Willi Egloff. «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» lautet der Titel der SVP-Initiative, über die wir am 25. November abstimmen werden. Mit dem Inhalt der Initiative hat diese Überschrift so gut wie nichts zu tun. Es ist eine reine Mogelpackung.
Im Falle einer Annahme der sogenannten Selbstbestimmungsinitiative würden die Schweizer Behörden und die Stimmberechtigten keine einzige Kompetenz erhalten, die sie nicht heute schon hätten. Schweizer Recht wird von den zuständigen Schweizer Behörden erlassen, mit oder ohne Initiative. Auch Völkerrecht ist nicht ein Recht, das von irgendeiner ausländischen Behörde verordnet würde, sondern es besteht aus Verträgen, welche die Schweiz bewusst mit ausländischen Staaten oder Organisationen abgeschlossen hat. Die Schweiz bestimmt schon heute ihr «Völkerrecht» ausschliesslich selbst.
Auch die «fremden Richter» sind von uns selbst bestimmt. Gerichte, die verbindlich für die Schweiz etwas anordnen können, gibt es auf internationaler Ebene ohnehin nur ganz wenige. Der EFTA-Gerichtshof gehört dazu und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, allenfalls noch die von Fall zu Fall bestellten Schiedsgerichte der Welthandelsorganisation WTO. Alle diese Gerichte sind für die Schweiz nur zuständig, weil die Schweiz dies gewollt und autonom in einem völkerrechtlichen Vertrag festgelegt hat. Und in allen diesen Gerichten ist die Schweiz auch personell direkt vertreten.
Worum es wirklich geht
Um die Selbstbestimmung, die auf dem Titel steht, kann es bei dieser Initiative daher von vornherein nicht gehen. Worum es wirklich geht, ist das Verhältnis von nationalem Recht der Schweiz zum Völkerrecht der Schweiz. Oder anders gesagt: Was soll gelten, wenn in einem schweizerischen Gesetz etwas anderes steht, als die Schweiz in einem völkerrechtlichen Vertrag vereinbart hat? Hat dann das nationale Recht Vorrang oder der von der Schweiz abgeschlossene völkerrechtliche Vertrag?
Erstaunlicherweise gibt die Initiative aber gerade auf diese Frage keine Antwort. Laut Initiativtext sollen nämlich die Bundesgesetze und die völkerrechtlichen Verträge, die einem Referendum unterstanden haben, in jedem Falle Vorrang haben, auch vor der Bundeserfassung. Dem Schweizerischen Bundesgericht soll es verboten sein, diese Gesetze und völkerrechtlichen Verträge auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen. Wenn es nun aber einen Widerspruch zwischen einem Gesetz und einem referendumsfähigen völkerrechtlichen Vertrag gibt? Zu diesem wirklich zentralen und in der Praxis wichtigsten Punkt äussert sich die Initiative nicht. Wie schon bisher müsste also das Bundesgericht solche Widersprüche von Fall zu Fall lösen. Auch in dieser Hinsicht bringt die Initiative daher nichts Neues.
Warum also das ganze Trara um eine Initiative, die nicht das enthält, was auf der Verpackung steht, und welche die Frage, die sie angeblich lösen will, einfach offen lässt? Das liegt daran, dass die Initiative eine versteckte Agenda enthält, die sie nicht beim Namen nennt: Sie will nämlich die von der Schweiz und 46 weiteren Ländern vereinbarte Europäische Menschenrechtskonvention aushebeln und dem durch diese Konvention eingerichteten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Urteilskompetenz entziehen. Und das könnte im Falle einer Annahme der Initiative durchaus gelingen.
Menschenrechte als Zielscheibe
In der Tat ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ein Vertrag, den die Schweiz zwar mitbestimmt hat, über den die Schweizer Stimmberechtigten aber nie abstimmen konnten. Das hat historische Gründe, die heute nicht mehr bestehen, weil die Regelung über Referenden gegen völkerrechtliche Verträge in der Zwischenzeit geändert wurden. Das hatte denn auch zur Folge, dass verschiedene Zusatzabkommen zur EMRK, mit welchen zusätzliche Rechte geschützt oder organisatorische Fragen geklärt wurden, dem Referendum unterstanden. Aber über den ursprünglichen Kern der EMRK konnten die Schweizer Stimmberechtigten nicht abstimmen.
Diesen Umstand nimmt die SVP jetzt zum Vorwand, um die EMRK zum Nonvaleur zu erklären, der für Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts nicht mehr relevant sein soll. Jedes noch so diskriminierende schweizerische Gesetz soll gegenüber der EMRK Vorrang haben. Jeder noch so willkürliche und unverhältnismässige Eingriff in grundlegende Rechte soll gültig sein, nur weil er eine Grundlage in einem schweizerischen Gesetz hat. Die Initiative ebnet den ultimativen Weg zur uneingeschränkten Diktatur der Mehrheit über die Minderheit.
Das ist vor allem deshalb gravierend, weil das Schweizerische Bundesgericht gegen eine Diktatur der Mehrheit und gegen gesetzliche Übergriffe auf Einzelne nichts ausrichten kann. Das Bundesgericht kann willkürliche und diskriminierende Gesetze nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen, sondern muss sie stur anwenden. Einen gewissen rudimentären Schutz gegen Grundrechtsverletzungen durch den Gesetzgeber gibt es für SchweizerInnen nur beim EMRK-Gerichtshof in Strassburg. Wird dieses Gericht entmachtet, wie es bei einer Annahme der Initiative der Fall wäre, zerreisst auch dieses allerletzte Auffangnetz.
Wer immer einer gesellschaftlichen Minderheit angehört, sei es politisch, religiös, weltanschaulich, herkunftsmässig, hinsichtlich der sexuellen Orientierung, dem Geschlecht oder sonst wie, hat daher ein existenzielles Interesse, dass dies nicht geschieht. Er oder sie müssen dazu beitragen, dass diese hinterhältige Initiative möglichst deutlich verworfen wird.