jahren weiterhin gegen die Verschärfung im Asylwesen gekämpft werden. Für Sosf sowie für mich persönlich ist es daher das Wichtigste aufzuzeigen, was mit dieser Revision auf dem Spiel steht, welche Probleme und offenen Fragen damit verbunden sind und sein werden.

Was sind die drei grössten, aktuellen Herausforderungen für Sosf?

Der Kampf gegen das Dublin-Abkommen hat im Moment Priorität. Es ist schlicht untragbar, dass die reiche Schweiz ihre Verantwortung nicht wahrnimmt und Flüchtlinge wieder in andere europäische Länder abschiebt. Wir wollen, dass die Flüchtlinge selber entscheiden können, in welchem Land sie das Asylgesuch stellen können und zwar unabhängig der Gründe, die sie dafür haben. Weiter fordern wir eine würdige Unterkunft für alle Menschen, die Schutz benötigen. Gemeint ist hauptsächlich die immer mehr systematisch werdende Unterbringung von Flüchtlinge in unterirdischen Zivilschutzanlagen. Wir widersetzen uns der Behauptung, dass es dazu keine Alternative gibt. Ich komme aus dem Kanton Neuenburg, in dem es weiterhin vier Bunker mit 250 Plätzen gibt, obwohl dies als eine temporäre, dringliche Massnahme definiert und der Bevölkerung entsprechend verkauft wurde. Ich kann aber alleine in der Stadt Neuenburg drei Beispiele von leerstehenden, städtischen Häusern nennen, die für die Unterbringung von Flüchtlingen benutzt werden könnten. Man muss nur die Augen öffnen, um zu sehen, dass es Lösungen gibt. Schliesslich ist es dringend nötig, Wege zu schaffen, welche es den Flüchtlingen erlaubt, sicher in die Schweiz zu gelangen. Dabei sind mehrere Möglichkeiten denkbar. Eine davon ist die Wiedereinführung des Rechts, in den Schweizer Botschaften das Asylgesuch stellen zu können. Auch die Festsetzung von Kontingenten ist denkbar: Im Jahr 2015 haben Sosf und andere Organisationen vom Bundesrat gefordert, dass 100 000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen werden. Aktuell läuft eine Petition der Gewerkschaften, die eine Aufnahme von 50 000 Flüchtlingen verlangt. Wir unterstützen sämtliche Initiativen, die in solche und ähnliche Richtungen gehen.

Mit welchen drei Worten bringst Du die Asylpolitik der Schweiz auf den Punkt?

Heuchlerisch, mörderisch und diskriminierend! Heuchlerisch, weil die offizielle Schweiz offen und solidarisch ist, nicht für Menschen, die auf der Flucht sind, sondern für Grosskonzerne und Multis, die ganze Regionen destabilisieren, Waffen in Kriegsgebiete exportieren und Rohstoffe plündern. Der Slogan einer Veranstaltung, die kürzlich in Lausanne stattfand, bringt diese Heuchelei bestens auf den Punkt: «Keine Grenzen für die BörsenmaklerInnen. Barrieren für die MigrantInnen?» Mörderisch, weil die Opfer der schweizerischen und europäischen Asylpolitik nicht nur im Mittelmeer, auf der Balkanroute oder an den Barrieren von Ceuta oder Melilla zu finden sind. Wir finden sie auch in den Zellen der Ausschaffungsgefängnisse, an unseren Flughäfen und in unseren Flugzeugen bei den Ausschaffungsflügen. Kürzlich haben einige Personen gar Selbstmord begangen, um ihre Ausschaffung zu verhindern… Diskriminierend, weil die Asylsuchenden nicht die gleichen Rechte haben wie andere Menschen hier in der Schweiz. Sie bekommen weniger Sozialhilfe und haben in einer ersten Phase des Asylverfahrens nicht das Recht zu arbeiten.

Verlassen wir die Schweiz. An der so genannten Aussengrenze Europas ist die Situation dramatisch. Was tut das Sosf für diese Flüchtlinge?

Wir rufen die verantwortlichen Behörden der Schweiz dazu auf, eine Reihe von Massnahmen zu ergreifen: Erstens muss die Schweiz die Flüchtlinge an der europäischen Aussengrenze unterstützen. Zweitens muss unser Land die Ausschaffungen wegen dem Dublin-Abkommen beenden, insbesondere in Länder an der Aussengrenze Europas und entlang der Balkanroute. Dann erwarten wir von der offiziellen Schweiz, dass sie das Abkommen zwischen der EU und dem Regime von Erdogan verurteilt. Ein Abkommen, das die systematische Rückschaffung von schutzbedürftigen Menschen in die Türkei erlaubt. Es ist eine echte Schande für Europa, das von sich behauptet, die Menschenrechte zu respektieren.

Was können wir als Einzelpersonen für diese Menschen tun?

Als erstes Mitglied von Sosf werden! Es ist wichtig, sich hier in der Schweiz zu organisieren, um die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse zu verändern. Dies unter anderem weil unser Land Bestandteil der Ausgrenzungspolitik an den europäischen Grenzen ist, zum Beispiel durch ihre Beteiligung an Frontex. Dann gibt es natürlich auch die Möglichkeit, sich Organisationen anzuschliessen, die den Flüchtlingen direkt und konkret vor Ort helfen. Und schliesslich ist es wichtig, auf allen Ebenen gegen Vorurteile und Rassismus zu kämpfen. Dies beginnt im unmittelbaren, persönlichen Umfeld, in den Diskussionen, die man mit den Menschen führt. Die Klischees gegenüber Muslimen, Flüchtlingen und AusländerInnen im Allgemeinen müssen abgebaut werden. Und Folgendes ist für mich extrem wichtig, auch wenn es eine Arbeit ist, die einen sehr langen Atem braucht: Wir müssen dahin arbeiten, dass sich die Menschen hier von ihrer westlichen Sichtweise entfernen, um sich so näher bei den «Anderen» zu fühlen.

Weitere Infos und Mitglied werden bei Sosf: www.sosf.ch

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Kuhschweiz, Köppel, Kapitalismus

svpDie SVP inszeniert sich gerne als Opposition und als einzig legitime Vertreterin des «Volkswillens». Doch welche Politik betreibt die Partei tatsächlich? Und welche Mittel setzt sie für ihre Zwecke ein? Eine Analyse.

Im heutigen Europa können wir zwei gegensätzliche Tendenzen erkennen. Auf der einen Seite kämpfen Menschen solidarisch für ein besseres Leben, indem sie die Grenzzäune niederreissen, für Bleiberecht kämpfen oder diese Bewegung praktisch oder politisch unterstützen. Auf der andern Seite fordern Menschen die Schliessung der Grenzen und für die Verschärfung von Asylgesetzen. Damit verleihen sie Stacheldrahtrollen an den Grenzen, NATO-Einsätzen gegen Flüchtende und Unterbringung in Lagern und Bunkern eine stabile Legitimation. Die erstgenannten Kämpfe gegen die Abschottungs- und Entrechtungspolitik zu unterstützen, muss also auch heissen gegen die Fans dieser Politik aktiv zu werden. Indem wir uns der Entsolidarisierung entgegenstellen, können wir dafür sorgen, dass Refugees in Europa wirklich willkommen sind und gemeinsam den Kampf um das gute Leben für alle führen. Das Rückgrat der rechten Bewegungen bilden in vielen Teilen Europas rechtspopulistische Parteien und Organisationen. Sie stehen für nationalistische, rassistische und antifeministische Hetze. Ihre Strategie ist dabei immer ähnlich: Charismatische Leaderfiguren mobilisieren die vermeintliche Volksgemeinschaft gegen «die Anderen», etwa AusländerInnen, Homosexuelle oder «VolksverräterInnen». Damit leisten sie der neoliberalen Politik des Sozialabbaus, Lohnkürzungen und Prekarisierung nicht nur Schützenhilfe, indem sie die Solidarität der Betroffenen verhindern, sondern machen sie gleich zu ihrem Programm: SozialschmarotzerInnen können ihrer Meinung nach nicht hart genug angefasst werden. In der Schweiz wird diese Politik von der SVP betrieben. Damit ist sie zur stärksten Kraft im Parlament aufgestiegen und sorgt massgeblich dafür, dass sich das gesellschaftliche Klima nach rechts bewegt. Derart erfolgreich ist sie auch Vorbild für viele RechtspopulistInnen in ganz Europa. Es lohnt sich also für die radikale Linke, sich die SVP genauer anzuschauen und sich Gegenstrategien zu überlegen.

Volksgemeinschaft statt soziale Sicherheit

Politik und Ideologie der SVP lassen sich unter zwei grossen Themen fassen: Eine neoliberale Agenda und ein völkischer Nationalismus. Das Interesse an einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ist dabei nicht zufällig: Die SVP ist die Partei des Grosskapitals, was nur schon ein Blick auf die Führungsriege zeigt. Da sitzen Grossindustrielle neben BankerInnen und MilliardärInnen. BäuerInnen oder KleinunternehmerInnen sind höchstens StatistInnen für die Kameras. Nicht zuletzt bei der Rochade in der Parteileitung vor wenigen Wochen ist einmal mehr deutlich geworden, wie autoritär die Partei von der Clique rund um Christoph Blocher geführt wird. Für das Proletariat heisst das nichts Gutes. Die neoliberale SVP-Politik bedeutet eine Senkung der Löhne und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Mindestlöhne, Kündigungsschutzmassnahmen und sonstige Regelungen im Interesse der Lohnabhängigen sollen abgebaut oder abgeschafft werden. Gleichzeitig will die Partei den Sozialstaat schleifen. Dies bedeutet nicht nur Kürzungen von Sozialhilfe oder IV- und AHV-Renten, sondern auch Leistungsabbau und Privatisierungen bei Bildung, Gesundheit und anderen öffentlichen Bereichen. Im Hintergrund dieser Politik steht die Drohung «Pass nur auf, dass du nicht absteigst!». Für die VerliererInnen des kapitalistischen Hauen und Stechens propagiert die SVP die Volksgemeinschaft. Dabei wird dieses Volk ethnisch konzipiert und essentialistisch auf Abstammung und unveränderliche Schweizer Werte und Kultur zurückgeführt. Die SVP heroisiert «den Schweizer» und beschwört permanent seine Gefährdung durch äussere und innere Feinde. Auf dieser Basis entwickelt sich die rassistische Politik der SVP. So inszeniert sie gekonnt einen Nützlichkeitsrassismus und verknüpft diesen mit ihrer neoliberalen Politik. Die Masseneinwanderungsinitiative ist diesbezüglich ein gutes Beispiel. Die SVP-Kampagne zielte auf stumpfe Überfremdungsängste und behauptete, erreichen zu wollen, dass nur die ökonomisch nützlichen AusländerInnen auf den Arbeitsmarkt kommen. Gleichzeitig wurde auch der Spagat zwischen ökonomischer Rationalität und reaktionärer Ideologie deutlich, den die Partei immer wieder vollziehen muss. So entspringen die Initiativen des Egerkinger Komitees (Minarettverbot, Burkaverbot) eindeutig einem antimuslimischen Rassismus ohne versteckte ökonomische Agenda.

SVP, Krise, Normalzustand

Die Kritik an der SVP kann nicht bei der Partei und ihren ExponentInnen aufhören. Die Partei und ihre nationalistische Hetze sind eine Zumutung, die bekämpft werden muss. Allerdings ist diese Zumutung nur ein Ausdruck des kapitalistischen Normalbetriebs. Und die Hetze ist nicht etwa «unschweizerisch», wie das gerne behauptet wird, sondern gute bürgerliche Tradition, ohne die es diese Kuhschweiz nicht geben würde. Die angesprochenen Massnahmen zur Senkung von Löhnen und Lohnnebenkosten sowie Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse sind ökonomisch gesehen eine Verbesserung der Ausbeutungsbedingungen. Solche entpuppen sich in der Krise als eine Notwendigkeit zur Steigerung der Profite. Der Staat muss dieser ökonomischen Logik in doppelter Weise folgen: Er ist auf eine brummende Wirtschaft angewiesen, denn das gibt Steuereinnahmen. Diese Wirtschaft brummt aber nur, wenn die Profitrate stimmt, die Unternehmen also Gewinne einfahren können. Allzu hohe Ansprüche der ArbeiterInnen sind da eher hinderlich und müssen bekämpft werden. Aber auch Steuern drücken auf die Profite, weshalb sie gesenkt werden müssen. Das bedeutet für den Staat: sparen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Regierungsmassnahmen zur «Ankurbelung der Wirtschaft» immer als Angriffe auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen daherkommen und es nicht wirklich einen grossen Unterschied macht, wer gerade am Ruder sitzt. Die neoliberale Agenda der SVP ist also keineswegs nur dem privaten Profitinteresse ihrer Führungsriege geschuldet, sondern vor allem ihrer Sorge um das Staatswohl in Anbetracht ökonomischer Notwendigkeiten von Krise und Standortkonkurrenz. Diesem Staatswohl sind längst alle Schweizer Parteien verpflichtet. Es ist politischer Konsens, dass alle nur das Beste für dieses Land wollen. Der Abstimmungskampf um die Durchsetzungsinitiative war ein Paradebeispiel dafür: Schweizer Werte wo man hinschaut und überall die Vorwürfe an den Gegner, ganz und gar unschweizerisch zu sein.

Rassismus à la Suisse – wer hat‘s erfunden?

Die rassistische Hetze hat die SVP nicht erfunden. Hetze gegen «die Fremden» hat in der Schweiz lange Tradition, denken wir nur zum Beispiel an die «Überfremdungsinitiativen» seit 1970. Während es die SVP schon seit ca. 100 Jahren gibt, haben sie seit den 1990er Jahren unter ihrem rechtspopulistischen Flügel um die Milliardäre Christoph Blocher und Walter Frey schweizweit etwa 20 Prozent an Wähleranteil gewonnen. Dabei haben sie erfolgreich ein bereits vorhandenes rassistisches Potential mobilisiert und organisiert und diversen Kleinparteien und ausserparlamentarischen Organisationen das Wasser abgegraben. Ausländerfeindliche Initiativen haben bereits seit den 1970er-Jahren jeweils zwischen 23 und 48 Prozenz der Stimmen erhalten. Davon konnten ihre InitiantInnen aber bei Wahlen nur selten profitieren. Die RechtspopulistInnen in der SVP hatten hier den Vorteil, dass sie auf bestehende Parteistrukturen zurückgreifen konnten, dass sie als Teil der Konkordanz akzeptiert war und daher nicht, wie in anderen Ländern, ausgeschlossen wurde und – last but not least – dass sie über sehr viel Geld verfügten.

Reaktionäre Ideologien – wie sie die SVP stark macht – sind Ausdruck des Kapitalismus. Einerseits bilden sie den Kitt, der eine in Klassen gespalten Gesellschaft zusammenhält. Andererseits ist es für ein profitables Funktionieren des Kapitalismus von Vorteil, dass es verschiedene Arten von Arbeitskräften gibt, zum Biespiel gut ausgebildete FacharbeiterInnen, billige HandlangerInnen und solche, die gratis Reproduktionsarbeit verrichten. Rassistische Diskriminierungen sind demnach nicht nur ideologischer Natur, sie haben auch eine materielle Basis. Sie sind eng mit der kapitalistischen Hierarchie verwoben. Wenn Reaktionäre also behaupten, dass AusländerInnen nun mal anders seien oder Frauen an den Herd gehören, naturalisieren sie damit die kapitalistische und patriarchale Arbeitsteilung. Somit ist ein Ende der reaktionären Ideologien nur mit der Überwindung ihrer materiellen Basis zu haben. Also weg mit Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus.

Nationalismus ist keine Alternative – die befreite Gesellschaft schon

Die SVP organisiert das reaktionäre Potential derart erfolgreich, weil sie sich als Oppositionspartei, als einzige Vertreterin des Volkswillens inszeniert. Dazu gehört dessen regelmässige Mobilisierung, nicht nur gegen unten (AusländerInnen, SozialhilfbezügerInnen usw.) sondern auch gegen die «Classe politique», «fremde Richter» und «heimatmüde» ParlamentarierInnen. Denn, wie es ihr Führer Christoph Blocher ausdrückt: «Alle sind gegen die Mehrheit des Volkes.»

Dass ein Teil der SVP-Mobilisierung über die direkte Demokratie stattfindet, erschwert ein politisches Agieren, wenn man nicht beim nationalen Parlaments-Zirkus mitmachen will. Wir müssen die Abstimmungskämpfe der SVP als zentrales Moment der nationalistischen Mobilisierung verstehen. Das bedeutet, Folgendes nicht zu vergessen: Das kalte Klima der Reaktionäre kommt nicht nur aus Bundesbern, sondern formiert sich auch in den Wohlfühlzonen der SVP-Volksgemeinschaft: in der Agglo und den ländlichen Gemeinden, im Wirtshaus und in den Vereinen, am «Buurezmorge» und am SVP-Fest. Verlassen wir also auch unsere Wohlfühlzonen und intervenieren dort, wo sich die «demokratische Mitte» und der völkische Nationalismus treffen.

Gleichzeitig sollten wir nicht müde werden, die Folgen der neoliberalen SVP-Agenda aufzuzeigen. Die konkreten Lebensbedingungen der unteren Schichten und der AusländerInnen verschärfen sich, die Ellbogengesellschaft festigt sich. Dadurch wiederum fällt der völkische Nationalismus à la SVP vermehrt auf fruchtbaren Boden. So können sich ihr Spiel mit der Angst und ihre Hetze sowie ihre Disziplinierung von ArbeiterInnen durchsetzen. Hier müssen wir die Verantwortlichen und ihre Logik angreifen und dabei Ansätze von solidarischen Strukturen und Klassenbewusstsein bilden. Der breite Angriff der SVP auf viele Menschen ist dabei auch der Ausgangspunkt, um Kämpfe zu verbinden. Eine selbstbewusste radikale Linke sollte sich darum bemühen, als Gegenbewegung wahrnehmbar zu sein. Gegenüber der SVP heisst das, ihr «in der Breite» auf die Pelle zu rücken und ihrer Hetze dabei eine Perspektive jenseits von Nation und Kapitalismus entgegenzustellen. Kreative und anschlussfähige Aktionen aus der linksradikalen Werkzeugkiste wären dabei kein schlechter Anfang.

 

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Arbeit – Bewegung – Geschichte

08_Arbeitskampf FiatDie Schweiz spielte keine unwichtige Rolle in der Geschichte der linken ArbeiterInnenbewegung. Die Zimmerwalder-Konferenz von 1915, zu der die sozialistischen GegnerInnen des 1. Weltkriegs zusammen kamen, ist ein bekanntes Beispiel. Kaum bekannt ist hingegen, dass die Schweiz vor über 40 Jahren auch eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung der linken Betriebsintervention gespielt hat.

Anfang der 1970er Jahre wurde in Zürich ein internationales Koordinationsbüro für die länderübergreifende Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfe aufgebaut. Getragen wurde es von Gruppen der radikalen Linken, die durch den Aufbruch nach 1968 entstanden sind und sich weder der sozialdemokratischen noch der traditionskommunistischen Richtung zuordneten. Neben dem Pariser Mai 1968 war auch der italienische Herbst 1969 für diese Linke ein wichtiger Bezugspunkt. Denn in Italien beteiligten sich viele ArbeiterInnen im ganzen Land an Betriebsbesetzungen, Streiks und militanten Demonstrationen. Dort war der Funke des revolutionären Aufbruchs tatsächlich übergesprungen, von den Hochschulen auf die Fabriken. Linke AktivistInnen sowie kämpferische ArbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern verfolgten die Entwicklung mit grossem Interesse. «In der historischen Forschung zu den Streikbewegungen und Arbeitskämpfen der 1960er und 1970er ist die internationale Zusammenarbeit von Strömungen und Gruppen, die sich an diesen Auseinandersetzungen in der Fabrik orientieren, noch wenig beachtet worden», schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange in der aktuellen Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien.

Die Prophezeiung des heraufziehen den Postfordismus

Das Schwerpunktthema lautet «Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988». Dietmar Lange, der gemeinsam mit Fabian Bennewitz, Ralf Hoffrogge und Axel Weipert die Zeitschrift herausgibt, forscht seit längerem zur Geschichte der linken Betriebsinterventionen der 1960er und 1970er Jahre. Dabei hat er auch einen Bericht über eine Internationale ArbeiterInnenkonferenz im April 1973 ausgegraben, die in Paris stattgefunden hat. Sie wurde wesentlich von dem Zürcher Koordinationsbüro vorbereitet und widmete sich den Klassenauseinandersetzungen in der Automobilindustrie. Anwesend ArbeiterInnen aus den wichtigsten Automobilkonzernen wie BMW, VW, Fiat, Opel, Alfa Romeo, Renault und Citroen. Aus der Schweiz waren Beschäftigte von Saurier vertreten. Auch verschiedene Linke aus Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien nahmen an der Konferenz teil. Aus der Schweiz waren AktivistInnen der Gruppe Klassenkampf nach Paris gekommen, die sich aus einer maoistisch orientierten Jugendbewegung in der italienischen Schweiz entwickelt hatte und Anfang der 70er Jahre ihren Einfluss auf die deutschsprachige Schweiz ausdehnte. Mitte der 70er Jahre löste sich die Gruppe auf. In dieser Zeit war die linke Betriebsintervention in eine Krise geraten und auch das Zürcher Koordinierungsbüro stellte die Arbeit ein. Die Vorbereitung der Pariser Konferenz war ihre wichtigste Arbeit. «Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Grossteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel oder löste sich auf», schreibt Dietmar Lange. In einem Interview mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der damals an der linken Betriebsintervention beteiligt war, spürt Lange den Gründen für den schnellen Zusammenbruch der transnationalen Solidaritätsarbeit nach, der zu einem langen Abschied der linken Bewegung vom Proletariat führen sollte. Roth erinnert sich an warnende Stimmen auf der Konferenz, die berichteten, wie durch Konzernstrategien das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. «Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses», so Roth. Er begründet auch, warum das Koordinierungsbüro, dass neben der Gruppe Klassenkampf auch von der Berner und St. Gallener Ortsgruppen der Proletarischen Front getragen wurden, in der Schweiz errichtet wurde: «Die Standortwahl lag nicht nur aus geographischen Gründen nahe, sondern hatte mit der damals leider noch sehr seltenen Mehrsprachigkeit der schweizerischen Genossinnen und Genossen zu tun».

Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen

Das Koordinierungsbüro habe sich zum Ziel gesetzt, die Selbstorganisation der am meisten marginalisierten Sektoren der europäischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Das ist eine sehr aktuelle Zielsetzung. Schliesslich gibt es zurzeit eine linke Betriebsintervention bei Amazon. Es gab bereits mehrere Treffen von Beschäftigten von Amazon-Werken in Deutschland und Polen. Deshalb weckt das Schwerpunktthema der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte nicht nur historisches Interesse. Die HerausgeberInnen weisen darauf hin, dass sich «in den hier publizierten Texten zahlreiche Aspekte finden, die Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen aufweisen». Nelly Tügel untersucht in ihren Beitrag, wie der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf gewerkschaftliche Aktivitäten von ArbeitsmigrantInnen in Westdeutschland reagierte, die oft noch Klassenkampftraditionen einbrachten, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden waren. «Zum einen erging die Aufforderung an die Einzelgewerkschaften, jeweils einen Kollegen zu benennen, der in einen der Abteilung Organisation unterstellten Unterausschuss für die Betreuung ausländischer Kollegen entsandt werden sollte. Zum anderen wurde beschlossen, Materialen über die kommunistische und faschistische Unterwanderung durch ausländische Arbeitnehmer zusammenzustellen und allen Bundestagsabgeordneten zuzustellen».

Sehr empfehlenswert sind auch die Beiträge in der Zeitschrift, die sich nicht mit dem Schwerpunktthema befassen. Auch dabei wird deutlich, dass die Schweiz in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung eine wichtige Rolle spielte. So berichtet die Historikerin Miriam Sachse von einem Symposium, das sich mit der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern befasste. Dabei betonte die Präsidentin der Schweizer Robert Grimm Gesellschaft, Monika Wick aus Zürich, dass die Konferenz, die in klarer Opposition zum sozialdemokratischen Kurs des Burgfriedens stand, auch männliche Unterstützer hatte. Dazu gehörte in der Schweiz Robert Grimm.

Arbeit – Bewegung – Geschichte.
Zeitschrift für historische Studien, Heft 1/2016, 230 Seiten, Bezug: www.metropol-verlag.de

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Kampf um die Entwicklungshilfe

400- 2Die rechtsbürgerlich dominierte Finanzkommission des Nationalrats will die Entwicklungshilfe bis 2020 um über einen Viertel kürzen. Doch gegen den drohenden Kahlschlag regt sich Widerstand. So haben am 30. März rund drei Dutzend Nichtregierungsorganisationen die Kampagne «Weckruf gegen Hunger und Armut» lanciert.

Am 22. März gab die Finanzkommission des Nationalrats bekannt, dass sie beabsichtigt, die öffentlichen Ausgaben für die Entwicklungshilfe von 0,5 Prozent auf 0,4 Prozent des Bruttoinlandeinkommens zu senken. Ausgenommen von dieser Sparmassnahme wäre die humanitäre Direkthilfe bei Krisensituationen. Geht es nach dem Willen der Finanzkommission, sollen in den nächsten vier Jahren noch 9 585 Millionen Franken in die internationale Zusammenarbeit fliessen, während der Bundesrat ursprünglich noch von 11 100 Millionen Franken ausging. Zwar fiel der Entscheid in der Finanzkommission mit 13 zu 12 Stimmen äussert knapp aus, zeigt aber, dass aufgrund des Rechtsrutsches im Parlament künftig mit einem kräftigen Wind der sozialen Kälte aus Bundesbern zu rechnen ist.

Keine Entwicklungshilfe ohne Migrationspartnerschaft?

Ursprünglich fasste die vorbereitende Subkommission gar eine Reduktion der Entwicklungshilfe auf 0,3 Prozent ins Auge, was etwa 7 465 Millionen Franken entsprechen würde. Das würde eine Halbierung der Ausgaben für die eigentliche Entwicklungshilfe im Ausland bedeuten. Besonders umstritten ist die Hilfe für Asylsuchende im Inland, die surrealerweise auch zu den Entwicklungsausgaben gezählt und bei einer anvisierten Reduktion auf 0,4 Prozent fast ein Drittel der Gelder für die Entwicklungshilfe «auffressen» würde. Im Jahr 2014 machten diese mit 456,3 Millionen Franken immerhin 14 Prozent der öffentlichen Entwicklungsausgaben aus. Die Ausgaben für den Asylbereich dürften in den nächsten Jahren weiter zunehmen, Einsparungen hingegen sind in diesem Bereich grundsätzlich wohl kaum möglich. Um die Quote auf 0,4 Prozent zu senken, wären deshalb jährliche Einsparungen von rund 700 Millionen Franken nötig. Aufgrund dieser unschönen Entwicklung überrascht es wenig, dass nun die Hilfswerke und betroffenen Nichtregierungsorganisationen auf die Barrikade gehen.

Zwar dürften es die radikalen Kürzungsvorschläge der Finanzkommission im Nationalrat nicht einfach haben, eine Mehrheit zu finden, jedoch werden die Stimmen aus dem bürgerlichen Lager und der Zivilgesellschaft lauter, die etwa die Verknüpfung von Entwicklungshilfe mit Schweizer Eigeninteressen fordern, insbesondere wenn es um Migrationspartnerschaften und Rückübernahmeabkommen von abgewiesenen Asylsuchenden geht.

Und da die Finanzkommission die humanitäre Hilfe von den Kürzungen ausnehmen will, müssten faktisch alle anderen Rahmenkredite bis 2020 um einen Drittel gekürzt werden. Zwar leuchtet es angesichts der aktuellen Weltlage durchaus ein, die Gelder für humanitäre Krisenhilfe aufzustocken, doch es ist unsinnig, dies auf Kosten einer nachhaltigen und langfristigen Entwicklungszusammenarbeit zu tun. «Auf akute humanitäre Not zu reagieren ist wichtig, aber nur, wenn gleichzeitig auch in die Prävention investiert wird, damit neue Krisenherde gar nicht erst entstehen. Auch braucht es nach Katastrophen und Krisen oft langfristige Wiederaufbauprojekte, die nicht von der humanitären Hilfe realisiert werden», kritisiert deshalb das Komitee «Weckruf gegen Hunger und Armut» in ihrer Medienmitteilung vom 30. März.

«Weckruf gegen Hunger und Armut»

In der Sommersession wird sich nun der Nationalrat, in der Herbstsession der Ständerat mit der Entwicklungshilfe beschäftigen. Setzt sich die Finanzkommission mit ihrem Sparvorschlag durch, würde das Aussendepartement (EDA) von Bundesrat Didier Burkhalter auf einen Schlag rund 20 Prozent seines Budgets verlieren; es wäre eine eigentliche Demontage der bisherigen Schweizer Aussenpolitik, ohne dass darüber eine öffentliche Debatte stattgefunden hätte.

Der «Weckruf gegen Hunger und Armut» fordert hingegen, dass die reiche Schweiz auf ihre Absichtserklärungen und Lippenbekenntnisse endlich auch Taten folgen lässt. Letztes Jahr hat sich die Schweiz zweimal zur «Agenda 2030» und zu den 0,7 Prozent der UNO bekannt: Im Juli im Rahmen der UN-Konferenz «Financing for Development» in Addis Abeba und im September am UNO-Gipfel in New York bei der Verabschiedung der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung. Die «Agenda 2030» sieht vor, dass die reichen Industrienationen die Entwicklungsländer bis ins Jahr 2030 mit 0,7 Prozent des Bruttoinlandeinkommens unterstützen. Das wären im Jahre 2014 rund 4 500 Millionen Franken gewesen, tatsächlich wurden aber bloss 3 200 Millionen Franken, also rund 0,5 Prozent, für die Entwicklungshilfe eingesetzt. Damit hat die Schweiz erstmals umgesetzt, was das Parlament schon 2008 beschlossen und 2011 nochmals bestätigt hatte: Dass es fortan 0,5 Prozent sein sollen. Damit reiht sich die Schweiz im unauffälligen Mittelfeld der reichen Länder ein. Am grosszügigsten sind Schweden mit 1,09 Prozent, Norwegen mit 1 Prozent und Grossbritannien mit 0,7 Prozent.

Steuerflucht und Entwicklungsgeld

Das Jahr 2008, das ist inzwischen aber eine Weile her. Seither haben sich die politischen Kräfteverhältnisse in der Schweiz markant nach rechts verschoben. Gegenwärtig fliehen Millionen von Menschen vor Krieg, Terror und Armut. Gleichzeitig schätzt man, dass Jahr für Jahr rund 1000 Milliarden Franken undeklarierter Gelder aus Steuerhinterziehung und Korruption aus den Entwicklungs- und Schwellenländern in Steueroasen fliessen und Gewinne aus der Billigproduktion praktisch unversteuert in Tiefststeuerparadiese ? wie eben die Schweiz ? verlagert werden. Damit stehen die Entwicklungsgelder, die von den reichen Industrienationen an ärmere Länder fliessen, in keinerlei Verhältniss zu den finanziellen Löchern, die durch Steuerflucht, Profitmaximierung und Korruption entstehen.

Für mehr Infos und die Petition siehe:

www.weckruf-armut.ch

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100 Jahre Kientaler Konferenz

kiental_d_querDie Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) veranstaltet am 30. April eine internationale Tagung in Erinnerung an die Kientaler Konferenz vor hundert Jahren. An dieser Konferenz wurde damals, im Jahr 1916, scharf mit den SozialistInnen abgerechnet, die der Kriegsführung ihrer Regierungen zustimmten.

Seit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde immer absehbarer, dass die Spannungen zwischen den imperialistischen Grossmächten auf eine gewaltige kriegerische Eskalation hinauslaufen würden. Bereits 1893 warnte Friedrich Engels, der auch ein ausgezeichneter Kenner des Militärwesens war, in einem Interview mit einer englischen Zeitung, dass «im Vergleich mit dem nächsten Krieg alle vorhergegangenen Kriege ein Kinderspiel waren». Der Kampf gegen den drohenden Krieg wurde zu einer der wichtigsten und populärsten Forderungen der 1889 gegründeten Zweiten Internationalen, dem Zusammenschluss der sozialistischen Arbeiterparteien aus allen Ländern.

Die Lüge der Vaterlandsverteidigung

Aus Anlass der Balkankriege hielt die Internationale im Jahr 1912 in Basel einen ausserordentlichen Kongress ab, der dem drohenden Weltkrieg den Kampf ansagte. Doch als im Sommer 1914 tatsächlich ein Zwischenfall im Balkanraum zur grossen Eskalation führte, versagte die internationale Solidarität der ArbeiterInnenbewegung. Fast alle Mitglieder der sozialistischen Parlamentsfraktionen stimmten für die Kriegskredite. Widerstand gegen den Krieg leisteten in den meisten sozialistischen Parteien der kriegführenden Staaten nur noch kleine oppositionelle Gruppen, in Deutschland zum Beispiel die Spartakus-Gruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Diese Gruppen und die Parteien in den neutralen Ländern versuchten, die internationalen Verbindungen nicht ganz abreissen zu lassen. Im Frühling 1915 wurden in Bern die klar gegen den Krieg Stellung beziehenden Treffen der internationalen sozialistischen Frauen- und Jugendorganisationen abgehalten. Im September 1915 wurden in Zimmerwald und im April 1916 in Kiental zwei internationale Konferenzen organisiert. Trotz Passschwierigkeiten gelang es, VertreterInnen von sozialistischen Parteien aus elf Ländern sich in Zimmerwald zu versammeln und gemeinsam ein Manifest auszuarbeiteten. Das Manifest benannte den Imperialismus als die tiefste Ursache des Krieges, deckte die Lüge der sogenannten Vaterlandsverteidigung auf und verortete die Verantwortlichkeit bei den herrschenden Klassen. Es rief die ArbeiterInnen dazu auf, den «Kampf mit entschlossener Kraft unverzüglich zu beginnen und zur Selbstbestimmung zurückzukehren». Im Anschluss an die Zimmerwalder Konferenz wurde eine Kommission gegründet und in Bern ein provisorisches internationales Sekretariat eingerichtet.

Ein wichtiges Zeichen

Ende April 1916 fand dann in Kiental die zweite internationale Konferenz statt. Diesmal waren nur «die Vertreter solcher politischer oder gewerkschaftlicher Organisationen oder Einzelpersonen zugelassen, die sich auf den Boden der Beschlüsse der Zimmerwalder Konferenz» stellten. Mit einer Resolution wollte man der ArbeiterInnenklasse Klarheit geben, über das Wesen des Krieges und über die Möglichkeiten der Beseitigung von künftigen Kriegsgefahren. Das Manifest der zweiten Konferenz rechnete schärfer als jenes von Zimmerwald mit den MehrheitssozialistInnen ab, die der Kriegsführung der nationalen Regierungen zustimmten.

Die Bewegung um die beiden Konferenzen setzte ein wichtiges Zeichen: Die internationale Solidarität der ArbeiterInnenbewegung hatte 1914 zwar versagt, sie war damit aber nicht einfach für immer untergegangen. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wuchs der Unmut über die Opfer, die er von der arbeitenden Bevölkerung forderte, während sich eine kleine Gruppe von kapitalistischen KriegsgewinnerInnen masslos bereichern konnte. Die grossen monarchischen Grossmächte Mittel- und Osteuropas verloren schliesslich den Krieg und überlebten diese Niederlage nicht: 1917 wurde das russische Zarenreich und 1918 die österreichisch-ungarische sowie die deutsche Monarchie von Revolutionen weggefegt. Doch auch in den neutralen Staaten und den siegreichen Westmächten kam es, infolge der durch den Krieg verschlechterten sozialen Verhältnisse zwischen 1917 und 1920, zu gewaltigen Streik- und Protestwellen.

Die internationale Tagung, die am 30. April 2016 von der PdA Schweiz veranstaltet wird, möchte die Bedeutung der Kientaler Konferenz für heute beleuchten. Damit soll auch die Kriegstreiberei und Heuchelei der heutigen Bourgeoisie denunziert werden. Es sollen Fragen darüber gestellt werden, wie die Haltung gegenüber pazifistischen Bewegungen aussieht, die den Zusammenhang zwischen Krieg und Kapitalismus nicht anerkennen; oder wie eine internationalistische Haltung gegenüber dem migrierenden Proletariat aussieht, das durch die Zerstörung der Länder des Nahen Ostens durch die imperialistischen Kräfte auf der Flucht ist.

Kiental 1916: Geschichte – Gegenwart – Perspektiven

Internationale Tagung veranstaltet von der PdA Schweiz.

Samstag 30. April 2016, 10 – 16 Uhr. Konferenzzentrum der Unia, Weltpoststrasse 20, 3015 Bern.

 

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Heuchelei: USA kritisieren Kuba

56f17bb9c46188125d8b45aeVor Präsident Barack Obamas historischem Besuch Kubas am 20. März wird spekuliert, ob er Kuba dazu zwingen kann, seine Menschenrechte besser einzuhalten. Ein Vergleich zwischen dem Stand der Menschenrechte in Kuba mit dem in den Vereinigten Staaten von Amerika zeigt jedoch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika von Kuba lernen sollten.

Die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» enthält zwei unterschiedliche Kategorien von Menschenrechten – zivile und politische Rechte einerseits, und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits. Die zivilen und politischen Rechte beinhalten die Rechte auf Leben, freie Meinungsäusserung, Religionsfreiheit, faires Verfahren, Selbstbestimmung; und Freiheit von Folter, grausamer Behandlung und willkürlichem Freiheitsentzug. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfassen das Recht auf Bildung, medizinische Versorgung, soziale Sicherheit, Arbeitslosenversicherung, Mutterschutz, gleiche Bezahlung für gleiche Leistung, Senkung der Kindersterblichkeit; Prävention, Behandlung und Kontrolle von Krankheiten; Bildung und Beitritt zu Gewerkschaften und Streik. Diese Menschenrechte sind enthalten in zwei Verträgen – dem «International Covenant on Civil and Political Rights» (ICCPR) und dem «International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights» (ICESCR). Die Vereinigten Staaten von Amerika sind dem ICCPR beigetreten. Die Vereinigten Staaten von Amerika weigern sich jedoch, dem ICESCR beizutreten. Seit der Reagan-Administration ist es Politik der USA, die Menschenrechte nur als zivile und politische Rechte zu definieren. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte werden abgelehnt als gleichbedeutend mit Wohlfahrtsstaat oder Sozialismus. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika kritisiert die zivilen und politischen Rechte in Kuba, während sie den höheren Standard der Kubaner in der allgemeinen Wohnsituation, Gesundheitswesen, Bildung, garantiertem Mutterschutz und gleichen Lohnsätzen ignoriert. Inzwischen hat die Regierung der USA schwere Menschrechtsverbrechen auf kubanischem Boden begangen, darunter Folter, grausame Behandlung und willkürliche Anhaltung. Und seit 1960 haben die Vereinigten Staaten von Amerika sich durch das Wirtschaftembargo ausdrücklich in Kubas wirtschaftliche Rechte und in sein Recht auf Selbstbestimmung eingemischt.

Das Embargo der Vereinigten Staaten von Amerika gegen Kuba, jetzt eine Blockade, wurde während des Kalten Kriegs von Präsident Dwight D. Eisenhower eingeführt auf ein von einem höheren Beamten des Aussenministeriums verfasstes Memorandum hin. Das Memo schlug vor «eine Reihe von Aktionen, die die grössten Eingriffe in den Zufluss von Geld und Gütern nach Kuba bewirken, um Geldbestand und Reallöhne zu senken, um Hunger, Verzweiflung und den Sturz der Regierung (Castro) herbeizuführen.» Dieses Ziel wurde nicht erreicht, aber die Strafblockade hat das Leben in Kuba schwierig gemacht. Ungeachtet dieser inhumanen Bemühung garantiert Kuba seiner Bevölkerung jedenfalls eine bemerkenswerte Palette von Menschenrechten.

Gesundheitswesen

Anders als in den Vereinigten Staaten von Amerika wird medizinische Versorgung in Kuba als Recht betrachtet. Kuba hat das höchste Ärzte-Patienten-Verhältnis der Welt mit 6,7 Ärzten pro 1000 EinwohnerInnen. Die Kindersterblichkeit lag 2014 bei 4,2 pro 1000 Lebendgeburten – eine der niedrigsten der Welt. Das Gesundheitswesen in Kuba legt das Schwergewicht auf Vorbeugung, statt sich nur auf Medikamente zu stützen, teilweise aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Medikamenten infolge der Blockade der Vereinigten Staaten von Amerika. 2014 schrieb die medizinische Fachzeitschrift Lancet: «Wenn die Errungenschaften Kubas über einen weiten Bereich von armen und Ländern mit mittlerem Einkommen ausgedehnt werden könnten, würde sich die Gesundheit der Weltbevölkerung wesentlich ändern.» Kuba hat bahnbrechende Medikamente zur Behandlung und Prävention von Lungenkrebs und zur Vorbeugung von Amputationen infolge von Diabetes entwickelt. Aufgrund der Blockade stehen diese uns in den USA allerdings nicht zur Verfügung.

Bildung

Freie Bildung ist ein allgemeines Recht und umfasst auch höhere Bildung. Kuba gibt für Bildung einen höheren Anteil seines BIP aus als alle anderen Länder der Welt. «Mobile LehrerInnen» kommen zu den Kindern, die die Schule nicht besuchen können. Viele Schulen bieten freie Versorgung vor und nach der Schule, wenn berufstätige Eltern keine entsprechende Möglichkeit in der Familie haben. Die Ausbildung zum Arzt kostet nichts. Es gibt mittlerweile 22 medizinische Fakultäten in Kuba, drei waren es vor der kubanischen Revolution im Jahr 1959.

Wahlen

Wahlen zum kubanischen nationalen Parlament gibt es alle fünf Jahre und Wahlen zu den Gemeindevertretungen alle zweieinhalb Jahre. Die Abgeordneten des nationalen Parlaments wählen den Staatsrat, der seinerseits den Ministerrat bestimmt, aus dem der Präsident gewählt wird. Mit 2018 (dem Datum der nächsten allgemeinen Wahlen in Kuba) wird es ein Limit geben von höchstens zwei fünfjährigen Amtsperioden bei allen höheren gewählten Ämtern einschliesslich dem des Präsidenten. Jede und jeder kann zum Kandidaten nominiert werden. Es ist nicht erforderlich, Mitglied der kommunistischen Partei (CP) zu sein. Kein Geld darf für die Werbung für KandidatInnen ausgegeben werden, und Parteien (inklusive der CP) dürfen während Wahlen keine Werbung betreiben. Die Wahllokale werden nicht vom Militär bewacht, sondern Schulkinder bewachen die Wahlurnen.

Arbeiterrechte

Das kubanische Gesetz garantiert das Recht, freiwillig Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten. Gewerkschaften sind vom Gesetz her unabhängig und finanziell autonom, unabhängig von der CP und vom Staat, finanziert aus den Beiträgen der Mitglieder. Unter den von den Gewerkschaften geschützten Arbeiterrechten sind ein schriftlicher Arbeitsvertrag, die 40 bis 44 Stunden-Woche und 30 Tage bezahlter Urlaub im staatlichen Sektor. Gewerkschaften haben das Recht, Arbeiten einzustellen, die sie als gefährlich erachten. Sie haben das Recht, am Firmenmanagement teilzunehmen, Informationen vom Management zu erhalten, Büroraum und -material und Zeit für Tätigkeiten des Betriebsrats zu bekommen. Einigung mit der Gewerkschaft ist erforderlich bei Entlassungen, bei Änderungen der Arbeitszeit, Überstunden und dem jährlichen Sicherheitsbericht. Gewerkschaften spielen in Kuba auch eine politische Rolle und haben das verfassungsmässig garantierte Recht, in Fragen des Arbeitsrechts konsultiert zu werden. Sie besitzen auch das Recht, dem nationalen Parlament neue Gesetze vorzuschlagen.

Frauen

Frauen bilden die Mehrheit der kubanischen Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Wissenschafter, technischen Angestellten, Angestellten im öffentlichen Gesundheitsbereich und Fachpersonal. Kuba liegt an erster Stelle im «Mütterindex der weniger entwickelten Länder» von Save the Children. Mit über 48 Prozent Frauenanteil im Parlament hat Kuba den höchsten Prozentsatz weiblicher Parlamentarierinnen in der Welt. Frauen bekommen neun Monate voll bezahlten Urlaub bei Geburt eines Kindes, danach drei Monate bei 75 Prozent des Gehalts. Die Regierung subventioniert Abtreibung und Familienplanung, legt einen hohen Wert auf Versorgung vor der Geburt und bietet Frauen vor der Geburt «Mutterschaftsunterbringung».

Lebenserwartung

2013 betrug laut WHO (Weltgesundheitsorganisation der UNO) die Lebenserwartung in Kuba bei Frauen 80, bei Männern 77 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, im Alter zwischen 15 und 60 Jahren zu sterben, betrug in Kuba pro 1000 EinwohnerIn 115 bei Männern und 73 bei Frauen. Im gleichen Zeitraum lag die Lebenserwartung für Frauen in den Vereinigten Staaten von Amerika bei 81 und für Männer bei 76 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, zwischen 15 und 60 zu sterben, lag in den Vereinigten Staaten von Amerika pro 1000 Einwohnern bei Männern bei 128 und bei Frauen bei 76.

Todesstrafe

Eine Studie der Cornell Law School fand in Kuba im Oktober 2015 keinen zum Tod Verurteilten und keinen im Todestrakt. Am 28. Dezember 2010 wandelte der Oberste Gerichtshof Kubas das Todesurteil des letzten Insassen des Todestrakts um, eines Kuba-Amerikaners, der wegen Mordes verurteilt worden war, den er bei der letzten terroristischen Invasion der Insel 1994 begangen hatte. Seither ist nichts von der Verhängung neuer Todesurteile bekannt. Im Gegensatz dazu befanden sich am 1. Januar 2016 2949 Menschen im Todestrakt von staatlichen Gefängnissen der Vereinigten Staaten von Amerika. Und am 16. März 2016 befanden sich 62 im Todestrakt in Bundesgefängnissen, laut Death Penalty Information.

Nachhaltige Entwicklung

2006 befand der World Wildlife Fund (WWF), eine führende Umweltorganisation, dass Kuba das einzige Land auf der Welt ist, das eine nachhaltige Entwicklung erreicht hat. Jonathan Loh, einer der Autoren des WWF-Berichts, sagte: «Kuba hat eine gute Stufe der Entwicklung gemäss den Kriterien der Vereinten Nationen erreicht, dank seines hohen Bildungsstandards und einer sehr hohen Lebenserwartung, wobei der ökologische Fussabdruck nicht gross ist, da es ein Land mit niedrigem Energiekon-sum ist.»

Hört auf mit der Belehrung Kubas und hebt die Blockade auf!

Als Kuba und die Vereinigten Staaten von Amerika vor einem Jahr Gespräche über Menschenrechte führten, sagte Pedro Luis Pedroso, der Leiter der kubanischen Delegation: «Wir brachten unsere Bedenken bezüglich Diskriminierung und rassistischen Mustern in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika zum Ausdruck, der Verschlimmerung der Brutalität der Polizei, Folter und aussergerichtlichen Ermordungen im Kampf gegen den Terror und der rechtlichen Grauzone, in der sich die Gefangenen des Anhaltelagers der Vereinigten Staaten von Amerika in Guantánamo befinden.» Die Scheinheiligkeit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika bei der Belehrung Kubas über seine Menschenrechte, während sie den Menschen Amerikas viele grundlegende Menschenrechte vorenthält, schreit zum Himmel. Die Vereinigten Staaten von Amerika sollten die Blockade aufheben. Obama sollte Guantánamo schließen und an Kuba zurückgeben.

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«Eine kleine Wende»

syndicom02__largeMedienriesen schreiben Gewinne, JournalistInnen haben das Nachsehen: Seit rund zwölf Jahren existiert für Medienschaffende in der deutschen und italienischen Schweiz kein GAV mehr. Nun nimmt die Gewerkschaft Syndicom einen neuen Anlauf. Ein Gespräch mit Stephanie Vonarburg, Leiterin der Branche «Presse und elektronische Medien» der Syndicom.

Rund die Hälfte der Arbeitsverhältnisse in der Schweiz ist über einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) geregelt. Für die JournalistInnen in der Deutschschweiz und dem Tessin gilt das seit 2004 nicht mehr. Wie hat sich die Situation seither verändert?

Es hat negative Veränderungen bei der Einkommenssituation gegeben. Insbesondere bei den Freischaffenden sind die Honorare stark unter Druck gekommen, während bei den Festangestellten die Gehälter der Neu- und QuereinsteigerInnen am meisten gelitten haben. Beim etablierteren Personal hat es zwar keine grosse Erosion gegeben, aber auch keine Lohnentwicklung. Im Gesamtarbeitsvertrag, der bis 2004 existierte, galt eine vorgeschriebene Mindestlohnentwicklung nach Berufsjahren. Das ist weggefallen und die Lohnschere dadurch auseinandergegangen. Gezeigt hat das bereits eine Studie im Jahr 2007, rund vier Jahre nach der GAV-Kündigung, und aktuelle Rückmeldungen seitens JournalistInnen bestätigen diesen Trend. Was die Arbeitszeit anbelangt, so war diese bei Medienschaffenden schon immer hoch. Auch der damalige GAV enthielt keine festgeschriebene Wochenarbeitszeit, dafür aber eine relativ grosszügige Regelung bezüglich Urlaub und Kompensation. Auch das ist in gewissen Redaktionen weggefallen. Dazu kommt, dass innerhalb dieser hohen Arbeitszeiten der Termindruck zugenommen hat. Heute müssen JournalistInnen aufgrund der intensiven Digitalisierung in derselben Zeit mehr liefern als früher.

Nun also ein neuer Anlauf zu einem Gesamtarbeitsvertrag. Mit welcher Aussicht?

Im Jahr 2014 ist der GAV in der französischsprachigen Schweiz – die sogenannte «Convention Collective de Travail» (CCT) – erneuert worden. Zwar hat es auch dort Verschlechterungen gegeben, etwa was die Lohnentwicklung anbelangt. Allerdings ist ein Mindesteinstiegslohn von 5840 Franken für Festangestellte definiert, es gibt Mindestlöhne für VolontärInnen, und die Mindesthonorare für Freischaffende liegen sogar leicht höher als bei unserem GAV von 2004. Zwischen der Gewerkschaft Syndicom und dem Journalistenverband Impressum herrscht der Konsens, dass wir uns bei der aktuellen Debatte mindestens am CCT orientieren. Unsere aktuell laufende Onlineumfrage zeigt den Trend, dass die Medienschaffenden in verschiedenen Punkten sogar bessere Regelungen wollen.

Verhandlungspartner wäre der Verband Schweizer Medien (VSM), der sogenannte Verlegerverband. Nach jahrelanger Diskussionssperre fasste dessen Kongress im vergangenen September den Beschluss, noch in diesem Jahr einen Vertragsentwurf auszuarbeiten. Was ist seither passiert?

Noch nichts. Dass es ein paar Monate dauern würde, war angekündigt, doch nun erwarten wir wirklich, dass es jetzt vorwärts geht. Deshalb läuft parallel dazu unsere Kampagne «Medien-GAV jetzt!», die wir Anfang März gestartet haben. Über diese Webplattform wollen wir primär zwei Dinge tun: Zum einen sensibilisieren, also zeigen, dass der GAV den Medienschaffenden in Print und Online ein Anliegen ist. Zum anderen läuft eine Onlineumfrage bei den JournalistInnen, um ihre Bedürfnisse zu eruieren.

Ist dem Entscheid des Verlegerverbands denn zu trauen? Im Jahr 2013 liess dessen Präsident Hanspeter Lebrument eine Vereinbarung mit dem Journalistenverband Impressum nämlich kurz vor Abschluss platzen.

Wir müssen und wollen davon ausgehen. Es ist immerhin so, dass am Verlegerkongress im vergangenen Herbst doch ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Eine kleine Wende, nachdem man zwölf Jahre lang das Wort «Arbeitsbedingungen» nicht in den Mund genommen hat. Die Mitglieder des Verbandes haben ihrer Führung nun den Auftrag gegeben, einen GAV zu finden. Das heisst: Wir nehmen sie beim Wort.

Wie will die Gewerkschaft die VerlegerInnen sonst dazu bringen, einzulenken?

Es gibt einen gewissen Druck. Wir spüren ihn schon lange seitens unserer Mitglieder, aus den Redaktionen und von den freien JournalistInnen. Das hat sich jedoch bislang zu wenig manifestiert. Ich bin aber guter Dinge: Wir sind nun in Kontakt mit verschiedenen Personalkommissionen, mit Gruppierungen von Freien sowie mit Sektionen. Und jetzt, mit unserer Kampagnenplattform und mit Aktionen, die folgen werden müssen, werden wir hoffentlich einen grossen Schritt vorwärts machen. Ich bin überzeugt, dass es einen Ruck geben wird, wenn man etwas erreichen will. Wir können diesen Ruck initiieren, aber kommen muss er von den Medienschaffenden. Ob das auf den nächsten September geschehen wird, weiss ich nicht. Wir tun alles auf unserer Seite dazu. Aber wir wollen lieber eine gute Lösung, als irgendetwas über das Knie zu brechen.

Syndicom hat nicht nur mit den VerlegerInnen zu kämpfen. Die Mitgliederzahlen sinken, langjährige Aktive wenden sich enttäuscht ab, personelle Abgänge sorgen für Gesprächsstoff, es kursieren Gerüchte über eine erneute Fusion. Ist Ihre Gewerkschaft überhaupt stark genug, um gegen die UnternehmerInnen anzukommen?

Ja, ich denke schon. Syndicom ist gross, noch immer, und umfasst verschiedene Bereiche. Ich kann hauptsächlich für die Branche «Presse und elektronische Medien» sprechen und dort haben wir langjährige Aktive mit einer gesunden Mischung an neuen Personen. Gerade bei den aktiven Gremien stehen wir gut da. Bei den Mitgliedern haben wir effektiv seit der Fusion von 2011 einen Rückgang, netto. Das heisst: Die Beitritte können die Austritte nicht egalisieren. Doch wir sehen seit Anfang Jahr eine kleine Trendwende und ich bin zuversichtlich, was die Mitgliederzahl anbelangt – dass wir diesen Rank schaffen. Von einer neuen Fusion reden wir nicht, sondern von der Suche nach einer engeren Kooperation zwischen den Gewerkschaften und Verbänden, die Medienschaffende organisieren.

Weitere Informationen zur aktuellen GAV-Kampagne unter: www.mediengav.ch

 

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