Halt Stand freies Efrîn!
Nikol Uçar. Am 20. Januar startete der türkische Staat seinen Angriffskrieg gegen Efrîn, mit dem Ziel, das emanzipatorische Projekt zu zerstören, das eine Hoffnung für die ganze Region und weltweit ist. Gerade auch, weil die Frauen darin eine treibende Kraft sind. Doch genauso, wie der Widerstand in Kobanê den IS vertreiben konnte, wehrt nun Efrîn die türkische Besatzung ab.
Seit sechs Wochen greift der türkische Staat die Dörfer und Städte von Efrîn aus der Luft an. Die Angriffe forderten bis jetzt über 200 Tote und 600 Verletzte, ein grosser Teil davon sind ZivilistInnen. Hinzu kommen Angst, Trauer, Traumatisierung; Kinder, die sich in Höhlen verstecken müssen, statt zur Schule zu gehen; Spitäler, die überfüllt sind und denen es an allem mangelt.
Seit sechs Wochen leisten die KämpferInnen der Frauen- und Volksverteidigungseinheiten YPJ und YPG erbitterten Widerstand. Recep Tayip Erdogan, der autokratische Präsident der Türkei meinte, seine Armee werde die KurdInnen innerhalb dreier Tage besiegen, doch nach sechs Wochen ist immer noch kein Ende in Sicht. Denn die türkische Armee und ihre djihadistischen Verbündeten kommen nicht wirklich voran, obwohl sie besser als die YPJ/YPG ausgerüstet sind.
Gezielt werden zivile Wohngebiete mit Artillerie und aus der Luft bombardiert, ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und systematisch Infrastrukturen, wie Wasseraufbereitungsanlagen, zerstört. Und der Rest der Welt schaut zu – wobei zuschauen ein Euphemismus ist, denn die Grossmächte lassen die Türkei gewähren. Zwar seien sie besorgt, doch verstünden sie das legitime Anliegen der Türkei. Einerseits rufen sie «alle Seiten» dazu auf, ZivilistInnen zu verschonen, anderseits erlauben sie Kriegsgeschäfte mit der Türkei. Es ist mehr als nur ein Dulden, wenn deutsche Panzer am Krieg beteiligt sind und die Türkei zu den wichtigsten Abnehmerländern der Schweizer Rüstungsindustrie gehört. Denn auch wenn das Seco im Sommer 2016 behauptete, dass Waffenexporte in die Türkei sehr restriktiv gehandhabt würden, so exportierte eine Schweizer Firma bis Ende desselben Jahres Einzelteile für Rüstungsgüter für über 7,2 Millionen Franken. Es kann also davon ausgegangen werden, dass einzelne Teile «Made in Switzerland» in Efrîn zum Einsatz kommen.
Friedliche Enklave wird zerbombt
Efrîn war bis zum 20. Januar vom Krieg weitgehend verschont und wurde zum Zufluchtsort. Aus verschiedenen syrischen Regionen vor dem Krieg geflüchtet, werden die Menschen nun vom Krieg wieder eingeholt und existentiell bedroht. Bereits am zweiten Tag bombardierten türkische Kampfflugzeuge auch das Flüchtlingscamp Rubar, in dem Binnenflüchtlinge aus Aleppo und Idlib leben.
Der Angriff richtet sich jedoch nicht nur gegen die multiethnische Bevölkerung Efrîns, sondern auch gegen das revolutionäre Projekt an sich: Erdogan kündigte an, dass die Besatzung Efrîns nur der erste Schritt eines umfassenden Vernichtungsfeldzugs gegen ganz Rojava und die gesamte demokratische Föderation Nordsyrien sei. Was mit den Menschen in Efrîn geschehen soll, ist auch klar: Der türkische Staat degradiert sie allesamt zu «Terroristen», die man «neutralisieren» muss.
Obwohl Erdogan offen von einer ethnischen Säuberung spricht, schweigt der Rest der Welt. Dabei ist der Hass der Türkei gegen die KurdInnen nicht neu, sondern gehört genauso zur Staatsideologie wie der Genozid gegen die ArmenierInnen. Der Angriff auf Efrîn ist eine neue Zuspitzung der Auseinandersetzung auch gegen die KurdInnen im eigenen Land. Als ab dem Sommer 2012 direkt an der Grenze, in einem Gebiet, das Erdogan ohnehin in seinen neoosmanischen Grossmachtphantasien als sein eigenes sieht, ein emanzipatorisches Projekt Form annimmt, welches das pure Gegenteil seiner Vorstellungen verkörpert, sieht er auch seine eigene Macht bedroht. Nicht ganz zu Unrecht, da Rojava bald zur Hoffnung nicht nur der KurdInnen, sondern auch linker, fortschrittlicher Bewegungen in der gesamten Türkei wurde.
Trotz Embargo durch die Türkei konnten die Menschen in Efrîn und anderswo in Rojava/Nordsyrien ihr Projekt des demokratischen Konföderalismus vorantreiben, jenseits von Nationalismus, religiösem Sektierertum und imperialistischer Fremdbestimmung. Mit einer kommunalen Ökonomie und einer basisdemokratischen Räteverwaltung wird versucht, ein Leben jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik und staatlicher Bevormundung aufzubauen.
Helin Asî beschreibt in ihrem Artikel auf «Firat News», wie alle Räte, Kooperativen, Akademien und andere Einrichtungen der demokratischen Föderation Nordsyrien mit einer Vorreiterrolle von Frauen organisiert werden und jede Position eine Doppelspitze hat. Keine Entscheidung dürfe getroffen werden, wenn nicht mindestens 40 Prozent Frauen daran beteiligt sind.
Die Frauen Rojavas führen jeden Tag und in jedem Bereich Kämpfe, um die lange verlorene Freiheit und Selbstbestimmung über ihre Gedanken, Gefühle und ihren Körper zurückzuerlangen. Die Frauen Rojavas kämpfen darum, den tief verwurzelten gesellschaftlichen Sexismus abzubauen und patriarchales Gedankengut durch eine neue, eigene Wissenschaft zu ersetzen, welche die Geschichte von Frauenwiderständen und Freiheitskämpfen im Laufe der Menschheit ans Licht bringt und in ihre heutige Praxis einbettet.
Die Jineolojî, wie diese Wissenschaft der kurdischen Frauenbewegung genannt wird, stellt einen radikalen Versuch dar, die eigene Geschichte in die Hand zu nehmen, indem Vergangenheit und Gegenwart hinterfragt werden, um die Zukunft neu zu gestalten. Das Vorbereitungskomitee zur Jineolojî- Konferenz in Köln schrieb 2013: «Jineolojî kritisiert das elitäre, patriarchale, positivistische Verständnis von Wissenschaft und bemüht sich darum, einen alternativen ganzheitlichen Ansatz zu entwickeln. In vielen Ländern formulierten Frauenbewegungen und Feministinnen bereits eine Wissenschaftskritik, es entstanden Frauenforschung und feministische Wissenschaftsansätze. Jineolojî bezieht einerseits diese Diskussionen, Erfahrungen und Erkenntnisse ein, versucht aber zugleich von den Bedingungen und Bedürfnissen in Kurdistan ausgehend eine neue Form und ein neues Verständnis der Wissenschaft von und für Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten zu entwickeln.»
Barîn ist unsere Würde
Wie viele andere Frauen in Rojava deutet Helin Asî den jetzigen Angriff auf Efrîn als einen Angriff auf Frauen, einen Angriff auf die Freiheit von Frauen, einen Angriff auf die Selbstverwaltung und Selbstverteidigung von Frauen. Frauen kämpfen an vorderster Front, viele von ihnen sind in den letzten sechs Wochen gefallen – wie bereits bei der Befreiung von Kobane und Raqqa, damals auch durch den Westen als Heldinnen gefeiert. Barîn Kobanê, eine mutige Frau aus dem im letzten Sommer gegründeten Kanton Sheba, war mit ihrer Familie nach Efrîn geflüchtet und schloss sich dort 2014 der YPJ an. Nachdem sie Ende Januar im Kampf um Efrîn gefallen ist, wurde ihr Leichnam durch Djihadisten brutal verstümmelt und die Bilder ins Netz gestellt. Daraufhin haben kurdische, arabische, turkmenische und albanische Frauen aus Sheba eine Presseerklärung abgegeben: «Barîn ist unsere Würde. Der Feind, der Barîns Willen und ihrem furchtlosen Widerstand nicht gewachsen war, hat ihren Leichnam geschändet und damit versucht, allen Frauen eine Botschaft zu übermitteln. (…) Wir geben Barîn unser Versprechen, ihren Kampf fortzusetzen. Barîns Widerstand und der Widerstand von Arîn Mîrkan, Avesta Xabûr und der vielen anderen, tapferen Frauen macht uns Mut und stärkt unseren Kampf. Ihr Weg ist unser Weg. Die Besatzer werden verlieren, Efrîn wird siegen!»
Die Revolution der Frauen verteidigen
Helin Asî kritisiert aber auch die westliche Frauenbewegung, vor allem jene etablierten Teile davon, die einen Teil der Macht möchten, anstatt das herrschende System als Ganzes zu bekämpfen. Dieser Teil der feministischen Bewegung lebe in einer Blase und «verpasst die greifbaren Revolutionen da draussen und versteht nicht, dass Feminismus internationalistisch, im Leben verwurzelt und mit der Gesellschaft verschmolzen sein muss.» Dass es auch anders geht, zeigen verschiedene Aktionen und Aufrufe zur Verteidigung Efrîns. So ruft die feministische Kampagne «Gemeinsam Kämpfen» aus Hamburg dazu auf, gemeinsam und laut auf die Strasse zu gehen: «Eine Form, die Revolution zu verteidigen ist, ihre Ideen zu verbreiten, sie zu diskutieren und auch hier Strukturen aufzubauen, die sich für ein Leben einsetzen, dass einen Ausweg aus dem zerstörerischen System des kapitalistischen Patriarchats darstellt. Lasst uns daher über unsere Gemeinsamkeiten sprechen und uns nicht an unseren Unterschiedlichkeiten spalten lassen. Lasst uns gemeinsame Ziele finden und lasst uns Strategien entwickeln, wie wir auch hier unsere Ideen auf gesellschaftlicher Ebene umsetzen können.»
Überall ist Efrîn, überall ist Widerstand
Die kurdische Frauenbewegung in Europa, TJK-E, ruft zum internationalen Frauenkampftag zur Unterstützung von Efrîn auf. In ihrer Erklärung schreiben sie, dass die Frauenbewegung die historische Verantwortung trage, dem Andenken all jener Frauen gerecht zu werden, die ihr Leben für die Freiheit ihres Geschlechts gegeben haben; von Clara Zetkin bis Sakine Cans?z, von Rosa Luxemburg bis Arîn Mîrkan, von Berta Caceres und Zilan bis Avesta Xabur, von Delal Amed bis Barîn Kobanê. Weiter erinnert die TJK-E daran, dass Frauenbefreiung kein Traum sei und auch keine vage Forderung, «sondern ein alternatives Gesellschaftssystem, das sich im Aufbau befindet. Unser Ziel sollte sein, zusammen mit dem diesjährigen 8. März vom Mittleren Osten bis nach Europa, von Lateinamerika bis nach Asien, von Amerika bis nach Afrika dieses System überall zu stärken und unseren Widerstand sowie unsere Frauensolidarität zu vergrössern.»