Wenn sich ArbeiterInnen nicht einschüchtern lassen

Seit Mitte Juli 2011 stehen täglich 80 ArbeiterInnen der Jabil – einem Produktionsunternehmen von elektrotechnischen Teilen für die Telekommunikation – vor den Werktoren im mailändischen Cassina de› Pecchi und bewachen die Fabrik. Sie kämpfen gegen die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze.

Jabil lässt nicht locker: Frühmorgens des 13. April 2012 fahren einige Lastwagen vor das Werk in Cassina de› Pecchi. Der Befehl lautet: Werkzeuge und Maschinen, die sich im Betrieb befinden, abtransportieren. Es handelt sich um eine weitere Provokation. Wieder einmal denkt das Unternehmen nach Belieben das tun und lassen zu können, was es will. Die ArbeiterInnen besetzen nun aber das Werk seit Monaten und fordern die Wiederaufnahme der Produktion. Die Aktion von Jabil schüchtert die ArbeiterInnen nicht ein: Was sich innerhalb der Fabrik befindet, wird nicht rauskommen.

 

Die Entschlossenheit der 

ArbeiterInnen

Die Auseinandersetzung des 13. April 2012 war nur das jüngste Ereignis eines seit Monaten andauernden Kampfes. Mitte Juli 2011 entschied das Unternehmen die Einführung einer 100 Prozent Kurzarbeit für die 320 ArbeiterInnen (sogenannte cassa integrazione). In den darauffolgenden Wochen wollte das Unternehmen definitiv entscheiden, was mit der Produktion in der Peripherie Mailands geschehen soll. Die Rede war von einer Auslagerung der Produktion nach Ungarn, wo Jabil zwei weitere Produktionsstätten besitzt. Seit dem ersten Tag bewacht ein kämpferischer Kern der Belegschaft die Werkstore und verhindert somit die Wegführung von Maschinen und Material.

Am 12. Dezember 2012, nachdem sie nun fünf Monate in Kurzarbeit waren, erhielten sie ein Telegramm, das Werk schliesse definitiv und die 320 ArbeiterInnen würden unmittelbar ihre Arbeit verlieren. Als die Nachricht den ersten Arbeiter erreichte, wurde schnell Alarm geschlagen. Die ArbeiterInnen zögerten nicht, die vom Unternehmen zugeketteten Tore aufzubrechen und in die Fabrik einzudringen. Die Fabrik war jetzt nicht nur bewacht, sondern auch besetzt.

«Solange das Unternehmen die Kündigungen nicht zurückzieht, bleiben wir hier, in unserer Fabrik. Denn die Fabrik gehört uns, nicht dem Unternehmen. Und wir sind nicht wenige, so wie das Unternehmen vermutet.» So berichteten ArbeiterInnen am Tag der Besetzung. «Wir rufen all diejenigen auf, die gegen Fabrikschliessungen sind, einen langen Kampf zu unterstützen hier bei uns bei der Jabil. Wir rufen dazu auf, dass es ein symbolischer Kampf wird gegen alle Angriffe auf die Lohnabhängigen, auch von der neuen Regierung aus! Und wir werden ab heute öffentliche Versammlungen abhalten, um die Zukunft mit allen zu diskutieren, und auch darüber, ob wir nicht alleine die Produktion wieder aufnehmen sollen.»

Sie nahmen dann genau einen Monat nach der Besetzung, am 12. Januar 2012, die Produktion wieder auf. Diese beschränkt sich jedoch auf eine symbolische Aktion von täglich drei Stunden, denn für eine tatsächliche, eigenmächtige Produktion wurde noch keine Vereinbarung gefunden mit den Abnehmerunternehmen.

Nicht ohne Schwierigkeiten

Die Stärke dieses sozialen Kampfes liegt sicherlich in der Entschlossenheit des kämpferischen Kerns der Belegschaft. Er orientiert sich zudem an den Erfahrungen, die drei Jahre vorher bei der nahe gelegenen INNSE gemacht wurden, als die Besetzung des Betriebes den Erhalt der Arbeitsplätze garantieren konnte.

Doch hinter der Massenentlassung von Jabil steht auch das Interesse eines weiteren Grosskonzerns, nämlich von Nokia Siemens Networks. Ihm gehört der Boden, auf dem die Fabrik liegt. Es kristallisiert sich also heraus, dass nicht nur die unmittelbar betroffenen ArbeiterInnen ein Interesse daran haben, die Produktion weiterzuführen, sondern die ganze lohnabhängige Klasse. Denn Immobilienspekulation haben zum Ziel, Lebens- und Wohnkosten zu erhöhen und das Leben noch unerträglicher zu machen. Der Ruf «Hände weg von der Jabil» wird somit noch lange ein gemeinsamer Moment aller Kämpfenden rund um Mailand sein.

Unerwünschter Besuch an der Uni ZH!

Für den 7. Mai hat das Schweizerische Institut für Auslandsforschung (SIAF) die Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, zu einem Vortrag an die Universität Zürich eingeladen. Das Bündnis «Uni von unten» ruft zu Protesten gegen den Besuch von Christine Lagarde an der Universität Zürich auf.

Es ist nicht das erste Mal, dass der neoliberale Think Tank SIAF für seine Gäste in Kritik gerät. Vor gut zwei Jahren konnten aktive StudentiInnen dafür sorgen, dass der Vortrag von Novartis-CEO Daniel Vasella an der Uni abgesagt werden musste und Redner wie Nestlé CEO Peter Brabeck oder der amerikanische Kriegsbefürworter Robert Kagan nur unter grossem Protest sprechen konnten. Auch für den 7. Mai haben sich erste Proteste angekündigt. So ruft das Bündnis Uni von unten auf ihrer Website an diesem Tag zu einer Kundgebung beim Haupteingang der Universität auf.

 

Verheerende Folgen

Christine Lagarde ist seit dem Rücktritt von Dominic Strauss Kahn im letzten Jahr die Vorsitzende des IWF. Doch auch unter ihrer Führung hat sich nichts zum Positiven geändert. Noch immer tritt der Währungsfonds im Interesse des Kapitals auf und noch immer leiden unzählige Menschen darunter. Aktuelles Beispiel ist Griechenland. Aufgrund der vom IWF geforderten Sparmassnahmen werden Löhne gekürzt, im Gesundheitswesen gespart und über 1 000 Schulen geschlossen. Die Folgen für die Menschen vor Ort sind bekannt.Doch während überall im Staatsetat gespart wird, bleibt das Militärbudget auch unter dem wachenden Auge des IWF konstant hoch. Kein Wunder, denn damit profitiert die Rüstungsindustrie Deutschlands, welche mit Griechenland einen teuren Rüstungsvertrag abgeschlossen hat. Dass einer solchen Institution an der Universität ein Podium geboten werden soll, ist skandalös. Der IWF negiert seit Jahren die verheerenden Folgen  seiner Eingriffe und tut weiter so, als tätige er seine Eingriffe im Interesse der Menschen. Doch für die Betroffenen vor Ort zeigt sich ein ganz anderes Bild. Was würde wohl geschehen, wenn Christine Lagarde einen öffentlichen Vortrag an einer Athener Universität halten würde?

 

Gegen die Ökonomisierung der Uni

Dass das SIAF gerade die Uni auserkoren hat, um ihre neoliberale Hegemonie weiter auszudehnen, ist angesichts der Entwicklung der Universitäten nicht verwunderlich. Die schleichende Ökonomisierung zeigt sich unter anderem darin, dass immer mehr Unternehmen versuchen, an der Universität Fuss zu fassen. Es geht ihnen dabei nicht etwa um die Privatisierung, sondern viel mehr darum ihr Image aufzubessern, ihre Legitimation zu stärken und um die besten Abgänger buhlen zu können. So finanzierte der Pharmakonzern Syngenta unlängst eine Professorenstelle an der ETH, die im Bereich «nachhaltige Agrarökosystem» forschen und lehren soll.  Und neoliberale Think Tanks, wie das SIAF, versuchen mit Redner und Forschungsgelder aus der Privatwirtschaft, die Definitionsmacht darüber zu festigen, wie die Welt analysiert und bewertet werden muss. Dieser Entwicklung muss Einhalt geboten werden. Gerade um zu zeigen, dass sich die Universität Zürich solidarisch mit den griechischen Universitäten in ihrem Kampf gegen die Ökonomisierung der Bildung, Sparmassnahmen und den Bildungsabbau zeigt, wäre es wünschenswert, wenn sie bei Gästen, wie Christine Lagarde, ein Machtwort sprechen und dem SIAF keinen Raum zur Verfügung stellen würde.

Nestlé: Angeklagt wegen Mord

In Kolumbien wird der Gewerkschafter Luciano Romera von Paramilitärs ermordet. Der Nestlé-Konzern rückte ihn in die Nähe der Guerilla und sprach damit sein Todesurteil aus. Nun steht Nestlé vor Gericht.

Luciano Romero war am Morgen des 11. September 2005 in der nordkolumbianischen  Provinzstadt Valledupar schwer misshandelt worden, bevor er durch zahlreiche  Messerstiche starb. Wenige Tage nach seinem Tod sollte der langjährige Nestlé-Gewerkschafter auf einem internationalen Tribunal über den Nestlé-Konzern aussagen. Romero wäre einer von über dreitausend kolumbianischen Gewerkschaftern, die  in den letzten Jahren von Paramilitärs getötet worden sind. Doch sein Fall hat heute schon Rechtsgeschichte geschrieben. Die  Juristenvereinigung «European Center for Constitutional and Human Rights» (ECCHR) hat kürzlich gemeinsam mit der kolumbianischen Gewerkschaft Sinaltrainal, deren Mitglied Romero war,  bei der Schweizer Justiz Anzeige gegen Verantwortliche des  Nestlé-Konzerns eingereicht. Ihnen wird vorgeworfen, den Tod des Gewerkschafters «durch pflichtwidriges Unterlassen fahrlässig mit verursacht» zu haben. «Der Mord geschah im Kontext eines bewaffneten Konflikts, in dem Gewerkschafter und andere soziale Gruppen systematischer Verfolgung, vor allem durch Paramilitärs und staatliche Stellen ausgesetzt sind», heisst es in der Begründung der Anzeige. So sei Romero vor seinem Tod von Nestlé-Verantwortlichen fälschlich in die Nähe der kolumbianischen Guerilla gerückt worden. Ein solcher Verdacht sei unter den damaligen Verhältnissen in Kolumbien fast ein Todesurteil gewesen. Auf einer Pressekonferenz in Berlin erklärte der Sinaltrainal-Anwalt Leonardo James, dass ein kolumbianischer Richter in dem Prozess gegen zwei Mitarbeiter des Geheimdienstes auf die Verantwortung von Nestlé hingewiesen habe. Der Jurist sei  danach ebenfalls von den Paramilitärs bedroht worden und habe das Land verlassen müssen.

Juristisches Neuland

Der Sinaltrainal-Vertreter Carlos Olava zitierte bei dem Pressegespräch den Ausspruch eines Paramilitärs, der bekräftigte, die Gewerkschafter seien systematisch getötet worden, weil sie der Wirtschaft gefährlich werden könnten. Tatsächlich habe die Ermordung von Romero und anderen Gewerkschaftern einen schweren Rückschlag bei den Organisierungsbemühungen zur Folge gehabt. Die Menschen hätten danach Angst gehabt, sich überhaupt noch zu organisieren. Olava sieht auch keinen Widerspruch darin, den juristischen Weg zu gehen und trotzdem für eine kämpferische Interessenvertretung einzutreten.

Der Berliner Rechtsanwalt und ECCHR-Vertreter Wolfgang Kaleck betonte, dass mit der Anzeige juristisches Neuland betreten werde. Es gehe aber nicht um ein Medienspektakel. Neben der Aufklärung der Wahrheit über die Ermordung des Gewerkschafters soll auch die Verantwortung von Konzernen thematisiert werden. Hier könnte die Klage eine Türöffnerfunktion bekommen, hofft Kaleck, «Unternehmen wie Nestlé wissen, in welchen Gefahren ihre Arbeiter schweben, wenn sie sich gewerkschaftlich organisieren und ihre Rechte als Arbeiter verteidigen. Wenn sie solche Verbrechen hinnehmen, werden sie zu schweigenden Komplizen», heisst es in einer der Pressemappe beigelegten Stellungnahme. Mittlerweile hat Nestel in einer Pressemitteilung erklärt, dass der Konzern immer gegen Gewalt eingetreten sei, lehne aber jede Verantwortung für den Tod Romeros ab.

Zähmung des Kapitalismus durch das Recht?

Die Initiative ist schon deshalb lobenswert, weil den Angehörigen und Freunden Luciano Romeros bisher die juristische Aufarbeitung seiner Ermordung verweigert wurde. Doch bei vielen der Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Bestrafung des Nestlé-Konzerns einsetzen, schwingt unverkennbar die Hoffnung mit, den Kapitalismus mit den Mitteln des Rechts zivilisieren zu können. An diesem Punkt sollte vor falschen Hoffnungen gewarnt werden. Recht wird unter kapitalistischen Verhältnissen immer in erster Linie für die reibungslose Profitmaximierung sorgen. Trotzdem sollen sich auch linke und klassenkämpferische Organisationen juristischer Mittel bedienen, ohne zu vergessen, dass die entscheidenden Schlachten nicht im Gerichtssaal ausgefochten werden. Diese Zusammenhänge stellte die proletarische Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe immer in den Mittelpunkt ihrer Agitation. Damals sollten juristische Mittel den Klassenkampf unterstützen, nicht aber den Kapitalismus zivilisieren. Auf der Pressekonferenz zur Nestlé-Klage fiel hingegen kein klassenkämpferisches Wort. Einige der eingeladenen Vertreter von Nichtregierungsorganisationen stellten den europäischen Kapitalismus als grosses Vorbild hin, dem sie nacheifern wollten. Am Ende wurde noch die absurde These geäussert, in Deutschland wäre Luciano Romero schon längst Träger des Bundesverdienstkreuzes. Solche falschen Eingemeindungen hat der ermordete Gewerkschafter nun wirklich nicht verdient.

Ein hoher, zu hoher Preis bezahlt

Die Welt steckt in einer Krise und alle sozialen Organisationen mit ihr. Die Gewerkschaftsbewegung stellt dabei keine Ausnahme dar. Befindet sich der Syndikalismus nun in einer Krise aufgrund der Tatsache, dass sich der Kapitalismus selbst in einer Krise befindet, auf welche die Gewerkschaften keine Antworten geben können? Was ist zu tun?

Die gewerkschaftlichen Organisationen, die politischen Organisationen und die Kooperativen riefen  1864 die Erste Internationale ins Leben. Diese war unterteilt in AnarchistInnen und die sozialistischen, revolutionären SozialdemokratInnen (MarxistInnen). Letztere gründeten 1889 die Zweite Internationale, die eine Spaltung zwischen den SozialdemokratInnen (Sozialistische Internationale) und den sozialistischen, revolutionären, pazifistischen Kommunist-Innen (Dritte Internationale 1919) zur Folge hatte.  Zu diesen beiden Strömungen kommt die Libertäre hinzu. Auch um den aktuellen Kontext zu verstehen, ist es unerlässlich, einen kurzen Überblick über die Strömungen zu haben, die die Gewerkschaftsbewegung beeinflussten.

Die Libertären

Für sie ist der Staat nichts anderes als ein Apparat der Herrschaft und Unterdrückung. Daher ist seine Abschaffung die Voraussetzung für die Emanzipation der ArbeiterInnen. Der freie Zusammenschluss von Kollektiven ist der Ersatz für den Staat. Sie fassen die Abschaffung des Privateigentums zu Gunsten des sozialen, kollektiven Besitzes (nicht staatlich) der Produktionsmittel und des Tausches ins Auge. Die Lohnarbeit repräsentiert die Abhängigkeit der ArbeiterInnen gegenüber dem Kapitalisten und der Lohn bezahlt nicht die Arbeit, sondern die verbrachte Zeit unter der direkten Kontrolle des Arbeitgebers. Die Libertären postulieren die Abschaffung der Lohnarbeit sowie den Anspruch für jede und jeden auf einen gleichen Anteil am sozialen Einkommen (Mindesteinkommen und Bedingungsloses Grundeinkommen). In dem Masse, indem die Mittel mit den Prinzipien der Bewegung und des libertären Projekts vereinbar sind, sind alle Mittel erlaubt, sogar die gesetzlichen. Voraussetzung bleibt jedoch der Anspruch auf Kohärenz. Die AnarchistInnen bevorzugen die Organisierung in Netzwerken, die aus autonomen Gruppen bestehen, und ohne politische Richtung, jedoch mit WortführerInnen. Diese Organisationsform ist sowohl im politischen Feld als auch im gewerkschaftlichen Feld massgebend.

Die Sozialdemokraten

Für sie ist der Staat ein Apparat der Regulierung und der Organisierung der Gesellschaft. Dieser Apparat muss von der sozialistischen und der gewerkschaftlichen Bewegung genutzt werden, um eine soziale und kulturelle Wirtschaftspolitik zu führen. Diese soll in erster Linie im Interesse der Benachteiligten, aber daneben, der gesamten Bevölkerung, liegen. Sie wollen die öffentliche Kontrolle über die Produktionsmittel und den Tausch. Das Privateigentum, das vererbt wird, bleibt bestehen und es gibt eine Vermischung des Wirtschaftssystems (privater Sektor, öffentlicher Sektor). Die SozialdemokratInnen setzen sich für einen stetigen Anstieg des Lohnes und eine Verringerung der Lohnschere ein. Sie bestehen auf die Gesetzlichkeit ihrer Mittel, sind jedoch bereit, durch Gesetzesänderungen neue Mittel zu geben. Ausserhalb des Rechts und des Rechtsstaates, sprich innerhalb eines bestehenden demokratischen Staates,sind die SozialdemokratInnen völlig hilflos. Unter einer Diktatur sind sie gute Dissidenten, aber schlechte Widerstandskämpfer. Die SozialdemokratInnen haben eine Organisation, die völlig auf den demokratischen Staat ausgerichtet ist.

Die Marxisten-Leninisten

Für sie ist der Staat ein Instrument, durch das eine Klasse eine andere beherrscht. Im Kapitalismus ist er das Instrument der Diktatur der Bourgoisie. Die revolutionäre Bewegung, angeleitet von der Partei, muss den Staat in ihre Gewalt bringen und ihn völlig in Beschlag nehmen. Sie streben die Abschaffung des Privateigentums an. Die Produktionsmittel sollen an den Staat übergehen. Die KommunistInnen teilen theoretisch das Postulat gegen die Lohnarbeit der Libertären. Sie teilen auch die sozialdemokratische Forderung eines stetigen Anstiegs der Löhne und einer Verringerung der Lohnungleichheiten, aber über den Rechtsweg und nicht über Vereinbarungen. Was die Aktionsmittel betrifft, ist das was zählt, die Effizienz. Die Marxisten-Leninisten gehen davon aus, dass die Mittel, welche die revolutionäre Bewegung benutzt, niemals nur diejenigen sein können, welche der Kapitalismus verwendet. Es ist der Kapitalismus selbst, der seine GegnerInnen zwingt, radikale aber historisch nötige Methoden anzuwenden.

Den kapitalistischen Staat bestärkt

Die sozialistische und gewerkschaftliche Bewegung hat ihre Ursprünge vor langer Zeit. Er liegt so weit zurück, dass die Bewegung vergessen hat, woher sie gekommen ist. In der politischen Landschaft des Westens stützte sie sich auf einer kohärenten, sozialen Basis (der Arbeiterklasse) und einem alternativen sozialpolitischen Projekt. Das heisst einem Projekt, das eine fundamentale Veränderung der politischen und sozialen Realität zum Ziel hat und sich durch ein konflikthaltiges Verhältnis zu den politischen Institutionen auszeichne. Das heisst konkret, um die Staatsgewalt zu erobern oder zu brechen, auf alle Fälle ihr konsequent die Stirn zu bieten. Diese tragenden Elemente der sozialistischen und gewerkschaftlichen Bewegung sind ihr in der Schweiz und im restlichen Europa abhanden gekommen. Die soziale Basis hat sich aufgelöst in ein konsumgeiles, paranoides Kleinbürgerturm (Mittelklasse). Die am meisten benachteiligten ArbeiterInnen sind ausserhalb der Bewegung, das politische Projekt ist zerfallen. Die Strategie der gesellschaftlichen Veränderung hat sich reduziert auf die Partizipation in politischen und sozialen Institutionen. Die sozialistische und gewerkschaftliche Bewegung verstand sich ursprünglich als politischer Ausdruck der Arbeiterklasse gegen den Staat, gegen das Privateigentum und gegen die Lohnarbeit. In den letzten 150 Jahren hat sie den Staat jedoch gestärkt, das Privateigentum verbreitet, die Lohnarbeit verallgemeinert und die Arbeiterklasse, nicht aber das Proletariat, aufgelöst. Der Sozialismus und der Syndikalismus haben ihre Klasse so grundlegend verändert, dass sie diese einschränken und sich auf ihr abstützen. Ihre soziale Basis wurde geschwächt durch etwas, das auf eine Art als Lösegeld für den historischen Erfolg der Bewegung betrachtet werden kann: Die Verbesserung der Lebens- und Abeitsbedingungen der ArbeiterInnen wurde mit der Auflösung der Arbeiterklasse als Klasse an sich bezahlt. Durch die Eingliederung der sozialistischen Bewegung in die politischen Institutionen wurde diese Entwicklung noch verstärkt. Geboren von der Arbeiterklasse hat sie ihre öffentliche Funktion, die gegen den Staat gerichtet war, aufgegeben und sich im Staat selber eingerichtet.

Die Beteiligung der Linken an der Staatsgewalt in Westeuropa setzt eine Beteiligung auf allen Ebenen des politischen Entscheidungsprozesses und in allen Instanzen des Staatsapparats voraus. Mehr noch als blosse Beteiligung fügen sich die Partei und die Gewerkschaften in die Machtstrukturen ein. Es handelt sich um eine Integration der dominanten politischen Kultur und deren Verhaltensvorstellungen über die Arbeiterklasse. Sich mit dem Staat identifizierend, verwechseln sie die Veränderung der Gesellschaft mit dem Austausch der Personen in der Regierung. Sie haben das sozialistische Projekt auf den Etatismus reduziert. Die sozialistische und gewerkschaftliche Bewegung ist nicht mehr als eine revolutionäre Kraft in Erscheinung getreten, sondern als eine konservative Kraft. Sie hat die politischen und sozialen Institutionen, die sie verändern wollten, gestärkt. Es ist ihnen dabei nicht einmal gelungen, das Wiedererscheinen einer Massenarmut zu verhindern. Sie haben es nicht geschafft, dem Erstarken von rassistischen und faschistischen Verhaltensweisen und politischen Diskussionen etwas entgegen zu setzen. Oder etwas freundlicher ausgedrückt: Es fehlt die Rückkehr zum Ursprung und die Suche nach einer verlorenen Identität.

Das militante Engagement der Basis

Trotz des sichtlichen Zerfalls haben die Gewerkschaften heute noch notwendige Funktionen, die, so scheint es, keine andere Institution an ihrer Stelle wahrnimmt. Zu diesen Funktionen gehören mindestens die folgenden drei. Erstens die demokratische: Allen die, die arbeiten oder arbeiten wollen, eine Stimme in ihrem Arbeitsleben zu geben. Zweitens die wirtschaftliche: Zu einer gleichen Verteilung der Früchte des Wachstums beizutragen. Und drittens die soziale: Sich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einzusetzen, indem gegen den Ausschluss, die Gewalt, das soziale Chaos und die Armut gekämpft wird.

Um dies zu erreichen, müssen sich die Gewerkschaften auf die direkte Organisation der ArbeiterInnen stützen und nicht auf ihre Präsenz in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen. Sie sollten auf der Einheit der ArbeiterInnen und deren Organisierung basieren. Dies in einer gemeinsamen Bewegung, welche die Trennungen zwischen Berufen, wirtschaftlichen Sektoren, Qualifizierungen und  Nationalitäten überwindet und nicht auf einem Mosaik von spezifischen Organisationen, die unter einem gemeinsamen Kürzel mehr oder weniger verbündet sind. Sie müssten auf die Organisierung der am stärksten ausgebeuteten und prekarisierten ArbeiterInnen gestützt sein und nicht in erster Linie wie heute auf die Organisierung der am besten geschützten ArbeiterInnen. Das Fundament der Gewerkschaften muss die Bereitschaft sein, kollektive Rechte für die ArbeiterInnen zu erkämpfen und nicht die Verhandlungen dieser Rechte, die nicht verhandelbar sind. Sie müssen auf der Überzeugung gründen, dem Staat die Stirn zu bieten und nicht das Friedensabkommen als Ausgangsbasis betrachten. Und schliesslich sollten die Gewerkschaften auf dem militanten Engagement ihrer Mitglieder und nicht auf dem professionellen Engagement ihrer Funktionäre aufgebaut sein.

Officina Bellinzona: Fest zum Jahrestag des Sieges von 2008

Officina Bellinzona: Fest zum Jahrestag des Sieges von 2008

Zum vierten Mal feierte kürzlich das «Volk der Officina» in der legendären «Pittureria» den Sieg von 2008.
Die klare Botschaft des Streikkomitees: Wir sind immer noch da und wir werden uns wenn nötig zu wehren wissen.

Die aufgereihten orangen Arbeitshosen, das Symbol des Streiks von 2008, hängen noch immer an der Wand der «Pittureria», der Karosseriemalerei der Officina von Bellinzona. Die Spruchbänder, die damals die gegenüberliegende Wand zierten, sind inzwischen entfernt worden. Die scheinbar bedeutungslosen, äusserlichen Merkmale charakterisieren treffend das weiterhin andauernde Seilziehen zwischen der Belegschaft und ihrem Streikkomitee auf der einen Seite und dem SBB-Management auf der andern, dessen erklärtes Ziel darin besteht, «die Normalität» wiederherzustellen, was im Klartext die uneingeschränkte Verfügungsgewalt des Kapitals über die Arbeit bedeutet. So soll beispielsweise künftig nicht mehr das von den Arbeitern gewählte Streikkomitee mit der SBB verhandeln, sondern – wie vor dem Streik – einzig die vertragsunterzeichnenden Gewerkschaften SEV und Transfair.

Erst allmählich füllen sich an diesem Samstagnachmittag, 14. April 2012, die Reihen der Sitzbänke und Holztische, die genau gleich dastehen wie im März 2008, als die «Pittureria» zum Symbol des Arbeiterwiderstandes gegen die Pläne des Kapitals wurde. Es sind Arbeiter der Officina mit ihren Familien, UnterstützerInnen, alte und junge, hauptsächlich aus dem Tessin, vereinzelt auch aus den andern Landesteilen, alles in allem etwa zweihundert an der Zahl, die gekommen sind und sich noch immer mit diesem Kampf verbunden fühlen, der am 7. März 2008 wie ein Blitz aus heiterem Himmel die offizielle Schweiz, Regierung und Parteien aller Schattierungen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften gleichermassen aufschreckte.

30 Jahre Umstrukturierungen…

In seinem Referat zur aktuellen Entwicklung streift Gianni Frizzo nochmals die Geschichte der Officina in den letzten dreissig Jahren. Sorgfältig wählt er die Worte aus, will nicht unnötig polemisieren und provozieren. Wer aufmerksam zuhört, bekommt dennoch ein Bild, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Was er erzählt, ist die Geschichte eines stetigen Niedergangs, die Geschichte von Umstrukturierungen und unternehmerischen Fehlentscheiden, von Verbesserungen, die sich regelmässig als Verschlechterungen entpuppten, von falschen Hoffnungen und nicht eingehaltenen Versprechungen. Es ist die Geschichte einer ganzen Generation von Wirtschaftsführern, deren unternehmerische Visionen sich darauf beschränken, mittels Stellenabbau und Arbeitsverdichtung Kosten zu sparen. Die Schliessung der SBB-Werkstätte in Biasca beispielsweise wurde der Belegschaft in Bellinzona mit dem Argument schmackhaft gemacht, dass dadurch dort zusätzliche Arbeitsplätze im Güterwagenunterhalt geschaffen würden. Wenige Jahre später hätte der Unterhalt der Güterwagen privatisiert und jener der Lokomotiven nach Yverdon verlagert werden sollen. Nur durch den entschlossenen Widerstand der Belegschaft und der ganzen Tessiner Bevölkerung wurde das Vorhaben rechtzeitig gestoppt.

… als Beispiel für den Abbau des Service public

Was Gianni Frizzo erzählt, steht stellvertretend für den Niedergang eines Service public, der keiner mehr ist, weil sein Zweck nicht mehr darin besteht, Leistungen im Dienste der Bevölkerung zu erbringen, sondern einen Gewinn für die Besitzer der teilweise oder ganz privatisierten Unternehmungen zu erzielen. Für den Niedergang eines gescheiterten Wirtschaftssystems, das mit der inzwischen erreichten Produktivität eine immer grössere Menge an unverkäuflichen Waren produziert, deren Gebrauchswert gleichzeitig immer geringer wird. Eines Systems, das sich nur noch am Leben erhalten kann, indem es nicht nur den geschaffenen Reichtum fortwährend zerstört, sondern auch das Leben der Menschen, die keine andere Wahl haben, als innerhalb der ihnen aufgezwungenen Bedingungen zu arbeiten.

Später im Gespräch macht Gianni Frizzo klar, es sei beim Streik von 2008 nicht nur darum gegangen, die über 400 Arbeitsplätze zu erhalten, als vielmehr das heutige System grundsätzlich in Frage zu stellen. Formell gehöre die Officina der SBB, in Wirklichkeit aber der Tessiner Bevölkerung. Es seien ihre Väter und Vorväter, die bereits dort gearbeitet und sie aufgebaut haben. Ebenso komme deren Tätigkeit – der Unterhalt der Lokomotiven und Eisenbahnwagen – allen zugute. Starre und schwerfällige Befehlsstrukturen stünden jedoch einem wirtschaftlich sinnvollen Betrieb im Wege. Die Hierarchie müsse viel flacher werden, sonst würden die dazwischen geschalteten Stufen weiterhin wie ein Filter wirken, an dem wichtige Informationen hängen bleiben.

Noch einmal erklärt Gianni Frizzo, was er bereits am Schluss seines Referates an die Adresse der SBB-Spitze unmissverständlich geäussert hat: «Wir sind nach wie vor offen für einen paritätischen Dialog. Wenn man uns aber diese Möglichkeit nimmt, indem man uns den Zugang zu den Zahlen verweigert und uns vor vollendete Tatsachen stellt, dann sind wir gezwungen, zu den Aktionsformen von 2008 zurückzukehren.» Und was mit «Aktionsformen von 2008» gemeint ist, braucht nicht näher erläutert zu werden. Das haben alle noch in guter Erinnerung.

Kämpfe in der Krise

Mit dem Schwerpunkt «Gewerkschaften – Arbeitskämpfe – Widerstand» versucht der vorwärts, die aktuellen Klassenauseinandersetzungen in der Schweiz und anderswo zu beleuchten. Man muss die stattfindenden Kämpfe in ihrem globalen Rahmen betrachten und die Entwicklung der Krise mitdenken. Nur so kann man verstehen, was ihre Perspektive aber auch ihre Beschränkungen sind.

«Auf lange Sicht sind wir alle tot», kommentierte John Maynard Keynes die Erkenntnis, dass sich der Markt höchstens auf lange Sicht selber regulieren würde. Wie recht er mit diesem lakonischen Kommentar haben sollte, erschliesst sich einem erst, wenn man die Konsequenzen der Krisen zu Ende denkt und eben nicht wie Keynes von einer staatlichen Regulierung tagträumt. Die tiefgreifende Krise, mit der wir seit einigen Jahren konfrontiert sind, kann nur dann zeitweilig überwunden werden, wenn riesige aufgeblähte Kapitalwerte vernichtet werden, grosse Unternehmen bankrott gehen und das allgemeine Lohnniveau abgesenkt wird. Einen Vorgeschmack darauf, was das für die ArbeiterInnen bedeuten würde, gibt etwa die Verdoppelung der Selbstmordrate in Griechenland oder die Explosion der Zahl der von Lebensmittelmarken Abhängigen in den USA. In Angst vor den sozialen Konsequenzen eines solchen Kapital-Vernichtungs-Prozesses versuchen die metropolitanen Staaten mit immensen Rettungsschirmen der Krise Herr zu werden. Allerdings mit dem ernüchternden Resultat, dass die Wirtschaft sich nicht nachhaltig erholt, aber die Staatschulden ins Astronomische anwachsen.

Je nach Tageslage beschwören KommentatorInnen das Ende der Krise oder warnen aber vor falschen politischen Schritten. Täglich muss mit neuen Einbrüchen gerechnet werden. Der Schuldenschnitt Griechenlands etwa lässt Gläubiger zurück, die bloss noch die Hälfte des Werts ihrer Staatspapiere in Händen halten. PolitikerInnen sind bemüht, diesen Schritt als absoluten Ausnahmefall zu verkaufen, weil sonst die ohnehin wackeligen Staatspapiere der PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) ins Bodenlose stürzen würden.

Schwäche des Kapitals?

In der Schweiz verdrängt man erfolgreich, wie kurz man während der milliardenschweren UBS-Rettung vor einer Katastrophe stand. Und man beschönigt etwa einen kurzfristigen Rückgang der Arbeitslosenzahlen um 0,2 Prozent, ohne dem die zunehmende Kurzarbeit gegenüberzustellen. Zudem spricht das Rekordniveau von 1739 Firmenkonkursen im ersten Quartal 2012 eine deutliche Sprache. Die Schweiz steht mit einer Staatsschuld von etwa 33 Prozent des Bruttoinlandproduktes zwar noch verhältnismässig gut da und hat entsprechend noch einiges an Pulver zu verschiessen. Doch vor den genannten Fakten und der Tatsache, dass die Schweiz eben keine autarke Insel ist, erscheint das mediale Hochjubeln der wachsenden Schweizer Wirtschaft vor allem als Selbstvergewisserung, dass man schon irgendwie heil durch die Krise komme.

Man darf nun nicht den Fehler machen, die Verwertungsprobleme des Kapitals für seine Schwäche im Kampf mit den ArbeiterInnen zu halten. Genau in dem Moment, in dem die Nachfrage nach Arbeitskräften fällt, wird ihr Angebot durch Entlassungen vergrössert. Darum schwächen Krisen die Kampfkraft der ArbeiterInnen, die sich zudem häufig mit den Grenzen der Möglichkeiten des Kapitals für Zugeständnisse konfrontiert sehen.

Kämpfe am Abgrund

Vor diesem Hintergrund muss man die vergangenen Kämpfe in der Schweiz einschätzen. Aus Platzgründen kann hier nur ein Aspekt der Kämpfe der letzten Jahre beleuchtet werden: Der Kampf gegen Massenentlassungen und Betriebsschliessungen, wie wir sie in Zukunft wohl vermehrt beobachten werden. Als wegweisendes Beispiel steht der erfolgreiche Kampf der ArbeiterInnen des Cargo-Werkes in Bellinzona. Auch hier wusste man nicht im vornherein, ob die SBB es sich überhaupt leisten konnte, die defizitäre Werkstätte aufrechtzuerhalten. Doch mit einem entschlossenen und von der Belegschaft selber geleiteten Kampf konnten die ArbeiterInnen ihre Forderungen durchsetzen. Allerdings muss mitbedacht werden, dass die SBB als Staatsunternehmen grössere Spielräume hatte, als sie in der Privatwirtschaft üblich sind. Auch der Erfolg der Proteste bei Novartis in Nyon dürfte sich nicht unwesentlich daraus ergeben haben, dass der Staat Novartis massive Steuererleichterungen versprach.

Weit weniger rosig waren die Resultate der Proteste, die sich gegen Massenentlassungen und Betriebsschliessungen etwa bei der Kartonfabrik in Deisswil, der Papierfabrik in Biberist oder bei der Swissmetal in Dornach richteten. Hier legten die ArbeiterInnen – von wenigen selbstermächtigten Momenten abgesehen – ihre Geschicke in die Hände der Gewerkschaften und standen am Ende mit einem halbgaren Sozialplan da. Es ist eine wichtige Frage, ob diese Kämpfe eine reelle Erfolgsperspektive gehabt hätten, wenn sie selbständig und radikal geführt worden wären. Es lässt sich schlicht nicht sagen, welchen ökonomischen Horizont das Unternehmen oder auf einer höheren Ebene – aktuell etwa in Griechenland – der Staat noch hat. Häufig dürften die Spielräume tatsächlich verschwindend gering sein. Doch wenn man, wie das in der Vergangenheit leider häufig der Fall war, alleine auf die Gewerkschaften baut und diese bloss einen handzahmen Protest organisieren, dann gibt man auf, bevor man richtig zu kämpfen begonnen hat.

Man muss heute wohl einer unangenehmen Realität ins Auge blicken: In Zeiten der Krise gibt es innerhalb der Logik des Kapitals für viele Menschen keinen gangbaren Weg, der nicht massive Einschnitte in ihr Lebensniveau bedeuten würde. Und so hängen heute die Frage um das kärgliche Leben im Kapitalismus und die Frage nach einer ganz anderen Weise sich zu reproduzieren, eng zusammen. Häufig steht man faktisch wohl vor der Alternative, alles zu schlucken oder aber alles zu ändern.

Arbeit ist die Quelle von Reichtum, nicht Geld

Wir haben heute längst die Möglichkeiten, um eine effiziente Wirtschaft der gemeinsamen Planung zu errichten. In dieser Gesellschaft wäre  der tagtägliche Diebstahl an der arbeitenden Bevölkerung aufgehoben und der von ihr geschaffene Wert würde ihr direkt zukommen.

«Arbeit ist demnach ganz offensichtlich das einzige allgemein gültige und auch das einzige exakte Wertmaß oder der alleinige Maßstab, nach dem man die Werte der verschiedenen Waren immer und überall miteinander vergleichen kann.» (Adam Smith)

Wir leben in einer Welt, die der Macht des Geldes ausgeliefert ist. Geld heisst Macht und wer viel Geld hat, hat auch viel Macht, die er meist dafür einsetzt, um sich noch mehr Geld und damit auch Macht anzuhäufen. Doch eigentlich ist es erst die Arbeit, die dem Geld irgendwelchen Wert gibt. Arbeit schafft Reichtum, immer. Geld erhält jedoch nur Wert, solange jemand bereit ist, seine Arbeitskraft dafür einzutauschen. Wir sind nicht von der Finanzindustrie abhängig, aber die Finanzindustrie von uns.

Wieso brauchen wir das Geld?

Wir brauchen es, da es zusammen mit einem dazugehörigen Markt den Wertmassstab liefert, um die ungeheuer komplexen Abläufe einer hochgradig arbeitsteiligen Produktionsweise bewältigen zu können. Der Realsozialismus, der eine Wirtschaft ohne die negativen Folgen des Marktes erschaffen wollte, wurde somit im Jahre 1920 folgendermassen kritisiert: «Für die Wirtschaftsrechnung wäre die Statistik nur dann verwendbar, wenn sie über die Naturalrechnung, deren geringe Eignung für diese Zwecke wir nachgewiesen haben, hinausführen könnte. Das ist natürlich dort, wo kein Austauschverhältnis der Güter im Verkehr gebildet wird, nicht möglich.» (Ludwig von Mises, 1920) Dabei weist er auf die Schwierigkeit hin, den Wert einer Ware anders als indirekt über Marktmechanismen festzustellen. Denn die direkte Berechnung der Menge Arbeit, welche in einem Produkt steckt, schliesst eine Unzahl an verschiedenen Parametern ein, welcher kein Mensch alleine bewerkstelligen kann. Aus diesen Gründen war der freie Markt mit seiner oftmals brutalen Konkurrenzlogik also über lange Zeit ein quasi notwendiges Übel, um diesem rechnerischen Problem aus dem Weg zu gehen. Dieses Problem zeigte sich im Realsozialismus umso stärker, je komplexer die wechselseitigen Abhängigkeiten im Produktionsprozess wurden, was zu teils absurden Anekdoten aus dem wirtschaftlichen Alltag führte.

Neue Möglichkeiten

Im Unterschied zu 1920 haben wir heute jedoch völlig andere Möglichkeiten, um solche komplexen rechnerischen Probleme anzugehen: «Ich habe Experimente mit einem bescheidenen Computer unseres Instituts gemacht, und dabei stellte ich fest, dass ich die Gleichung einer Ökonomie etwa in der Größe der schwedischen Wirtschaft innerhalb von ungefähr zwei Minuten lösen konnte. Wenn man einen solchen Computer benutzen würde, wie die Abteilung für Physik oder jede Wetterstation ihn hat, dann wäre es eine ziemlich einfache Angelegenheit, solche Gleichungen auch in anderen Größenordnungen zu lösen.» (Paul Cockshott)

Damit einhergehend müsste also die gesamte Debatte über die Alternativen zur heutigen Organisation der Wirtschaft unter völlig neuen Prämissen aufgerollt werden. Denn so einfach es der Markt macht, anhand des Preises einer Ware rückzuschliessen, wieviel geleistete Arbeit darin steckt, so schwierig macht er es, die im Produktionsprozess stattfindende Ausbeutung augenscheinlich zu machen. Diese findet schlussendlich dort statt, wo man einem Arbeitenden weniger ausbezahlt, als er selbst an Wert erschafft. Konkreter ausgedrückt mit einem fiktiven Beispiel trägt zum Beispiel der Industriebäcker Hans Muster rein mit seiner Arbeitskraft täglich zur Produktion von 200 kg Brot bei. Mit seinem ausbezahlten Lohn könnte er sich jedoch nur 100 kg davon leisten. Das Zugriffsrecht auf die übrig gebliebenen 100 kg Brot in Form von Geld geht somit in konkret oftmals kaum mehr nachvollziehbarer Weise in die Taschen von irgendwelchen BesitzerInnen, SpekulantInnen, Bankiers oder sonstigen ProfiteurInnen des heutigen Systems.

Alltäglicher Diebstahl

Auch dank Jahrzehnte gezielter neoliberaler Propagandatätigkeit hat sich somit das Denken weitgehend durchgesetzt, dass Geld die Grundlage von Reichtum ist. Entspricht es ja auch unseren Alltagserfahrungen, dass es vor allem Leute sind, die sich gar nie direkt am Produktionsprozess zum Beispiel eines Ferraris beteiligen, die sich diesen auch leisten können. Rein objektiv betrachtet liegt die Grundlage dieses Reichtums jedoch im tagtäglichen Diebstahl an der arbeitenden Bevölkerung. Besteuerung der Reichen ist in diesem Zusammenhang also vor allem ein Mittel, um einen Teil des Diebesgutes wieder den Bestohlenen verfügbar zu machen.

Perspektivisch betrachtet wäre es jedoch sinnvoller, transparenter und auch weniger verwirrend, man würde die ganze Verteilungsproblematik schon dort anpacken, wo der tagtägliche Diebstahl beginnt: Im Erkämpfen von Rechten, die den ProduzentInnen selbst ihren erschaffenen Wert von Anfang an zusichert. Die Grundlage dafür bietet das Einführen einer gesamtgesellschaftlichen Zeitrechnung, die uns von der Abhängigkeit der Dynamik des freien Marktes emanzipiert, ohne uns in ein ökonomisches Chaos zu stürzen. Wer mit seinem Schweiss, seiner Lebenszeit und seinem Schöpfungsdrang den materiellen Reichtum unserer Gesellschaft Tag für Tag neu erschafft, sollte auch das Recht haben, darüber zu bestimmen.

Gut integriert?

Am 23. März 2012 endete das Vernehmlassungsverfahren zur Teilrevision des Bundesgesetzes über Ausländerinnen und Ausländer (AuG). Die Revision macht aus dem AuG neu ein AuIG, wobei das «I» für Integration stehen soll. Was im Titel nett klingt, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als Trugschluss.

Die Vorlage impliziert ein eigentliches Verständnis von Integration, welches auf einer Bringschuld zur faktischen Assimilation aufbaut. In bester technokratischer Manier wird ein komplexes Phänomen in eine kodifizierte Form gegossen, die der Realität nicht Stand hält. Einmal mehr verletzt somit ein Gesetzesentwurf im Ausländerbereich grund- und menschenrechtliche Prinzipien. In der Gestalt sogenannter «Integrationsvereinbarungen» nehmen Druck und Zwang im Gesetz Platz. Weiter wird eine Definition von «guter Integration» geschaffen, die zwar mehr als schwammig, doch bei der künftigen Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen entscheidend ist.

 

Die vier «Integrationskritierien»

Ein genauerer Blick auf diese Definition lohnt sich. Die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Respektierung der Grundprinzipien der Bundesverfassung, die Fähigkeit, sich in einer Landessprache verständigen zu können und schliesslich der Wille zur Teilnahme am Wirtschaftsleben oder zum Erwerb von Bildung – das sind die vier Kriterien «guter Integration». Je genauer man diese Kriterien ansieht, desto verschwommener werden sie.

Ersten die «Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung»:

Dass AusländerInnen ausgewiesen werden können, wenn sie «schwere Straftaten» begehen und zu «längerfristigen» Haftstrafen verurteilt werden, steht bereits im AuG. Schon eine einjährige Strafe kann laut Bundesgericht für eine Ausweisung (oder die Nicht-Verlängerung der Bewilligung) ausreichen. Laut dem erläuternden Bericht zum neuen Gesetzentwurf umfasst die «öffentliche Ordnung» aber nicht nur die Einhaltung der Gesetze, sondern auch der «Gesamtheit der ungeschriebenen Ordnungsvorstellungen», die sich bekanntlich je nach politischer Stimmung schnell ändern können.

Zweitens die «Respektierung der grundlegenden Prinzipien der Bundesverfassung»:

Gemeint sind damit nicht etwa die in den ersten 36 Artikeln festgehaltenen Grundrechte, denn diese stellen keine Forderungen an die Individuen, sondern vor allem solche an den Staat dar: Er hat die Grundrechte (auch der AusländerInnen) zu respektieren und darf nur verhältnismässig in sie eingreifen. Aus den Grundrechten lässt sich den «schlecht Integrierten» also kein Strick drehen. Woraus aber dann? Der Bericht zum Gesetzentwurf gibt Hinweise: Zu den Grundprinzipien der Bundesverfassung soll demnach nicht nur die Gleichstellung von Mann und Frau zählen, sondern zum Beispiel auch die «Anerkennung der Schulpflicht» und der Respekt vor dem Gewaltmonopol des Staates (vor Armee und Polizei?). Der fehlende Respekt vor diesen Prinzipien zeige sich «zuweilen im politischen und religiösen Extremismus» und bei dessen Definition hilft zum Glück der Staatsschutz.

Drittens die «Fähigkeit, sich in einer Landessprache zu verständigen»:

Sicher ist es sinnvoll, dass Menschen die in ihrem Umfeld gesprochene Sprache verstehen. Neu werden Sprachkenntnisse allerdings zu einem Druckmittel: Ohne sie sollen Bewilligungen nicht verlängert werden, ohne sie soll es auch keinen Zugang zu einem sichereren Aufenthaltstitel geben. Das Kriterium erweist sich vor allem für diejenigen als Falle, die aus «bildungsfernen Schichten» kommen, das Lernen nicht gewohnt sind und dann auch noch täglich einer schweren Arbeit nachgehen.

Und viertens der «Wille zur Teilnahme am Wirtschaftsleben»:

Zwar sei es «nicht per se» ein Zeichen mangelnder Integration, wenn AusländerInnen zu wenig verdienen und trotz Arbeit zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen seien. Aber: «Die Erfordernis der wirtschaftlichen Selbständigkeit stellt die Regel dar», heisst es im Bericht. Die Abhängigkeit von Sozialhilfe ist schon heute ein Grund für den Widerruf oder die Nicht-Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung. Nun will das EJPD den Verlust des Arbeitsplatzes zu einem Kriterium mangelnder Integration machen – mitten in der Krise.

Das neue Integrationsgesetz bietet vor allem eines: weitere Möglichkeiten zur Drangsalierung von AusländerInnen. Weil aber die meisten von Ihnen durch die Personenfreizügigkeit vor dem neuen Zwang geschützt sind, trifft es vor allem die mittlerweile übliche Personengruppe mit voller und gewollter Härte: Angehörige von Drittstaaten.

Wenig für Wenige,viel für Viele!

Die kantonale Volksinitiative «Steuerbonus für dich» will das Privatvermögen ab 3 Millionen und das Eigenkapital der Firmen ab 5 Millionen Franken mit 1 Prozent besteuern. Dies ergibt Steuereinnahmen von rund 6 Milliarden Franken. Diese Summe verteilen wir mit einem Steuerbonus von 5 000 Franken pro Erwachsenen und 3 000 Franken pro Kind. 80 Prozent der Bevölkerung profitiert davon. Wenig für wenige, viel für Viele. Unterschreibt die Initiative der Partei der Arbeit Zürich (PdAZ)!

Der Blick auf die Villen an der Goldküste lässt bereits erahnen, was die Steuerstatistik bestätigt. Der Reichtum im Kanton Zürich ist ungleich verteilt. So besitzen 1,5 Prozent der Privatpersonen 45 Prozent des versteuerten Vermögens. Noch viel deutlicher ist die Konzentration bei den Firmen. Hier vereinigen die 5,2 Prozent grössten Firmen 96 Prozent des Eigenkapitals auf sich. Und: Die Einkommens- und Vermögensungleichheit hat in den letzten Jahren auf hohem Niveau sogar noch zugenommen. Wir von der PdAZ wollen, dass die Bevölkerung nicht mehr länger zusehen muss, wie sich die Lohnschere weiter öffnet, wie sich Kaderleute gegenseitig Boni zuschanzen und Grossaktionäre immer weniger Steuern auf ihre horrenden Dividenden bezahlen. Mit der Initiative erinnern wir daran, dass die arbeitende Bevölkerung einen Grossteil der Verantwortung für einen wirtschaftlichen Erfolg trägt und somit den Reichtum schafft.  Wir fordern, dass für einmal diejenigen einen Bonus erhalten, die ihn am dringendsten benötigen und dass für einmal nur diejenigen Superreichen dafür aufkommen müssen, welche im Überfluss leben. Besteuert mit 1 Prozent werden die Privatvermögen ab 3 Millionen Franken und das Eigenkapital von Firmen ab 5 Millionen Franken. Das sind – wie oben bereits erwähnt – 1,5 Prozent der Steuerzahler und 5,2 Prozent der im Kanton Zürich ansässigen Firmen.

 

Direkt betroffen

Die einmalige Besteuerung dieser Vermögen   ergibt Steuereinnahmen von beinahe sechs Milliarden Franken! Die Tatsache, dass aus den Steuereinnahmen von einem Prozent für wenige Superreiche eine Geldmenge von sechs Milliarden Franken zusammenkommt, beweist, wie schrecklich einseitig das vorhandene Vermögen im Kanton Zürich verteilt ist. Die Villen an der Goldküste sind, wie gesagt, ein Ausdruck davon. Die rund sechs Milliarden Steuereinnahmen  kommen etwa 80 Prozent der Bevölkerung zugute: 5000 Franken  pro Erwachsenem und 3000 Franken pro Kind können als Steuerbonus ausbezahlt werden. Konkret sind dies  alle Einzelpersonen (Einzeltarif) mit einem jährlichen Einkommen bis 100 000 Franken  sowie Paare (Verheirateten-Tarif) bis 150 000 Franken  Einkommen  im Jahr. Der Steuerbonus ist jeweils auf die kommenden Steuerperioden übertragbar. Ein Beispiel: Familie Zürcher mit zwei minderjährigen Kindern bekommt einen Steuerbonus von 16 000 Franken (jeweils 5000 für Vater und Mutter plus 3 000 Franken pro Kind). Beträgt die Steuerrechnung für das Jahr 2013 6 000 Franken zahlt sie Null Franken im Jahr 2013 und hat für das Steuerjahr 2014 einen Restbonus von 10 000 Franken.

Das besondere und neue an unserer Initiative ist, dass die Mehreinnahmen aus der Sondersteuer durch den Steuerbonus an die Bevölkerung ausbezahlt werden. So wird klar, wie wir alle sehr direkt von politischen Entscheiden betroffen sind und  von ihnen profitieren können. Es soll insbesondere auch die über 50 Prozent der Stimmberechtigten, die normalerweise von den Urnen fernbleiben, dazu ermuntern, ihr Stimmrecht wahrzunehmen und, indem sie sich für ihre Interessen stark machen, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.

 

Eine Frage des politischen Willens

Die Besteuerung des Privatvermögens und des Eigenkapitals erfolgt in nur in einem Jahr – es ist somit eine einmalige Besteuerung. Alle, die ein Vermögen von 3 Millionen (und mehr) haben, können  locker (!) eine einmalige Steuer von 30 000 Franken verkraften. Natürlich drängt sich die berechtigte Frage auf: «Warum nur eine einmalige Besteuerung der Superreichen?» Es droht somit keine Diskussion über den Wegzug von «guten Steuerzahler» oder den Verlust von Arbeitsplätzen. Zwei Lieblingsargumente und Todschläger vieler politischer Themen der Bürgerlichen fallen so gleich weg. Dies erlaubt uns wiederum, den Fokus auf den Kern der Initiative zu richten: Auf die Rückverteilung des hauptsächlich von der arbeitenden Bevölkerung erwirtschafteten Reichtums. Damit hängen auch Fragen zusammen, wie «wer bestimmt über die Verteilung des Reichtums?», «mit welchen Mitteln wird über die Verteilung des Reichtums entschieden?», «warum öffnet sich die Schere zwischen reich und arm immer mehr?» und «warum besitzen so wenige so viel Vermögen, während andere in prekären Verhältnisse leben müssen». Was wir mit all diesen Fragen erreichen wollen? Wir wollen ein kritisches Bewusstsein schaffen für die unmögliche Verteilung des Reichtums und deren Ursache in der Art liegt, wie im Kapitalismus gewirtschaftet wird.

Unsere Initiative zeigt auf, dass die Verteilung des Reichtums eine politische Frage ist. Sie gibt den Menschen im Kanton Zürich eine Möglichkeit, eine Stimme für ihre Rechte und ihre Interessen zu erheben. Dabei kann sie die Mehrheits- und die Besitzverhältnisse im Kanton Zürich aufzeigen. Sie macht klar, dass es eine politische Auseinandersetzung ist, wie der Reichtum in der Gesellschaft verteilt wird, und dass  dabei momentan eine reiche Minderheit der grossen Mehrheit der Bevölkerung gegenüber steht

 

Echte Demokratie

Die SchweizerInnen rühmen sich gerne ihrer direkten Demokratie. Die Mehrheit der Stimmbürger hat die  Möglichkeit, aktiv das politische Geschehen zu verändern. Dass wir trotzdem in einem Gesellschaftssystem leben, welches eine kleine privilegierte Minderheit begünstigt und ihr einen Grossteil des Reichtums überlässt, ist nur auf den ersten Blick ein Paradoxon. Die bürgerlichen Parteien haben unter anderem mit dem Konstrukt des Steuerwettbewerbs ein Druckmittel geschaffen, dass es ihnen ermöglicht, das Bedürfnis der Bevölkerung nach mehr sozialer Gerechtigkeit gegen die Angst um den Wirtschaftsplatz und die Arbeitsplätze auszuspielen. Die Ungleichheit gilt es zu akzeptieren, sonst drohen euch Arbeitslosigkeit und Verarmung, lautet es dann jeweils sinngemäss. Dass sie damit aber hauptsächlich ihr eigenen Klientel, nämlich die Superreichen, begünstigen, wird dabei oft geschickt vertuscht.

 

P3, Generika, Eigentum

Hinter dem so genannten ACTA-Abkommen verbergen sich weit gravierendere Gefahren als die blosse Einschränkung der Meinungs- und Downloadfreiheit im Internet. An diesem Abkommen zeigt sich eine grundlegende Problematik der bürgerlichen Gesellschaft und dem ihr notwendig innewohnenden Ausschluss bestimmter Menschengruppen vom gesellschaftlichen Reichtum. Auch der Bundesrat und das Parlament werden sich damit befassen müssen.

Das 52-seitige «Counterfeiting Trade Agreement» kurz ACTA stösst momentan nicht auf viel Gegenliebe. Die Protestierenden, die in verschiedenen europäischen Ländern – im kleinen Rahmen auch in der Schweiz – Ende Februar auf die Strasse gingen, kritisieren vor allem, dass der internationale Vertrag die vermeintliche Freiheit im weltweiten Netz gefährde. Die Freiheit, Filmchen und Musikdateien aus dem Internet runter- und hochzuladen und auf Blogs seine Meinung dazu kundzutun. Tatsächlich soll der recht schwammig gehaltene Text des Abkommens eine Handhabe bieten, um gegen illegalisierte Praktiken im Internet härter vorzugehen. ACTA schafft im Vergleich zu bereits geltendem Recht wenig Neues. Es will aber die Rechtslage in den Teilnehmerstaaten angleichen und verpflichtet sie darum zum Beispiel darauf, im nationalen Recht Verfahren bereitzustellen, die einen wirksamen Schutz des geistigen Eigentums garantieren. Wie dies genau umgesetzt werden soll und was die Folgen davon sind, ist umstritten und ExpertInnen erklären die konkrete Umsetzung für eine Auslegungssache. Es ist also vieles im Unklaren. Klar allerdings ist, dass eine Verschärfung der Verfolgung von Internetvergehen, der Schnüffelei im Internet Tür und Tor öffnen würde. Dies, weil eine konsequente Ahndung solcher Gesetzesverstösse einer grossflächigen Überwachung bedürfte und damit die Datensammelwut von Facebook und Konsorten quasi zum notwendigen Standard erhoben werden dürfte.

 

Demokratische Legitimation?

Die GegnerInnen von ACTA werfen den MacherInnen des Vertrages zudem vor, dass er jeglicher demokratischen Grundlage entbehre. Das hat was für sich, denn das Abkommen wurde seit 2006, 2007 oder 2008 – die Angaben variieren – unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt und die Vertragstexte fanden nur den Weg in die Öffentlichkeit über sogenannte «Leaks», undichte Stellen. Über diese Art der Kritik muss man einige Worte verlieren: Die demokratische Legitimation eines Vertrages, der vor allem den Grosskonzernen zugute kommen würde, würde ihn vom Standpunkt der breiten Bevölkerung noch lange nicht zu etwas Vernünftigem machen. Einen solchen Vertrag sollte man danach beurteilen, was seine Konsequenzen sind und nicht danach ob er die hohen Weihen der Demokratie erhalten hat. Mit dieser Logik müsste man glatt die Ablehnung der 6-Wochen-Ferien-Initiative für gut erklären oder die restriktive Ausschaffung «krimineller» Ausländer gut heissen. Das war schon in der ehemaligen Antiglobalisierungsbewegung eine komische Argumentationsfigur: Das WEF oder die G8 – in deren Umfeld das ACTA-Abkommen entstanden ist – wurden in weiten Kreisen nicht deswegen kritisiert, weil sie direkte Geschäftsausschüsse der potentesten Nationen und deren Kapital sind, sondern weil ihnen die demokratische Legitimation fehle. So erhebt man die bürgerliche Demokratie und Öffentlichkeit zu einem Wert als solchen und geht ihr damit auf den Leim.

 

Ausschluss von 

lebenswichtigen Gütern

In den Protesten gegen ACTA geht es zumeist um die Freiheit im Internet. Auch die Medien berichteten und berichten vor allem unter diesem Gesichtspunkt über das Abkommen und den sich formierenden Widerstand. Dabei gerät aus dem Blick, dass eine Verschärfung der Überwachungs- und Bestrafungspraxis von Verstössen gegen das geistige Eigentum wesentlich elementarere Güter betrifft als MP3-Dateien und Avi-Filmchen. Sollte das ACTA-Abkommen tatsächlich in Kraft treten, dann dürfte es Firmen wesentlich leichter fallen, Patentrechte auf Saatgut durchzusetzen oder die Produktion und Ausfuhr von Generika zu verhindern. Dies würde für einen grossen Teil der Welt eine Verschlechterung der ohnehin katastrophalen Zustände bedeuten. Dieses Problem wird leider bloss von wenigen KritikerInnen thematisiert. Doch auch sie graben in den allermeisten Fällen zu wenig tief – obwohl das Problem eigentlich offen zu Tage liegt: ACTA würde eine Verschlechterung bedeuten, ja. Aber diese Verschlechterung kann es bloss geben, weil den Menschen in der sogenannten Dritten Welt – und nicht nur da –überlebenswichtige Güter überhaupt als Firmen-Eigentum an Saatgut und Medikamenten gegenüber tritt. Zugang zu diesen dringend benötigten Mitteln erhalten sie nur, wenn sie über eine zahlungskräftige Nachfrage verfügen. Wenn sie also das entsprechende Geld dafür aufbringen können. Dass diese Waren nun durch das ACTA-Abkommen drohen verteuert zu werden, ist problematisch. Weit problematischer aber ist doch der Mechanismus, dass die betroffenen Menschen ganz grundsätzlich über das Geld von diesen Waren ausgeschlossen werden oder sie nur in unzureichendem Masse erhalten. Darüber sollte man im Rahmen der ACTA-Proteste mal nachdenken. Wenn aber auf der offiziellen Webseite der Anti-ACTA-Bewegung in Deutschland vorgerechnet wird, dass das Abkommen dem Handel schade, dann macht man das glatte Gegenteil und erklärt sich objektiv mit dem Ausschluss von Menschen vom gesellschaftlichen Reichtum einverstanden.

 

Beschluss im Parlament

Wenn der Bundesrat voraussichtlich im März nächsten Jahres das Abkommen unterzeichnen will, um es dann vor das Parlament zu bringen, dann wird er sich aller Voraussicht nach keinen der obigen Gedanken machen. Dass das Abkommen über das parlamentarische Verfahren seine demokratischen Weihen erhalten würde, würde die potentiell mörderische Problematik dieses Abkommens um keinen Zentimeter wett machen. Fraglich wäre lediglich, ob sich der humanistische Schleier in den Köpfen einiger PolitikerInnen durchsetzen könnte und so ACTA zurückgewiesen würde oder ob sich die direkten Profitinteressen der Grosskonzerne einmal mehr recht unvermittelt durchsetzen könnten.