Muzzaffer Acunbay ist frei!

SoliaktionErfolgreiche Protestbewegung gegen die Ausschaffung eines anerkannten Flüchtling

Griechenland schafft den anerkannten Flüchtling nicht an die Türkei aus. Die griechischen Behörden haben endlich entschieden: Der anerkannte Flüchtling wird nicht an sein Heimatland die Türkei verschleppt. Europaweit solidarisierten sich Menschen mit Muzaffer Acunbay. In Hamburg, Athen, Zürich und in Bern kam es in den vergangenen Monaten wiederholt zu Demonstrationen, welche die Freilassung von Acunbay forderten. Der Fall Acunbay zeigt den schlechten Schutz von politischen Flüchtlingen durch die Schweiz beispielhaft auf.

Muzaffer Acunbay ist seit mehr als zehn Jahren politisch anerkannter Flüchtling in der Schweiz. In den 1990er Jahren wurde er aufgrund seiner politischen Aktivitäten in der Türkei verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einem langen Hungerstreik kam Acunbay vorläufig frei und floh in die Schweiz. Seither fahndet die Türkei über Interpol nach ihm.

Im Sommer 2014 verbrachte Acunbay – nach Abklärungen mit den Schweizer Behörden am 14. April 2014 – seine Ferien in Griechenland. Dort nahmen ihn die griechischen Behörden fest und ordneten eine Ausschaffung in die Türkei an. Die Schweiz hat nur eingeschränkt Zugriff auf internationale Fahndungsdatenbanken. In seiner Antwort auf eine Frage von Balthasar Glättli gibt der Bundesrat zu, dass „das Fedpol keine umfassende Kenntnis aller internationalen Fahndungsersuchen und sonstigen Ausschreibungen habe“ . Dieser eingeschränkte Zugang kann, wie sich nun zeigt, Menschenleben gefährden. Die Schweiz müsste deshalb gewährleisten können, dass anerkannte Flüchtlinge automatisch von der Interpol-Datenbank gelöscht werden, sofern dies nicht die internationale öffentliche Sicherheit gefährdet.

Nach einem Rekurs stand am 13. Februar 2015 die höchstinstanzliche Verhandlung in Griechenland an. Diese wurde auf den 20. Februar verschoben. Grund war, dass die griechischen Behörden einen eindeutigen schriftlichen Beweis wollten, dass Acunbay in der Schweiz politisch anerkannter Flüchtling sei. Gegenüber dem Komitee FREIHEIT FÜR MUZAFFER ACUNBAY bestätigten die schweizer Behörden, dass bereits vor Monaten diplomatische Noten des SEMs und des EDA nach Griechenland geschickt wurden. Ob dies stimmt ist offen. Inakzeptabler Fakt ist jedoch, dass die bürokratischen Umstände zwischen der Schweiz und Griechenland unklar sind. Dies führte dazu, dass Acunbay seit Juni 2014 in einem griechischen Gefängnis verharren muss.

Letzte Woche nun erhielten die Richter, die von ihnen benötigten Dokumente. Sie entschieden am 20. Februar 2015: Keine Auslieferung Acunbays an die Türkei. Morgen Dienstag wird Acunbay voraussichtlich aus der Haft entlassen und kann in die Schweiz zurückkehren.

Aus dem Newsletter von solidarités sans frontières

Degradierung zur KonsumentIn

medicine2Im Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen geht es in der Öffentlichkeit primär um die Kosten und KostenverursacherInnen. Die Benennung jener geschieht nicht zuletzt auf subtile Art und Weise auf der sprachlichen Ebene und führt so zu einer Entsolidarisierung in der Gesellschaft und zum Verlust der Fähigkeit, Kämpfe zu sehen. Wenn heute über Gesundheit und Krankheit sowie Pflege diskutiert oder geschrieben wird, geht es ausschliesslich um Kosten, Finanzierung und vor allen um – «zu teuer». Die Vorstellung, dass eine gute Gesundheitsversorgung (für wenig Verdienende gratis) kosten und vom Gemeinwesen bezahlt werden soll, hat sich auch aus linken Debatten verabschiedet. Die Fixierung auf PatientInnen als KostenverursacherInnen soll durch Umbenennungen in den Köpfen verankert werden: von PatientInnen zu KundInnen und KlientInnen. Vorbereitet wird damit ein weiterer Schritt zur Entsolidarisierung der Bevölkerung, ein Ausdehnen der «JedeR gegen JedeR»-Mentalität zugunsten der neoliberalen Strategie, die Finanzierung der Gesundheitsversorgung an Private zu übergeben bzw. aus staatlicher Sicht, ganz abzuschaffen.

KlientInnen und Kunden

Das Benennen von Patientinnen als Kundinnen/Klientinnen suggeriert eine Wahlmöglichkeit, die es bei Krankheit nicht gibt! Worte wie «Bedarf» und «Bedürfnisse» unterscheiden zwischen einer Minimalvariante, die als «legitim» erscheint, und einem übertriebenen Anspruch von PatientInnen als Kostenfaktor. Was dabei als bedarfsgerecht bezeichnet wird, variiert nach aktueller Doktrin. Vor einigen Jahren galt es noch als erstrebenswert, eine ganzheitliche Pflege zu bieten. Heute wird es von Pflegeleitungen öffentlich als ein (Kosten-) Problem genannt, dass auf Pflege angewiesene immer mehr Ansprüche erheben und sich Pflegende zu wenig abgrenzen können. Ist es denn wirklich so übertrieben, dass Menschen in einer Krisensituation, was eine Krankheit immer ist, nicht nur technisch, sondern auch persönlich gut betreut werden?

Der Gesundheitswahn

Der Gesundheitswahn, der seit Jahren immer mehr zunimmt, ist zu einem lukrativen Markt geworden. Die Angebote, sich innerlich und äusserlich «gesund/fit/jung/schlank» zu halten, sind enorm. So wird fleissig gewellnesst, gefittet, gewässert, gefastet. Wo das nicht mehr reicht, dürfen wir uns vertrauensvoll der plastischen Chirurgie zuwenden. Denn genau da sind wir als «Kundinnen» sehr willkommen. Das Herumschnippeln an Frauenkörpern wird vom Modetrend zur «Normalität». Zur Norm werden soll dabei nicht ein freundlicher Blick auf den eigenen Körper mit verschiedensten Formen, Falten und Unebenheiten, sondern der Blick aus patriarchaler Perspektive, der ausschliesslich Männerphantasien bedient. Das Monopol der Normierung ist dabei fest in Männerhand. Dass es Frauen gibt, die da mitmachen, heisst, dass sie diese patriarchalen Vorgaben bereits verinnerlicht haben. Setzen wir dem unsere wilden Andersgeformtheiten entgegen! Die ausschliessliche Beschäftigung mit sich selbst hat aber nicht nur eine absolute Vereinzelung zur Folge, sondern sie verändert generell unsere Haltung zu Normal/Aus der Norm, Gesund/Krank und kranken Menschen gegenüber. Mit aggressiven Kampagnen wie gegen RaucherInnen und Übergewichtige, durch die vermeintlich aufgezeigt wird, was falsches Verhalten kostet, wird die Entsolidarisierung geschürt. Wenn Krankheit aber nur noch als «selbstgemacht», das heisst als etwas wahrgenommen wird, das Frau bekommt, weil sie etwas zu viel oder zu wenig, oder das Falsche getan oder nicht getan hat, heisst das, dass Gesunde sich über Kranke stellen. Denn offensichtlich haben sich diese richtig verhalten, während jene ein Fehlverhalten an den Tag legen. Was genau dieses richtige Verhalten sein könnte, verändert sich alle paar Jahre, weshalb es sowieso KeineR gelingt, alles richtig zu machen. Was bleibt, ist aber die eigene Schuld, das Unmögliche nicht möglich zu machen.

Aufruf zur Selbstverantwortung

«Selbst» ist das Zauberwort des Neoliberalismus. Gemeint ist «Selbst»optimierung, «Selbst»unterwerfung, «Selbst»verantwortung bis hin zur «Selbst»verblödung. Die Liste der «Selbst» kann beliebig verlängert werden. Nehmen wir den Aufruf zur Selbstbestimmung aber ernst, stossen wir schnell an die Grenzen dessen, was gewünscht wird: «Erlaubt ist, was nicht stört», was also die kapitalistische Bereicherungs- und Ausbeutungspolitik nicht stört. Und die wird gestört durch den Aufbau von kollektiven Widerständen gegen Individualisierung, Verinnerlichung von Dispositiven und dem grossen «Selbst». Deshalb: Setzen wir der neoliberalen Strategie der Vereinzelung unser solidarisches Antiselbst entgegen!

Solidarität und Kämpfe

Das sind nur Beispiele, wie unsere Fähigkeit, solidarisch zu denken und zu handeln, abhandengekommen ist. Ohne solidarisches Denken in unserem eigenen Umfeld, verlieren wir auch die Fähigkeit, Kämpfe zu sehen, die weltweit geführt werden und die uns zeigen, dass es viele Menschen gibt, die sich gegen Kapitalismus und neoliberale Indoktrinierung organisieren und kämpfen.

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Die Revolution in Rojava ist die Revolution der Frau

KobanêWo anfangen, um den Stimmen der Frauen und Frauenbefreiungsbewegung in Kurdistan Gehör zu verschaffen, zur Solidarität mit dem kurdischen Freiheitskampf und für Frauenbefreiung international aufzurufen und gegen Rassismus und europäische und andere «westliche» Kriegstreiber die Stimme zu erheben?! Das fragten sich autonome Feministinnen aus Wien und schrieben dazu eine Broschüre. Wir veröffentlichen hier in leicht gekürzte Fassung die Abschnitte über die Hintergründe der Revolution.

Die Revolution begann in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 in Kobanê. Die Selbstverteidigungseinheiten der YPG nahmen die Strassen, die in die Stadt hinein- und hinausführen unter ihre Kontrolle. Die Bevölkerung setzte zeitgleich die Belagerung und Einnahme aller staatlichen Institutionen der Stadt ein. Schliesslich versammelte sich die Bevölkerung vor dem Militärstützpunkt der Assad-Armee in Kobanê. Eine Delegation aus der Bevölkerung ging hinein, um mit dem Militär zu verhandeln. Sie sollten ihre Waffen abgeben und man werde für ihre Sicherheit garantieren, das war das Angebot der kurdischen Seite.

Frauenbewegung, Frauenräte und Frauenzentren

Unter diesen Umständen haben sich die Frauen organisiert, aus der langjährigen Überzeugung, dass die Revolution ohne Befreiung der Frauen nicht möglich ist. Delsha Osman, Mitglied der Koordination der Yekitîya Star: «Wir können die Situation in Westkurdistan und Syrien nicht losgelöst von den Entwicklungen im Mittleren Osten und in Nordafrika betrachten. Auch viele Frauen haben sich an diesen Aufständen (…) mit grossen Hoffnungen und Emotionen beteiligt. Allerdings waren sie nicht organisiert. Deshalb konnten sie ihre Forderungen nicht durchsetzen und wurden vereinzelt aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt. Demgegenüber können Frauen in Westkurdistan heute auf die Analysen und die 30jährige Erfahrung der Organisierung der kurdischen Befreiungsbewegung zurückgreifen. Das war die Grundlage, die den Weg dafür geöffnet hat, dass wir unter dem Namen ‚Yekitîya Star‘ im Jahr 2005 unsere eigene Organisierung aufbauen konnten. Yekitîya Star ist zu einer neuen Identität geworden, über die sich Frauen definieren und organisieren können. Die Zielsetzung von Yekitîya Star ist es, eine demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft aufzubauen und als Frauen eine treibende und gestaltende Kraft in diesem Prozess zu sein.»

«Früher konnten wir als Frauen nicht am öffentlichen Leben teilnehmen. Entweder stand uns unser Vater oder unser grosser Bruder im Weg», sagt Zeynep Muhammed, eine Koordinatorin der Yekitiya Star. In Rojava sind die Frauen heute eine treibende Kraft in der Rätedemokratie, denn «die Frau kann in den Bereichen, in denen sie organisiert ist, die männliche Dominanz hinterfragen und bekämpfen», sagt eine kurdische Aktivistin. Sie organisieren sich eigenständig, bauen Frauenräte und Frauenzentren in den befreiten Kommunen und Städten auf und spielen eine tragende Rolle in den allgemeinen Strukturen, bei denen eine vierzigprozentige Geschlechterquote gilt und die über eine geschlechterparitätische «Doppelspitze» verfügt.

In den Stadtteilen und Dörfern werden Frauenräte organisiert, die Frauenkommunen. Aus Vertreterinnen der Frauenkommunen setzt sich der Frauen-Stadtrat zusammen und dies entsendt Delegierte an den Frauenrat des Kantons. Zuletzt gibt es noch eine Frauenkoordination, die sich aus den Frauen der drei Frauenräte der Kantone zusammensetzt. «Die Frauenräte sind das verbindende und beschlussfassende Gremium aller Frauen (…) Nuha Mahmud erklärt zum Beispiel, dass auch zahlreiche arabische und christliche Frauen sich an den Rat wenden, zum Beispiel wenn die Frauen den Wunsch haben sich scheiden zu lassen. (…) [auch aufgrund] sexueller Gewalt wenden sie sich an Räte. (…) Frauen, die vergewaltigt wurden, [werden] oft von ihren Familien verstossen, manchmal sogar ermordet. Daher hätten Frauen logischerweise oft geschwiegen, nun sieht es anders aus», schreibt Anja Flach.

Patriarchale Praktiken überwinden

Die Frauen bauen ihre eigenen Frauenbildungseinrichtungen und Frauenzentren auf. Delsha Osman sagt: «Dutzende Frauen konnten vor dem Tod bewahrt werden. Es wurde verhindert, dass sie Opfer von ‚Ehrenmorden‘ werden. In diesen Häusern finden Frauen Solidarität und Unterstützung.» Zusätzlich gibt es ein wöchentliches Bildungsangebot für die Frauen zu Themen wie den gesellschaftlichen Sexismus, die Geschichte der Frau, die demokratische Autonomie oder die legitime Selbstverteidigung.

Die Yekitîya Star konnte wichtige Beschlüsse auf der Konferenz des Volksrates durchsetzen: Morde «im Namen der Ehre» werden als Verbrechen gegen Frauen und die Gesellschaft verurteilt und bestraft. Patriarchale Praktiken, wie die Verheiratung im jungem Alter, arrangierte Ehen bei der Geburt, Zwangsverheiratung usw., werden geächtet und nicht akzeptiert. Verheiratete Männer, die zusätzlich eine weitere Frau heiraten, werden aus allen Organisationen und Gremien ausgeschlossen. Für die «Frauenarbeit» als Frauenorganisierung für Frauenbefreiung gilt eine gemeinsame Verantwortung. Zum Beispiel können Männer die Frauenarbeit unterstützen, indem sie sich mit sich selbst auseinandersetzen und ihre patriarchalen Denk- und Verhaltensweisen überwinden. Gleichzeitig baut die Yekitîya Star eine Zusammenarbeit mit Frauen anderer Bevölkerungsgruppen auf. «Wir haben gemeinsame Plattformen mit arabischen, assyrischen und ezidischen Frauen sowie Beziehungen zu verschiedenen Frauen und Frauenorganisationen aufgebaut. Ein wichtiges Anliegen ist es hierbei, ein demokratisches Zusammenleben aller Volksgruppen und Religionen mit ihrer eigenen Identität zu verwirklichen, sowie Nationalismus und religiösen Spaltungen entgegenzuwirken», so Delsha Osman.

Neuer Gesellschaftsvertrag

Die Selbstverwaltung durch Rätedemokratie wird mit Volksräten, Frauenräten, Räten von Bevölkerungs- und religiösen Gruppen aufgebaut. Die unterste Organisationsstruktur ist die Kommune, die meist aus 30 bis 150 Haushalten besteht. Die nächsthöhere Organisationsstruktur ist in einem Stadtteil bzw. in einer Dörfergemeinschaft, die etwa sieben bis zehn Dörfer umfasst, dann folgt die Organisierung auf Kommunalebene und in Kantonen. Den Räten sind Komitees angegliedert.

Auf die Bildung der Bevölkerung wird besonderen Wert gelegt. «Alle Mitglieder der Komitees und der Verwaltung nehmen an der Ausbildung in den allgemeinen Volksakademien teil, wo das neue Paradigma detailliert erläutert wird. Zudem findet Unterricht statt zu Themen wie demokratische Kultur und Volksverwaltung. Für die Bevölkerung selbst gibt es in den Stadtteilen und den Dörfern regelmässig Seminare und Diskussionsrunden. Und in regelmässigen Abständen organisieren wir Volksversammlungen. Dort wird über die politische Situation und über Lösungen für gesellschaftliche Probleme diskutiert. Wir nehmen die Kritik, Vorschläge und Bewertungen aus der Bevölkerung sehr ernst», sagt Asya Abdullah von der PYD.

Alle Bedürfnisse der Bevölkerung, von Gesundheit bis Sicherheit, werden durch die Komitees abgedeckt. Aber es gibt natürlich auch Einschränkungen, Engpässe und Schwierigkeiten, vor allem durch die Kriegssituation in Syrien, aber auch durch das Embargo – unter anderen von der Türkei und der Regionalregierung in Südkurdistan (im Nordirak).

Für eine kollektive Ökonomie

Dara Kurdaxi, Wirtschaftswissenschaftlerin und Vertreterin des Komitees für wirtschaftliche Belebung und Entwicklung von Afrîn: «Es soll kein kapitalistisches System sein, das seiner Umwelt keinen Respekt zollt; und auch kein System, das die Klassenwidersprüche fortsetzt und letzten Endes nur dem Kapital dient». Das Wirtschaftsmodell Rojavas sei eine Antwort auf den Neoliberalismus der kapitalistischen Moderne und eine Kritik am Staatskapitalismus realsozialistischer Prägung. Eine volksnahe Wirtschaft sollte deshalb auf Umverteilung und Nutzorientierung beruhen, statt sich ausschliesslich an der Anhäufung und am Raub von Mehrwert und Mehrprodukt zu orientieren. Das Modell Rojavas soll ein Modell für den ganzen Mittleren Osten sein.

Eine besondere Bedeutung hat das neue Rechtssystem. Auf der untersten Ebene arbeiten die «Friedens- und Konsenskomitees», die in den Dörfern und Stadtteilen gebildet wurden. Damit wird eine traditionelle Struktur der «Ältestenräte» aufgebaut, aber mit den Werten des Gesellschaftsvertrages von Rojava gefüllt, in dem Rätedemokratie, Geschlechterbefreiung und Menschenrechte festgeschrieben stehen. Auf der Kommunalebene besteht eine Doppelstruktur dieser Komitees, ein allgemeines Komitee und ein Frauenkomitee, das für Fälle von patriarchaler Gewalt, Zwangsehe, Mehrehe, Vergewaltigung etc. zuständig ist. Diese Frauenkomitees sind direkt an die Yekitîya Star angebunden und sollen garantieren, dass sich in Fällen patriarchaler Gewalt nicht patriarchale Rechtsbesprechung durchsetzt.

Das Recht auf Selbstverteidigung

Der kurdische Freiheitskampf sieht seit Ende der 90er Jahren, nach ausführlichen Diskussionen, nicht mehr den «Volkskrieg zur Befreiung von Kolonialherrschaft», als strategisches Konzept, sondern die «Legitime Selbstverteidigung». Diese beinhaltet eine soziale Revolution und internationale Perspektive und hat zum Ziel die Selbstorganisierung der Bevölkerung zu verteidigen und zu schützen. «Die Organisierung von Selbstverteidigungskräften ist eine grundlegende Voraussetzung, um gegen jede Form von Unterdrückung, Fremdbestimmung und Herrschaft einen eigenen Willen und Entscheidungskraft entwickeln zu können. Damit ist die Fähigkeit zur Selbstverteidigung das Fundament der Selbstbestimmung», sagt Hevala Servin, feministische Internationalistin im kurdischen Freiheitskampf. Die Frauenbefreiungsbewegung Kurdistans schreibt 2010: «In der sexistische Gesellschaft, in der wir leben, stellt nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft eine Quelle der Gewalt dar. In dieser Situation können Frauen, die keine Verteidigungsmöglichkeiten haben, in jedem Land und in jeder Kultur leicht zum Ziel von Gewalt werden.» Sie sehen Selbstverteidigung als eine wichtige Grundlage für die Frauenbewegung.

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Lang leben die Frauenkämpfe hier und international!

2014_03_08_frauenkampftag2_fWir widmen den Internationalen Frauenkampftag 2015 der Frauenrevolution in Rojava, dem Widerstand der Frauenverteidigungseinheiten YPJ und allen kämpfenden Frauen der Welt. Den gefallenen und lebenden, den eingesperrten und freien Frauen, die um die Befreiung aller von Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen, ihnen allen gilt unsere Verbundenheit und unsere Erinnerung. Es gibt dieses Jahr eine Demo für Lohngleichheit in Bern, die von den Gewerkschaften, den grossen Frauenverbänden und Parteien organisiert wird. Warum also noch eine Frauendemo in Zürich? Warum nicht nach Bern? Weil grosse inhaltliche Differenzen bestehen. So wird für eine gemischte Demo aufgerufen. Ausserdem ist der 8. März für uns Internationaler Frauen-kampf-tag. International soll auch unsere Perspektive sein, wohingegen der Inhalt der Demo in Bern einzig die Lohngleichheit ist. Dies unter Teilnahme der FDP, CVP und SP, die Verantwortung für neoliberale Sparprogramme und Privatisierungen tragen sowie für die Einführung der rassistischen Zwangsmassnahmen im AusländerInnenrecht vor nun 20 Jahren. Es ist Wahlkampf, die Parteien wollen sich profilieren und geben sehr viel Geld dafür aus. Trotz Gratis-Zug: Ohne uns!

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist eine richtige Forderung. Doch für sich allein stellt sie die Perspektive weisser Mittelklassefrauen ins Zentrum und verschweigt die anderen Unterschiede, die grundlegend sind dafür, wer welchen Lohn erhält: «Bessere» Ausbildung oder gar keine, legale oder illegale Arbeitsverhältnisse, Produktions- oder Reproduktionsarbeit, bezahlte oder unbezahlte Arbeit, mit rotem Pass oder mit der Polizei im Nacken… Es geht in Bern nicht um einen Arbeitskampf, sondern nur um Teilhabe, um ein grösseres Stück des Kuchens für die Privilegierten.

So werden Spaltungen zementiert: Weisse Mittelklassefrauen leisten verhältnismässig gut bezahlte Lohnarbeit, feilen an ihren Karrieren und stellen eine Putzfrau an, da sie sich nicht mit ihren Lebenspartner über die Reproduktionsarbeit streiten wollen. Diese Arbeit wird also ausgelagert, meist an Migrantinnen (die erst eine Generation später vielleicht an einer Karriere feilen dürfen). Was individuell eine pragmatische Lösung zu sein scheint, ist letztlich eine Niederlage feministischer Kämpfe. Keine Kollektivierung von Arbeiten, keine Sprengung der klassischen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern.

Frauen kämpfen!

Gerade an der Geschichte des 8. März zeigt sich, wie langsam sich Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse auflösen lassen. Es braucht die Kraft und den revolutionären Mut von tausenden von Frauen überall auf der Welt, um die bestehenden patriarchalen und kapitalistischen Verhältnisse zu ändern. Wir sehen uns verankert in einer langen Geschichte von feministischen, revolutionären und emanzipatorischen Kämpfen und wissen, dass diese Kämpfe noch nicht zu Ende gekämpft sind. Wie es unsere kurdischen Genossinnen in ihrem diesjährigen Aufruf treffend sagen: «Am 8. März 2015, 104 Jahre nach der Ausrufung des Internationalen Frauentages, kämpfen Frauen auf der ganzen Welt noch immer gegen das patriarchale Herrschaftssystem. In Erinnerung an die Textilarbeiterinnen in New York, die in ihrem Widerstand ihr Leben ließen, wurde auf der 2. Internationalen Frauenkonferenz 1910, auf Vorschlag Clara Zetkins, der 8. März als Symbol für Frauenkampf und -widerstand verankert. Diese Bewegung, dieser Aufschrei widerhallt noch immer auf den Strassen. Die Revolution gegen Ungleichheit, Sexismus und jede Form der Gewalt hat sich bis heute ausgeweitet und ist weiterhin Verteidigerin aller menschlichen Werte.»

Obwohl weltweit vieles erreicht wurde durch kämpfende Frauen, sind auch immer wieder Rückschläge und Niederlagen zu verzeichnen. Wir sind uns schmerzlich bewusst, dass hier in der Schweiz viele Frauen denken, es gäbe nichts mehr wofür es sich zu kämpfen lohne. Denn immerhin können einige (wenige) Frauen gar Bundesrätinnen oder Managerinnen werden und (fast) alle können ihr Glück im Konsum finden und Karriere und Kinder und Party mit etwas Geschick auf die Reihe kriegen und sich dabei selbst optimieren. Wenn frau sich nur genug Mühe gibt, lebt sie hier in der besten aller Welten…

Der individualistischen, neoliberalen Propaganda, die täglich über alle Kanäle, Zeitungen und Smartphones verbreitet wird, setzen wir unsern solidarischen und internationalistischen Kampf entgegen. Darum widmen wir den 8. März 2015 den Frauenverteidigungseinheiten der YPJ. In Rojava wird versucht mitten im Krieg eine emanzipatorische Gesellschaft zu erschaffen, in der die Frauen sich von patriarchaler, religiös und moralisch legitimierter Gewalt und Herrschaft befreien und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Sie tun dies selbstbestimmt und greifen dabei zu den Waffen. Was ihnen ausnahmsweise zu viel Öffentlichkeit verhilft.

… hier und international!

Wir möchten dabei aber nicht jene kämpfenden Frauen vergessen, die weniger oder gar keinen Platz in den Schlagzeilen der bürgerlichen Medien erhalten.

So organisieren sich beispielsweise die Textilarbeiterinnen in Bangladesh und Kambodscha, unter massiven Angriffen der Polizei, in massenhaften Arbeitskämpfen; in Indien gingen Mitte Februar 100000 Frauen gegen die Privatisierung von Kinderkrippen auf die Strasse; auch in der Schweiz gab es Streiks von Verkäuferinnen und von Pflegearbeiterinnen. Vielerorts kämpfen Frauen gegen die Kriminalisierung der Sexarbeit. Auf allen Kontinenten mobilisieren sich Frauen gegen die anhaltende sexualisierte und physische Gewalt gegen Frauen, für die Selbstbestimmung über Körper und Psyche, für das Recht auf Abtreibung und gegen kolonialistische Bevölkerungspolitik.

Unter anderem in Indien, Mexico, Kolumbien und auf den Philippinen kämpfen Frauen in linken Guerillas um die Befreiung und Würde der Unterklassen, um die Rechte der Indigenen und gegen die Zerstörung und den Raub des Landes. In vielen verschiedenen Kämpfen nehmen Frauen eine zentrale Rolle ein: In den Kämpfen gegen Zwangsräumungen und Vertreibung der Armen aus den Städten, in den Kämpfen um das Territorium und den Schutz der Natur, wie im Val Susa gegen den Hochgeschwindigkeitszug (TAV) oder gegen die Keystone-Ölpipeline durch Kanada und die USA. Auch im Kampf gegen die mörderische rassistische Asylpolitik in Europa oder gegen die rassistische Polizeigewalt in den USA. Unsere Solidarität allen kämpfenden Frauen! Venceremos!

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Syriza in den Startlöchern

crimeDer Athener Genosse Spyros Dapergolas beschreibt in diesem Artikel für die Zeitung Internationell Solidaritet der schwedischen syndikalistischen Gewerkschaft SAC, wie revolutionär die Pasok einst war, wie Syriza tickt und was von ihr erwartet werden kann. Der Text erschien noch am Vortag der Wahlen und liegt hier übersetzt vor. 

Der 18. Oktober 1981 war ein symbolischer Tag für das Nachkriegs-Griechenland. Nicht einmal sieben Jahre nach der Rückkehr griechischer Linker aus dem Exil und nach den Folterungen, die auf den Fall der Militärjunta folgten, schaffte es eine linke Partei plötzlich, ihre Wählerprozente zu multiplizieren und die Macht zu ergreifen. Ihr politisches Programm schreckte die rechten Kräfte der griechischen Gesellschaft (die GewinnerInnen des griechischen Bürgerkriegs), wie auch Teile der Oberschicht auf. Das Programm der Partei beinhaltete etwa den Austritt Griechenlands aus der Europäischen Gemeinschaft, die Loslösung von der NATO und der US-Einflusssphäre, eine massenhafte Sozialisierung von Unternehmen und gesellschaftliche Kontrolle in Fabriken, eine Auflösung/Desintegration des militärischen Parastaates, eine Attacke auf die rechtsaussen stehende orthodoxe Kirche sowie Freiheiten, die heute selbstverständlich sind. Die Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) war eine wirkliche Linkspartei, die eine friedliche sozialistische Transformation propagierte (und für den Notfall dennoch Gewehre hortete). Sie war eine radikale Partei, selbst für die 1980er-Jahre. Die Parallelen mit Syriza sind offensichtlich.

Was ist Syriza?

Syriza startet als eigenartige Sammlung. Sie ist die Evolution einer abscheulich vulgären und reformistischen, historischen eurokommunistischen Strömung, in der linke Gruppen des gesamten Spektrums – von leninistischen KetzerInnen bis zu den Basisbewegungen und anderen AktivistInnen – koexistieren. Syriza «wird aus dem Nichts kommend alles», genau wie damals die Pasok. Aber verglichen zur Pasok, transformiert sich Syriza schneller, ihr politisches Programm ist nie so radikal, wie jenes von Pasok in den 1980er, zudem besteht Syriza nur aus ein paar Tausend Mitgliedern.

Die Machtübernahme in der Syriza durch Tsipras – er war der Auserwählte des früheren Parteichefs – im Jahr 2008 bedeutete die Aufgabe des Eurokommunismus und die Schaffung einer neuen politischen Identität. Mit einer Rhetorik, die mit der libertären Tradition flirtet, mit einer Fixierung auf politische Rechte und mit einer Mitglieder-Präsenz auf der Strasse, zielte diese neue Identität darauf ab, soziale Kämpfe und Forderungen zu unterstützen. Schliesslich brachten die linken Parteien ihre Erfahrungen in Kämpfen der Strasse sowie eine kleinere Anzahl kämpferischer Mitglieder mit, für welche die erwähnte Neuorientierung für eine gewisse Einheitsbildung notwendig war.

Keine linke Einheitspartei

Zur selben Zeit versuchte Tsipras, den Einfluss von Syriza in den Gewerkschaften zu mehren, dies hauptsächlich im öffentlichen Sektor und unter den organisierten Studierenden der Universitäten. Zusätzlich propagierte Syriza, welche damals nicht mehr als 4 Prozent der WählerInnen hinter sich hatte, kontinuierlich die generelle und emotionale Einheit des gesamten linken Spektrums in Griechenland, auch wenn dies zuvor sowohl von der Griechischen Kommunistischen Partei (KKE), als auch von anderen linken Kräften ausserhalb der Syriza offen abgelehnt worden war.

Ferner musste die 4-Prozent-Partei als Sündenbock für das gesamte rechte und faschistische Spektrum herhalten: Syrizas einwanderungsfreundlichen Positionen, ihre relativ säkularen Ideen, ihre Polemiken gegen die sozialen Diskriminierungen und ihr Antinationalismus standen unter ständigem und manchmal hysterischem Beschuss.

Diese alte Syriza zog eine riesige Wählerdynamik auf sich, welche die Parteikader niemals vorhersagen oder planen hätten können. Von einer Oppositionspartei, die sich bemühte, die für den Parlamentseinzug nötige 3-Prozenthürde zu erreichen, wandelte sich Syriza zu einer Partei, welche die KKE weit überholte, die symbolische Hegemonie in der Linken übernahm und mit der Machtübernahme zu liebäugeln begann.

Einige Worte zum politischen Klima

In Griechenland erlebten die ArbeiterInnen das Ende des Traumes der Prosperität und wurden Zeugen der Lüge hinter den systematischen Versprechen der EU und Griechenland. Die ArbeiterInnen sahen sich mit Arbeitslosigkeit oder mit viel tieferen Löhnen konfrontiert, gezwungen, für ihre Gesundheit zu zahlen, und gleichzeitig Leistungen zu verlieren.

Für die Älteren ist die Situation noch schlechter, da sie nicht nur ihre Renten verlieren, sondern auch von dem verschlechterten Gesundheitswesen abhängig sind. Alles was den «Wohlfahrtsstaat» ausmachte, schrumpfte, wurde teurer und schlechter. Die allgemeine Korruption war aufgeteilt. In diesem Rahmen diente die Korruption, die unter den Leuten der gesellschaftlichen Basis gefunden werden konnte, als Alibi für massenhafte Kürzungen bei Sozialleistungen. Ging es jedoch um die bourgeoise oder staatliche Korruption, blieben die Mitglieder der oberen Klasse unangetastet.

Die zwei früheren grossen Parlamentsparteien (Pasok und Neue Demokratie) wurden schwerwiegend entwertet. Da diese nicht länger Stimmen «kaufen» können durch simple «Austausche» (etwa Anstellungen im öffentlichen Sektor oder Steuerreduktionen) und zugleich versuchen, so viel zurückzunehmen wie sie durch ihren politischen Klientelismus weggegeben haben, sind sie nur noch Schatten ihrer Vergangenheit.

Die rechte Neue Demokratie (ND) überlebte, weil sie genug Glück hatte, die Bombe des wirtschaftlichen Zusammenbruchs 2009 an die Pasok-Regierung weiterzugeben. ND war seit 2012 an der Regierung und sammelte eine heterogene Dynamik von WählerInnen, die rechtsaussen, konservativ, liberal, bourgeois oder oligarchisch waren. Doch auch politische Professionelle, verängstigte KleinbürgerInnen und ältere WählerInnen, die damit rechnen, dass sie nur noch wenige Jahre leben werden und deshalb nicht ihre Pensionen und ihren Frieden durch eine linke Regierung aufs Spiel setzen wollen, stehen hinter ND. Dennoch erreicht die Partei bloss die Hälfte der vergangenen parlamentarischen Stärke.

Der andere Pol des Zweiparteiensystems und Mitglied der Regierungskoalition, die Pasok, schrumpfte auf 4 Prozent und ist mit dem Risiko konfrontiert, nicht einmal ins Parlament einzuziehen, besonders angesichts der Abspaltung durch Papandreou vor einigen Wochen.

Die zwei Parteien, die von jenen profitieren werden, die entschieden haben, nicht mehr ND oder Pasok zu wählen, sind die FaschistInnen von der Goldenen Morgenröte und die Syriza. In ein paar Tagen, am 25. Januar, werden diese Dynamiken in den Wahlresultaten abzulesen sein.

Syriza ante portas

Die Geschichte von der Realpolitik, die jede radikale Kraft kreiert, sobald sie mit der Macht konfrontiert ist, wurde schon oft erzählt. Syriza ist noch nicht an diesem Punkt angelangt. Die aktuelle Realpolitik von Syriza ist es, es allen Recht zu machen. Sie propagiert ihre Verpflichtung zu den demokratischen Institutionen, während sie gleichzeitig ihre Verbindungen zu den Basisbewegungen rühmt. Freimütig unterstützt sie das Szenario des Verbleibs in der EU unter der Bedingung, dass letztere eine Union der Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit wird. Syriza predigt Basiskämpfe, will aber deren Dynamiken in Wählerzahlen reflektiert sehen. Sie verurteilt Gewalt und Brüche mit der Rechtsordnung während verschiedener Kämpfe, doch tut sie dies nur halbherzig. Sie verurteilt den Imperialismus und alle Arten von Interventionen, während sie zu Griechenlands Position in der NATO schweigt. Sie flirtet mit Russland, China und den USA. Es kursieren Gerüchte über Arrangements mit der besitzenden Klasse. Gleichzeitig unterstützt Syriza von Repression bedrohte anarchistische Besetzungen und anarchistische Hungerstreikende.

Syrizas Hauptanliegen ist alle zufrieden zu stimmen. Was sonst könnte sie tun, besonders da sie bloss daran interessiert ist, die Wahlen zu gewinnen?

Wir müssen uns einer Sache bewusst sein: Wenn wir von Syriza sprechen, verweisen wir auf eine politische Kraft, deren Wahl und soziale Dynamiken unausgeglichen sind. Wer denkt, dass Syriza in Griechenland oder in Europa wichtige sozialistische Änderungen einführt, peitscht ein totes Pferd.

Veränderung für aber ohne die Klasse?

Die notwendigen Bedingungen, die Radikalismen erlauben würden, sind schlicht nicht vorhanden: Das Gewerkschaftswesen im Privatsektor ist eine unbedeutende Bewegung, die von der KKE kontrolliert wird. Die Studierendenbewegung ist laut und bestimmt aber sie ist auch relativ klein, saisonal und hat einen Hang zum Linkspopulismus. Zwar gibt es ein paar lokale Kämpfe, doch wird Syriza auf diesem Gebiet ernsthaft von den AnarchistInnen und der revolutionären Linken herausgefordert. Selbst in den Bereichen der sozialen Rechte, der Solidarität mit Gefangenen und im Antifaschismus versucht Syriza verzweifelt, von der von AnarchistInnen auf der Strasse geschaffenen Medienaufmerksamkeit und von diesem politischen Kapital zu profitieren.

Die griechische Gesellschaft, die ArbeiterInnen, die soziale Basis gingen durch fünf harte Jahre, in denen sie alle Kampfmittel ausprobiert haben, die von früheren sozialen Konflikten und Kämpfen bekannt waren. Und es war ein totaler Reinfall. Mit wenigen Ausnahmen, die aktiv blieben (und diese werden Syriza in den Wahlen kaum unterstützen), sind die ArbeiterInnen isoliert zu Hause. Viele von ihnen warten auf Syriza mit einer schwachen Hoffnung.

Ist es in einer derart globalisierten Umgebung möglich, grössere Umbrüche ohne allgemeine soziale Unterstützung der Klasse voranzutreiben? Sind Veränderungen für die Massen ohne die Massen möglich? Nein, das ist unmöglich und die Aktiven in Syriza wissen das ganz genau.

Zweifelsohne gibt es ehrliche Kader in der Partei (und für die griechischen systemischen Gewohnheiten ist das selten). Es gibt in der Syriza erfahrene linke AktivistInnen, die sich nie an die Pasok verkauft haben, obwohl sie es gekonnt hätten, gutwillige Radikale aus den Nachbarschaften und Arbeitsstätten. Diese Leute kämpfen heute und morgen innerhalb der Partei für die ewige linke Illusion eines freien sozialistischen Staatswächters der ArbeiterInnenklasse. Klar ist es amüsant, zu beobachten, wie überraschter Ekel sich auf den Gesichtern der Rechtsextremen breitmacht angesichts des nahenden «Sieges der national-nihilistischen Bolschewiken». Es ist gut, dass sich mehr Menschen der repressiven Agenda des Faschismus widersetzen. All dies ist dennoch temporär.

Ein Teil der altgedienten Mitglieder der Pasok ist schon zu Syriza übergelaufen und greift, entlang den Überbleibseln der eurokommunistischen Tendenz, nach der Macht in der Partei, denn je näher diese an der Macht ist, desto weniger Platz bleibt für die «verrückten Linken». Diese Tendenz zeigt etwa der Fakt, dass sie beim Konflikt mit Deutschland und der EU über die Schulden- und Austeritätsmassnahmen bereits zurückkrebsen.

Kompromiss statt Umsturz

Zusätzlich müssen wir beachten, dass Syriza einen Staat zu regieren haben wird, in dem der bürokratische Mechanismus aus ehemaligen Pasok-Mitgliedern und der repressive Mechanismus, das heisst der tiefe Staat (Armee, Polizei und Justizsystem) aus Rechten und FaschistInnen bestehen. Wenn wir davon ausgehen, dass Syriza keine Junta etablieren kann, wie soll sie den Staat kontrollieren, wenn nicht durch Austausch und Verhandlungen mit diesen Akteuren?

Die alte radikale Syriza der 4 Prozent träumt noch immer von Umstürzen. Sie wollten, doch sie konnten nicht! Syriza bleibt nur der Kompromiss. Er ist das einzig mögliche Ziel auf dem Regierungsweg einer linken Partei, welche die Macht nicht mit Gewalt ergreifen will. Was bleibt, ist eine Partei, die nicht einmal organisierte Massen loyaler WählerInnen hinter sich hat. Die Regierungs-Syriza der 30 Prozent träumt vom Überleben an der Macht. Umstürze kann sie nicht herbeiführen, doch schlimmer ist, sie will auch nicht mehr umstürzen.

Was wird nach den Wahlen passieren?

In den ersten zwei Jahren nach 1981 realisierte Pasok, die aus mindestens 400 000 fanatischen Mitgliedern bestand, welche der Partei die Linie vorgaben, einige Punkte aus ihrem Programm. Sie erhöhte Löhne, etablierte Gewerkschaftsrechte und sozialisierte (heuchlerisch und von oben herab) ein paar Unternehmen, die eigentlich geschlossen werden sollten. Nach fünf Jahren an der Macht fokussierte Pasok nur noch darauf, im grossen Stil Linke im öffentlichen Sektor anzustellen, was zuvor 40 Jahre verboten war. Auch beendete sie einige mittelalterliche Gesetze und solche aus dem Bürgerkrieg. Als nächstes wurde die Partei sozialdemokratisch und dann liberal. Pasok tauchte in die Korruption ab und vor ein paar Jahren schliesslich öffnete sie Tür und Tor für die von der EU angeführten wirtschaftlichen Überwachung und die auferlegten Austeritätsmassnahmen.

Es gibt die Möglichkeit, dass Syriza diese Art der Parteievolution wiederholen wird, nur viel schneller und nicht in einem so grossen Umfang.

Eine mögliche erfolgreiche Verhandlung über die Schulden, eine essentielle Entlastung von der Austerität und was immer Positives Tsipras der griechischen Gesellschaft garantieren kann, wird als Sieg über die internationalen Kredithaie präsentiert werden, wird die Syriza in der Macht stärken und das alte politische Personal kaputtmachen.

Wenn man sie nicht ertragen müsste, wäre es extrem amüsant, dieses alte politische Personal nun zu beobachten: Sie haben Angst, sind parasitär, korrupt, religiös besessen und mit Bürgerkriegskomplexen versehrt, eine unglaubliche Kombination von NationalistInnen und KollaborateurInnen. Wenn der Kontrast zwischen der Regierung und Syriza riesig erscheint, so ist das, weil die gegenwärtige Regierung widerwärtig ist.

Deshalb wird Syriza, obwohl sie offensichtlich undurchsichtig ist, die Wahlen gewinnen. Wenn Syriza mit irgend etwas durchkommt, selbst mit einer kleinen Sache, wird das politisch für lange Zeit halten. Wenn sie scheitert, das heisst, wenn Deutschland als dominanter Staat in der EU beabsichtigt, mit Griechenland zu brechen, dann wird die Entwicklung der Ereignisse zweifelsohne völlig unvorhersehbar.

Es gibt nichts, das anzeigen kann, was in einem solchen Szenario die Reaktion der griechischen Gesellschaft sein wird. Nicht einmal, ob die Gesellschaft in eine emanzipatorische oder reaktionäre Richtung schreiten wird.

Was sollte geschehen?

Wenn es darum geht, ein intaktes Management der griechischen Schuldenkrise sowie dem Wahnsinn der Austerität zu bewerkstelligen, dann, ja, ist Syriza die Lösung. Das wäre eine fortschreitende systemische und beruhigende Lösung für den schrumpfenden «Mittelstand» wie auch für die kleinbürgerlichen Teile der griechischen Gesellschaft, welche die Illusion haben, dass all dies vorübergehend sei.

Für jene, die mehr wollen, für jene, die an ihrer Klasse interessiert sind, für jene, die nach Selbstorganisierung und Partizipation streben, für die Menschen der Kämpfe aller Sorten ist Syriza eine Illlusion. Es ist nicht Syrizas Fehler, dass die ausgebeutete Gesellschaft ruhig ist. Und es ist nicht Syrizas Fehler, wenn die neue Generation dem Parlamentarismus und dem Unsinn linker Herrschaft verfällt.

Es ist ein langer Weg und er verlangt viel Arbeit an der Basis: Die Verbindung der ArbeiterInnen mit den Gemeinplätzen durch einen militanten und horizontalen Syndikalismus, durch Selbstorganisierung in Nachbarschaften und durch ein radikales politisches Engagement mit libertären/anarchistischen Ideen und Praktiken.

Die wenigen Kräfte in Griechenland, die im Klassensyndikalismus, in lokalen sozialen Bewegungen und in der anarchistischen Bewegung daheim sind, umfassen ein subversives politisches Kapital, welches klein ist, aber nicht so klein.

Sozialer Wandel erlaubt keine indirekten Wege und der Weg der Macht ist die ultimative Sackgasse. Es kann den Anschein machen, dass Zeit vorhanden ist, aber es könnte auch nicht so sein: Momente der Krise, Momente, in denen die Ohren der ArbeiterInnen offen sind, Momente, die verlangen Risiken einzugehen, treten nicht nur durch bewusste Vorbereitung ein, sondern oft auch «wie Diebe während der Nacht». In jedem Fall kann nur eine soziale Bewegung, die sich der Basisarbeit verschrieben hat, die Kanäle der Kommunikation und der politischen Gärung geschaffen hat, und die ihre Beständigkeit bewiesen hat, der Funke sein, welcher die Massen befähigt, zu explodieren.

Alles andere ist ein Rezept für das Versagen, Enttäuschung, ein Verlust von Zeit und natürlich eine politische und individuelle Korruption, also das, was Macht und Staat immer kreieren. Wie einst mit Pasok, so einmal mit Syriza…

Das englische Original gibt es hier: http://internationellsolidaritet.com/2015/01/24/syriza-at-the-gates/

«Syriza, lasst Acunbay frei!»

SoliaktionSeit Juni 2014 sitzt der in der Schweiz als politischer Flüchtling anerkannte Muzaffer Acunbay in Griechenland in Auslieferungshaft. Am 13. Februar entscheidet nun die höchste griechische Instanz, ob er in die Türkei ausgeliefert wird, wo ihm lebenslange Haft und Folter drohen. Rund sechzig Personen demonstrierten am Freitagnachmittag, dem 6. Februar, in Bern mit der Parole «Syriza, lasst Acunbay frei!». Die Demo führte von der Heiliggeistkirche über den Casinoplatz zur griechischen Botschaft. Die Demonstration ist Teil einer Kampagne, die sich seit mehreren Monaten mit dem in vielerlei Hinsicht brisanten Schicksal von Muzaffer Acunbay beschäftigt. Neben dem Komitee «Freiheit für Muzaffer Acunbay» und «Solidarité sans frontières» fordern verschiedene Organisationen seine umgehende Freilassung und ungehinderte Rückkehr in die Schweiz.

Politisch anerkannter Flüchtling

Muzaffer Acunbay lebt seit mehr als zehn Jahren als politisch anerkannter Flüchtling in der Schweiz. Er ist im Oktober 2003 in die Schweiz eingereist und lebt seither in Zürich. Sein Asylgesuch wurde schon im Juni 2004 positiv beantwortet. Muzaffer Acunbay war in den 90er Jahren auf Grund seiner politischen Aktivitäten in der Türkei verhaftet und während seiner Vernehmung durch die türkische Geheimpolizei aufs Schwerste gefoltert worden. Schliesslich wurde er vom berüchtigten türkischen Staatssicherheitsgericht (DMG), welches schon mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für seine ungerechten und politisch motivierten Urteile kritisiert wurde, zu lebenslanger Haft verurteilt. Acunbay war über neun Jahre in verschiedenen türkischen Gefängnissen inhaftiert, wo er aufgrund seines sehr schlechten Gesundheitszustandes in Folge der unmenschlichen Haftbedingungen sowie eines mehrmonatigen Hungerstreiks vorübergehend freigelassen wurde. Von einer erneuten Inhaftierung bedroht, floh er schliesslich in die Schweiz.

Knast statt Ferien

Im Sommer 2014 machte Muzaffer Acunbay Ferien in Griechenland. Zuvor hatte er beim Bundesamt für Polizei (Fedpol) abgeklärt, ob gegen ihn ein internationaler Haftbefehl vorliegt, denn schon mehrfach wurden in der Schweiz anerkannte Flüchtlinge im Ausland verhaftet, da sie seitens der Türkei per Interpol zur Fahndung ausgeschrieben waren. Schliesslich beschied ihm das Fedpol schriftlich, dass kein internationaler Haftbefehl gegen ihn vorläge. Trotzdem wurde er bei einer routinemässigen Strassenkontrolle in Griechenland im Juni 2014 völlig überraschend verhaftet. Seither sitzt Acunbay im Knast. Am 7. November 2014 beschloss ein griechisches Gericht erstinstanzlich seine Auslieferung in die Türkei. Nach einem Rekurs steht am 13. Februar 2015 die höchstinstanzliche Verhandlung an. Dann wird entschieden, ob die griechischen Behörden daran festhalten, Acunbay an die Türkei auszuliefern.

«Das neu gewählte politische Linksbündnis Syriza soll dieses Unrecht verhindern», fordert Ahmet Taner vom Komitee «Freiheit für Muzaffer Acunbay». Da sein Status als politischer Flüchtling seitens der Schweiz anerkannt wurde, darf Acunbay gemäss der 1951 verabschiedeten Genfer UN-Flüchtlingskonvention nicht an ein Land, aus dem er auf Grund politischer Repressionen und Verfolgung geflohen ist, ausgeliefert werden. Doch obwohl diese Konvention auch für Griechenland rechtlich bindend ist, haben die dortigen Behörden Acunbay festgenommen und erstinstanzlich entschieden, ihn an die Türkei auszuliefern. Dieses Urteil verstösst sowohl gegen internationales als auch griechisches Recht.

Türkei missbraucht Interpol

«Der Fall Acunbay ist aufgrund mehrerer Aspekte brisant. Er zeigt, dass die Schweiz keinen uneingeschränkten Zugang zu der Interpol-Datenbank hat, in der die internationalen Haftbefehle aufgeführt sind. Dieser eingeschränkte Zugang kann, wie sich nun zeigt, Menschenleben gefährden. Die Schweiz müsste deshalb gewährleisten können, dass anerkannte Flüchtlinge automatisch von der Interpol-Datenbank gelöscht werden, sofern dies nicht die internationale öffentliche Sicherheit gefährdet», fordert «Solidarité sans frontières» in ihrer Solidaritätsbotschaft vom 6. Februar.

Mehrere ähnlich gelagerte Fälle aus der jüngeren Vergangenheit belegen, wie die Türkei Interpol instrumentalisiert und missbräuchlich gegen politisch unliebsame Personen einen internationalen Haftbefehl erlässt, sie so terrorisiert und in ihrer Bewegungsfreiheit massiv einschränkt. Sollte Griechenland tatsächlich die Auslieferung von Muzaffer Acunbay an die Türkei beschliessen, droht ihm eine lebenslange Haft sowie schwerste Misshandlungen. Deshalb fordert «Solidarité sans frontières» die Schweizer Behörden auf, sich vehement für seine Freilassung und seine Rechte einzusetzen. Die Situation in türkischen Knästen ist bis heute schockierend: Es wird massiver Druck auf die Häftlinge ausgeübt. Insbesondere Personen, die auf Grund ihrer politischen Aktivität zu Haftstrafen verurteilt wurden, werden von anderen Häftlingen isoliert. Kranke Häftlinge werden oftmals dem Tod überlassen. Nahezu wöchentlich veranstalten deshalb Menschenrechtsorganisationen in der Türkei Kundgebungen gegen diese unmenschlichen Zustände. Auch kann Muzaffer Acunbay mit keinem fairen und rechtsstaatlich angemessen Verfahren rechnen, da die türkischen Gerichte bis heute nicht unabhängig sind, wie selbst Staatspräsident Abdullah Gül unlängst einräumen musste.

Aus der Printausgabe vom 13. Februar 2015. Unterstütze uns mit deinem Abo

Italien-Rückführungen – Das Elend mit dem Schweizer Humanlabel

lampe-sos«Solidarité sans frontières» hat eine Petition mit dem Titel «Stoppt die Rückschaffungen nach Italien» lanciert. Es ist offensichtlich, dass Italien die Neuankünfte über das Mittelmeer nicht mehr bewältigen kann. Die Forderung ist also inhaltlich folgerichtig, taktisch jedoch umso bemerkenswerter. Die Schweizer Asylpolitik kann nicht ohne Blick nach Italien verstanden werden. Allen «Bemühungen» der letzten zwanzig Jahren zum Trotz – Rückübernahme-Abkommen, Militär an der Tessiner Grenze, diplomatische und technische Gespräche auf allen Ebenen – bleibt die Zahl der über das Land in die Schweiz eingereisten Asylsuchenden hoch. In seiner kommentierten Asylstatistik für das Jahr 2014 zieht das «Staatssekretariat für Migration» (SEM) folgenden Schluss: «Aufgrund des hohen Migrationsdrucks auf die Küsten Italiens und der damit einhergehenden Überlastung des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems ist die Dublin-Zusammenarbeit mit Italien, dem wichtigsten Dublin-Partnerstaat, im Jahr 2014 (…) anspruchsvoller geworden und war während mehrerer Monate stark beeinträchtigt.»

Fürwahr: Über das Mittelmeer sind allein letztes Jahr 166000 Bootsflüchtlinge in Süditalien eingetroffen. Ginge es nach dem Dublin-Assoziierungsabkommen, müsste das Land für sie alle aufkommen, eine Unterkunft zur Verfügung stellen, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Schule, etc. So wie schon für die 42925 gestrandeten Bootsflüchtlinge 2013 und die über 13 000 ein Jahr zuvor. Ende 2014 verfügte Italien jedoch nur über 24 771 Plätze. Das reichte bei weitem nicht einmal, um die 76?263 bereits anerkannten Flüchtlinge und subsidiär Aufgenommene zu versorgen. Letztes Jahr kamen fast so viele Asylgesuche dazu. Die Schweizer Öffentlichkeit mag sich zwar empören über die angebliche Renitenz Italiens, das Dublin-Abkommen streng umzusetzen. 2014 stellte die Schweiz Italien 11322 Dublin-Überstellungsgesuche, wovon nur 3019 gutgeheissen und «nur» 1367 durchgesetzt wurden. Mit ihrer Empörung blendet sie jedoch aus, dass sich diese Überstellungen angesichts des eklatanten Mangels an geeigneten Empfangsstrukturen verheerend auf die Betroffenen selbst auswirken können und erheblich zur Verschärfung der gesamten Unterbringungssituation in Italien beitragen, wo seit geraumer Zeit und in Kenntnis derselben Schweizer Öffentlichkeit täglich Zehntausende von MigrantInnen in besetzten Gebäuden, leerstehenden Hallen oder schlicht auf der Strasse darben müssen. Nur logisch, dass Neuankömmlinge versuchen, sich der Abnahme der Fingerabdrücke in Italien zu entziehen, das Weite suchen und nach Norden ziehen. Um der Diskrepanz zwischen Neuankünften und Platzressourcen einigermassen Herr zu werden, ist Italien ohnehin darauf angewiesen, ein Rotationsprinzip in den Zentren aufrecht zu erhalten: Spätestens mit dem Erhalt des Asylentscheides werden die Schutzsuchenden aus den Camps geworfen, um Neuankömmlingen Platz zu machen. Vorausgesetzt, sie erhielten zuvor überhaupt je Eingang in eine der grösstenteils maroden Empfangsstrukturen namens SPRAR, CARA, CPSA und CDA.

Dublin ad absurdum geführt

Unzählige Urteile in verschiedenen europäischen Ländern lassen daran keine Zweifel aufkommen. Im November letzten Jahres verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention und befand, eine afghanische Familie dürfe nicht ohne Garantien nach Italien zurückgeschafft werden. Während Dänemark zum Beispiel daraufhin umgehend alle Rückschaffungen von Familien nach Italien stoppte, traf das SEM eine Vereinbarung mit dem italienischen Pendant. Seitdem garantiert der italienische Staat dem schweizerischen jeweils auf Anfrage, die rückzuführende Familie anständig zu behandeln. Wieviel diese Garantien wert sind, zeigen neuste Ermittlungen, die in Italien unter dem Stichwort «mafia capitale» für Schlagzeilen sorgten, nicht aber in der Schweiz. Im November wurde bekannt: Mafia, extreme Rechte, PolitikerInnen und soziale Institutionen haben sich jahrelang just an den Asylstrukturen masslos bereichert, für die nun Garantien abgegeben werden.

Doch selbst wenn Italien seine Versprechen tatsächlich einhielte: Ist es zum Beispiel in Ordnung, Alleinstehende verelenden zu lassen, junge Erwachsene, Gesunde? Dass sogenannt besonders verletzliche Personen andere verdrängen, die über kein solches Label verfügen? Nicht genug, dass sie aufgrund der Dublin-Verordnung in Italien feststecken, wo sie keine Zukunft haben, und es ihnen verboten wird, auch nur die Nähe ihrer Verwandten und Bekannten zu suchen. Das Schweizer Humanlabel schafft in Italien ein Zweiklassensystem, das über den spärlichen Zugang zur Existenzsicherung entscheidet. Auf den Punkt gefragt: Sollen nun alle asylsuchenden Familien, die nachweislich durch Italien gereist sind, in die Schweiz fahren und ein Asylgesuch stellen, nur um sich so ein Label und damit eine Unterkunft und Nahrung in Italien zu sichern?

Wider besseres Wissen

Der Bundesrat, das SEM, aber auch das Parlament und die Medien beharren nichtsdestotrotz und wider besseres Wissen auf die strikte Anwendung der Dubliner Konvention, offenbar ohne Rücksicht auf Kollateralschaden. Der Konsens geht politisch bis weit in die SP- und Grünen-Fraktion hinein: Dublin muss durchgesetzt werden, Italien seine Aufgaben machen. Natürlich soll Italien seine Aufgaben machen und deutlich mehr und bessere Aufnahmeplätze zur Verfügung stellen als bisher! Die 166 000 letztes Jahr in Italien angekommenen Flüchtlinge kann aber ein einziges Land, das sich zudem in der Dauerkrise befindet, nicht ohne die Solidarität seiner Partner bewältigen. Mit ihrer sturen Haltung unterwandert die Schweiz nicht nur jegliche Bemühung Italiens, menschenwürdige Empfangsstrukturen aufzubauen und zu unterhalten, sondern produziert auch unnötig menschliches Leid.

Es ist inhaltlich nichts als logisch, taktisch jedoch umso bemerkenswerter, dass «Solidarité sans frontières» eine Kampagne lanciert, um ein Moratorium der Rückschaffungen nach Italien gemäss Dublin-Konvention durchzusetzen. Die Forderung stellt nüchtern betrachtet bei weitem keine Revolution dar, fühlt sich aber im heutigen Migrationsdiskurs genauso an. Wir kennen diese Situation aus dem letzten Referendum gegen Asylverschärfungen. Gut möglich, dass wir auch diese Schlacht verlieren. Auch im Kampf für Menschenrechte, zu denen Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit nun mal gehören, ist und bleibt jedoch die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist.

Weitere Infos, Materialien und
Online-Petition: www.stoprenvois.ch

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Umverteilung als Skandal

Freihandelsabkommen_webEine neue Studie der Ökonomin Monika Engler sieht für den in der Schweiz so innig geliebten «Mittelstand» düstere Zeiten. Diese strebsame und fleissige politische Zielgruppe habe nach dem staatlichen Transfer von Geld und Sachleistungen weniger zur Verfügung als die untersten Einkommensschichten. Nach der staatlichen Umverteilung verfüge eine Person mit einem Jahres-Lohn von rund 12 000 Fanken über ein Einkommen von 66 800 Franken und sei damit stärker aufgestellt als eine Person, die ein Einkommen zwischen 35 000 und 100 000 Franken erziele. Stark wirke die Umverteilung auch zwischen Teilzeit- und Vollzeitstellen. Ein kinderloser Haushalt mit einem Vollzeitsalär von 105 000 Franken verfüge über ein Einkommen von 66 000 Franken, während ein Haushalt mit einem Teilzeitsalär von 32 000 Franken nach dem staatlichen Eingriff über 72 000 Franken verfüge.

Die Fondation CH2048

In Auftrag gegeben hat die Studie die Fondation CH2048, die sich als Reaktion auf die Abzocker- und die Zuwanderungsinitiative gegründet hat. Die Organisation setzt laut ihrer Homepage «auf Gemeinsinn und Dialog und will zu einer Versachlichung der innenpolitischen Auseinandersetzung beitragen». Was das heisst, wird allerdings schon in ihrer Selbstbeschreibung als «Allianz für eine global wettbewerbsfähige und verantwortliche Schweiz» angedeutet. CH2048 möchte «die Spannungsfelder zwischen den Anforderungen im globalen Standortwettbewerb und den berechtigten Anliegen der Bevölkerung im Inland» abbauen. Bekanntlich lassen sich die Anforderungen des abstrakten Zwangs der globalen Konkurrenz kaum reduzieren und so ist offensichtlich auf welcher Seite man am «Spannungsfeld» arbeiten will. So gab etwa der Stiftungsgründer von CH2048, der Sozialdemokrat Christoph Koellreuter, dem Tagesanzeiger kürzlich zu Protokoll, entscheidend sei, dass die Wirtschaft alle am Erfolg habe teilhaben lassen, unbefriedigend sei erst die Umverteilung.

Die Forderungen

Die Zahlen der Studie scheinen verlässlich zu sein, wenn man das Haushaltseinkommen auf eine einzelne erwerbstätige erwachsene Person herunterbricht, zumindest bis eine soziale Institution das Ganze in einer neuen Studie gegenrechnen lässt. Weil zu den untersten Einkommen auch Arbeitslose, IV-RentnerInnen und Frühpensionierte aus der umworbenen «Mittelschicht» und der «Oberschicht» gehören, schreiben die AuftraggeberInnen in einem Kommentar zur Studie: «Der relativ hohe Nettotransfer […] darf sicher nicht in seinem ganzen Umfang als Umverteilung vom Mittelstand zugunsten des untersten Dezils interpretiert werden.» Entscheidend ist aber, welche politischen Forderungen die Fondation CH2048 aus dem Resultat der Studie zieht. Sie fordert, dass ein «individuelles Wohlstandskonto» eingerichtet werde. Für einen Teil der Sozialleistungen sollen die BürgerInnen künftig selber sparen und das Geld in schlechten Jahren vom Konto abziehen. So individualisiert man die Sozialleistung und unterläuft die staatlich organisierte Unterstützung jener, die nur schlechte Jahre kennen. Zudem soll gewisse staatliche Leistungen nur noch erhalten, wer arbeitet; die Sozialhilfe soll besteuert und ein Einheitssteuersatz eingeführt werden, der auf eine Progression verzichtet, aber die tiefsten Einkommen durch Freibeträge vor der Armutsgrenze schützt.

Die Forderungen zielen faktisch mit der Verbesserung des Niveaus des «Mittelstandes» auf eine Verschlechterung der untersten Einkommensschichten. Statt also das Kapital – das künftig mit der Unternehmenssteuerreform III zusätzlich entlastet werden soll – zu belasten, will die Fondation zwischen den untersten und den mittleren Einkommen umverteilen. So löst man also das «Spannungsfeld» zwischen internationaler Konkurrenz und den sozialen Problemen im Inland. Wenn man den nationalen Standort voranbringen will, ist das nur folgerichtig.

Staatliches Regime

Was will man dem entgegensetzen? Man sollte sich an dieser scheinheiligen umverteilungszentrierten Debatte gar nicht beteiligen. Letztlich ginge es darum, dass die Proletarisierten – und dazu gehören sowohl die untersten als auch die mittleren Einkommen – gemeinsam und solidarisch für bessere Lebensbedingungen kämpfen, ohne Bittsteller beim staatlichen Moloch zu sein und ohne sich um die Studien jener zu kümmern, die für eine «wettbewerbsfähige Schweiz» eintreten.

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Wir werden das ändern!

syriza_junge frauHerr Katrougkaos, der Präsident des europäischen Parlaments, Martin Schulz, war am Donnerstag in Athen. Am Freitag soll der Vorsitzende der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, sich mit der neuen Regierung treffen. Die Vertreter der europäischen Institutionen, die Syriza vor den Wahlen scharf geisselten, eilen heute nach Athen. Ist dies ein Zeichen, dass der Sieg der gegen die Sparzwangpolitik auftretenden Linken das europäische Spielbrett durcheinander wirft?

Katrougkalos: Das ist klar. Vor den Wahlen sagten uns unsere politischen Gegner, dass selbst das Prinzip einer Neuverhandlung der Schulden ausgeschlossen sei. ‚Ein abgeschlossenes Abkommen wird nicht wieder neu verhandelt‘, wiederholten sie. Nun scheint es, dass die Logik beide Seiten zu Neuverhandlungen zwingt. Ganz einfach, weil das Resultat der Memoranden, der Sparpolitik, ein eklatantes Scheitern ist. Diese antisoziale Politik bringt desaströse ökonomische Auswirkungen hervor. Der Sieg von Syriza hat bereits Rückwirkungen auf dem Kontinent. Zwei grosse Lager zeichnen sich nunmehr ab: die harte deutsche Rechte und ihre Verbündeten aus den Nordstaaten. Das andere Lager vereinigt die Parteien der europäischen Linken, zu denen SYRIZA gehört, und neu aufkommende Kräfte wie PODEMOS. Möglicherweise kann sich dieses Lager ausweiten auf manche Sozialdemokraten, wenn sie begreifen, dass die absolute Identifizierung mit der Politik der Rechten zum Zusammenbruch führt, wie dies in Griechenland mit der PASOK schon geschehen ist. Um deutlich zu sein: wir erkennen in den Entscheidungen von François Hollande keine linke Politik. Aber wir sagen, dass man von den Rissen in der Front der Austerität profitieren sollte, um Unterstützungen zu finden und unsere Positionen zu stärken. Die Deutschen können nicht weiterhin ihre Entscheidungen ganz Europa aufzwingen.

Sie stehen in der ersten Linie, um die Austeritätpolitik zu stoppen, da die Troika zu Beginn der Austeritätsprogramme die Streichung von 150 000 Stellen noch vor 2015 forderte, von den 667 000, die die griechischen öffentlichen Dienste insgesamt aufwiesen. Wieviele Stellen sind tatsächlich schon gestrichen worden? Werden Sie die entlassenden Beschäftigten wieder einstellen?

Katrougkalos:Wir werden alle diejenigen wieder einstellen, die entlassen worden sind. Man hat von 20.000 Entlassungen gesprochen, aber die reale Zahl ist sicherlich geringer. Was den harten Kern des Staates anbetrifft, sind nach den ersten Berichten, die ich einsehen konnte, 3.500 Staatsangestellte, die in den Ministerien arbeiteten, vor die Tür gesetzt worden. Aber dazu muss man beispielsweise noch alle entlassenen Beschäftigten infolge der brutalen Schliessung des öffentlichen Rundfunk- und Fernsehsenders ERT hinzurechnen. Wir werden das ändern.

Wie wollen Sie der Vetternwirtschaft ein Ende machen, die sich wie ein Funktionsmodell im Zug des Wechsels zwischen Pasok und Neue Demokratie durchgesetzt hat?

Katrougkalos:Das wird eine wesentliche Schiene sein, um einen Rechtsstaat wiederaufzubauen. Wir brauchen ein klares und wirksames Beurteilungssystem. Nicht um Entlassungen zu rechtfertigen, wie dies bisher konzipiert wurde, sondern um unsere Verwaltung zu verbessern. Ohne Hexenjagd werden wir einen klaren Diskurs mit den Staatsangestellten führen, über all das, was geändert werden muss. Wir werden die Gewerkschaften in diese Änderungen einbeziehen, um das System der Vetternwirtschaft zu zerbrechen und den Staat auf gesunden Grundlagen wieder aufzubauen.

Sie sind Verfassungsrechtler. Soll das griechische Grundgesetz, das die vorhergehende Regierung von jeder sozialen Verpflichtung säubern wollte, bestehen bleiben?

Katrougkalos:Das wird Gegenstand einer Debatte in der Regierung und in den Reihen von SYRIZA sein. Mein Gesichtspunkt ist, dass eine Verfassungsgebende Versammlung gebraucht würde. Wenn ein Land einer schweren Krise entgegentreten muss, wie das 1958 in Frankreich im Moment des algerischen kolonialen Befreiungskrieges der Fall war, muss es sich Institutionen schaffen, die es ihm ermöglichen, die Schwierigkeiten zu überwinden. Wir brauchen eine neue Verfassung einer IV. griechischen Republik, die auf direkte Demokratie gegründet ist. Mit zum Beispiel der Möglichkeit, korrumpierte Abgeordnete abzuberufen, und mit Anerkennung der Volksinitiative für Gesetze oder Referenden. Auf sozialem Gebiet müssten schon bestehenden Garantien auch ausgeweitet werden. Die eigentliche Ausarbeitung dieser neuen Verfassung sollte eine Übung in direkter Demokratie sein, wie in Island.

gr_george katrougalosZur Person: Georgios Katrougkalos ist stellvertretender Innenminster und zuständig für die Staatsreform Griechenlands.  Er ist 51 Jahre alt, Verfassungs- und Völkerrechtler, Professor für Staatsrecht. Katrougkalos studierte in Athen und später an der Sorbonne Paris, war Gastprofessor in Dänemark, absolvierte Studienaufenthalte in den USA, war Professor für Öffentliches Recht in Athen. Er war als Experte und Mitarbeiter von Stiftungen und anderen Einrichtungen für verschiedene griechische Ministerien tätig; Mitarbeiter an Forschungsprojekten des Europarats, Beratungstätigkeiten im internationalen Rahmen u.a. in Usbekistan, Mazedonien, Albanien, Armenien, Syrien; Verfasser zahlreicher Bücher und Artikel in juristischen Zeitschriften; zuletzt Abgeordneter für SYRIZA im Europäischen Parlament.

 

Aus der französischen kommunistischen Tageszeitung «Humanité» vom  30. Januar 2015. Übersetzung: G. Polikeit

Quelle: www.kommunisten.de