Voll Begeisterung und Glauben

Landsturmtruppen und Streikende beim verbarrikadierten Bahnhof Grenchen-Süd

red. Im November vor genau hundert Jahren streikten die ArbeiterInnen der Schweiz. Die unsichere SP-Führung brachte die Niederlage und nachhaltig den Glaubensverlust an die Revolution unter der Arbeiterschaft. Die Geschichte des Landesstreiks aus Sicht von *Fritz Brupbacher aus dem Jahr 1928, erster Teil.

400’000 ArbeiterInnen streikten am 12., 13. und 14. November in der schweizerischen Eidgenossenschaft. Lange verhaltene Wut, der Wille zur Vergeltung, der Traum von einer Welt, wo Recht und Gerechtigkeit herrscht, wanderten vom Hirn in die Glieder und stellten alle Räder still. Endlich hatte das längst ersehnte Signal des immer wieder zögernden Oltener Aktionskomitees erklungen und wenn einmal das blosse Niederlegen der Arbeit zum Sieg des Proletariats hätte führen müssen, wäre es im November 1918 gewesen. Wenn einmal das blosse passive Verweigern der Arbeit an die bürgerliche Gesellschaft den Sieg bringen konnte, hätte ihn der Novemberstreik gebracht.
Wie fast restlos der Streik war, sieht man aus der lächerlich kleinen Anzahl von Nötigungs- und Sabotageprozessen, die dem Landesstreik folgten. Auch der unorganisierte Arbeiter, der in den Teilstreiken nur auf Drängen seiner organisierten KollegInnen die Arbeit verliess, streikte von sich aus, aus seinem eigenen Interesse heraus, begeistert mit.

Was wäre wenn …
In friedlichen Zeiten, wo der Kapitalist nur an sein tägliches Äufnen von Mehrwert denkt, da mag ihn der Streik erschrecken, als grad den Tagesgewinn einschränkend, und wenn er errechnet, dass Nachgeben ihm profitabel sei, so gibt er nach. Aber in Zeiten der Gärung, wo ihm der Gedanken aufsteigt, es könnte um seine ganze Kapitalisten-existenz gehen – und das dachte er 1918 – da lässt er ruhig streiken und wartet ruhig oder nicht ruhig, bis der Streik vorbei ist, und stellt auf den Zeitpunkt, wo die Streikenden zu Hungernden und die Hungernden zu gewalttätigen RevolutionärInnen werden, die Armee bereit, und organisiert unterdessen alle reaktionären Schichten der Bevölkerung, damit sie und wenn es noch so kümmerlich wäre, den Gang der Wirtschaft aufrecht halten.
Eine ernstliche Desorganisation der Gesellschaft konnte der Streik, weil er nicht länger andauerte, nicht hervorbringen, deshalb waren auch in jener Zeit die Ansätze zu einer grossen Streikbrecherorganisation kaum gelegt. Wohl versuchten Studenten als Postiers und Ingenieure als Lokomotivführer sich zu betätigen, aber über ein Spielen mit der Arbeit ging das nicht hinaus, fiel nicht als Arbeitsleistung ins Gewicht. Und wie die Armee sich verhalten hätte, wenn der Streik länger gedauert hätte, wissen wir nicht. Wenn vielleicht noch mehr Soldaten hätten aufgeboten werden müssen, und wenn der Dienst sich hingezogen, wenn es zu vielen Zusammenstössen gekommen wäre, besonders weil auch die Grippe noch wütete, wäre vielleicht doch in der Armee die fast einheitlich reaktionäre Stimmung zermürbt worden.
Aber in zwei Tagen Streik konnte das umso weniger der Fall sein, als der Bundesrat natürlich in erster Linie die allerreaktionärsten Truppen aufbot, und das Aktionskomitee in der Nacht des zweiten Tages beschloss, weder zu siegen noch zu sterben – sondern zu kapitulieren, bevor der Streik sich ausreifte.

Ruhige ArbeiterInnen
Da die Arbeitsruhe eine fast vollkommene war, hatte die Polizei und Armee Mühe, Vorwände zum Eingreifen zu finden. In Zürich beschäftigte sie sich damit, zu verhaften, wer etwa mit Soldaten sprach und sie auf ihre unschöne Arbeit aufmerksam machte. Stolz führten dann auch etwa ein halbes Dutzend Kavalleristen einen 12-jährigen Jungen in der Mitte, der sie ausgepfiffen, oder ein halbes Dutzend Infanteristen führten mit aufgepflanztem Bajonett einen Arbeiter ab, der Flugblätter verteilte, oder Widerstand geleistet, wenn man ihn über einen Trottoirrand zurückwies. Er musste froh sein, wenn er von ihnen nicht geschlagen wurde. In eine geschlossene Versammlung der EisenbahnerInnen drang das Militär ohne Weiteres ein und ein Kavalleriehauptmann jagte sie auseinander.
Da aber die ArbeiterInnen sehr ruhig waren, gab es für das Militär nur grad da Arbeit, wo es provozierte, wie etwa in Grenchen (Solothurn), wo am 14. November, am letzten Streiktage, ohne Weiteres von den Waadtländerinfanteristen in die ruhige Menge geschossen und drei Arbeiter getötet wurden.
Trotzdem wir eigentlich wussten, dass die Mehrzahl der Soldaten aus rückständigen Gegenden kam, und dass sie uns offensichtlich feindlich behandelten, spielte in unserer Fantasie die Vorstellung, dass ihre Stimmung sich doch noch wenden könnte, eine grosse Rolle und die verschiedensten Gerüchte über Vorkommnisse in der Kaserne, über Meuterei und Ähnliches, schwirrten in der Stadt herum. Wir erwarteten immerhin das seelische Umlernen wenigstens der kleinbäuerlichen und proletarischen Infanterie. Und zwischenhinein schwirrten uns – wo wir abgeschnitten waren vom Ausland – Gedanken vom Übergreifen der Revolution von Deutschland her oder gar von einer möglichen Revolution in Frankreich durch den Kopf. Und wenn die Nacht kam, man lag schon im Bett, und Extrablätter wurden ausgerufen, so gingen einem die wunderlichsten Fantasien durch den Kopf, man dachte nicht weniger an eine grosszügige Meuterei von Soldaten als an die Verhaftung des Streikkomitees.

Diplomatisch manövrieren
Am 13. November kam der Bericht über die Rede von Bundespräsident Calonder vor der Bundesversammlung vom 12. November. Es war die Rede eines etwas unterhöhlten, nach aussen stark tuenden Mannes. Einerseits versprach er, dass der Nationalrat 1920 nach dem Proporz gewählt würde und dass man der Arbeiterschaft einen Bundesratssessel geben wolle, anderseits erklärte er, dass das Militär auf das Volk schiessen werde, wenn es nötig sei.
Augen- und OhrenzeugInnen, die die Bundesväter und die Ratsherren hinter den Kulissen sahen, berichteten, dass sie dort weniger unerschrocken gewesen seien, als in ihrer rhetorischen Fassade, dass bei manch einem, der Darm sich mindestens so schnell bewegte wie die Zunge und der Sprechapparat, und dass die Angst vor dem Zusammenbruch in ihrem bestimmten Auftreten nach aussen eine grössere Rolle gespielt habe als die Zuversicht in die Kraft der Bürgerschaft und Armee.
Ärmlicher noch betrug sich die sozialdemokratische Fraktion, die sogar nach dem Ausspruch von Regierungsrat Schneider den Eindruck der Unsicherheit machte. Die SP wollten Schläulinge sein, wollten diplomatisch manövrieren. Statt rücksichtsloser Kampfansage wurde laviert, politisch Kulissen geschoben und die reaktionäre Gesellschaft zu überreden gesucht.
Takt- und Verständigungsversuche – wo es keine geben konnte – wechselten miteinander ab. Der Gegner erkannte diese Unsicherheit und richtete sich danach ein. Diese Politik hat sicher beigetragen, den Widerstand und die Unbeugsamkeit der Reaktion zu stärken und gab ihr den Mut, das bekannte Ultimatum an das Aktionskomitee zu stellen.
Am 13. stellte sich die Bundesversammlung mit 136 gegen 16 Stimmen auf die Seite Calonders. Im Lande draussen war das Verhältnis freilich ein anderes. Sogar das Kartell der bürgerlichen Linksparteien forderte ganz weitgehende Reformen, Sozialisierung, und Abwälzung der Kriegssteuern auf die Besitzenden, und die zürcherischen DemokratInnen gingen fast soweit wie heute die SozialdemokratInnen in ihren Forderungen. Da der Streik im Kanton Zürich am grossartigsten gelang, war auch seine Wirkung auf Regierung und Parlament am ausgiebigsten. Unter dem Druck des Streikes beschloss der Zürcher Kantonsrat am 13. November Vorlagen für den Achtstundentag und das Frauenstimmrecht.

Es ist zum Heulen
Am Vormittag des 14. Novembers war alles guter Laune. Wohl ging das Gerücht, das Aktionskomitee habe den Streik mit dem 15. für beendet erklärt. Aber niemand glaubte an dieses Gerücht. Alles stand ja gut, glänzend, man war voll Begeisterung und Glauben. Das «Volksrecht» (SP-Zeitung) vom 14. November erklärte: «Das Gerücht ist nicht wahr. Bis zur Stunde liegt keine Weisung des Aktionskomitees vor. Genossen! Lasst Euch nicht irre führen. Hört einzig auf Eure Organisationen.»
Das «Volksrecht» hatte eine Unwahrheit gesagt. Das Aktionskomitee hatte in der Nacht vom 13. November bedingungslos kapituliert, den Kampf «auf ein unverschämtes, die Arbeiterschaft entehrendes Ultimatum des Bundesrates hin abgebrochen». Die Erschütterung in der zürcherischen Arbeiterschaft war eine fürchterliche. Und wenn Nobs im «Volksrecht» schrieb: «Es ist zum Heulen», so hatte er gesagt, was Zehntausende fühlten und zum Teil wirklich taten. An jenen Tagen hatten unsere ArbeiterInnen wirklich Tränen in der Stimme, wenn sie ihnen nicht über die Backen flossen. Sie sagten überall Nobsens Spruch und fügten unisono hinzu: «Das Oltener Komitee hat uns verraten und verkauft. Gestern sagte man uns, alles stehe glänzend, und heute Abend sagt man uns, wir müssen abbrechen.» Manch einer drohte, er wolle aus der Organisation austreten oder auswandern. Man sah, dass die Leute etwas Unbestimmtes, Grosses erwartet und dass die nun wie aus dem Himmel gefallen waren.

Glauben verloren
An diesem Tage vollzog sich aber auch die Loslösung der breiten Massen nicht nur von dem Aktionskomitee, sondern auch von der revolutionären Avantgarde. Es war für sie nicht nur die Beendigung des Landestreikes, sondern das Ende vom Glauben an eine nahe Revolution.
Unsereiner, der nicht nur in den Kreisen der GewerkschafterInnen und ParteigenossInnen, sondern als Arzt in Kontakt mit all den halb oder ganz indifferenten ArbeiterInnen steht, fühlte, dass vom 15. November an weite Schichten vom Gedanken an eine nahe Umwälzung abrückten und dass nur die eigentlichen «Militants» und die Gruppen um sie herum auch weiterhin noch die Diktatur des Proletariats in nächster Nähe sahen. Alles, was noch geschah nach Bestätigung des Abbruchgerüchtes, machte auf die Arbeiterschaft keinen Eindruck mehr.
Am Nachmittag des 14. wurde das «Volksrecht» von der Kantonspolizei und vom Militär besetzt und Verhaftungen wurden vorgenommen. Und am 16. November 1918 fand das Defilé, das Vorbeimarschieren der Zürcher Belagerungstruppen vor dem schweizerischen General Wille von Bismarck statt, der die Besetzung von Zürich verlangt hatte, um – wie er in seinem Memorial an den Bundesrat erklärte – rasch das Gesindel in die Schlupfwinkel zurückzutreiben, da die beunruhigten BürgerInnen ihre Bankguthaben zurückzogen.
Und am selbigen Tage brachte Redakteur Meyer von der «Neuen Zürcher Zeitung», der Vertreter der Kreditanstalt in der Presse, im Grossen Stadtrat, einen Antrag ein, dass der Grosse Stadtrat telegrafisch an den Bundesrat und Oberst Sonderegger seinen Dank übermitteln solle, da sie so gut öffentliche Ordnung und Sicherheit in unserer Stadt aufrechterhalten. Die bürgerliche Mehrheit des Grossen Stadtrates stimmte dem Antrage der Kreditanstalt zu. Schon am 14. November nachmittags fuhr in Zürich wieder der erste Eisenbahnzug ein und am 15. November früh fuhr auch wieder das Tram. Die TypografInnen und viele ArbeiterInnen der Privatindustrie streikten noch weiter über das offizielle Ende des Landesstreikes hinaus.

* Fritz Brupbacher (1874-1945) stammte aus begütertem Elternhaus und wuchs in Zürich auf. Er studierte Medizin und absolvierte eine psychiatrische Ausbildung in Paris. Ab 1901 arbeitete er als Arzt im ArbeiterInnenquartier Zürich-Aussersihl. Brupbacher gehörte zu den VorkämpferInnen der Geburtenregelung und setzt sich für die legale Abtreibung ein. Er setzte sich für einen anarchistisch geprägten, freiheitlichen Sozialismus ein. 1920 trat er aus der SP aus und schloss sich dann der Kommunistischen Partei an, wo er sich in der Bildungsarbeit und im Parteiorgan engagierte. 1933 wurde er aufgrund seiner Kritik an der Partei ausgeschlossen. Danach war Brupbacher nicht mehr politisch aktiv, arbeitete aber noch als Arzt für ArbeiterInnen.

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